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Hartmann, Dühring und Lange [2/3]
Erster Abschnitt Die allgemeinen Grundbegriffe Schon in diesem Abschnitt, in dem ich die einleitenden Vorbegriffe, die Methode und die allgemeinsten Grundprinzipien der drei Systeme entwickeln will, werden sich ihre fundamentalen Differenzen herausstellen. Gerade die allgemeinsten Vorfragen, die in keiner Disziplin so verschieden, ja entgegengesetzt beantwortet werden, wie in der Philosophie, sind am besten geeignet, den verschiedenen Geist der genannten Systeme zu charakterisieren. Nach HARTMANN ist die Aufgabe der Philosophie, die Wirklichkeit zu erklären. Schon diese Formulierung des Problems der Philosophie ist eine dogmatische und involviert einen maßlosen Anspruch der Philosophie auf Allwissenheit. Dem sei jedoch wie ihm wolle - für die so gefaßte Aufgabe sucht HARTMANN auch eine Methode zu gewinnen, welche die Einseitigkeiten der dialektischen (18), der deduktiven und der induktiven Methode vermeidet; dazu taugt nur eine solche Behandlung, welche die spekulativen, mystisch erworbenen Prinzipien mit den bisher höchsten Resultaten der induktiven Wissenschaften nach induktiver Methode verbindet; HARTMANNs Methode besteht demnach darin, in jedem Gebiet des menschlichen Wissens, besonders aber in der Naturwissenschaft auf induktivem Weg das a priori feststehende, mystisch konzipierte Resultat einer höheren Eingebung durchzuführen. Diese Methode ist aber ein unhaltbares Mittelding, eine seltsame Verquickung von Mystik und Induktion, deren Irrationalität noch klarer sich darin zeigt, daß HARTMANN ein besonderes Organ der Philosophie annimmt. Dieses Organ hat große Ähnlichkeit mit der verrufenen "intellektuellen Anschauung" SCHELLINGs; es ist die Mystik; die obersten Prinzipien lassen sich nur durch "einen genialen Luftsprung von mystischer Natur", nur durch "Eingebung des Unbewußten" erlangen. Das Bewußtsein wird vermöge dieses mystischen Organs mit einem Inhalt erfüllt durch "unwillkürliches Auftauchen desselben aus dem Unbewußten", wobei jedoch unter einem "Unbewußten" nicht etwa der unbewußte, innere und eigene Mechanismus des individuellen Seelenlebens zu verstehen ist, sondern das metaphysische, alleine Prinzip, das unvermittelt sowohl in die Geschichte des menschlichen Denkens, als des menschlichen Handelns eingreift. Diesen Prämissen entsprechend ist nun auch die Definition des Begriffs der Philosophie: sie ist Umsetzung eines mystisch erzeugten Inhaltes aus der Form des Bildes oder der unbewiesenen Behauptung in die des rationalen Systems. Auch die "Philosophie des Unbewußten" gibt nur die Beweise, die empirisch zusammengerafften und in die Form der Induktion gebrachten Belege für Eingebungen, die HARTMANN aus dem Unbewußten erhalten haben will. Allein dagegen ist zu bemerken, daß auch die scheinbar unvermittelten Gedanken des spekulativen oder poetisch-künstlerischen Genies nach dem auch in der Innenwelt absolut gültigen Gesetz der Kausalität, das sich hier als Motivation und Assoziation geltend macht, nur auf dem Boden des individuellen Seelenlebens entstehen können und ihre logische und psychologische Verursachung meistenteils deutlich genug zeigen; außerdem versetzt diese Definition die Philosophie aus dem Gebiet der Wissenschaft in das der Kunst und Poesie, was jedoch kein Einwand sein kannn, da diese Auffassung der Philosophie von PLATO bis LANGE viele Anhänger zählt (19). Ein Jllusion ist es aber nur, wenn HARTMANN dann für diese mystischen Eingebungen, auch wenn sie induktiv gestützt sind, eine bis zur höchsten Wahrscheinlichkeit gebrachte Evidenz in Anspruch nimmt. (20) Diesem mystischen Organ entspriht nun der mystische Inhalt; abgesehen von den berührten Konzeptionen, die der Denker mystisch empfängt und die sich auch rational darstellen lassen, gibt es noch einen Inhalt desselben Organes, der sich nur mystisch erfassen läßt. Das ist das - ich möchte fast sagen - spezifisch philosophische Gefühl: das unmittelbare Gefühl der Einheit des Ich mit dem Absoluten, das eigentlich religiöse Gefühl, das sich nach HARTMANN nie durch eine direkte Mitteilung in einem Anderen erwecken läßt, sondern immer, wenn ich so sagen darf, durch eine Art generatio aequivoca [Urzeugung organischer aus anorganischen Stoffen - wp] im Tiefsten eines jeden Individuums von selbst entstehen muß. Dieses mystische Einheitsgefühl nun wird dahin ausgebeutet, daß aus ihm schon die Existenz eines Unbewußten, Absoluten erschlossen wird, das mit dem Einzel-Ich in Wechselwirkung tritt. Allein wir vermuten, daß auch dieses mystische Gefühl sich als eine individuell-subjektive Gefühlsgestaltung nachweisen läßt, die aus empirischen Bedingungen und nach bekannten Gesetzen des individuellen Seelenlebens sich bildet. HARTMANN nimmt dieses mystische Einheitsgefühl, dessen Existenz allerdings nicht bestritten werden kann, zum Ausgangspunkt seiner weiteren Ausführungen. (21) Zunächst bestimmt er danach das Verhältnis der Philosophie zur Religion; beide stammen aus derselben Quelle, aus der Mystik, um sich erst nachher zu trennen; Philosophen und Religionsstifter empfangen mystische Eingebungen, wobei HARTMANN immer jene unheilvolle Verwechslung des subjektiv-individuellen, unbewußten Seelenlebens mit einem absoluten, unbewußten Ursubjekt begeht; beide, Philosophie und Religion, stehen sich daher gleich, ein Satz, den auch LANGE aufstellt, nur daß er daraus die notwendige Konsequenz zieht, daß beide nur subjektive Gestaltungen sind, die auf positiv-wissenschaftlichen Wert, auf objektiv-reale Bedeutung keinen Anspruch erheben dürfen. Bei der Frage nach dem Verhältnis der Philosophie zur Naturwissenschaft kann HARTMANN jedoch jenes mystische Einheitsgefühl und die mystische Eingebung nicht brauchen; wenigstens nennt er die Philosophie hier nicht mystische Inspiration, sondern "rein logische Spekulation". Jenes Verhältnis bestimmt er nämlich dahin, daß jede Spekulation falsch ist, die den klaren Ergebnissen der empirischen Forschung widerspricht; aber "alle Auffassungen und Auslegungen empirischer Tatsachen sind ihrerseits falsch, die dem strengen Ergebnis einer rein logischen Spekulation widersprechen". Unter "rein logischer Spekulation" (ein Ausdruck, der eigentlich eine contradictio in adjecto [Widerspruch in sich - wp] ist) versteht HARTMANN aber offenbar den logischen Beweis für die mystischen Konzeptionen und dieses Ergebnis muß immer der Naturwissenschaft widersprechen, da mystische Konzeptionen nur Phantasien sind; das ist auch bei HARTMANN tatsächlich der Fall, der trotz seiner Behauptung, Philosophie und Naturwissenschaft versöhnt zu haben (22), in der Frage des Darwinismus, der Teleologie, des Gesetzes von der Erhaltung der Kraft von Seiten der Naturwissenschaft ebenso energisch zurückgewiesen und desavouiert worden ist, wie in anderen Fragen von Seiten der Religion und Philosophie. HARMANN nennt sein System vom erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt aus einen "transzendentalen Realismus", (23) vom metaphysischen aus "Philosophie des Unbewußten", jenes hauptsächlich deshalb, weil sein System eine Versöhnung des transzendentalen Idealismus mit dem naiven Realismus enthält, dieses, weil durch ihn die Existenz eines unbewußten Prinzips und seiner weitgreifenden Bedeutung festgestellt worden ist; sein System soll - das ist bekanntlich ein Anspruch aller Dogmatiker, der seit HEGEL Mode geworden ist - allen anderen Systemen gerecht werden und alles umfassen, was in der Geschichte der Philosophie als "wahres Kernholz" zu betrachten ist; während ferner den sachlichen Ausgangspunkt für HARTMANN die unbewußten Vorstellungen bilden, sieht er in SCHELLING, HEGEL und SCHOPENHAUER die historischen Anknüpfungspunkte seines Systems. In seinem metaphysischen Prinzip stimmt er im Wesentlichen mit SCHELLING überein, der die Einseitigkeiten HEGELs und SCHOPENHAUERs in seiner "positiven Philosophie" überwunden hat, indem er Logisches und Unlogisches, Idee und Wille als gleichberechtigte Seiten des einen Prinzips zusammengefaßt hat (24). Aus diesen einleitenden und allgemeinen Vorbegriffen läßt sich der Geist des HARTMANNschen Systems ziemlich deutlich erkennen; ist stelle nun dem idealistischen Dogmatiker den realistischen in DÜHRING gegenüber. Ganz anders als HARTMANN faßt dieser Begriff und Aufgabe der Philosophie (25). Die Philosophie, sagt er, ist die Entwicklung der höchsten Form des Bewußtseins von Welt und Leben; sie ist einerseits eine einheitliche Weltanschauung, andererseits ein rastlos tätiges Prinzip allseitiger Gestaltung des Lebens. Diese Doppelaufgabe der Philosophie hat DÜHRING schon im Titel seines systematischen Hauptwerkes angedeutet. Die Philosophie ist ihm mehr als eine Wissenschaft; sie ist ein Prinzip der edelsten Lebensgestaltung und ist somit auch Gesinnung und als solche eine Fortpflanzung der Motive edlerer Menschlichkeit; sie schafft an den Idealen der Humanität. In der Philosophie als Wissenschaft ergibt sich die ebenmäßigste Einheit der Welt der Dinge und der Welt der Gedanken, indem sich der Verstand immer mehr ausbildet, und in der Philosophie als Gesinnung strebt der Menschengeist, die Welt der Erfahrung mit seinen Idealen harmonisch zu gestalten, und so veredelt sich immer mehr die Gesinnung (26). DÜHRING ist, wie schon bemerkt, sozialdemokratisch gesinnt und so bringt er selbst den Begriff der Philosophie in den engsten Zusammenhang mit jener seiner Lieblingsidee. Die Philosophie ist ihm nämlich die Quelle der sozialistischen Ideale, die er für die Ideale der Humanität ausgibt, und hat den reformatorischen Beruf, an der praktischen Verwirklichung dieser Ideale mitzuarbeiten. Die Philosophie hat die Aufgabe, eine befriedigende Gestaltung sowohl des theoretischen Wissens, als auch des praktischen Lebens anzubahnen. Von ihr hat die Umwälzung sowohl der wissenschaftlichen, als der gesellschaftlichen Verhältnisse auszugehen. Diesem Ton entspricht auch die Bestimmung der Methode der Philosophie; entsprechend der absoluten Souveränität des Verstandes, welche DÜHRING behauptet, kann sie nur eine positiv-dogmatische und kategorische sein; ein ernsthaftes System kann sich nicht mit der kritischen Methode begnügen (27); DÜHRING will noch dogmatischer als SPINOZA sein, in dem er einen Vorgänger erblickt und an dem er den abstrakten Verstandesmenschen schätzt, während HARTMANN, der ebenfalls in SPINOZA seinen Vorgänger sieht, umgekehrt in ihm, "der Blüte der philosophischen Mystik" den Mystiker verehrt. Der oben mitgeteilten Charakteristik DÜHRINGs entspricht auch die andere Seite seiner Methode, die dialektische (28) Behandlung der Probleme, in der er einen großen Scharfsinn entwickelt hat, welcher der Handhabung der induktiven Methode durch HARTMANN würdig zur Seite steht, um a priori feststehende Resultate scheinbar induktiv zu beweisen, und dem Leser plausibel zu machen; und dem idealistischen Mystiker steht diese pseudo-induktive Methode ebenso gut an, wie dem realistischen Verstandesmenschen die dialektische, die freilich gar nicht selten in eine rechthaberisch-dogmatische umschlägt und dannn ebenso pseudo-dialektisch genannt werden kann. Das Organ der Philosophie ist nach DÜHRING der allen Menschen gemeinsame Verstand, nicht ein subjektives, oft täuschendes mystisches Gefühl oder eine unklare Ahnung. Hier befindet sich DÜHRING in bewußtem Gegensatz zu HARTMANN. Der Verstand ist die letzte Instanz; indem er eine nüchterne Auffassung des Seienden, eine scharfe Erfassung der Wirklichkeit vermittelt, erfüllt er die Aufgabe der Philosophie. Er hat Gemüt und Gefühl von allem Superstitiösen zu reinigen; der unbegrenzte Gebrauch der Verstandesbegriffe ist auch der Weg, um zu einer subjektiven Gefühlsbefriedigung dem Ganzen der Welt gegenüber zu gelangen. Über der Verstandesphilosophie gibt es keine zweite Fundstätte der Wahrheit und keine zweite Quelle der Gerechtigkeit; Verstand und Wissenschaft sind die beiden letzten Entscheidungsmittel der Philosophie, deren autoritätsfreier Selbstgenugsamkeit keine Kraft auf diesem Planeten eine moralisch verbindliche Einschränkung aufzuzwingen vermöchte. Ein zweites Organ der Philosophie neben dem Verstand ist die vom Verstand geleitete, "rationale Imagination". Der Erkenntniswert der Phantasie, meint DÜHRING, sei bis jetzt verkannt worden. In seinem System nimmt sie eine analoge Stellung ein, wie die Mystik im System HARTMANNNs; ja sie ist selbst etwas Mystisches; die Phantasie ist eine analoge Arbeiterin, wie die Natur selbst; so ist die mathematische Phantasie eine Instanz, "bei der man auf wichtige Aufschlüsse über die Weltverfassung zu rechnen hat." Sie schafft eine ästhetische Harmonie des Weltbildes; ihre Kompositionen aber haben nur Wert, sofern sie Anzeiger einer unmittelbaren oder entfernteren Wirklichkeit sein können, sie darf nur eine "ideale Antizipation" [Vorwegnahme - wp] der Wirklichkeit sein. DÜHRING ist also weit entfernt, ihr den Flug über die Wirklichkeit hinaus zu gestatten; sie erdichtet nicht, sagt er, sondern sie bildet nur. Auch bei LANGE werden wir der Phantasie wieder begegnen unter dem Namen der "synthetischen Funktion"; nur daß gerade bei LANGE die Phantasie die Aufgabe hat, eine zweite, intelligible Welt zu bauen, die in der Wirklichkeit nicht nachweisbar ist. Diese synthetische Funktion bei LANGE läßt sich nicht betrachten als eine Art höherer Komposition der HARTMANNschen Mystik und der DÜHRINGschen Imagination, um schon hier darauf aufmerksam zu machen. Allein die LANGEsche "Phantasie" und die DÜHRINGsche "Imagination" stehen sich gerade darin gegenüber, daß jene niemals mit der Wirklichkeit, dem Verstand, der Wissenschaft sich aussöhnt, diese dagegen mit diesen letzteren zusammenfällt. Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß für DÜHRING, was schon auf dem Titel seines Werkes angedeutet ist, die Philosophie eine eigentliche, strenge Wissenschaft ist, die Wissenschaft von den Prinzipien der Weltanschauung und Lebensgestaltung. Daher ist ihm die neukantische Lehre, daß Philosophie im eigentlichen Sinn (d. h. Metaphysik) nur Begriffsdichtung ist, ein Greuel. Er ist von der Wissenschaftlichkeit, Wahrheit und Allgemeingültigkeit seines Systems ebenso überzeugt, wie sein dogmatischer Antipode HARTMANN von der bis zum höchsten Grad der Wahrscheinlichkeit erhobenen Evidenz des Seinigen. Dem philosophisch-mystischen Gefühl der Einheit mit dem Absoluten bei HARTMANN steht bei DÜHRING der "universelle Affekt" gegenüber, der aber absolut nichts Mystisches an sich hat, indem er nur ein "einseitiger" Affekt ist und nicht etwa das Resultat einer Einwirkung eines Absoluten auf das Individuum, und einer Wechselwirkung des letzteren mit dem ersteren, wie bei HARTMANN. Der universelle Affekt ist eine einseitig-subjektive Gefühlsgestaltung des Einzelnen gegenüber der Totalsumme der Empfindungen und Erfahrungen, die ihm aus der Welt zuströmen. Er ist kein "doppelseitiger Affekt", wie das mystische Gefühl HARTMANNs. Er ist der spezifisch-philosophische Affekt; er treibt sowohl zur theoretischen Untersuchung des Daseins, als zu seiner Umgestaltung; er ist die Wurzel des Optimismus und Pessimismus und (in seinen krankhaften Formen) der Religion, Begriffspoesie und Mystik. Offenbar ist dieser neue Affekt nur eine Rationalisierung des bisher so genannten mystischen Gefühls, von dem DÜHRING ebensosehr den "rationalen Teil" retten will, wie von der Imagination. Vor allem ist festzuhalten, daß er nur auf dem Boden des Individuums gewachsen ist und nur subjektiv-psychologische, nicht aber objektiv-metaphysische Bedeutung hat, da die Natur keine Personifikation zuläßt, und also auch mit dem Einzel-Ich in kein Wechselverhältnis treten kann. Daß die Religion nur einem pathologischen Zustand des Affekts ihren Ursprung verdankt und aus lauter Phantasie besteht, ist für DÜHRING selbstverständlich. Die Quelle des Heils ist für den Menschen einzig und allein sein Verstand und die Philosophie allein ist die Religion der Zukunft (selbstverständlich die Philosophie im Sinne DÜHRINGs). Während er so das Verhältnis der Philosophie zur Religion ganz in einem radikalen Sinn löst, ist er keineswegs geneigt, sich ohne Weiteres den Ergebnissen der Naturforscher in die Arme zu werfen, da diese häufig Privatmeinungen für naturwissenschaftliche Resultate ausgeben. Aber im Allgemeinen stellt er sich ganz auf den Boden der Naturwissenschaft, die für ihn alleiniger Ausgangspunkt und einzige Basis ist, (während HARTMANN seinen Ausgangspunkt im Subjekt, in den unbewußten Vorstellungen nimmt). Die Grenzen des Naturerkennens sind für DÜHRING die Grenzen allen Erkennens, wie auch für LANGE, während HARTMANN dieser Ansicht natürlich auf das Lebhafteste widerspricht. Aber andererseits gibt auch die Naturwissenschaft alle und volle Erkenntnis und hinter ihr liegt überhaupt nichts mehr, was andererseits für LANGE eine Einseitigkeit, ein materialistischer Irrtum ist. Das naturwissenschaftliche Erkennen ist auch das allein wahre Erkennen, wie es allein das ganze ist; und so fällt es in einem weiteren Sinn mit der Philosophie zusammen, die, wenn sie echt ist, mit der Naturwissenschaft gar nicht versöhnt zu werden braucht, da sie mit ihr identisch ist. DÜHRING nennt seine Philosophie das System der Wirklichkeitsphilosophie oder aus das natürliche System. Die Wirklichkeit ist in ihm zum ersten Mal zum Maß aller Konzeptionen gemacht, und sie ist in einer Weise gedacht, "die jede Anwandlung zu einer traumhaften und subjektivistisch gefärbten Weltvorstellung ausschließt". Wie jeder Dogmatiker, so glaubt auch DÜHRING eine neue Epoche der Philosophie inauguriert zu haben, indem er die Welt zum erstenmal in ihrer "positiven Wirklichkeit erfaßt hat". Das "natürliche System" nimmt das Gegebene wie es ist, und wie es sich dem unbefangenen Blick darbietet, "ohne daran zu deuteln oder darüber zu vernünfteln und sucht das Gegebene allein mit dem Verstand zu durchdringen. Das "Bewährte aus den früheren Systemen" wird aufgenommen. Echt sozialdemokratisch setzt er seinem System die Systeme des "ancien regime" gegenüber, während er selbst Wissenschaft und Gesellschaft auf ein neues Fundament gebaut haben will. DÜHRING schließt sich, wie schon bemerkt, an keinen bestimmten Vorgänger an, ohne jedoch einen so großen Anspruch auf Originalität erheben zu können, als er glaubt. Sein System ist ein realistischer Naturalismus, wie er in der Geschichte der Philosophie nicht selten wiederkehrt. Sein Realismus steht dem Kritizismus LANGEs viel näher, als HARTMANNs nebulöser Idealismus und phantastischer Mystizismus. Mit besonderer Vorliebe erwähnt er, als partielle Vorgänger, SCHOPENHAUER und COMTE. Indessen entnimmt er von SCHOPENHAUER gerade das Gegenteil von dem, was HARTMANN von demselben entnimmt; weder seinen "Willen", noch seinen Pessimismus oder Mystizismus lobt er an ihm, sondern seine realistischen Elemente. Beide aber verwerfen seinen erkenntnistheoretischen Idealismus, mit dem sich LANGE wiederum berührt. An COMTE andererseits tadelt er gerade das, was LANGE an ihm lobt, seine Verwandtschaft mit dem kantischen Kritizismus, während er seine Geschichtsphilosophie, die LANGE verwirft, fast uneingeschränkt annimmt (29). So verschränken und verschlingen sich diese Gegensätze in bemerkenswerter Weise. Wir verlassen damit die dogmatische Atmosphäre und begeben uns zum Kritizismus. Nach LANGE (30) hat die Philosophie erstens eine negative und zweitens eine positive Aufgabe. Jene besteht in Logik und Erkenntnistheorie, diese in spekulativer Metaphysik. Der negative Teil verhält sich zum positiven, wie die zerstörende Kritik zum Dogma; so ist die Philosophie die Penelope, die in der Nacht wieder auflöst, was sie am Tag gewoben hat. Als negative Kritik hat die Philosophie zu zeigen, daß sie selbst als Wissenschaft unmöglich ist; die erkenntnistheoretische Kritik zerstört allen Anspruch der Spekulation auf Wahrheit und zeigt, daß der menschliche Geist mit seinem Erkennen absolut den Kreis der Erfahrung nicht überschreiten kann; aber sie unterdrückt die Spekulation nicht, sie nimmt ihr nur den Irrtum, Wahrheit zu sein. Diese positive Aufgabe der Philosophie besteht nun darin, zwar Spekulation zu sein, aber mit dem Bewußtsein, nur Dichtung, nicht aber Wahrheit zu geben. Sie soll ein harmonisches Weltbild schaffen, aber sich bewußt bleiben, daß dieses nur ein subjektiv geschaffenes Ideal ist, und keinen Anspruch darauf erheben kann, der Realität zu entsprechen. Spekulation ist ein Erzeugnis des ästhetischen, idealen, architektonischen, synthetischen Triebes und hat daher als solche auch nur subjektiv-psychologisch-ästhetischen, aber keinen objektiv-erkenntnistheoretischen Wert. Das harmonische Weltbild der Philosophen ist eine bloße Jllusion und für den Philosophen im Sinne LANGEs ist es eine bewußte Jllusion. Der Philosoph soll seinem System gegenüberstehen, wie der Künstler und Dichter ihrem ästhetischen Produkt. Wenn ein solches Weltbild der allgemeinen Bildungsstufe einer Zeit entspricht, kann es die Überzeugung Mehrerer werden, gewinnt aber dadurch, durch diese allgemeine Verbreitung oder den Beifall des Zeitalters, nichts an Realität oder Objektivität. Die Methode des negativen Teils der Philosophie ist natürlich die kritische, wie sie KANT aufgestellt hat; sie ist eine destruktive Methode und besteht in der "Zertrümmerung aller synthetischen Formen, unter denen uns die Welt erscheint." Während die aprioristische Methode vertrauensselig die subjektiven Begriffsgestaltungen oder "mystischen Eingebungen" für das Wahre hält, während die empiristische Methode die gegebene Wirklichkeit ungeprüft annimmt, trennt die kritische Methode vorsichtig und mißtrauisch zwischen objektiv Gegebenem und subjektiven Zusätzen und sucht sowohl die Tragweite des menschlichen Erkennens, als die Geltung des Gegebenen nach ihren Grenzen zu bestimmen und die Widersprüche nachzuweisen, auf die zuletzt alle denkende Bearbeitung des Gegebenen führt. Was den positiven Teil betrifft, so darf die spekulative Methode nur anhand der Erfahrung ein allgemeines Weltbild aufstellen und hat aber auch so nichtsdestoweniger keinen Anspruch auf objektive Gültigkeit, sondern ihre Schöpfungen sind ein - allerdings höchst wichtiges und bedeutsames - Spiel des subjektiv-architektonischen Triebes; der Metaphysiker darf - mit einem Wort - an sein System selbst nicht glauben. - Das Organ der Philosophie, positiv gefaßt, ist die freie Synthesis, die zur spekulativen Begriffsdichtung führt. Auf das Verhältnis dieser Funktion zur HARTMANNs "mystischem Organ" und zu DÜHRINGs "rationaler Imagination" wurde schon oben hingewiesen. Dieses Organ ist eben der architektonische, ästhetisch-harmonisierende, idealisierende, zusammenfassende Trieb des Geistes, der sich schon in der Bildung der Anschauung, und in jeder Wissenschaft geltend macht, in Kunst, Poesie und Moral wieder erscheint, um zuletzt in seiner höchsten Ausbildung die Spekulation hervorzubringen (31). Diese "Synthesis" LANGEs beruth auf der Lehre KANTs von der "synthetischen Funktion der Vernunft" (32). Sie ist in ihrer eigentlich ursprünglichen Betätigung der Trieb, Einheit in das Mannigfaltige zu bringen; LANGE weist somit nach, daß die Philosophie kein besonderes Organ hat, sondern daß die in ihr wirksame Tätigkeit des Geistes derselbe Grundtrieb ist, der sich in allen Gebieten des Geisteslebens geltend macht, und der auch das Band bildet zwischen der Einbildungskraft oder Imagination einerseits und dem bloß auffassenden oder trennenden Verstand andererseits, dessen Schöpfungen uns oft als mystische Eingebungen erscheinen, weil sie in den unbewußten Tiefen des Seelenlebens gebildet werden. Darin ist auch schon enthalten, daß die Philosophie als Spekulation keine Wissenschaft sein kann, während ihr negativer Teil vollständig auf wissenschaftliche Geltung Anspruch erheben darf.
Ein besonderes Verdienst hat sich LANGE um die Klarstellung des Verhältnisses der Philosophie zur Naturwissenschaft erworben; er bezeichnet es als einen Irrtum, daß Philosoph und Naturforscher einander nie verstehen werden und "daß sie sich sollen gegenseitig gehen lassen", wie man fast schon geraten hat. So sehr LANGE einerseits der Naturwissenschaft die weitgehendsten Zugeständnisse macht, so weitgehende, daß er sich den Schein und Vorwurf des Materialismus zugezogen hat (ein Vorwurf, dem niemand weniger dient als er, und den ihm nur diejenigen machen, die zu roh-dogmatisch denken, um seine scharfsinnig-kritischen Erörterungen zu fassen) - so hat er es doch andererseits für eine "philosophische Halbheit der schlimmsten Art" bezeichnet, eine philosophische Weltanschauung ausschließlich auf die Naturwissenschaft bauen zu wollen. Die ganze Anschauungsweise des natürlichen Widerstreites der Philosophie und Naturwissenschaft beruth nach LANGE auf einer ganz einseitigen Rücksicht auf unsere nachkantische Philosophie (34). Das Band zwischen beiden bildet nämlich der negative Teil der Philosophie, die Erkenntnistheorie oder "Kritik der Begriffe". Es ergibt sich daraus, daß die Grenzen des Naturerkennens mit denen allen Erkennens zusammenfallen, und daß die Beschränkungen DUBOIS-REYMONDs (35) die Philosophie ebensogut treffen, wie die Naturwissenschaft. Eigentliche Wissenschaft ist nur Naturwissenschaft und der positive Teil der Philosophie, der über jene Grenzen hinausgeht, ist eben keine Wissenschaft, sondern Spekulation, und hat daher auch kein Anrecht, als Erkennen zu gelten, sondern ist nur subjektive Dichtung. Wenn der Naturforscher sich bewußt bleibt, daß seine mechanische, kausale Erklärung der Dinge uns zwar allein Wissen und sichere Wahrheit gibt, daß aber damit das letzte Wort sich nicht gesprochen sein kann, sondern daß Naturwissenschaft nicht Alles gibt, und wenn andererseits der Philosoph sich bewußt bleibt, daß seine Spekulation zwar zur Befriedigung des ästhetischen und synthetischen Triebes dienen, aber daß damit nichts Wahres gegeben ist, sondern nur Dichtung; wenn also der Naturforscher vom Philosophen annimmt, daß seine Erklärung sich nur auf Erscheinungen bezieht, und der Philosoph vom Naturforscher, daß sine Spekulationen keinen Anspruch auf Objektivität erheben können - und beides ist das Resultat der Erkenntnistheorie, - so sind Naturforschung und Philosophie einig. Beide beruhen wesentlich auf denselben Denkfunktionen, nur daß Philosophie einen Schritt weiter geht als Naturwissenschaft, aber mit diesem Schritt auch den sicheren Boden der Erfahrung verläßt. Nur Philosophie und Materialismus stehen im Gegensatz, nicht aber Philosophie und Naturwissenschaft; denn dem Materialismus mangelt die Kritik der Begriffe und so ist er selbst ein Dogma, wie jedes andere philosophische System, das seinen Ursprung soweit vergißt, daß es auf objektive Wahrheit Anspruch erhebt, anstatt sich mit der subjektiven Wertschätzung zu begnügen. LANGE nennt seine Ansicht Kritizismus und deutet damit ihren historischen Zusammenhang mit KANT an. Er stellt ihn den dogmatischen Systemen gegenüber, mögen diese nun idealistische Begriffsromantik sein oder materialistische Stoffverehrung. Er ist damit Gegner jedes dogmatischen Systems, aber nicht der Spekulation überhaupt. Denn sobald ein System sich bewußt ist, nur begriffliche Dichtung zu sein zu einer provisorischen Befriedigung unseres natürlichen Denktriebes, sobald es den lächerlichen Anspruch aufgibt, allgemeingültige Wahrheit zu enthalten, hat es von der Kritik nichts zu fürchten. Gegenüber dem Materialismus, der sich einseitig mit der gegebenen Wirklichkeit begnügt, und gegenüber dem Idealismus, der über sie hinausschweift, und die beide dogmatisch auftreten, nimmt LANGE einen dritten, einen höheren Standpunkt ein, den des Kritizismus; er nimmt beide aber auch in sich auf, indem er die formelle Berechtigung beider bis zu einer gewissen Grenze anerkennt. Materialismus und Idealismus sind, kann ich im Sinne LANGEs sagen, zwei Stadien der theoretischen Jllusion, denen die Resignation auf objektive, absolute Wahrheit ebenso gegenübersteht, wie die Resignation auf volles Glück den Stadien der praktischen Jllusion bei HARTMANN (36). Der Kritizismus statuiert ein unbekanntes Drittes, das ebensowohl den materiellen, wie den geistigen Erscheinungen zugleich zugrunde liegt, während Materialismus und Idealismus je die eine Gruppe der Erscheinungen auf die andere einseitig zurückführen. LANGEs Kritizismus nimmt beide in sich auf, indem er sowohl den "Materialismus der Erscheinung" als auch den "Standpunkt des Ideals" unter sich begreift. So kommt es, daß die Einen LANGE als Materialisten, die Anderen als Idealisten bezeichnen, weil sie die Verbindung beider Ansichten im Kritizismus nicht einsehen, eine Verbindung, die allerdings auf den ersten Blick etwas Paradoxes an sich trägt. Nach dem Ersteren, dem "Materialismus der Erscheinung" geht nämlich LANGE Hand in Hand it den Materialisten bis zu dem Punkt, wo die Erkenntnistheorie einsetzt und nachweist, daß alle materiellen Vorgänge nur Erscheinungen sind, daß unser objektives Weltbild nur Vorstellung ist. Nach dem Zweiten, dem "Standpunkt des Ideals" geht LANGE mit den Idealisten Hand in Hand bis zu dem Punkt, wo wiederum die Erkenntnistheorie einsetzt und zeigt, daß auch das Weltbild der Spekulation bloße Vorstellung, bloße Dichtung ist; beim letzteren Punkt ergibt sich ferner die scheinbare Paradoxie, daß man ein spekulatives System haben soll, ohne an seine objektive Gültigkeit zu glauben, und beim ersteren, daß man alles mechanisch erklären soll, ohne in dieser Erklärung mehr als eine Einseitigkeit zu sehen. Diese sonderbare und paradox scheinende Verschlingung der Standpunkte bei LANGE erklärt sich aber ganz leicht aus seiner Erkenntnistheorie, die im nächsten Abschnitt Gegenstand meiner Darstellung sein wird. Gerade wegen dieser Verschlingung der Ansichten ist auch LANGEs System den ärgsten Mißverständnissen und Verdrehungen ausgesetzt, weil ein nicht in der echt dialektischen Schule KANTs geschulter Kopf, der nur an dogmatisches Denken gewöhnt ist, in den kritischen Auseinandersetzungen Widersprüche zu finden glaubt. KANT ist es, wie schon mehrfach bemerkt, an den sich LANGE anschließt; außerdem hat er von COMTE und vielleicht auch von SCHOPENHAUER nachdrückliche Impulse erhalten (37) Vor allen Dreien zeichnet ihn eine tiefere, auf Physiologie basierte Psychologie aus, mit welcher ausgerüstet er seine Erkenntnistheorie zu einer fast unwiderleglichen Sicherheit erhoben hat. Insbesondere ist es die feinere psychologische Begründung, (die erst durch die Fortschritte der empirischen Psychologie und der Physiologie ermöglicht wurde) durch die er über KANT hinausschreitet und diejenigen Punkte bei demselben rektifiziert [berichtigt - wp], die KANT aus Mangel einer richtigen Psychologie mißlingen mußten. Um nun zum Schluß dieses ersten Abschnittes alle Drei zu vergleichen, will ich diese Vergleichung zunächst an einem Begriff anstellen, den dieselben verschieden und zwar sehr charakteristisch bestimmen, und aus dessen verschiedener Fassung auch die verschiedenen Fassungen der allgemeinen und einleitenden Vorbegriffe abzuleiten sind; es ist ein erkenntnistheoretischer Begriff, den ich hiermit antizipiere, der Begriff der Wirklichkeit. HARTMANN will als echter Jünger der Nachkantianer die Wirklichkeit erklären, d. h. die Welt der Erfahrung aus einem hinter ihr liegenden Sein ableiten; er will das Seiende, die erste, unmittelbare Wirklichkeit auf das "Überseiende", die eigentliche, hinter der ersten liegende Wirklichkeit zurückführen. Die gegebene Wirklichkeit existiert zwar so, wie wir sie uns vorstellen; aber sie ist nich das wahre Sein; sie ist weder bloß "subjektiver Schein", wie die extremen Idealisten (LANGE) wollen, noch "objektives und letztes Sein", wie die extremen Realisten (DÜHRUNG) wollen; sie ist nur "objektiver Schein"; sie ist das "Existierende", aber hinter ihr liegt die eigentliche Wirklichkeit, bei welcher HARTMANN erst mit dem "Erklären" Halt machen will, das "Substituierende". Gerade umgekehrt ist die Ansicht DÜHRINGs. Er gibt seinem System den Namen einer "Wirklichkeitsphilosophie", um anzudeuten, daß für ihn nur die gegebene, die Wirklichkeit aus erster Hand Wert hat. Er schließt sich an COMTE und FEUERBACH an, wie HARTMANN an SCHELLING und HEGEL (in diesem Punkt durchaus nicht an SCHOPENHAUER), und nimmt die Wirklichkeit in ihrer sinnenfälligen Existenz nicht nur für das schlechthin Vernünftige, sondern auch für das allein real Existierende. Die Erscheinung ist das Wesen selbst und dieser Unterschied hat somit für ihn keine Bedeutung. Daher bestimmt er auch die Aufgabe der Philosophie dahin, die gegebene Wirklichkeit nicht etwa zu "erklären", sondern nur "aufzufassen", wie sie ist. Die letzten Tatsachen der Wirklichkeit sind nicht mehr erklärbar; während gerade HARTMANN, der Idealist, es für eine Hauptaufgabe hält, die Materie, bzw. die Atome und ihr Dasein zu erklären (er reduziert sie, wie wir sehen werden, auf ideelle Elemente), hält DÜHRING, der Realist, das materielle Sein für das letzte und sieht in jener Erklärung die "größte Torheit". In diesem Kampf der entgegengesetzten Ansichten nimmt LANGE einen vermittelnden, aber entschieden höheren Standpunkt ein; die Wirklichkeit, unbeschadet ihres strengen, keiner Willkür weichenden Zusammenhangs, ist nur Erscheinung; allein deshalb ist sie doch allein der Gegenstand der Wissenschaft, nicht das zu supponierende Ding-ansich. Solange Wissenschaft Wissenschaft bleiben soll, darf sie ihre Aufgabe nur darin suchen, vorurteilsfrei und frei von aller subjektiven Einmischung das Wirkliche aufzufassen, wie es ist. Für die Wissenschaft bleibt es dabei, daß das Ding-ansich ein bloßer Grenzbegriff ist. Die Wirklichkeit ist nach LANGE der Inbegriff der notwendigen, durch Sinneszwang gegebenen Erscheinungen; also ist sie nur unsere Vorstellung.
Aus diesem Fundamentalunterschied des, bei allen Dreien prägnant gefaßten, Begriffs der Wirklichkeit, in dem sich so der verschiedene Standpunkt dieser drei Denker sehr klar abspiegelt, lassen sich nun die anderen Unterschiede leicht ableiten. Die Aufgabe der Philosophie ist für HARTMANN, die Wirklichkeit zu erklären, für DÜHRING, sie, so wie sie ist, aufzufassen, für LANGE sie zu ergänzen durch eine Idealwelt und sie durch eine freie Begriffsdichtung abzurunden; dies ist für LANGE jedoch nur die positive Aufgabe der Philosophie: ihre negative Aufgabe ist, den Schein der Wirklichkeit zu zerstören, diese als Erscheinung eines Unbekannten zu erkennen und zu durchschauen. Für HARTMANN gibt es streng genommen nur eine Welt der Vernunft, des Transzendenten; für DÜHRING nur eine Welt der Sinne und des exakten Verstandes; für LANGE gibt es zwei Welten, die Welt des exakten Verstandes und die ideale Vernunftwelt; zwischen beiden besteht ein unversöhnlicher Widerspruch; wenn LANGE aber manchmal von der Möglichkeit eines einheitlichen, widerspruchslosen Weltbildes spricht, so sind dies entweder Inkonsequenzen, (wie HARTMANN von der realen Existenz der räumlich-zeitlichen Welt nur inkonsequenterweise sprechen kann), oder er versteht unter der Versöhnung nur die formal-negative Versöhnung von Verstand und Vernunft, nicht aber die materiell-positive, die nach seiner prinzipiellen Ansicht unmöglich ist. Für HARTMANN gibt es in der Philosophie nur Wahrscheinlichkeit, für DÜHRING aber absolute Wahrheit, für LANGE im positiven Teil derselben nur Dichtung, und schattenhaft-symbolische Begriffspoesie (ihm ist Bild, was den Anderen als Wahrheit gilt), in ihrem negativen Teil, wie auch in der Naturwissenschaft nur Wahrscheinlichkeit, deren Begriff er die "reifste Frucht des modernen Denkens" nennt. HARTMANN braucht für sein jenseitiges Unbewußtes natürlich ein besonderes Organ, die Mystik, die über das Wirkliche hinaus mit dem "Überwirklichen" den Menschen in eine reale Wechselwirkung versetzt; DÜHRING dagegen braucht nur den gewöhnlichen Menschenverstand zu seinem System der sinnlichen Wirklichkeit, und die Phantasie darf keinen Flug über die Erdenschwere hinaus wagen; während LANGE als Organ der spekulativen Philosophie die freie Synthesis faßt, den ästhetisch und ethisch frei schaffenden Trieb, der aber nur zu idealer Dichtung führt. Für alle drei hat die Philosophie die gleiche Wurzel mit der Poesie oder Religion (bei DÜHRING vermöge der Imagination, bei HARTMANN vermöge der Mystik), aber nur LANGE zieht daraus auch die Konsequenz, daß daher der Philosophie ebenfalls keine andere Geltung zukommt, als der Religion und Poesie. Für HARTMANN ist die Philosophie streng genommen ebenso eine Wissenschaft, wie für DÜHRING und wie sie es am Ende für jeden Dogmatiker sein muß; während der Kritizist in ihr nur die schönste und freieste Dichtung des Menschengeistes sieht; sie ist nur eine ästhetisch-ideale, wenn auch in logischen Kategorien sich bewegende Gedankenschöpfung. Jedes System ist nur eine illusorische und provisorische Befriedigung unseres natürlichen Denkbedürfnisses, unseres unersättlichen Fragetriebs. HARTMANN und DÜHRING erkennen nur die dogmatische Methode an, wenn auch jener seins mystisch-spiritistische Methode mit Induktion versetzt, und dieser seine kategorischen Behauptungen auf die exakten Wissenschaften stützt, und mit dialektischen Begriffspirouetten sich über die schwierigsten und unlösbaren Punkte hinüberschwingt; LANGE huldigt der kritischen Methode, welche induktiv-analytisch zu Werke geht und die Untersuchung ruhig und kaltblütig bis zu dem Punkt führt, wo die Hilfsmittel unserer Erkenntnis ihre Dienste versagen, ohne es zu versuchen, durch mystische Inspiration und Pseudo-Induktion, oder durch dialektische Scheinkünste und kategorische Machtsprüche die prinzipiellen Schwierigkeiten zu verdecken oder zu überspringen. Entsprechend seinem realistischen Kulturs der Wirklichkeit erkennt DÜHRING in der Religion nicht, wie HARTMANN, eine aus demselben Mutterschoß entstandene Schwester, er verwirft sie; freilich geht es ihr bei HARTMANN fast ebenso, da dieser die Philosophie weit über sie stellt, ihr jedoch, getreu seinem Mystizismus, nicht alle inhaltliche Bedeutung absprechen will. Für LANGE sind Philosophie und Religion zwei gleichberechtigte Schwestern; was die eine in Begriffen dichtet, dichtet die andere in Mythen. Niemals aber kann die Philosophie die Religion ganz ersetzen, wie dies HARTMANN und DÜHRING natürlich von ihrem System annehmen. Beide haben den Zweck, im Verein mit der Kunst, der Dritten im Bunde, die Schwere des Erdendaseins zu überwinden, den Menschen durch Erhebung in eine Idealwelt ethisch zu reinigen und zu stärken, und, indem sie die "Lücken des Weltenbaus ausstopfen", uns durch den Eindruck idealer Harmonie subjektiv, aber auch nur subjektiv zu befriedigen. Auch das Verhältnis der Philosophie zum praktischen Leben wird von HARTMANN, DÜHRING und LANGE ganz verschieden bestimmt; doch verschieben wir die Erörterung hierüber in den vierten Abschnitt; hier sei nur die bemerkenswerte Tatsache erwähnt, daß alle drei mehr oder weniger sozialistisch gesinnt sind und ein sozial-politisches Zukunftsideal aufstellen, wobei DÜHRING als Sozialdemokrat am weitesten geht, HARTMANN und LANGE zumindest eine Umwandlung und Neugestaltung der Verhältnisse in sozialistischer Richtung verlangen und prophezeien. Ob hier etwa, was bei abstrakten Denkern psychologisch leicht erklärbar wäre, eine Verkennung der realen Verhältnisse und Bedürfnisse und eine utopistische und unpraktische Auffassung der sozialen Probleme vorliegt, - dies zu erörtern, bleibt ebenfalls dem vierten Abschnitt vorbehalten. Aber auch bei diesem Punkt wird sich zeigen, daß die Verschiedenheit der Auffassungen aus dem verschiedenen Begriff der Wirklichkeit sich ableiten läßt. Ganz dasselbe ist der Fall mit der verschiedenen Bestimmung des Verhältnisses der Philosophie zur Naturwissenschaft. Für DÜHRING, der das Wirkliche unmittelbar anerkennt, fällt Philosophie mit Naturwissenschaft zusammen, für HARTMANN dagegen haben die naturwissenschaftlichen Ergebnisse nur Wert, sofern sie sich als Beweismittel seiner mystischen Konzeptionen benutzen lassen, und wo dies nicht ohne Weiteres angeht, steht er nicht an, die naturwissenschaftlichen Tatsachen und Gesetze in seinem Sinn umzudeuten. Für LANGE fällt zwar alles wissenschaftliche Erkennen zusammen mit dem Naturerkennen; aber die Naturwissenschaft ist ihm, ähnlich wie dem PARMENIDES, nur eine "Wissenschaft des Scheins", während es freilich nie möglich ist, ihr als Gegenstück eine "Wissenschaft des Seins" gegenüberzustellen. Das Erkennen muß sich mit der Naturwissenschaft begnügen, aber nicht das Dichten. Für HARTMANN fängt die Erkenntnis erst da recht an, wo es aus dem klaren Gebiet kausaler Erklärung in das Nebelland des Unbewußten hineingeht, während DÜHRING in diesem Punkt mehr mit LANGE übereinstimmt, ohne ihm freilich seine ideale Erhebung über die Wirklichkeit zuzugeben. Aus derselben Verschiedenheit der Fassung der Wirklichkeit fließt auch endlich die verschiedene Stellung zum Pessimismus, die uns im vierten Abschnitte beschäftigen wird, aus derselben auch die verschiedene Stellung zur Vergangenheit der Philosophie, wobei sich freilich DÜHRING, der nur die Wirklichkeit befragen will, an kein bestimmtes, historisches System anschließt, wie HARTMANN und LANGE dies tun. So sehen wir in diesen Systemen die alten Gegensätze des Idealismus und Realismus, des Apriorismus und Empirismus, freilich teilweise auch seltsam verschlungen, verschmolzen und verschränkt, und ihre Versöhnung im Kritizismus wiederkehren. LANGE, der Vertreter des Letzteren, steht mehr über den Parteien, als zwischen ihnen, und seine Anschauung ist am meisten geeignet, Philosophie und Naturwissenschaft, Philosophie und Religion, System und System zu versöhnen, freilich nur negativ. Aber nachdem alle positiven Versöhnungsversuche, alle Kompromisse und Halbheiten, die unter dem Namen "Ideal-Realismus", "Real-Idealismus" usw. laufen, sich als unhaltbar erwiesen haben, ist eine negative Versöhnung immer noch besser, als gar keine (39). Nach ihm soll uns und kann uns die Philosophie keine Wahrheit geben, sondern sie kann uns nur ästhetisch befriedigen und beseligen, sowie ethisch reinigen und läutern. LANGE rettet die Philosophie vor den negierenden Angriffen der Spezialisten, Materialisten und sonstiger Feinde und vor den sie kompromittierenden Phantasien der Dogmatiker, indem er sie beschränkt und von unerreichbaren Zielen auf ihre wahre Aufgabe hinweist. Nach ihm bildet Philosophie mit Religion und Kunst den Dreiklang, der, zumindest für Momente, den befriedigenden Schlußakkord zu den vielen, entsetzlichen Dissonanzen des irdischen Daseins bildet. Die Philosophie ist weder nutzlose Spielerei noch wertlose Spekulation, sondern sie hat die ernste und heilige Aufgabe, den Menschen ideal zu erheben und zu befreien. Sie soll nicht bloß trockene Theorie der Welt sein, ein blutloses Begriffsschema, das doch das Reale nie erreicht, sondern ein lebensvolles idealisiertes Bild der Wirklichkeit. Wie der Dichter aus poetischen Bildern eine Mythenwelt, so erbaut der Philosoph aus logischen Begriffen die intelligible Gedankenwelt. Diese Ansicht LANGEs wurzelt ganz und allein in seiner Erkenntnistheorie; im nächsten, zweiten Abschnitt, werden wir daher die Erkenntnistheorie HARTMANNs und DÜHRINGs entwickeln und diesen Gegensätzen die Erkenntnislehr LANGEs gegenüberstellen, nachdem ich bisher nur eine allgemeine Kennzeichnung der drei Systeme und eine Übersicht ihrer entscheidenden Grundgedanken zu geben versucht habe. ![]()
18) vgl. Eduard von Hartmann, Philosophie des Unbewußten, Einleitendes I, bI: "Methode der Untersuchung und Art der Darstellung". Die erste Auflage erschien 1868, die siebente 1876 (Berlin). Die siebente Auflage erschien in zwei Bänden, (I. Band: Phänomenologie des Unbewußten, II. Band: Metaphysik des Unbewußten) mit Erweiterungen und Nachträgen, die jedoch nur unwesentliche Nebenpunkte betreffen. - Über die Methode der Philosophie hat sich Hartmann noch in einer besonderen Schrift: "Über die dialektische Methode", Berlin 1868, ausgesprochen. Hartmann hat seinem Werk bekanntlich das Motto mitgegeben: "Spekulative Resultate nach induktiv-naturwissenschaftlicher Methode". 19) vgl. Riehl, Über Begriff und Form der Philosophie, Berlin 1872, welcher unterscheidet zwischen der "genialen Form der Philosophie oder Philosophie als Kunst", die an die platonische und der "exakt-wissenschaftlichen Form der Philosophie oder der Philosophie als Wissenschaft", die er die aristotelische Richtung nennt. 20) Was die Wahrscheinlichkeitsmethode Hartmanns betrifft, so haben Lange, Geschichte des Materialismus II, Seite 277 und Kirchmann, "Das Prinzip des Realismus", Vortrag, Seite 45f, sowie Lotze, Logik, Seite 430 und 431 ihre Mängel aufgedeckt; sie ist wissenschaftlich wertlos und hat mit der naturwissenschaftlichen, exakten Wahrscheinlichkeitsmethode nur den Namen gemein. 21) Daß jenes "mystische Gefühl" eine rein subjektive Gefühlsgestaltung ist, hat Dühring mit Recht geltend gemacht, wo er von einem "universellen Affekt" spricht. Selbst wenn aber auch jenes mystische Gefühl mehr als subjektiv sein sollte (was doch sogar Schleiermacher nicht einmal vom Gefühl der Abhängigkeit behaupten kann), wenn also in demselben eine innere Identität mit dem universellen Weltwesen, ein reales Eingehen des Absoluten, des Weltgrundes (was beides nur wesenlose Abstraktionen sind) gegeben wäre, so ließe sich doch bei den ganz differenten Modifikationen jenes Gefühls nichts Positives über das Wesen dieses hypothetischen Absoluten sagen. Es wäre eben überhaupt nichts Positives gegeben, als diese Tatsache selbst, aus der sich aber nichts Besonderes, oder, wenn man so will, alles Mögliche ableiten läßt. Dieses unbestimmte Einheitsgefühl des Ich mit dem Absoluten oder dem Universum ist aber entfernt noch keine bestimmte, positive Eingebung des Absoluten über das Wesen und den Zusammenhang der Welt. Jenes Gefühl läßt sich nun zwar nicht leugnen, allein seine rein subjektive Genesis aus dem psychischen Mechanismus ist nicht einmal mehr ein Problem der Psychologie zu nennen; es ist eine höhere Gefühlsgestaltung, die aus der Mechanik des menschlichen Gefühlslebens mit Notwendigkeit hervorgeht. 22) Über das Verhältnis beider siehe Hartmanns "Gesammelte philosophische Abhandlungen", Berlin 1872; 1) Naturforschung und Philosophie, wiederabgedruckt in den "Gesammelten Studien und Aufsätzen", Berlin 1876. Hartmann stellt sich die Aufgabe, "Philosophie und Naturwissenschaft wahrhaft zu versöhnen, zwischen denen sich seit Kant eine weite Kluft aufgetan hat (!)"; er vindiziert sich das Verdienst, zu dieser Verständigung nicht unwesentlich beigetragen zu haben, namentlich durch den Nachweis, daß Raum und Zeit objektiv real sind und unabhängig vom vorstellenden Subjekt existieren. Dieser Behauptung Hartmanns begegnen wir in seiner Erkenntnistheorie wieder; es ist ein Irrtum, wenn Hartmann meint, dadurch, daß Raum und Zeit für bloß subjektive Formen von der Philosophie erklärt werden, widerspreche letztere der Naturwissenschaft; vielmehr nimmt jene Behauptung der Idealität oder Subjektivität des Raumes und der Zeit heutzutage ihre Hauptargumente gerade aus der Naturwissenschaft, speziell aus der Physiologie der Sinne. Durch jene Behauptung tritt die Philosophie nur mit dem Materialismus in Widerspruch, niemals aber mit der Naturwissenschaft, mit der sie vielmehr durch jene kantische Lehre von der Subjektivität der Anschauungsformen, die bekanntlich Helmholtz von naturwissenschaftlicher Seite aus wieder begründet hat, dauernd versöhnt zu sein scheint. Über das Verhältnis von Naturwissenschaft und Philosophie, wie es sich neuerdings gestaltet, vgl. meine Rezension der Schrift "Philosophie und Naturwissenschaft", von Reuschle in den "Philosophischen Monatsheften", Bd. X, Seite 424. 23) So nennt Hartmann sein System in seiner Schrift "Kritische Grundlegung des transzendentalen Realismus", von der im zweiten Abschnitt die Rede sein wird. 24) Diese Behauptungen begründet Hartmann näher in der Schrift "Schellings positive Philosophie als Einheit von Hegel und Schopenhauer", Berlin 1869 und in den Aufsätzen "Über die notwendige Umbildung der Hegel'schen Philosophie" in den "Gesammelten philosophischen Abhandlungen" (wieder abgedruckt in den "Gesammelten Studien und Aufsätzen). Als Vorgänger speziell in Bezug auf den Begriff der "unbewußten Vorstellungen" erwähnt er Locke, Leibniz, Hume, Kant, Herbart, Fechner, Carus, Wundt, Helmholtz, Lazarus, Zöllner usw. 25) Dührings Hauptwerk in Bezug auf systematische Philosophie ist sein "Kursus der Philosophie als streng wissenschaftliche Weltanschauung und Lebensgestaltung", Leipzig 1875; wie das Hauptwerk Hartmanns enthält auch dieses Hauptwerk Dührings eine Menge anregender Untersuchungen, eine Fülle neuer und überraschender Gesichtspunkte und fruchtbarer Ideen. Das Werk umfaß aber zur größeren Hälfte die praktische Philosophie, die in demselben Maße an Umfang und Bedeutung gewinnt, als die theoretische und metaphysische Seite zurücktritt (vgl. Anm. 94). Ist aber der Wert der Hartmannschen Untersuchungen in Frage gestellt durch die unreine Beimischung eines mystischen Spiritismus und mannigfacher Willkürlichkeiten, so leidet Dührings Werk an derselben schroffen Willkür und Einseitigkeit und an einer übertriebenen Hervorkehrung der eigenen Subjektivität, ebenso wie seine zwar angregende, aber vielfach oberflächliche und parteiische "Kritische Geschichte der Philosophie", zweite Auflage, Leipzig 1874. Über seine Dialektik siehe unten Anm. 28. 26) Über diesen Punkt vergleiche den polemischen Aufsatz von Meinong "Zur Charakteristik der Gesinnungsphilosophie der Gegenwart", Philosophische Monatshefte, Bd. XI, Seite 452f. Die Auslegung der "Gesinnung" als Überzeugungstreue durch denselben beruth auf einem Mißverständnis; Dühring versteht unter der Gesinnung hauptsächlich die Fortpflanzun praktischer, ethischer Ideale durch die Philosophie. Ähnlich sagt Victor Hugo einmal in "Les Misérables": Voir et montrer, cela même ne suffit pas. La philosophie doit être une énergie; elle doit avoir pour effort et pour effet d'améliorer l'homme" [Sehen und Zeigen reicht nicht aus. Philosophie muß eine Energie sein; Es muß die Anstrengung und Wirkung haben, den Menschen zu verbessern. - wp] usw. 27) Daher ist Dühring, wie sich im zweiten Abschnitt näher zeigen wird, ein geschworener Gegner des Positivismus von Comte und Spencer, insofern hier von einem Gebiet es Unerkennbaren (Unknowable) gesprochen wird. 28) Vgl. Dührings "Natürliche Dialektik", Berlin 1865, ein höchst anregendes und ungemein scharfsinniges Werk, das den Ruf Dührings mit Recht begründet hat. Die absprechende Beurteilung desselben durch Lange (in seiner Schrift über Mill) scheint mir höchst ungerecht zu sein. Dieses Werk Dührings enthält die Wurzeln seiner späteren philosophischen Werke, von denen es sich sehr vorteilhaft durch die objektive, leidenschaftslose Ruhe der Untersuchung auszeichnet. 29) Vgl. hierzu Dührings "Kritische Geschichte der Philosophie", zweite Auflage, Leipzig 1874. In den nationalökonomischen Teilen seines Systems schließt er sich an List und Carey an, "Männer, die erst durch seine Würdigung in den Vordergrund getreten sind". 30) Das Hauptwerk Langes ist die "Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart", erste Auflage, Iserlohn 1866, zweite Auflage 1873-75. Die zweite Auflage erschien in zwei Bänden, stark vermehrt und erweitert; der erste Band behandelt die "Geschichte des Materialismus bis auf Kant", der zweite die "Geschichte des Materialismus seit Kant". In der zweiten Auflage hat Lange seinen eigenen Standpunkt viel pointierter hervortreten lassen, daher ist auch Lange weit entfernt, dem Werk "den Charakter einer normalen historischen Monographie zu vindizieren". Mit Recht nennt es Cohen in den "Preußischen Jahrbüchern" eine schriftstellerische Spezialität; es ist eine Art für sich. Der erste Teil ist mehr historisch, der zweite, in dem die Fesselnn der rein historischen Darstellung gesprengt werden, mehr dogmatisch und polemisch; das Resultat der Geschichte des Materialismus ist die Begründung des eigenen Standpunktes, der sich im Wesentlichen an Kant anschließt; derselbe darf aber nichtsdestoweniger ein Versuch einer eigenen und neuen Weltanschauung genannt werden, da Lange nicht nur in vielen, nicht unwesentlichen Punkten von Kant abweicht, sondern auch dessen Grundgedanken mit den haltbaren Gedanken der nachkantischen Entwicklung der Philosophie bereichert. Das Werk und die Geistesarbeit Langes fiel mitten in jene Zeit hinein, in der der Streit um den Materialismus noch viel heftiger tobte, als jetzt. Lange, der die Berechtigung des Letzteren wohl anerkannte, solange er nicht seine Grenzen überschreitet, nahm ihn zur Folie seiner eigenen Weltanschauung, die sich vom historischen Hintergrund glänzend abhebt. - - - Ich stehe nicht an, Langes Werk für die bedeutendste philosophische Tat der Gegenwart zu erklären; aus dem Geist der "Kritik der reinen Vernunft" geboren, ist es überhaupt das hervorragendste Werk unter denjenigen, welche unmittelbar an Kants Vernunftkritik anknüpfen. Eigenartig in seiner Anlage und Durchführung, nicht streng harmonisch, so sogar eigentlich ein Torso, ist es ein Meteor, der in der Dunkelheit, die durch den verworrenen Streit der Parteien herbeigeführt wurde, glänzend aufleuchtete und dessen Spuren unverlöschlich sind. Eine treffliche Kritik des Werkes hat Cohen in den "Preußischen Jahrbüchern", a. a. O. gegeben; unter den Mängeln hebt er insbesondere hervor den unvollkommenen Nachweis der historischen Quellen des Idealismus, insbesondere die Verkennung des erkenntnistheoretischen Charakters der platonischen Ideenlehre. Da die historische Würdigung des Platonismus bestimmend ist für das Urteil über den regulierenden Faktor in den streitenden Weltansichten, so hätte der Platonismus ebenso ausführlich behandelt werden müssen, wie das kantische System. - Derselbe macht ferner auf das Schwanken in der Bestimmung des Verhältnisses von Idealismus und Materialismus aufmerksam, was wesentlich mit dem von mir gerügten Fehler zusammenhängt. Lange sei sicher in der Schätzung des Materialismus, unsicher in der Handhabung seines historischen Begriffs. Die Warnung, in Lange einen Dualisten zu sehen, ist dem unleugbaren Schwanken Langes gegenüber nicht ganz berechtigt; dagegen ist die Bemerkung, der "Standpunkt des Ideals" sollte in einen kritisch strenger nachweisbaren Zusammenhang mit der Welt der Wirklichkeit und den Grundsätzen der Erfahrung gebracht sein, unstreitig begründet. - Vom "Standpunkt des Ideals" kann man eben dasselbe sagen, was Goethe in seinem Briefwechsel mit Schiller von den "Bekenntnissen einer schönen Seele" sagt: "Das Ganze beruth auf den edelsten Täuschungen und auf der zartesten Verwechslung des Subjektiven und Objektiven!" 31) Es ist neuerdings (von Avenarius in der geistreichen und interessanten Schrift "Philosophie als Denken der Welt nach dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes. Prolegomena zu einer Kritik der reinen Erfahrung", Leipzig 1876) die Behauptung aufgestellt worden, im Prinzip des kleinsten Kraftaufwandes ist, wie im Allgemeinen der Grund aller theoretischen Apperzeption, allen Triebes zu begreifen und aller begreifenden Wissenschaften, so im Besonderen auch die Wurzel der Philosophie zu suchen. Es scheint dieses Prinzip ein psychologisch exakter formulierter Ausdruck dessen zu sein, was Lange "die Synthese" nennt. 32) Siehe "Kritik der reinen Vernunft", zweite Auflage, Seite 102f, 152f, 747f. Indem Lange auf diesen Grundbegriff alles Andere bezieht, wird es ihm möglich, die bei Kant vermißte Einheit der apriorischen Prinzipien (der Anschauungsformen und Kategorien) herzustellen und zugleich dadurch den ganzen subjektiven Geistesapparat, der die objektiv gegebenen Empfindungen verarbeitet, wesentlich zu vereinfachen. Die philosophische Spekulation ist als die höchste Form dieser Synthesis zu betrachten, indem hier der menschliche Geist nicht bloß einzelne Teile der "Gegebenheit" herausgreift und in einem einzelnen Gebiet die Einheit und innere Harmonie zu begründen sucht, sondern indem er den ganzen Reichtum des Gegebenen und des durch die niederen Formen der synthetischen Funktion einzeln Vereinigten in einer einheitlichen Form erfaßt und so durch eine Vereinfachung der Prinzipien in harmonisches Weltbild schafft. Dieses idealisierte Weltbild ist aber eine Funktion der Synthesis und ist und bleibt daher bloße Begriffsdichtung. Die Synthesis ist die fundamentale Funktion der Psyche und also auch die Wurzel der Philosophie, wie der Poesie und Kunst. Auch Kym macht in neuester Zeit im Anschluß an Trendelenburg und Kant in seinen "Metaphysischen Untersuchungen" auf die Bedeutung der produktiv-synthetischen Phantasie aufmerksam; sie faßt nach ihm die Sinneseindrücke in ein Ganzes zusammen, ermöglicht das Denken des kausalen Zusammenhangs, entwirft die räumliche Gestalt und die zeitliche Abfolge, konstruiert die Anschauungsbilder, ist ein Ingrediens der Sinneswahrnehmung, und ist durch ihre gestaltentwerfende Bewegung die Erzeugerin von Raum und Zeit. - Der synthetische Trieb im Lange'schen Sinn fällt zusammen mit jenem philosophischen Trieb Platos, aus dem auch neben der Philosophie die Kunst, Sittlichkeit und Wissenschaft hervorgehen. Diese formale Verschmelzung von Poesie und Philosophie gewinnt später (im 3. und 4. Abschnitt) noch tiefere Bedeutung. 33) Seit Kant und Fichte hat niemand mehr mit demselben Ernst wie Lange auf die heilige Kraft der ethischen Verhältnisse, auf den absoluten Wert der Moral hingewiesen. Die gewaltige und großartige Kraft seines ethischen Idealismus steht einzig da in der Gegenwart; und auch in dieser Beziehung hat Kants Geist in Lange einen würdigen Nachfolger erhalten. Daß er nichtsdestoweniger Kants "Kritik der praktischen Vernunft" für verfehlt hält, wird noch später zur Sprache kommen. In diesem, wie in so vielen anderen Punkten, insbesondere der starken Hinneigung zum Skeptizismus steht Lange der Weltanschauung Lotzes sehr nahe. Eine Parallele beider würde eine interessante Aufgabe sein. Freilich ist bei solchen Übereinstimmungen stets auch der Grundsatz festzuhalten: Si duo dicunt idem, non est - idem. [Wenn zwei dasselbe sagen, ist es nicht dasselbe. - wp] 34) Lange weist a. a. O., Seite 141f ausführlich nach, "daß das ganze Prinzip der modernen Philosophie, abgesehen von der deutschen Begriffsromantik, mit kaum nennenswerten Ausnahmen eine streng naturwissenschaftliche Denkweise über Alles einschließt, was uns durch die Sinne gegeben ist; aber fast ebenso allgemein ist auch der Versuch, die Einseitigkeit des auf diesem Weg sich ergebenden Weltbildes durch die Spekulation zu überwinden." Er führt das an Cartesius, Spinoza, Baco, Locke Hume, Leibniz, Kant näher durch. 35) Vgl. Dubois-Reymonds bekannte Rede "Die Grenzen des Naturerkennens", dritte Auflage, Leipzig 1875. Die Besprechung derselben bei Lange (a. a. O. Seite 148f) ist für das Verständnis von Langes Anschauung von großer Bedeutung. Nach Dubois-Reymond sind die Grenzen des Naturerkennens die Kraft, bzw. das Atom nach unten und das Bewußtsein, bzw. die Empfindung nach oben. 36) Man kann diese Parallele noch näher dahin ausführen, daß, wie Glück nur eine subjektive Gefühlsgestaltung und ein rein relativer Begriff ist, so auch das Begreifen, das Ziel und Ideal der theoretischen Funktion, nur ein rein subjektiver Zustand ist, welcher ganz relativer Natur ist. Dem Wechsel der Stimmung entspricht das Schwanken des menschlichen Urteils über das, was "begreiflich" und "unbegreiflich" sein soll. Skeptizismus und Dogmatismus sind ebenso einseitige Seelenzustände, wie Pessimismus und Optimismus. Der Resignation in praktischer Beziehung entspricht der Relativismus oder Kritizismus in theoretischer. Diese Parallele ist für den vierten Abschnitt, wo die Lehre vom Wert der Welt besprochen und der im dritten Abschnitt behandelten Lehre von Wesen der Welt gegenübergestellt wird, von Wichtigkeit. Im ersten Stadium der theoretischen Jllusion hält der Mensch die gegebene äußere Wirklichkeit, die "Gegenwart des Seis" für das allein Reale und glaubt, alle Probleme aus der bloßen Erfahrung lösen zu können. Im zweiten Stadium statuiert er ein hinter der Unmittelbarkeit des gegebenen Seins liegendes, aber wesentlich nach den Erfahrungskategorien Gedachtes als das Reale und hält bald das Logische, bald den Willen usw. für den Urgrund der Welt. Den beiden Stadien der Jllusion folgt die theoretische Resignation, der Standpunkt der epoche, des Kritizismus. 37) Aus der Beeinflussung, die Lange von Comte erfährt, ist auch die Verwandtschaft seiner Anschauung mit der Ansicht Spencers und Tyndalls abzuleiten. Beide huldigen einem "Materialismus der Erscheinung". Die Beeinflussung durch Schopenhauer dagegen ist, wie bemerkt, zweifelhaft. (vgl. oben Anm. 4) 38) "Dem Materialismus" sagt Lange, "fehlen die Beziehungen zu den höchsten Funktionen des freien Menschengeistes. Er ist, da er sich mit der Wirklichkeit begnügt, abgesehen von seiner theoretischen Unzulänglichkeit, arm an Anregungen, steril für Kunst und Wissenschaft, indifferent oder zum Egoismus neigend in den Beziehungen des Menschen zum Menschen. Kaum vermag er den Ring seines Systems zu schließen, ohne beim Idealismus eine Anleihe zu machen ... (vgl. "Geschichte des Materialismus", Seite 543 und 544) Der Materialismus ist streng durchzuführen in der Erscheinungswelt, aber er ist metaphysisch unberechtigt - dies ist die wesentliche Überzeugung Langes und enthält zugleich die Grenzbestimmung zwischen Materialismus und Metaphysik. Ebenso ist es mit dem Pessimismus, was im vierten Abschnitt zur Sprache kommt. Auf der anderen Seite spricht er sich gegen den Idealismus häufig genug ebenso scharf oder womöglich noch schärfer aus: "Jede Verfälschung der Wirklichkeit greift die Grundlagen unserer geistigen Existenz an. Gegenüber metaphysischen Erdichtungen, welche sich anmaßen, in das Wesen der Natur einzudringen, und aus bloßen Begriffen zu bestimmen, was uns nur die Erfahrung lehren kann, ist daher der Materialismus als Gegengewicht eine wahre Wohltat" (a. a. O., Seite 543). Die Bestimmung des Verhältnisses des Materialismus und der idealistischen Metaphysik ist im 2. und 3. Abschnitt näher ausgeführt. Man sieht schon hier, wie Lange genau und haarscharf die Grenzen bestimmt, bis zu denen der Materialismus und die Metaphysik ihre Berechtigung finden. Aber daß beide innerhalb gewisser Grenzen berechtigt sind, das ist es eben, was Lange zum erstenmal deutlich nicht bloß behauptet, sondern auch mit Angabe ihres Geltungsbereichs genau bestimmt hat; wodurch die Grenzstreitigkeiten beider einer endgültigen Regulierung nahe gebracht worden sind. Mit Recht hebt Cohen in den "Preußischen Jahrbüchern" als die beiden Grundgedanken Langes hervor: 1) Man denke den Materialismus aus und man bringt ihn zur Selbstauflösung. 2) Der Materialismus ist die einfachste, ursprünglichste, konsequenteste, die empirische Forschung regulierende Weltansicht, nicht ein systematisches Lehrgebäude, sondern eine Richtung, eine Methode der Welterklärung. - Die einfache Konsequenz hiervon ist, daß dem Materialismus der Gegenwart insoweit Bedeutung zuerkannt wird, als der kritische Idealismus selbst ein Materialismus ist. 39) Was unter einer negativen, formellen Versöhnung zu verstehen ist, ist wohl kaum mißzuverstehen. Wenn Lessing im "Nathan" das Judentum, das Christentum und den Islam, diese streitenden Religionssysteme, durch jene bekannte Fabel zu versöhnen sucht, so ist dies auch eine negative Versöhnung. Eine positive Versöhnung wäre der freilich auch oft gemachte Versuch, die Lehren derselben zu verschmelzen, zu amalgamieren und so eine materielle Verbindung und Durchdringung derselben herbeizuführen. Ähnlich verhält es sich mit der durch Lange herbegeführten Versöhnung des Idealismus und Materialismus. Mit edler maßvoller Einsicht, durch die, wie in so vielem Anderen, besonders in der scharfen Kritik, Lange an Lessing erinnert, sucht er zwischen den verschiedenen Parteien und Gegnern Frieden zu schließen, indem er einmal denselben zeigt, daß und wie weit jede Richtung für sich berechtigt ist und mit Notwendigkeit aus der Natur der menschlichen Anlagen und der objektiven Gegebenheit folgt und indem er zweitens denselben die Überzeugung beizubringen sucht, daß eben kein System die volle Wahrheit besitzen kann, da das, was wir Wahrheit zu nennen gewohnt sind, nur relative Wahrheit ist, die absolute Wahrheit aber überhaupt außerhalb des Bereichs allen Erkennens liegt. Lange wendet sich mit seiner vernichtenden Kritik sowohl gegen den Idealismus, wie gegen den Materialismus mit denselben Waffen, die aus dem Gedankenarsenal des kantischen Systems stammen, und die doppelschneidig den Dogmatismus zerstören, mag er sich in der Form des Materialismus oder in der des Idealismus darstellen. |