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LUDWIG NOIRÈ
Sprachwissenschaft und Philosophie

"Die ganze Frage nach der menschlichen Vernunft ist an die den Menschen allein eigentümlichen allgemeinen oder abstrakten Begriffe geknüpft."

Die Forschung nach dem Wesen, dem Ursprung und der Bestimmung des Menschen wird stets ihr Ziel verfehlen, wenn sie nicht von diesem Punkte ausgeht und nach diesem Punkte, als ihrer höchsten und letzten Aufgabe hinstrebt.

Der Zusammenhang der Begriffe mit dem Vernunftdenken einerseits, dessen ganze Funktion sich durch jene Elemente vollzieht, und mit den Sprachlauten andererseits ist noch von Niemandem geleugnet worden. Ein dritter Zusammenhang findet statt mit den Objekten; dieser letztere ward die Quelle unendlichen Irrtums, indem man Objekte und Begriffe zu nahe zusammensetzte und nicht eingedenk war, daß alle Objekte erst durch das Vernunftdenken entstehen, daß sie wenigstens durch letzteres erst hindurchgegangen sein müssen, um das zu werden, was sie für uns sind. Glauben, daß der Begriff eines Baums unmittelbar aus den Bäumen hervorgewachsen, und daß nichts vonnöten gewesen sei als "Abstraktion", ist kindlicher Wahn.

Die vergleichende Sprachwissenschaft hat - oder richtiger hätte können unendliches Licht ausgießen über das Entstehen, die Filiation (Abstammung) und das Wesen der Begriffe, wenn sie nicht, vom philosophischen Geiste gänzlich verlassen und einzig auf das empirische Material, das ist die Laute sich beschränkend, deren Gesetze allein zu erforschen sich abgemüht hätte und dabei der inneren Werkstätte des Geistes, aus deren Gepräge alle Bedeutungen und Begriffe hervorgingen, ganz uneingedenk wäre. Auch hier bewährte sich das schöne, ewige Wort: "Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig."

Die Folge dieser Einseitigkeit war die Dürftigkeit des letzten Resultats, das die Sprachforschung aus ihren ungeheuren, mit Riesenfleiß zusammengetragenen Vorräten zu ziehen vermochte. Dieses Resultat, die philosophische Ausbeute, die aus der genauesten un minutiösesten Untersuchung des gesamten Sprachstoffes - der doch Körper, Abbild und Schöpfung des Geistes selbst ist - hervorging, lautete:

"Alle Worte sind aus letzten Elementen von beschränkter Zahl hervorgegangen, den Wurzeln oder einsilbigen Lauttypen. Deren erste, ursprünglichste Bedeutung war eine  Tätigkeit." 
So groß war die Blindheit, daß man nicht einmal fragte, welcher Art denn jene durch die elementarsten Bestandteile der Lautsprache bezeichneten Tätigkeiten gewesen seien.

Eine so dürftige Frucht verlohnte wahrlich nicht die ungeheuren Anstrengungen, die gemacht wurden, um in das ureigenste Gebiet des Geistes einzudringen. Ja ich möchte sagen: das wußte man schon längst! Das wußten schon vor vielen Jahrhunderten die indischen Grammatiker, von deren Wirksamkeit überhaupt die wissenschaftliche Methode der Sprachvergleichung sich direkt ableitet, daß wußten die semitischen Sprachgelehrten, das ahnten sogar die Griechen, obschon bei ihnen, wie der Dialog des KRATYLOS beweist, die etymologische Wissenschaft noch in solcher Kindheit sich befand, daß viele Erklärer dieses Dialogs die von SOKRATES vorgebrachten Ableitungen für Spaß oder, was noch seltamer wäre, für Ironie gehalten haben.

Ich glaube sogar, daß sich die Menschen jener Wahrheit von jeher instinktiv bewußt gewesen sind, da ihnen doch gewiß auffallen mußte, daß ohne Verbum, d.h. Ausdruck und Element der Tätigkeit, überhaupt kein Sagen und Reden möglich war.

Einzelne Sprachforscher allerdings, die positives Wissen zugleich mit philosophischem Geiste vereinigten, suchten über die beschränkten Berge der bloßen Lautforschung den Blick in die freien Regionen des Denkens zu richten und von der Philosophie Aufklärung über das zu verlangen, was die empirische Sprachforschung in alle Ewigkeit nicht zu leisten vermag. Unter diesen strahlen in hellem Lichte die Namen MAX MÜLLER und LAZARUS GEIGER. Sie wußten, daß ohne Vernunft keine Sprache, ohne Sprache keine Vernunft denkbar ist, und daß sich nur an den Laut halten, ohne sich um die Bedeutungsgesetze zu kümmern ein Unterfangen ist, an Torheit nur dem vergleichbar, wenn ein Ingenieur auf der Eisenbahnstrecke nur eine einzige Schiene legen wollte.

Das hohe Verdienst dieser beiden Männer, durch welche die von HERDER und WILHELM von HUMBOLDT begründete Sprachphilosophie in neuen Fluß gebracht worden ist, habe ich in meinem "Ursprung der Sprache" und dessen Ergänzung: "Max Müller und die Sprachphilosophie" eingehend zu würdigen versucht und kann daher auf diese Schriften verweisen.

Was SCHLEIDEN und SCHWANN für die organischen Wesen geleistet, die Entdeckung der Zelle und ihrer Umbildung zur Übernahme der gesonderten Lebensfunktionen, daß ist auf geistigem Gebiete durch Nachweis der Entstehung und des Wesens der  allgemeinen Begriffe , der wahren Zellenelemente alles Denkens, noch zu leisten.

Hier stellt sich uns als nächste und wichtigste Aufgabe die Aufklärung des Zusammenhangs der Begriffe mit den Objekten, d.h. jenen besonderen aus der Sinnlichkeit stammenden  Einzelvorstellungen , die unsere Realität ausmachen, dar. Wie wurden Vorstellungen zu Begriffen, wie kommen Begriffe dazu, Vorstellungen in sich zu begreifen und sie wieder zu erwecken? Auf diese Frage - wichtigste in der ganzen Philosophie - hat noch niemand eine befriedigende Antwort gegeben. KANT sagt darüber:

"Der Begriff von einem Hunde bedeutet eine Regel, nach welcher meine Einbildungskraft die Gestalt eines vierfüßigen Tieres allgemein verzeichnen kann, ohne auf irgend eine einzige Gestalt, die mir die Erfahrung bietet, oder auch ein jedes mögliche Bild, was ich in concreto darstellen kann, beschränkt zu sein. Dieser Schematismus unseres Verstandes, in Ansehung der Erscheinungen und ihrer bloßen Form, ist eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten und sie unverdeckt vor Augen legen werden."
Das hier von KANT charakterisierte Problem, dessen Lösung von ihm für unmöglich oder doch für höchst unwahrscheinlich erklärt wird, ist der Gegenstand des vorliegenden Textes. Mit der Aufklärung des Ursprungs der Sprache war es möglich geworden, auch in dieses Geheimnis einzudringen.

Das Wachstum der Sprache geht wie die Entwicklung aller Organismen von einem einzigen Keime aus, der sich entfaltend dann jene Mannigfaltigkeit hervorbringt, die der Idee des Organismus und seinen äußeren Lebensbedingungen entspricht. Die Entstehung der verschiedenen Arten der Begriffe, der demonstrativen, loghschen Redeteile geht aus der Natur der Sprache hervor, sie entwickeln sich aber nicht aus dem Nichts, nicht durch des Himmels Tau, wie der Dichter sagen würde, sonder aus bereits vorhandenem organischem Stoffe.

Die Methode, welche ich befolge, das Heranziehen des Inhalts der Sprache und des Denkens zur Aufklärung ihrer Form und Struktur hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Aufgabe und dem Verfahren KANTs in der Kritik der reinen Vernunft. "Daß es der reinen oder formalen Logik (die ARISTOTELES gleich vollkommen und fertig geschaffen hat)", sagt er im Vorwort zur zweiten Auflage seines Meisterwerks,

"so gut gelungen ist, diesen Vorteil hat sie bloß ihrer Eingeschränktheit zu verdanken, dadurch sie berechtigt, ja verbunden ist, von allen Objekten der Erkenntnis zu abstrahieren, und in ihr also der Verstand es mit nichts weiter, als mit sich selbst und seiner Form zu tun hat. Weit schwerer mußte es natürlicherweise für die Vernunft sein, den sicheren Weg der Wissenschaft einzuschlagen, wenn sie nicht bloß sich selbst, sondern auch mit den  Objekten  zu schaffen hat, daher jene auch als Propädeutik (Einführung) nur den Vorhof der Wissenschaften ausmacht, und wenn von Kenntnissen die Rede ist, man zwar eine Logik zur Beurteilung derselben voraussetzt, aber die Erwerbung derselben in eigentlich oder objektiv sogenannten Wissenschaften suchen muß."
Das Verhältnis des Denkens zu seinem wirklichen, stets anders woher gegebenen Inhalt, also zu Objekten, das war der Gegenstand der von KANT geschaffenen transzendentalen Logik, der Gegenstand von Untersuchungen, die kein Sterblicher vor ihm gewagt und die das Senkblei in die untersten Tiefen aller menschlichen Erkenntnis hinabbringen ließen. Die Sonderung des apriorischen Teils aller Erkenntnis von dem empirischen war das große Resultat jener Untersuchungen.

Durch Beachtung des ältesten Inhalts der sprachlichen Begriffe wird die Sprachwissenschaft aus den engen Banden der bloß formalen, grammatischen Auffassungsweise befreit, es wird ein Blick möglich in das allererste Werden der zum Lichte emporringenden Vernunft unter gegebenen äußeren Verhältnissen. Gleichzeitig sehen wir, wie sie selbst aus und an dem materialen Gebilde ihre eigenen Formen entwickelt und dadurch stets größere Selbständigkeit und Selbsttätigkeit gewinnt. Die Geschichte der menschlichen Vernunft kann nur aus der Sprachentwicklung geschrieben werden.

Diese von Außen zuströmenden Aufklärungen und Erkenntnisse müssen auch der jetzt mehr als je in enge Buchstabenkreise gebannten etymologischen Wissenschaft zu Hilfe kommen. Die Berücksichtigung des äußeren Lebens der Urmenschen muß zur Leuchte, die Gesetze der Bedeutungsentwicklung müssen zum Kompass werden, wenn diese Wissenschaft nicht an ihren Grenzen angelangt sich in ewigem fruchtlosen Wirbel drehen will. Bereits beginnt sich an ihr zu bewahrheiten, was KANT von der erkenntnistheoretischen Wissenschaft überhaupt sagt:

"Wenn diese Wissenschaft nach viel gemachten Anstalten und Zurüstungen, sobald es zum Zwecke kommt, ins Stocken gerät oder um diesen zu erreichen, öfters wieder zurückgehen und einen andern Weg einschlagen muß; ingleichen, wenn es nicht möglich ist, die verschiedenen Mitarbeit in der Art, wie die gemeinschaftliche Absicht verfolgt werden soll, einhellig zu machen: so kann man immer überzeugt sein, daß ein solches Studium bei weitem noch nicht den sicheren Gang einer Wissenschaft eingeschlagen, sondern ein bloßes Herumtappen sei."
Nicht minder paßt auf das Etymologisieren in den ältesten Bestandteilen der Sprache, da wo die historische Leitung aufhört, die Ergebnisse aber gerade die unvergleichlich wichtigsten sein müßten, das was KANT von den metaphysischen Untersuchungen seiner Zeit sagte:
"In ihr (der Metaphysik) gerät die Vernunft kontinuierlich ins Stocken, selbst wenn sie diejenigen Gesetze, welche die gemeinste Erfahrung bestätigt (wie sie sich anmaßt), a priori einsehen will. In ihr muß man unzählige male den Weg zurücktun, weil man findet, daß er dahin nicht führt, wo man hin will, und was die Einhelligkeit ihrer Anhänger in Behauptungen angeht, so ist sie noch so weit davon entfernt, daß sie vielmehr ein Kampfplatz ist, der ganz eigentlich dazu bestimmt zu sein scheint, seine Kräfte im Spielgefechte zu üben, auf dem noch niemals irgend ein Fechter sich auch den kleinsten Platz hat erkämpfen und auf seinen Sieg einen dauernden Besitz gründen können. Es ist also kein Zweifel, daß ihr Verfahren bisher ein bloßes Herumtappen und, was das Schlimmste ist, unter bloßen Begriffen gewesen ist."
Und damit stimmt vollkommen, was LAZARUS GEIGER sagt, indem er die Bemerkung von GEORG CURTIUS, die Bedeutungslehre erscheine dem Sprachforscher als eine Art von philosophischer Fernsicht, kritisiert:
"Das kopernikanische System wurde notwendig, da die astronomischen Tatsachen nicht mehr zum ptolemäischen stimmten. So ist es zum Glück für die Menschheit überall. Das Spezielle und Allgemeine, das Praktische und das Ideelle sind eigentümlich miteinander verflochten; oft erntet das Eine was das Andere säet. So würde sich denn auch die philosophische Fernsicht, welche CURTIUS sich ausmalt, schwerlich verwirklichen, wenn die Bedeutungslehre nichts als ein solcher interessanter philosophischer Luxus wäre; wenn nämlich ohne sie die sprachlichen Planeten richtig laufen wollten. Ja wer weiß, ob eine solche Lehre, wenn sie aufträte, auch nur Beachtung fände, selbst bei denen, die sie mit so vieler Einsicht fordern! Aber die Sachen stehen in Wirklichkeit nicht so; sie stehen so, daß man kaum zuviel behauptet, wenn man sagt: Es ist kein Fortschritt in der Etymologie, es ist überhaupt keine Sicherheit in ihr möglich, wenn es nicht vorher gelingt, jene als ungewisses letztes Ziel erhofften Bedeutungsgesetze zu ermitteln."
Bedeutungsgesetze und Begriffsentwicklung sind aber eins; die Einsicht in Ursprung und Wesen der Begriffe also vor allem anderen notwendig. Sprachwissenschaft von Philosophie trennen heißt Leib und Seele auseinanderreißen.

Die allgemeinen Begriffe
Die menschliche Sprache ist Lautsprache. Sie kann also definiert werden als "Bezeichnung durch Laute".

In dieser Definition sind zwei Faktoren von gleicher Wichtigkeit enthalten, das was bezeichnet und das was bezeichnet wird. Nur durch die Konkurrenz und Identifikation dieser beiden Faktoren entsteht das was man ein Wort nennt. Der Frosch, der Hund, der geschwätzige Papagei haben Laute, der Mensch hat Worte.

Durch Worte bezeichnen heißt benennen. Nennen heißt mit einem Namen bezeichnen.  Nennen  und  Kennen  sind ursprünglich stammverwandt. Das sanskritische  naman  (lat. nomen, goth. namo) steht für  gnaman,  Kennzeichen. So wie man sagt: "nomen est omen", könnte man auch sagen "nomen est gnomen". Man nennt was man kennt, man kennt was man nennt.

Fragt man nun: welche Wesen erhielten am frühesten Namen, welche erhalten sie auch heute noch immer aufs neue, bei welchen ist also Namensgebung am natürlichsten und notwendigsten? so wird ein naiver, unbefangener Sinn sofort anworten: Der Mensch selbst, seine Familie, seines Gleichen. Und wenn zwischen Nennen und Kennen ein so naher Zusammenhang ist, so hat diese Antwort auch eine innere Wahrscheinlichkeit, denn was kann dem Menschen bekannter und wichtiger sein, als er selbst, seine Geschwister, Kinder, Eltern?

Nach dieser Auffassung wäre also Name ursprünglich identisch mit Eigenname. In der Tat sehen wir auch die etymologische Neugierde, wenn ich so sagen darf, schon in sehr früher Zeit gerade an den Eigennamen sich versuchen; in den ältesten Teilen der Bibel, in den Rigvedaliedern und auch bei HOMER finden sich genug Beispiele der Namendeutung. Ja selbst in in dem bewunderungswürdigen Dialog KRATYLOS, in welchem zum erstenmale die großen Probleme der Sprache und ihres Ursprungs mit staunenswerter Tiefe und Geistesklarheit untersucht werden, geht der platonische SOKRATES von der Erklärung der Eigennamen aus.

Freilich berichtigt er gleich sich selbst, indem er das Charakteristische der Worte, nur Gattungen zu benennen, einsichtsvoll hervorhebt. Die Gattung selbst aber wird als etwas Selbstverständliches, in der realen Welt unmittelbar Gegebenes bestimmt; das Generelle aus dem Genetischen abgeleitet. Von der Kuh stammt die Kuh, vom Pferde das Pferd, vom König der König, so pflanzen sich also die Wesen und mit ihnen die Namen fort. Wenn daher von einem gottesfürchtigen und braven Manne ein Ruchloser abstammt, so darf er nicht nach jenem, sondern nach der Gattung, zu welcher er gehört, benannt werden.

Der Versuch, den Ursprung der Sprache an Eigennamen wenn auch nicht von Menschen, so doch von individuellen Wesen anzuknüpfen, ist in der neueren Zeit von einem großen Denker wiederholt worden, nämlich von ADAM SMITH, der die Ansicht aussprach, die Urmenschen hätten zuerst  ihren  Fluß,  ihren  Berg,  ihre  Höhle mit Worten bezeichnet, dann sei durch Übertragung daraus  der  Fluß,  der  Berg,  die  Höhle geworden, etwa so wie das Kind jeden älteren Mann Papa, jeden jüngeren Onkel nennt. Sollen wir nun annehmen, daß das Denken in der langen Zeit zwischen PLATON und ADAM SMITH so große Rückschritte gemacht, daß letzterer etwas wiederholt hätte, dessen Irrtümlichkeit jener schon eingesehen und widerlegt hatte?

Nein. Das Problem war unendlich vertieft worden; was der göttliche PLATON durch seinen großen Geistesblick intuitiv erkannt hatte, das sollte nun in wissenschaftlicher Fassung seine Begründung erhalten und mit neu erworbenen Wahrheiten, die zum Teil mit jener intuitiven Erkenntnis in Widerspruch standen, in Einklang gebracht werden.

Ein Begriff, der dem ganzen Altertum fremd war, der nur hie und da ahnend gestreift wurde, war der Begriff des  Begriffs . "Vocabula sunt notae rerum", die Worte bezeichnen die Dinge, so dachten die Alten. Der objektive Charakter der menschlichen Erkenntnis beherrschte sie ausschließlich. Es gehörte nicht weniger als die gesamte Geistesarbeit der viel geschmähten und doch so hoch bedeutsamen mittelalterlichen Philosophie dazu, um diesen Irrtum zu widerlegen.

PLATON und ARISTOTELES wußten beide recht wohl, daß es keine Wissenschaft der Einzeldinge, also des Individuellen geben könne. Sie wurden beide durch den tiefen Einblick in die Funktion des Denkens, die Eigentümlichkeit der Erkenntnis zu der Wahrheit gedrängt, daß nur das Generelle, das Allgemeine, die Universalien, wie sich das Mittelalter ausdrückte, in unserem Erkenntnisvermögen eine Rolle spielen. da es aber doch das letzte Ziel aller Erkenntnis sein muß, das wahrhaft Seiende zu ergründen, so verlegten sie das wahre Wesen der Dinge, PLATON in die Ideen, ARISTOTELES in die Formen.

Die Ideen sollten nach PLATON der menschlichen Seele aus einem Vordasein dunkel bewußt sein, durch Materie und Sinnlichkeit wie durch einen Schleier getrübt werden, die Formen dagegen kamen nach ARISTOTELES der Materie selbst zu, wurden durch die Sinne aufgefaßt und durch ein eigentümliches Vermögen unserer Vernunft verbunden und verstanden. Idealismus und Realismus standen sich so gegenüber, beide aber behaupteten, das Wesen der Dinge bestimmt zu haben.

Nach PLATON entsprach also jedes Wort einer Idee, nach ARISTOTELES einer Form. In dieser Auffassung haben die Worte, wie man leicht sieht, kanonisches Ansehen; außerdem werden sie direkt mit den Dingen verbunden, gelten als deren Äquivalente, denn dem PLATON waren eben die Ideen das wahrhaft Reale, wie dem ARISTOTELES die durch die Formen charakterisierten Einzelndinge.

Der Streit der mittelalterlichen Scholastik drehte sich recht eigentlich um den letzteren Punkt. Sie fragte mit unermüdlichem Eifer, ob die Universalien, die platonischen Ideen, als  die  Eiche,  das  Pferd usw., oder die Einzelwesen, die nach ihren Formen aufgefaßten Dinge, die individuelle Eiche, das individuelle Pferd das wahrhaft Reale seien. Auf jener Seite standen die Realisten, auf dieser die Nominalisten.

Die Frucht dieses Streites war die Erkenntnis, daß das den Worten Entsprechende, ihr geistiger Inhalt oder, um mich wieder des im Eingange gebrauchten Terminus zu bedienen,  das Bezeichnete  keineswegs Dinge, sondern Begriffe sind. Diese Einsicht wurde gefördert durch die von den Nominalisten un schroffer und extremer Weise aufgestellte Behauptung, daß die Worte an sich ja gar nichts anderes seien, als materielle Erschütterungen der Luft,  flatus vocis.  Diese Herabwürdigung der Sprache hatte gleichwohl das Gute, daß eine scharfe Unterscheidung möglich wurde zwischen dem Worte als bloßem Laut und dem bei dem Laute Gedachten, seinem begrifflichen Inhalt und daß nun letzterer für sich zum Gegenstande der Untersuchung gemacht werden konnte. Es trat, um es kurz zu sagen, zwischen das Wort als sinnliches Zeichen und die Objekte als Mittelglied, der Begriff.  Res non praedicatur,  nicht ein Ding kann Gegenstand der Aussage, mithin des Denkens sein, sonder ein Begriff.

Was sind nun aber Begriffe und woher stammen sie? Bei dieser Frage befand man sich wieder innerhalb der Fesseln der Sprache, da man doch offenbar nur mit den vorhandenen Begriffen gemäß dem in dem Wortvorrate bereits ausgeprägten Reichtum rechnen konnte. Aber das Wort, die Sprache als Laut mußte nun mehr und mehr in den Hintergrund treten, da man von der richtigen Überzeugung sich durchdringen ließ, in den Begriffen den bei weitem wichtigsten Teil, den geistigen Inhalt derselben erforschen zu können.

Während also in dem platonischen Dialog die Frage zunächst erörtert wird, ob jedem Dinge sein Name mit Recht zukomme oder nicht, ohn daß sich die Redenden darüber klar werden, ob sie den Sinn oder den Laut meinen (beides war noch ungeschieden), werden schon im Mittelalter und mehr noch in der neueren Philosophie die Begriffe sowohl in ihrem Verhältnisse zum denkenden Geist, ihrer Mutterstätte, als zu den von ihnen benannten oder nach ihnen aufgefaßten Dingen Gegenstand der philosophischen Betrachtung.

Dieser wichtige Wendepunkt knüpft sich hauptsächlich an den Namen des großen mittelalterlich Denkers ABÄLARD, den man darum mit Recht den Vater des Konzeptualismus nennen darf, da er dem Begriff (conceptus) seine wichtige Stellung in der Erkenntnislehre anwies, die er seitdem auch behauptet hat. Bei ihm hat allerdings das Wort  conceptus  noch nicht die Färbung, die es heute bei uns hat, die wir sofort an das Zusammenfassen sinnlicher Merkmale, Vorstellungen oder auch von Begriffen in dem einzelnen Begriff oder Wort dabei denken, - vielmehr wurde er zur Wahl dieses Wortes veranlaßt durch das Auffassen des bei den Worten Gedachten von Seiten des Hörenden und wohl auch das Zusammenfassen der einzelnen Redeteile (also des Subjekts und des Prädikats) in dem Urteile, welches ja die Hauptform des Denkens ist.

Daß die Universalien  prädiziert  werden, daß sie Begriffe seien in dem Geiste des Menschen, war die richtige Aufklärung, welche die Menschheit diesem großen Geiste verdankte. Nunmehr erst konnte das Denken aus der beisher ganz unvermeidlichen Zirkelbewegung herauskommen, die in der Frage enthalten war, ob die Gattung, die Art oder die Einzeldinge existierten. Solange das aristotelische: "Art nenne ich das wahre Sein, die erste Wesenheit eines Dings.", Gültigkeit hatte, war dies ganz unmöglich: denn das wahre Sein eines Dings ist eben sein individuelles Dasein, welches als solches niemals Gegenstand einer Erkenntnis sein kann, als deren Kennzeichen ja ARISTOTELES selber das  Allgemeine  aufgestellt hatte.

Seitdem aber ABÄLARD nachdrücklich uns als eine hochwichtige Wahrheit darauf hingewiesen, daß nicht die  Wesenheit  oder  Dingheit,  sondern das  was dabei gedacht wird  durch das Wort ausgesprochen und prädiziert wird, und daß dieses Gedachte eben das Generelle, der Begriff (intellectus conceptus) sei, der dann seine Anwendung auf die Dinge finde und seinen Inhalt aus denselben schöpfe, war der heilsame Weg betreten, der endlich durch KANT zu dem letzten, erlösenden Wort führte.

Das Wort als Laut ist also ein Zeichen, aber nicht für ein Ding, für eine reale Wahrheit, sondern für etwas Gedachtes , das selbst bedeutungsvoll, significativum ist und dadurch erst etwas  von  den Dingen prädiziert. Jedes Wort bezeichnet also zunächst ein Prädikat, das seiner Natur nach universal ist, indem es überall Anwendung findet, wo sich ein entsprechendes Sein findet, auf das es übertragen wird, welches alsdann das significativum ist, aber nicht direkt durch das Wort (signum), sondern durch den Begriff.
LITERATUR - Ludwig Noirè, Logos - Ursprung und Wesen der Begriffe, Hildesheim/Zürich /New York 1989