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JÜRGEN BONA-MEYER
(1829 - 1897)
Die Philosophie und unsere Zeit

"Bald schien die Philosophie einer eigenen wissenschaftlichen Bedeutung vollständig zu ermangeln und sich in philosophische Grundelemente der einzelnen Wissenschaften auflösen zu müssen. Die Naturphilosophie war nichts als eine Prinzipienlehre der Naturkunde und als solche Sache der Naturforscher, die Psychologie fiel als Beschäftigung mit der Funktion des Gehirns und der Sinne den Physiologen zu, die Religionsphilosophie galt als Sache der Theologen, auch die Lehre der Moral übernahmen zumeist die Theologen, Rechtsphilosophie sollten soweit nötig die Juristen lehren, Ästhetik war Sache der Kunsthistoriker und nur die Logik sollte noch allenfalls als die eigentlich philosophische Grundwissenschaft aller Wissenschaften bestehen bleiben. Selbst diese brachten Einige in eine so nahe Beziehung zur Grammatik, daß Zweifel über die Grenzlinien beider Wissenschaften entstehen konnten."

Von unserer Zeit geht die Rede, daß sie die Beschäftigung mit philosophischen Fragen nicht sonderlich liebt. Auch unser Volk, das bisher als Mustervolk philosophischer Träumerei von anderen Völkern bewundert und bespöttelt wurde, soll endlich erwacht sein aus seinem Traum und sich um die Ordnung seiner irdischen Angelegenheiten mehr bekümmern als um die Zerstreuung philosophischer Nebel in Wolkenkuckucksheim. Mit der Philosophie als Wissenschaft soll es vorbei, ihre überhaupt löslichen Probleme sollen nunmehr zu Aufgaben der einzelnen Wissenschaften selbst geworden sein. Die Töchter der gemeinsamen Mutter beanspruchen Selbständigkeit und mögen sich nicht mehr beaufsichtigen oder berichtigen lassen; lieber wäre es ihnen, die alte und mürrisch gewordene Mutter legte sich endlich in Frieden zu Grabe. Viele sollen auch meinen, die Philosophie liege bereits in ihren letzten Zügen und schicke sich an zum Sterben. Nur im Winkel der Schulen friste sie noch ein kümmerliches Dasein, eine Macht im Leben sei sie nicht mehr und nur bittweise erlange sie noch einzelne Gunstbezeugungen in mitleidiger Berücksichtigung ihrer ehemaligen Größe. So verkünden triumphierend ihre Feinde, darüber klagen jammernd ihre Freunde.

In Wahrheit sind dieses Triumphgeschrei und diese Klagen unberechtigt. Von beiden Seiten wird eine allerdings veränderte Zeitanschauung falsch und einseitig gedeutet; bei richtiger Auffassung dieser Veränderung werden wir uns überzeugen, daß unsere Zeit den philosophischen Fragen nicht feindseliger oder gleichgültiger gegenübersteht als irgendeine frühere Zeit. Vielmehr ist eine zunehmende Ausbreitung der Teilnahme für philosophische Fragen in unserer Zeit unschwer zu erkennen.

Mit den Klagen über die zunehmende philosophische Gleichgültigkeit hat es offenbar dieselbe Bewandtnis wie mit den Klagen über die Verschlechterung der Zeiten. Die schöne goldene Zeit, deren Verlust schmerzlich beklagt wird, ist bei keinem noch so weit erstreckten Rückblick aufzufinden. Die Unzufriedenen unserer Tage sind geneigt, die Zeiten HEGELs, FICHTEs und KANTs als Höhepunkte einer allgemeineren philosophischen Teilnahme zu rühmen. HEGEL und KANT waren dieser Meinung nicht, sie sprachen ähnliche Klagen aus, wie die sind, die wir jetzt hören. Als HEGEL nach Berlin berufen seine Vorlesungen eröffnete, beklagte er die Seichtigkeit und Schalheit seiner Zeit, in welcher der Verzicht auf vernünftiges Erkennen sich den Namen Philosophie angemaßt hat. So schlecht habe es nie um diese Wissenschaft ausgesehen, seitdem sich die Philosophie in Deutschland hervorzutun angefangen hat.
    "Lessing sagte zu seiner Zeit, die Leute gehen mit Spinoza wie mit einem toten Hund um: man kann nicht sagen, daß in neuerer Zeit mit dem Spinozismus und dann überhaupt mit spekulativer Philosophie besser umgegangen wird." -
So lautet eine Äußerung HEGELs an anderer Stelle. HEGEL sprach zwar von der schon sichtbaren Morgenröte des kommenden Tages, aber der volle Aufgang seiner Weisheitssonne brachte keineswegs so viel Licht, daß nicht HEGEL selbst noch am Abend seines Lebens das populäre Losziehen gegen die Philosophie zu beseufzen hatte, das umso populärer ist, mit je geringerer Einsicht und Gründlichkeit es geschieht. - Mit noch dunkleren Farben schilderte FICHTE die philosophische Gleichgültigkeit seiner Zeit. Die Menschenwelt stand nach seiner Ansicht damals im Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit, zu der die völlige Gleichgültigkeit gegen alle Wahrheit gehörte. Was die Menschen dieser Zeit nicht begreifen, - sagte er - das ist für sie nicht da, und sie begreifen Nichts, als was sich auf ihr persönliches Dasein und Wohlsein bezieht. Auch KANT gedachte in der Vorrede zu seiner Vernunftkritik der Klage über die zeitliche Vernachlässigung der einst so hochgeehrten Philosophie.
    "Es war eine Zeit" - heißt es daselbst - "in welcher sie die Königin aller Wissenschaften genannt wurde und, wenn man den Willen für die Tat nimmt, so verdiente sie, wegen der vorzüglichen Wichtigkeit ihres Gegenstandes, allerdings diesen Ehrennamen. Jetzt bringt es der Modeton des Zeitalters so mit sich, ihr alle Verachtung zu beweisen und die Matrone klagt, verstoßen und verlassen, wie Hekuba: "modo maxima rerum, tot generis natisque potens - nunc trahor exul, inops." [Spät auf dem Höhepunkt des Ruhms, stark in meinen vielen Söhnen - jetzt verbannt, mittellos.]
Also selbst zur Zeit der Heroen unserer deutschen Philosophie war die goldene Zeit derselben schon in der dunklen Ferne der Vergangenheit gesucht.

Entdecken wir sie vielleicht in den Tagen der alten griechischen Weisen, die unter klarem Himmel und schattigen Bäumen von den Sorgen des täglichen Lebens scheinbar unberührt in ungestörter Muße mit den edelsten Jünglingen ihrer Zeit sich dem Nachdenken über die Rätsel der Welt hingeben konnten? Auch die Heroen der alten Philosophie äußern sich so befriedigt nicht über die Stellung ihrer Zeitgenossen zur Philosophie. - PLATON läßt in seinem Dialog Gorgias den Kallikles Zeitanschauungen über die Philosophie aussprechen, wie sie auch heute noch von sogenannten Praktikern über die unbrauchbaren philosophischen Grübeleien geäußert werden könnten.
    "Die Philosophie", sagt Kallikles zu Sokrates - "ist eine ganz artige Sache für Den, der sie mäßig betreibt in seiner Jugend. Einem Jüngling, der sich durch Philosophie bildet, steht das Philosophieren wohl an, aber einem Mann bringt diese Beschäftigung Nachteil. Das Stammeln und Tändeln ist bei einem Kind natürlich und lieblich, ein Mann wird dadurch lächerlich und verdient Schläge. So auch wenn ich Jünglinge treffe, die eifrig philosophieren, freue ich mich und erwarte Edles von ihnen; dagegen aber, wenn ich sehe, daß ein Mann vom Philosophieren nicht loskommen kann, ein solcher Mann, o Sokrates, dünkt mich müßte Schläge haben. Denn der ist unmännlich geworden, sieht das Innere der Stadt und die öffentlichen Plätze und bringt versteckt in einem Winkel mit wenigen Jünglingen flüsternd sein Leben zu." -
Auf das Vorhandensein einer ähnlichen Gesinnung rechneten die Ankläger des SOKRATES, als sie ihm vorwarfen, er ziehe mit seinen nutzlosen oder gar verderblichen Grübeleien die Teilnahme der athenischen Jugend von ihren Berufs- und Bürgerpflichten ab. - Eine Anekdote verlegt diesen Spott der Menge über die Philosophie sogar schon in die früheste Zeit. Einer der sieben Weisen Griechenlands, THALES, soll einmal beim Betrachten der Himmelsordnung in einen Brunnen gefallen sein. Eine thrakische Magd, die dies sah, verspottete den Philosophen, der zu erforschen strebt, was am Himmel vorgeht und nicht einmal das nächste vor seinen Füßen Liegende bemerkt. Derselbe Spott - sagt PLATON, der dieser Geschichte gedenkt - trifft Alle, die sich mit Philosophie beschäftigen. Und dieser THALES war doch ein Mann, dessen Wissen seine Zeitgenossen rühmten, den sie wegen seiner praktischen Verdienste ehrten. Beim Übergang des KRÖSUS über den Halys soll er die Abdämmung dieses Flusses geleitet, eine Sonnenfinsternis soll er richtig vorausgesagt und die ägyptischen Priester gelehrt haben, zu jeder Zeit die Höhe der Pyramiden aus ihrem eigenen Schatten zu berechnen. Als Zeugnis seiner politischen Weisheit hebt HERODOT hervor, daß er die von den Persern bedrängten Ionier veranlaßt hat, zum gemeinsamen Schutz den Bundesrat von Teos zu errichten. Trotz alledem verspotteten seine Freunde die Nutzlosigkeit seines Wissens, da es ihm nicht zu Reichtümern verhilft. THALES hat bewiesen, daß auch dies nur von seinem Willen abhängt. Da er zufolge seiner Naturkenntnis - so berichtet ARISTOTELES - eine ergiebige Olivenernte voraussah, pachtete er noch vor Ablauf des Winters alle Oelpressen in Milet. Als nun die Erntezeit herankam und eine allgemeine Nachfrage nach Ölpressen entstand, da vermietete THALES die von ihm gepachteten Pressen zu hohen Preisen und verdiente viel Geld. Hierdurch führte er den Beweis, daß es für die Philosophen leicht ist, reich zu werden, wenn sie nur wollten; irdischer Besitz aber ist nicht Gegenstand ihres Strebens. Ihr Ziel ist die Erkenntnis der Wahrheit.

Mögen diese Geschichtchen wahr oder erfunden sein, sie zeigen jedenfalls deutlich, wie man zu ARISTOTELES' und zu PLATOs Zeiten, und auch früher schon die Stellung der Philosophie zum Leben angesehen hat. Die Philosophie galt der Menge schon damals als eine ziemlich unnütze, fruchtlose, wenn nicht gar schädliche Grübelei.

Die Philosophen alter wie neuer Zeit also haben sich über diese Verunglimpfung ihrer Wissenschaft gleich oft beklagt. Nur in Augenblicken stolzen Selbstgefühls haben sie auch wohl diese Scheidung von der unwissenden Menge sich selber und ihrer Wissenschaft zur Ehre angerechnet. In einer solchen Anschauung erklärte PLATON es für unmöglich, daß die Menge philosophisch ist. Die Augen der Meisten sollen unvermögend sein in das Göttliche dauernd hineinzuschauen. Daher werden in seinem Staat nur die Begabtesten in reiferem Alter zur Beschäftigung mit der Philosophie zugelassen. Auch ARISTOTELES hebt unter allen Wissenschaften die Philosophie als die Schwierigste hervor. Denn so wie sich die Augen der Fledermäuse gegen das Tageslicht verhalten, so verhält sich auch die Vernunft unserer Seele gegen Dasjenige, was der Natur nach das Hellste von Allem ist. Die nur selten mögliche Überwindung dieser Schwierigkeit rückt den Menschen der Gottheit näher. Nur den Begabtesten kann die Kraft dazu verliehen sein. - Gleichen Verzicht leistet CICERO auf eine allgemeinere philosophische Teilnahme in seinem Ausspruch: "Die Philosophie ist mit wenigen Richtern zufrieden." (Est philosophia paucis contenta judicibus.) - Selbst KANT bemerkte einmal für Diejenigen, die sich über die dunkle Unverständigkeit der Metaphysik beschwert haben, es sei ja eben nicht nötig, daß Jedermann Metaphysik studiert. Nicht Jedem kann die Nachforschung durch lauter abgezogene Begriffe gelingen; es gibt manches Talent, das in den anschaulichen Wissenschaften besser fortkommt. KANT deutet selbst an, die beschriene Dunkelheit möge wohl gar den Nutzen haben, unbefugte Richter von jeder Einmischung abzuschrecken. Stolzer noch machte SCHELLING das odi profanum volgus et arceo (Ich hasse das profane Volk und wehre es ab) zum natürlichen Wahlspruch der Philosophie. - SCHOPENHAUER gewiß hält die Philosophie nur für eine Sache einiger weniger hervorragender Geister. Die Philosophie ist nach ihm das kleine, nur äußerst Wenigen zugängliche Fleckchen auf der Welt, wo die stets und überall gehaßte und verfolgte Wahrheit einmal allen Druckes und Zwanges ledig sein soll.

Weder dieser hochmütige Trost noch jene kleinmütige Klage treffen die volle Wahrheit.

Wie die goldene Zeit nur ein Ideal ist, dessen Verwirklichung immer begehrt aber niemals erlebt wird, so verhält es sich auch mit dem geträumten Ansehen der Philosophie. Die Zeiten wechseln und mit ihnen die Aufgaben der Wissenschaft; bald haben diese, bald jene Aufgaben unseres Strebens nach Erkenntnis den Vortritt. Im Wettlauf um die Krone des Wissens gewinnt bald die eine bald die andere Wissenschaft einmal einen Vorsprung, aber die Unendlichkeit des Ziels läßt jedem zeitweise Überholten die feste Zuversicht auch einmal wieder Führer der geistigen Bewegung zu werden. Die Philosophie hat einstweilen die Führerschaft, die sie am Schluß des vorigen und am Beginn dieses Jahrhunderts besessen hat, an andere Wissenschaften und Lebensmächte abtreten müssen und darüber in den Augen der Menge an weitreichendem Ansehen verloren. Aber der zeitweilige Wechsel dieses Ansehens ist sicherlich kein Zeichen vom Absterben ihrer Lebenskraft selbst. Richtiger wird man von der Philosophie unserer Tage sagen können, was von Rußland nach seiner letzten großen Niederlage gesagt worden ist, es strebe nicht danach seine Macht nach Außen zu erweitern, es sammelt seine Kräfte im Innern. Große Niederlagen hatte auch die Philosophie erlitten, weil sie Leben und Wissen beherrschen wollte ohne genüngende Kraft und Berechtigung. Anstatt sich zu begnügen, die Natur in ihren Elementen und deren gesetzmäßigem Zusammenwirken zu erkennen, wollte sie den Ursprung und das Ziel ihres Werdens aus der Anschauung des Unendlichen oder aus dem Begriff heraus konstruieren. Ihre Absicht im Lauf der Weltbegebenheiten eine ähnliche Gesetzmäßigkeit zu entdecken, wie in der Entwicklung der Natur, führte aufgrund mancher Fälschung der Vergangenheit zu Träumen mancherlei Art über die Zukunft unseres Geschlechts. Ihr genügte es nicht das staatliche Leben in seinem Wesen und Werden zu begreifen, sie wollte es aus dem Ideal heraus neu gestalten. Im Glauben, die Religion aus dem dunklen Gebiet des Gefühls in das Lichtfeld eines klaren Verstandes führen zu müssen, beunruhigte sie die religiöse Stimmung des Gemüts und trübte zugleich die Begriffe klaren Denkens durch die festgehaltene Beziehung zu Vorstellungen, die auf einem ganz anderen Boden der Tradition gewachsen waren, als der ist, den die Philosophie allein bebauen kann und soll. Anstatt die Religion zu beherrschen leistete die Philosophie in arger Selbsttäuschung abermals dem theologischen Dogma Magddienste, wenn auch in anderer Weise als zur Zeit der alten Scholastik. Kurz: die Philosophie, anstatt auf dem von KANT richtig begrenzten Boden fortzuschreiten, versuchte wiederum, wie schon zu anderen Zeiten, ihr Macht über Gebühr und Recht auszudehnen; sie verlor darüber sich selbst aus den Augen und büßte nach dem Taumel einer kurzen Herrschaft ihr angemaßtes Ansehen ein. Sie trägt an diesem Taumel sowohl wie an ihrem Fall schwerlich allein die Schuld, alle anderen Wissenschaften und ebenso das praktische Leben können für Beides mit zur Verantwortung gezogen werden; aber die Mitschuld dürfen wir gewiß nicht von ihr abwälzen, tun daher nicht gut mit unserer Klage uns nur gegen die Außenwelt zu wenden. Die rechte Einsicht in die eigene Mitschuld sollte vielmehr mit froher Hoffnung für die Zukunft der Philosophie erfüllen.

Die letzte Überspannung ihrer Erwartung und die folgende Enttäuschung haben der Philosophie eine höchst nützliche Aufklärung über sich selbst und über ihre Stellung zum praktischen Leben wie auch zu den übrigen Wissenschaften gebracht. In dem nach der Enttäuschung eingetretenen Stadium der Selbstbesinnung mußten zunächst historische Rückblicke auf die lange Reihe der vorliegenden Versuche zur Gewinnung einer befriedigenden philosophischen Weltanschauung besonders passend erscheinen; es mußte die Belehrung der Vergangenheit gesucht werden, um zu erklären, woran es denn eigentlich liegt, daß unter allen Wissenschaften nur die Philosophie nicht in den Gang eines geregelten und gesicherten Fortschritts gelangen kann, daß ihre Systeme stes wie hell aufleuchtende aber auch ebenso rasch wieder verschwindende Meteore am Himmel unserer Gedankenwelt erschienen sind. Die also gesuchte Belehrung führt zu einer so gründlichen Kenntnis der Geschichte der Philosophie, wie sie noch keine Zeit zuvor besessen hatte. Und der Erwerb dieser Kenntnis, mag er auch die selbständige philosophische Triebkraft eine Zeitlang zurückgedrängt haben, brachte doch jedenfalls über die möglichen Gegensätze der philosophischen Weltanschauungen eine Klarheit, die für alle Zukunft das Aufkommen eines neuen Systemschwindels erschweren, ja unter Kundigen unmöglich machen wird. Sicherlich kann Niemand durch eine Kenntnis der Geschichte der Philosophie zum philosophischen Selbstdenker werden, aber wohl kann diese Kenntnis das Aufkommen der Einbildung verhindern ein solcher zu sein. Hätten FICHTE, SCHELLING und SCHOPENHAUER eine klarere und gewissenhaftere Kenntnis der Ansichten ihrer Vorgänger besessen, so würden sie manchen Einfall nicht gleich für einen neuen weit tragenden Gedanken, für den Ansatz zu einem neuen System gehalten haben. Bei einer gründlicheren Kenntnis der Geschichte der Philosophie wäre HEGEL nicht im Stande gewesen in der zeitlichen Folge der Systeme den Beleg für seine Voraussetzungen einer logischen Begriffsentwicklung zu finden. Kurz: der philosophische Originalitätsdünkel gedeiht nur bei einer gewissen Unwissenheit oder Blindheit über das, was schon zuvor gedacht ist. Daher ist es ein Segen für die philosophische Wissenschaft, daß die unwissende Willkür der neuen Systemjäger in die Zucht eines strengen und gewissenhaften historischen Studiums genommen worden ist. In diesem Lich besehen ist das zeitweilige Aufhören des philosophischen Schöpfungstriebes kein Verfall, kein Absterben, sondern das Zeichen einer gründlicheren Vorbereitung zu einem neuen und besser gesicherten Fortschritt.

Noch über einen anderen Punkt hat die Philosophie in dieser Zeit der Selbstbesinnung eine größere Klarheit erlangen können. Die Universalität ihrer Beziehungen zu allen Gebieten des Wissens und des Lebens hat es von jeher schwierig gemacht, ihre eigentliche Aufgabe, die sie zu einer selbständigen Wissenschaft neben den übrigen Wissenschaften macht, genau zu bestimmen. Bald schien sie als Erforscherin der letzten Gründe aller Dinge die eigentliche Grundwissenschaft zu sein, welche in gewissem Sinne alle anderen Wissenschaften mit umfaßt, durch welche wenigstens alle erst ihre wissenschaftliche Vollendung erhalten haben; bald schien sie einer eigenen wissenschaftlichen Bedeutung vollständig zu ermangeln und sich in philosophische Grundelemente der einzelnen Wissenschaften auflösen zu müssen. Namentlich diese letztere Auffassung fand in unserer Zeit viele Anhänger. Ihnen war die Naturphilosophie nichts als eine Prinzipienlehre der Naturkunde und als solche Sache der Naturforscher, die Psychologie fiel als Beschäftigung mit der Funktion des Gehirns und der Sinne den Physiologen zu, die Religionsphilosophie galt als Sache der Theologen, auch die Lehre der Moral übernahmen zumeist die Theologen, Rechtsphilosophie sollten soweit nötig die Juristen lehren, Ästhetik war Sache der Kunsthistoriker und nur die Logik sollte noch allenfalls als die eigentlich philosophische Grundwissenschaft aller Wissenschaften bestehen bleiben. Selbst diese brachten Einige in eine so nahe Beziehung zur Grammatik, daß Zweifel über die Grenzlinien beider Wissenschaften entstehen konnten. Da konnte dann allerdings gefragt werden, wo bei dieser Teilung der Wissenswelten überall noch ein eigenes Gebiet für den Philosophen übrig bleibt. Alles Land war vergeben, nicht einmal Raum blieb um mit Zeus in seinem Himmel zu leben, denn auch diesen Platz machten ihm die Theologen streitig. Ausgestoßen oder vielmehr völlig aufgelöst in ihre Elemente erschien die Philosophie. - Diese Auffassung war ein notwendiger Rückschlag gegen den noch vor Kurzem erhobenen Anspruch der Philosophie auf die Begründung und Beherrschung aller Wissenschaft. In dem durch diesen Gegensatz notwendig gewordenen Kampf um ihre Existenz hat die Philosophie nicht bloß Kraft zu neuem Wirken, sondern auch eine klarere Einsicht über ihr eigentliches Wesen und über ihre Beziehungen zu den übrigen Wissenschaften gewinnen können. Auch diese klarere Erkenntnis ihrer eigenen Aufgabe muß ihrer wissenschaftlichen Entwicklung zugute kommen.

Die Philosophie erscheint nunmehr als die eigentliche Wissenschaft vom Geiste, sie erkennt als ihre doppelte Aufgabe eine Beantwortung der Fragen, was wissen wir vom Wesen des Menschen und was wissen wir vom Zusammenhang des Weltalls. Sie will die Gesetze des geistigen Lebens ergründen und sie will die Wahrheit der streitenden Weltauffassungen ermitteln. Sie wird durch ihre Lösung dieser Aufgaben eine selbständige Wissenschaft neben den anderen Wissenschaften trotz ihrer vielseitigen und schwer abzugrenzenden Beziehungen zu ihnen allen.

Alle Wissenschaften haben es offenbar mit dem Geist zu tun, denn nur der Geist ist es, der wissen kann; aber jede einzelne Wissenschaft berücksichtigt den Geist nur in einer gewissen Beziehung. Die Naturkunde zieht den Geist in Betracht, sofern er Begriffe wie Raum und Zeit, Kraft und Stoff, Zweck und Ursache anwendet; Physiologie und Medizin insbesondere, sofern sie sich nebensächlich um den Zusammenhang von Leib und Seele kümmern; die Theologie, sofern der Geist sich Gedanken bildet über Gott und Welt und sittliches Leben; die Jurisprudenz, sofern der Geist seine Begriffe von Recht und Unrecht entwickelt; Alle diese Berücksichtigungen sind einseitig; auch beachten alle genannten Wissenschaften mehr den Gebrauch der bezüglichen einzelnen Elemente des Geistes im Umfassen der weiten Gebiete der äußeren Erscheinungswelt als ihren Ursprung und Zusammenhang im Geist selber. Keine dieser Wissenschaften hat als solche den Beruf, die geistigen Elemente in diesem Zusammenhang und somit in ihrem eigentlichen Wesen zu studieren, keine auch tut dies. Ohne diese Prüfung aber sind die vorliegenden Grundfragen selbst in den einzelnen Wissenschaften nicht zu erledigen. Die Begriffe von Recht und Sitte sind einander nicht fremd, eine isolierte Behandlung derselben in verschiedenen Disziplinen kann daher schwerlich zur genügenden Erkenntnis ihres Wesens führen. Es ist sogar möglich, daß die Urteile des Schönen sich mit diesen Begriffen berühren; ohne eine Untersuchung dieser Beziehungen werden jedenfalls weder die Elemente von Recht und Sitte, noch die Elemente der Schönheit erkannt werden. Alle diese genannten Elemente zusammen mit anderen Bedürfnissen unserer Seele scheinen sich in unseren religiösen Gefühlen und Ahnungen zu kreuzen und zu verbinden. Es ist nicht möglich, die theologischen Lehren von Gott und Welt zu ergründen ohne zuvor diese Wechselbeziehungen der Elemente unserer Seele erforscht zu haben. So weisen uns alle einzelnen Wissenschaften selbst auf die Notwendigkeit hin, diese ihre eigenen allgemeinen Voraussetzungen über die geistigen Elemente im Zusammenhang zu ergründen. Diese Forderung aller Wissenschaften nun nimmt die Philosophie als ihre erste Aufgabe auf, das Wesen und Wirken des Geistes zu untersuchen. Sie will die Elemente und den Zusammenhang des Geistes erkennen, will die Gesetze aufdecken, nach denen wir logisch denken, nach denen wir über Tugend und Schönheit urteilen, nach denen sich die religiösen Gefühle unserer Seele entwickeln. Von alledem kann jede Wissenschaft als solche nur ein Stückchen bedenken, es muß eine Wissenschaft geben, die den Zusammenhang dieser Stückchen ins Auge faßt und die Wissenschaft, die sich diese Aufgabe stellt, ist die Philosophie. Nichts freilich hindert den Theologen, den Juristen oder den Mediziner auch von seinem Standpunkt aus vorzudringen in diesen Zusammenhang des Geistes, aber sobald dies geschieht, stehen sie auf dem Boden der Philosophie. Daß dies gewöhnlich nicht geschieht, dafür sorgt schon die Not der unvermeidlichen Arbeitsteilung. Schon diese macht es wünschenswert, daß diese für alle Wissenschaften notwendige, von jeder Wissenschaft berührte und doch von keiner zu erledigende Arbeit von einer ganz und ungeteilt ihr gewidmeten und zugleich von jeder praktischen Lebensrücksicht freien Kraft in Angriff genommen wird. Indem die Philosophie diese Aufgabe in ihrem vollen Umfang nach allen Seiten aufnimmt, entwickeln sich von selbst ihre einzelnen Disziplinen der Denklehre, Schönheitslehre, Tugendlehre, Rechtslehre und Glaubenslehre. Insofern sie alle Erscheinungen und Gesetze des geistigen Lebens ergründen, haben sie alle ihren gemeinsamen Mittelpunkt in der Psychologie, der Seelenlehre. Und in diesem Mittelpunkt muß ein Jeder stehen, der mit Erfolg irgendeine dieser Seiten des großen Ganzen will fördern helfen.

Dazu nun gesellt sich unmittelbar noch die zweite Aufgabe der Philosophie, die Wahrheit der streitenden Weltauffassungen zu ermitteln. Es genügt uns nicht, die Elemente unseres Geistes und ihren Zusammenhang zu erkennen, wir wollen auch die Gesamtergebnisse der denkenden, fühlenden und wollenden Tätigkeit des Geistes, unsere Vorstellungen von der Natur und dem Zusammenhang der Welt auf ihre Wahrheit geprüft sehen. Gerade Gedanken darüber bilden recht eigentlich den Mittelpunkt der philosophischen Systeme, die Metaphysik der Philosophie. Um diesen Teil der Philosophie dreht sich der heftigste Kampf zwischen ihren Freunden und Feinden. Viele ihrer Freunde wollen nur diesen Teil als eigentliche Philosophie gelten lassen, und viele ihrer Feinde behaupten eben deshalb, es sei aus mit der Philosophie, weil sie gerade diesen Teil für völlig ungewiß, inhaltsleer und unfruchtbar halten. Ich komme auf diesen Streitpunkt am Schluß meiner Betrachtungen zurück und will hier nur zur allgemeinen Rechtfertigung dieser metaphysischen Bemühungen menschlichen Nachdenkens etwas Vorläufiges sagen. Gleichviel ob die Philosophie imstande war oder je imstande sein wird, die Wahrheit der streitenden Systeme zu ermitteln, Eins kann sie sicherlich tun, nämlich Klarheit schaffen über die überhaupt möglichen Gegensätze dieser Weltauffassungen, Klarheit auch über die innere Folgerichtigkeit einer jeden und über die Tragkraft ihrer Beweise. Sie wird dann die streitenden Weltansichten jedenfalls begreifen lernen als notwendige Entwicklungen unseres denkenden Menschengeistes und die verderbliche Meinung zerstören, die in ihnen nur die Spiele einer bodenlos willkürlichen Grübelei sehen will. Sie muß dadurch jedenfalls eine segensreiche Aufklärung in den Streit der Weltauffassungen bringen, der durch Nichts mehr getrübt und erschwert wird als durch die Leidenschaft der Gegner, die allein aus der inneren Unklarheit über die Beweiskraft der eigenen Meinung und aus der Unkenntnis über die gegnerischen Ansichten entspringen kann.

Indem die Philosophie also ihre zweite Aufgabe löst, schließt sie sich unmittelbar wieder an ihre erste Aufgabe an. Untersuchte sie dort die Elemente des Geistes und die Gesetze ihrer zusammenhängenden Wirksamkeit, so untersucht sie hier die aus dieser Wirksamkeit entstandenen Gebilde. Dort prüfte sie die Keime, hier die Früchte. Und wenn auf dem gemeinsamen Boden des Geistes aus denselben Keimen verschiedene Früchte wachsen sollten, deren Wert endgültig abzuschätzen unmöglich wäre, so trüge nicht sie die Schuld, sonder Der, der diese Keime gelegt hat. Ihr Verdienst bliebe es immer noch über diesen Zustand die von allen Seiten gesuchte Erkenntnis im Licht ihres wahren Zusammenhangs dargelegt zu haben.

Auf die Ergründung also des Zusammenhangs all dieser Fragen, die des Menschen Kopf und Herz auf das Tiefste ergreifen, ist das Bemühen der Philosophie als Wissenschaft gerichtet. Nur wer den Zusammenhang wenigstens sieht, kann hoffen, in dieser Wissenschaft auch nur einem Teilchen zu nützen, nur wer imstande ist diesen Zusammenhang nach allen Seiten zu durchdenken und lichtvoll darzustellen, darf hoffen, die Wissenschaft um eine Stufe vorwärts zu rücken auf ihrem Weg zur Wahrheit. Eine gewisse Vielseitigkeit der Beziehungen und dabei doch feste Kraft einheitlicher Zusammenfassung derselben im Brennpunkt des Geistes ist also eine notwendige Voraussetzung jedes wissenschaftlichen Philosophierens, nur in einer genialen Steigerung dieser Verbindung von Universalität und Konzentration kann in der Philosophie das Höchste geleistet werden. Diese Ansprüche bilden zugleich die Lust und die Last des Philosophierens und erklären hinreichend, warum die Zahl der wahrhaft großen Philosophen viel seltener ist als die Zahl der Epoche machenden Geister in anderen Wissenschaften, seltener selbst als die Zahl der großen Dichter und Künstler.

Aus demselben Grund aber sind auch die Leistungen der großen Denker ebenso wie die der großen Dichter von langem Bestand. Was PLATON und ARISTOTELES dachten, hat noch Wert für unsere Zeit. Der Zeitenlauf streift nur das Unwesentliche, das zufällige Beiwerk ab vom Kern. Was wechselt, ist mehr das Kleid als der Inhalt. Daher fehlt keiner Zeit eine Stätte philosophischer Zuflucht, wer Rat sucht, kann ihn finden. Und Niemand wird es bei ernsthaftem Nachdenken für möglich halten, daß eine ganze Zeit dieses Rates sollte entbehren können. Einer Wissenschaft, die so wie die Philosophie mit den Grundfragen aller Wissenschaft und allen Lebens verwachsen ist, kann zu keiner Zeit die gebührende Teilnahme versagt werden. Eine Abwehr von ihr kann nur scheinbar sein, kann nicht dem Inhalt ihrer Fragen gelten, sondern nur der systematischen Form, in der sie vorgebracht werden.

Es ist nun klar, daß die angebliche Abneigung unserer Zeit gegen die Philosophie wesentlich nur in diesem Verhalten ihren Grund hat. Denn für philosophische Fragen, erlöst von dieser Form, zeigt vielmehr unsere Zeit auf allen Gebieten die lebhafteste und in weitesten Kreisen ausgebreitete Empfänglichkeit. Dies allein gibt meinem Buch das Recht von philosophischen Zeitfragen zu reden, die ein Jeder, dessen bin ich gewiß, sofort als solche anerkennen wird.

Diesem neu erwachten philosophischen Trieb unserer Zeit nicht entgegen zu kommen, nicht zu versuchen ihn in die richtige Bahn zu lenken, sondern ihm in hochmütiger Selbstgenügsamkeit den Rücken zu kehren, weil er die Schulung der systematischen Form verschmäht: das halte ich meinerseits für einen Frevel an der eigenen Wissenschaft und für ein Unrecht gegen unsere Mitwelt. Eine Wissenschaft, die sich hochmütig abschließt von der Welt, die sie umgibt, unterbindet sich selber die Adern ihres eigenen Lebens. Und was sie selber zum Segen ihrer Mitwelt zu tun unterläßt, das werden weniger Berufene unternehmen zu ihrem und ihrer Mitwelt Schaden. Wissenschaftliche Wahrheiten sind eben nicht in jeder Form einem Jeden zugänglich, aber in irgendeiner Form wohl. Und philosophische Wahrheiten, deren Inhalt alle denkenden Menschen angeht, besitzen in dieser Zugänglichkeit noch einen unbestrittenen Vorzug vor allen anderen Erkenntnissen der Wissenschaft. Wahrheitsmonopole auf ihrem Gebiet wären daher in der Tat, - wie LICHTENBERG sie nannte - Injurien [Beleidigungen - wp] der Menschheit.

Mein Buch nun soll versuchen, den Beweis zu führen, daß diese hochmütige Abwendung der Philosophie von der denkenden Mitwelt ebenso unberechtigt ist wie die Klagen über die Teilnahmslosigkeit unserer Zeit für philosophische Fragen.
LITERATUR - Jürgen Bona-Meyer, Philosophische Zeitfragen [Populäre Aufsätze] Bonn 1870