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WILHELM JERUSALEM
Die gegenwärtige Aufgabe
der Erkenntnistheorie

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"Die Erkenntniskritik beginnt mit der Konstatierung des subjektiven Faktors in unseren Erkenntnisinhalten und endet mit der Eliminierung des objektiven."

"Die Erkenntniskritik hat ergeben, daß die Dinge vielleicht nicht nur so sind, wie sie uns erscheinen, daß sie aber ganz gewiß auch so sind. Was wir in Urteilen, deren Richtigkeit sich bewährt hat, erkennen, das sind die uns zugänglichen Seiten eines wirklichen Seins und Geschehens."

"Der Naturforscher betrachtet die Sprache als Verständigungsmittel und findet bei der Verwendung nicht selten heraus, daß sie oft ein unzulängliches Mittel ist, um den Gedanken ganz so, wie ihn der Forscher denkt, wiederzugeben. Er ist daher weit eher geneigt und geeignet, auf die Irrwege hinzuweisen, zu denen uns die Sprache nicht allzu selten führt."

"Das theoretische Erkennen entwickelte sich ganz allmählich aus einem Stellung nehmenden Ich. Die Dinge unserer Umgebung sind uns zunächst als Willensmotive gegeben. Indem wir nun gegenüber diesen Dingen, sie mögen belebt oder unbelebt sein, Stellung nehmen, verleihen wir ihnen Realität. Wir legen in alle wahrgenommenen Dinge einen Willen ein und betrachten sie selbst als gegen uns Stellung nehmend."

"Erweisen sich die Maßnahmen, die aufgrund einer vollzogenen Deutung getroffen werden, als lebensfördernd, als biologisch wertvoll, dann war die Deutung richtig; erweisen sie sich als überflüssig oder als schädlich, dann war die Deutung falsch. Wahr und Falsch bedeutet also ursprünglich gar nichts anderes als nützlich oder schädlich in einem biologischen Sinn."

"Tatsächlich haben wir kein anderes Kriterium für die Wahrheit einer Vorstellung vom Seienden, als daß die auf sie hin eingeleiteten Handlungen die gewünschten Konsequenzen ergeben."

1. Schon in den vorangehenden kritischen Erörterungen hat sich öfter Gelegenheit ergeben, die Richtung anzudeuten, in der sich meiner Überzeugung nach die erkenntnistheoretische Untersuchung zu bewegen hat, um einen wirklichen Fortschritt zu erzielen. Diese zerstreuten Andeutungen gilt es nun zusammenzufassen und weiterzuführen.

Ich erinnere an die bereits erwähnte, von mir vorwiegend aus didaktischen Motiven vorgenommene Scheidung von Ekenntniskritik und Erkenntnistheorie. Ich sagte oben, daß diese Trennung auch für die wissenschaftliche Klärung der Begriffe und Aufgaben wertvoll ist und hoffe dies jetzt im positiven Teil meiner Ausführungen darlegen zu können. Es sei mir also gestattet, den Stand des erkenntniskritischen Hauptproblems und die daraus sich ergebende Aufgabe der Kritik kurz zu erörtern.

Die Erkenntniskritik beginnt, so sagte ich oben, mit der Konstatierung des subjektiven Faktors in unseren Erkenntnisinhalten und endet mit der Eliminierung des objektiven. Damit hat nun die Kritik das Ziel, das sie sich von allem Anfang an setzen mußte, weitaus überschritten. Ihre Aufgabe ist mehr als gelöst und eben deshalb nicht gelöst. Der kritische Idealismus oder der absolute Phänomenalismus führt, wie oben wiederholt gezeigt wurde, zum Solipsismus und gelangt damit zu Aufstellungen, die von unserem Denken nicht mehr realisiert und noch weniger zur Grundlage der wissenschaftlichen Forschung gemacht werden können. Daß die Kritik die ihr von der Natur der Dinge, von der Wirklichkeit, von der biologischen Funktion des Erkennens und schließlich auch von der Logik gesteckten Grenzen überschritten hat, das beginnt man auch im idealistischen Lager bereits zu fühlen. CORNELIUS sucht der solipsistischen Konsequenz auszuweichen und scheint geneigt zu sein, ein Transzendentes zuzugeben, wenn es nur psychischer Natur ist. RICKERT will zwar kein transzendentes Sein gelten lassen, konstruiert aber ein transzendentes Sollen, weil ihm das ganze Gebäude doch zu sehr in der Luft zu schweben scheint, wenn er es ganz in die Immanenz einzuschließen genötigt wäre. Aber zur vollen Klarheit ist die Erkenntnis noch nicht durchgedrungen, daß man der Erkenntniskritik von philosophischer Seite ein lautes und entschiedenes "Halt" zurufen muß. Die Erkenntniskritik muß zunächst innehalten auf ihrem Weg, der sie weit über das Ziel hinaus geführt hat, das sie sich von Anfang an gesteckt hatte. Dann aber ist es mit dem Innehalten nicht genug. Die Kritik muß einige wichtige Schritte zurücktun, damit sie wieder auf den Boden des gesunden Verstandes und der positiven Wissenschaft gelangt, den sie in einem übertriebenen Drang nach vermeintlicher Wahrheit vollständig verlassen hat.

2. Dieses "Halt" und dieses "Zurück" habe ich der Erkenntniskritik schon vor zehn Jahren zugerufen. Im letzten Abschnitt meines Buches "Die Urteilsfunktion" habe ich zu zeigen versucht, daß der erkenntniskritische Idealismus, wenn man ihn konsequent zu Ende denkt und auch im praktischen Leben mit ihm Ernst machen wollte, zu einer Zerstörung des Erkenntnisorgans führen muß. Aufgrund meiner biologischen Auffassung des Erkenntnisprozesses habe ich da zu zeigen gesucht, wie der kritische Idealismus biologisch aufzufassen und warum er zu bekämpfen ist. Zum Beweis setze ich die bezügliche Stelle (Seite 232f) hierher:
    "Der Trieb nach Erkenntnis ist nur eine spezielle Betätigungsweise des Erhaltungstriebes. Alle Wissenschaften sind aus praktischen Bedürfissen entstanden und dienen schließlich wieder dazu oder sollen dazu dienen, das Leben des Einzelnen und der Gesamtheit zu erhalten und zu vervollkommnen. Wie andere Triebe, hat sich jedoch auch der Erkenntnistrieb einseitig weiter entwickelt, und sein Ziel wird vielfach als Selbstzweck bezeichnet. Diese einseitige Entwicklung ist in Verbindung mit der Arbeitsteilung für die Gesamtheit im Ganzen von Vorteil, da die Hingabe an den selbstständigen Zweck (soll heißen an den für ansich wertvoll gehaltenen Zweck) eine größere und dann auch das Resultat ein bedeutenderes ist. Es ist aber bei jedem Trieb eine derartig einseitige Steigerung denkbar, daß derselbe dem Gesamtorganismus schädlich zu werden beginnt. So wie ein zu sehr genährtes Organ zum Schaden des Ganzen hypertroph [übermäßig - wp] wird, so kann dies auch mit Funktionen und Trieben geschehen. Ich stehe nicht an, es auszusprechen, daß Ich in der Behauptung, die Existenz der Welt erschöpfe sich im Gedachtwerden, das Resultat einer Hypertrophie des Erkenntnistriebes erblicke. Zu dieser Überzeugung hat mich hauptsächlich die Qual geführt, die ich ausgestanden habe, ehe ich mit dem Idealismus fertig wurde. Wer es versucht, mit dieser Auffassung Ernst zu machen, dieselbe ganz zu durchdringen und sich mit ihr zu identifizieren, der wird fühlen, daß dabei etwas im Gehirn zu zerreißen droht. Es ist höchste Zeit, zur Rückbildung der Hypertrophie beizutragen und zu einem gesunden Realismus zurückzukehren."

    "Durch die kritische Beschäftigung mit dem Denkorgan ist man dazu gelangt, die logischen Gesetze zu formulieren und Denkmittel zu schaffen, die uns eine ungeahnte Herrschaft über die Natur haben erringen helfen. Man hat dann begonnen im eigenen Fleisch zu wühlen und immer mehr Erkenntnisfähigkeit im eigenen Denken gefunden. Schließlich sollte die ganze Form des Weltbildes von unserem Denken und nur der Stoff von außen stammen, bis am Ende auch dieser zum Bewußtseinsinhalt herabsank. Damit aber hört, soweit man damit Ernst macht, der Wert der Erkenntnis auf. Die logischen Gesetze sind mit äußerster Konsequenz dazu gebracht worden, die Realität der Welt, die diese Gesetze gezeitigt hatte, und die wiederum diese Welt erkennen gelehrt hatten, zu zerstören. Das aber ist Hypertrophie des Erkenntnistriebs und ein Weiterschreiten auf diesem Denkweg müßte zur Zerstörung des Denkorgans führen."
Dieser Mahnruf ist damals so gut wie ungehört verhallt. Ich halte es für meine wissenschaftliche Pflicht, denselben heute noch lauter und noch entschiedener aufs Neue auszusprechen und will versuchen, ihn mit neuen Argumenten zu stützen.

3. Ein sehr lehrreiches Argument liefert mir heute eine historische Parallele, die geeignet erscheint, die erkenntniskritischen Bestrebungen unserer Tage in einem neuen Licht erscheinen zu lassen.

KANTs Vernunftkritik hat sich unter den Händen FICHTEs und HEGELs zu einem System des Idealismus entwickelt, das nicht mehr Kritik, sondern bereits Metaphysik war. Aus der "reinen" Vernunft ist eine selbstschöpferische Vernunft, aus der transzendentalen Logik ist eine spiritualistische Metaphysik geworden, eine Metaphysik, die sich unterfing, nicht nur die alltägliche Erfahrung, sondern auch die positiven Wissenschaften meistern zu wollen. HEGEL hat sich durch die Erweckung des historischen Sinns und durch den von ihm geschaffenen Begriff des "objektiven Geistes", der freilich nicht ganz in seinem Sinn fruchtbringend geworden ist, zweifellos große Verdienste um die geistige Entwicklung des deutschen Volkes erworben. Allein seine philosophische Methode muß nichtsdestoweniger als unwissenschaftlich und als unheilvoll bezeichnet werden.

HEGELs Dialektik ist durch den Aufschwung der positiven Wissenschaften recht unsanft von ihrem Thron gestoßen worden. Eine geraume Zeit hindurch hat diese Entthronung der Philosophie bekanntlich eine Abneigung gegen jede philosophische Gedankenarbeit zur Folge gehabt. Noch im Jahr 1874 wählte FRANZ BRENTANO zum Thema seiner Antrittsvorlesung in Wien eine Erörterung der Gründe, denen die Entmutigung auf dem Gebiet der Philosophie zuzuschreiben ist.

Da ertönte der Ruf "Zurück zu Kant!" und das Interesse für philosophische, insbesondere für erkenntnistheoretische Fragen erwachte aufs Neue. Dieses Wiedererwachen ist allerdings nicht der Erneuerung kantischer Gedanken allein zuzuschreiben. Die durch DARWIN angeregten biologischen Forschungen haben mindestens den gleichen Anteil daran. Allein immerhin muß man zugeben, daß die aus den Kreisen der Naturforscher hervorgegangene Anregung, die Grundlage der Erkenntnis im kantischen Geist neu zu prüfen, zur Wiederbelebung der Philosophie viel beigetragen hat. Jedenfalls ist aus dieser Erneuerung KANTs die Immanenzphilosophie hervorgegangen, die in SCHUPPE, REHMKE, ANTON von LECLAIR, SCHUBERT-SOLDERN u. a. ihre Vertreter hat. Welchem Ziel sehen wir nun diese neue Erkenntniskritik zusteuern?

Aus KANT hat sich in einseitiger Weiterbildung HEGEL entwickelt, aus der strengen Kritik ist eine konstruktive, dialektische Metaphysik hervorgegangen, die notwendigerweise dogmatisch werden mußte. Was vollzieht sich nun vor unseren Augen? Die neue Erkenntniskritik droht ganz offensichtlich in einen neuen Hegelianismus einzumünden. Es wird nicht lange dauern und wir werden den Ruf ertönen hören "Zurück zu Hegel!". Schon wird das Denken ein "Erzeugen" genannt und schon sollen die logischen Gesetze den Weltlauf bestimmen. "Phänomenologische Aufklärung" heißt schon nicht viel anderes als in unseren Denkerlebnissen nach "Ideen" suchen, die ein selbständiges Dasein führen und in ihrer Selbstdarstellung die Welt darstellen.

Ich frage nun: Soll wirklich selbst die Philosophie aus ihrer eigenen Geschichte nichts lernen können? Hat uns das Schicksal HEGELs nicht deutlich gezeigt, daß dialektische Konstruktionen ohne erfahrungsmäßige Grundlage den Zusammenbruch der Philosophie nach sich ziehen? Zusammenbruch der Philosophie nach sich ziehen? Dürfen wir durch Spekulationen, die jeder soliden Basis entbehren, das mühsam erarbeitete Erkenntniskapital leichtsinnig aufs Spiel setzen? Wollen wir uns aufs Neue der Verachtung aller positiven Forscher preisgeben, einer Verachtung, die ohnehin noch lange nicht überwunden ist? Der Einzelne vermag allerdings wenig gegen eine herrschende Richtung, die noch dazu mehrere Katheder inne hat und das Monopol philosophischen Tiefsinns für sich in Anspruch nimmt. Allein es soll in Zukunft nicht heißen, daß es an warnenden Stimmen ganz gefehlt hat.

Darum sage ich noch einmal: Die Erkenntniskritik muß umkehren. Sie hat unwiderleglich bewiesen, daß der Erkenntnisinhalt einen subjektiven Faktor in sich birgt, der nie vollständig eliminiert werden kann. Alles Erkennen ist menschliches Erkennen und Wahr und Falsch haben nur einen Sinn für urteilende Menschen.

4. Die zweite Frage wäre dann die nach der Möglichkeit der Erkentnis. Das heißt aber nichts anderes als fragen, ob wir uns für Immanenz oder für Transzendenz zu entscheiden haben. Die vorangehenden kritischen Erörterungen haben das Resultat ergeben, daß der Standpunkt der "Immanenz" nicht festgehalten werden kann. Vor einer in die Tiefe dringenen psychologischen Analyse des Urteilsaktes halten die anscheinend unwiderlegbaren Argumentationen des Idealismus nicht stand. Die Absurditäten ferner, zu denen die mit der konsequenten Durchführung des Idealismus notwendig verbundene Leugnung des fremden Bewußtseins führt, zwingen mit unerbittlicher logischer Notwendigkeit zum Aufgeben der Lehre von der Immanenz. Das fremde Bewußtsein bleibt trotz den redlichen und scharfsinnigen Bemühungen HEIMs ein Transzendentes, und mit der Anerkennung dieses Transzendenten sind die Schranken der Immanenz ein für allemal durchbrochen. Dazu kommt der in jedem Urteil erhobene Anspruch auf die Erkenntnis eines Extramentalen, ein Anspruch, dessen Tatsächlichkeit nicht geleugnet werden kann.

Die Existenz einer von unserem Vorstellen unabhängigen Außenwelt muß nachgerade ebenso zugegeben werden, wie die Existenz selbständiger Menschen, die nach denselben Gesetzen denken und erkennen und die mit uns zusammen an der Erforschung der Gesetze des Geschehens mitarbeiten.

Die Annahme eines unerkennbaren Dings-ansich als Urgrund aller Erscheinung wird auf diesem von uns gewonnenen Standpunkt überflüssig, und zwar nicht deshalb, weil die Existenz eines solchen Dings ansich unbeweisbar wäre, sondern weil seine Unerkennbarkeit eine ganz überflüssige Annahme wird. Die Erkenntniskritik hat ergeben, daß die Dinge vielleicht nicht nur so sind, wie sie uns erscheinen, daß sie aber ganz gewiß auch so sind. Was wir in Urteilen, deren Richtigkeit sich bewährt hat, erkennen, das sind die uns zugänglichen Seiten eines wirklichen Seins und Geschehens.

Die Erkenntniskritik ist somit mit ihrer Arbeit zu Ende. Die Möglichkeit der Erkenntnis von Transzendentem ist erwiesen, der Idealismus widerlegt und ein kritischer Realismus an seine Stelle getreten. Die Grenzen dieser Erkenntnis sind abgesteckt; es sind die Grenzen, die in der bisher erreichten menschlichen Organisation begründet sind. Damit sind wir nun nach meiner Überzeugung wirklich zu KANT zurückgekehrt. Freilich nicht zu KANT als dem Begründer des transzendentalen Idealismus, sondern zu KANT als dem Entdecker der formenden und objektivierenden Funktion des Ichbewußtseins und zu KANT als dem strengen Grenzwächter zwischen Naturwissenschaft und Metaphysik.

5. Die weitere Aufklärung des Erkenntnisproblems ist nunmehr Sache der Erkenntnistheorie, deren Aufgabe es nun sein wird, den Ursprung und die Entwicklung der menschlichen Erkenntnis zu untersuchen.

Die Erkenntnistheorie setzt also, nachdem die Kritik ihre Aufgabe gelöst, ihr Geschäft beendet hat, die Tatsache, daß erkannt wird, voraus. Dieses uns in unzähligen Erlebnissen gegebene Faktum ist eben der Gegenstand ihrer Untersuchung. Dabei aber schleicht sich oft gleich im Beginn der Untersuchung ein Fehler ein, der für die bisherige Erkenntnistheorie vielfach verhängnisvoll geworden ist. Unter der Tatsache, daß erkannt wird, oder kürzer unter Erkenntnis versteht man ein rein theoretisches Konstatieren von Tatbeständen. Indem man nun ein solches theoretisches Konstatieren als das Wesen aller Erkenntnis ansieht, setzt man häufig stillschweigend voraus, daß wir von allem Anfang an eine Art Fähigkeit und Neigung besitzen, Tatbestände rein theoretisch zu konstatieren. Daher die Lehre vom angeborenen Wissenstrieb, die in den oft zitierten Anfangsworten der aristotelischen Metaphysik - "pantes anthropoi tou eidenai oregontai physei" [Jedes menschliche Wesen strebt von Natur aus nach Wissen. - wp] - ihren kurzen und präzisen Ausdruck gefunden hat. ARISTOTELES sagt in den auf diese für ihn grundlegende Behauptung folgenden Sätzen, daß sich dieses Streben nach Wissen auch dort zeigt, wo von einem praktischen Nutzen keine Rede sein kann. Diese Annahme einer ursprünglichen theoretischen Anlage im Menschen bildet die deutlich bewußte, mitunter auch die stillschweigende Voraussetzung für die meisten erkenntnistheoretischen Systeme.

Diese Voraussetzung ist aber nachweislich falsch. Selbst dem entwickelten und logisch geschulten Menschen von heute gelingt es nicht allzu leicht und allzu oft, den rein theoretischen Standpunkt bei der Konstatierung von Tatbeständen festzuhalten. MÜNSTERBERG, der in seinen "Grundzügen der Psychologie" den Grundgedanken FICHTEs in ebenso eindringlicher wie geistvoller Weise zu erneuern und weiterzubilden unternommen hat, geht sogar so weit, zu behaupten, daß auch heute beim entwickelten Menschen das Ich niemals als theoretisch betrachtendes, sondern nur als "stellungnehmendes" Ich wirklich gegeben ist.
    "Nicht was die Dinge sind, sondern wie sie für uns in Betracht kommen, erfüllt unser Erlebnis, nicht die Existenz, sondern der Wert der Dinge ist der Ausgangspunkt. Ob der Geist sich dem Wahrgenommenen zuwendet oder abwendet, es als Schranke oder als Hilfsmittel betrachtet, ob er Gedachtes schafft oder vernichtet, das Willensinteresse, die Zweckstellung, die Bewertung, trägt die Wirklichkeit." (a. a. O. Seite 52f)
Auch die theoretische Betrachtung der Welt ist nach MÜNSTERBERG eine Tat des stellungnehmenden Ich.
    "Das psychologische und physikalische Denken bleibt natürich selbst ein Erlebnis, es ist selbst ein Teil der Wirklichkeit, es ist selbst eine Stellungnahme, eine Handlung des Subjekts, und der psychologische oder physikalische Gedanke bleibt als solcher selbst ein abhängiges, bewertetes Objekt. Von allen Tathandlungen des Subjekts ist aber keine folgenreicher und bedeutsamer als die Bewertung des Gedankens, der das Objekt von der subjektiven Aktualität loslöst und es dadurch beschreibbar und erklärbar macht. Erst hierdurch tritt aus dem System der Werte und Willensakte eine schlechthin nur wahrnehmbare Mannigfaltigkeit hervor, die unabhängigen, wertfreien, bestimmbaren Objekte gewinnen dadurch logische Bedeutung, und wenn auch die Fragen der Terminologie nur sekundär sind, so mag es doch vielleicht nicht zu gewagt erscheinen, wenn wir behaupten, daß erst in dieser vom stellungnehmenden Subjekt abgelösten Form die Welt mit dem Urteilsprädikat der Existenz verbunden werden kann. Die wirklichen Objekte sind gültig und wertvoll, die abgelösten Objekte, die physischen und die psychischen, existieren. Dabei kommt die Handlung, die das physische und psychische Objektsein begründet, für uns hier natürlich nicht als psychophysischer Prozeß in Betracht, sondern als logisches Mittel. Es muß uns logisch wertvoll sein, die Welt als wertfrei zu denken, und unser freier Wille entscheidet, daß wir die ursprünglich als Willensmotiv erlebte Wirklichkeit in ein Universum verwandeln, in dem wir selbst nur ein winziger unfreier Teil und unser Wille ein notwendig ablaufender Vorgang ist." (a. a. O. Seite 56)
Ich befinde mich hier in weitgehender Übereinstimmung mit MÜNSTERBERGs Aufstellungen. Es ist auch meine Überzeugung, daß alle Wirklichkeit vom Menschen "ursprünglich als Willensmotiv erlebteWirklichkeit" ist. Ebenso stimme ich aufgrund meiner bisherigen Arbeiten vollinhaltlich zu, wenn MÜNSTERBERG die theoretische Betrachtung der Welt, d. h. also die wissenschaftliche Forschung als einen Willensakt des Menschen bezeichnet, und ich kann auch den Satz unterschreiben, daß unser Wille den Dingen erst objektive Existenz verliehen hat. Ebenso könnte ich etwa den Ausspruch FICHTEs, von dem MÜNSTERBERG ja stark beeinflußt ist, unterschreiben.
    "Nichts hat unbedingten Wert und Bedeutung als das Leben; alles übrige Denken, Dichten, Wissen hat nur Wert, insofern es sich auf irgendeine Weise auf das Lebendige bezieht, von ihm ausgeht und in dasselbe zurückzulaufen beabsichtigt." (Fichte, Sämtliche Werke II, Seite 332f)
Wenn aber MÜNSTERBERG im Anschluß an FICHTE innerhalb der Immanenz bleiben will, wenn er diesen Willensakt des Menschen, vermöge dessen er den Dingen Realität leiht, a priori in sich vorzufinden, wenn er diesen Akt als ewigen, zeitlosen zu konstatieren und dieses Verhältnis des Menschen zu seiner Umgebung als ein Feststehendes, sich immer wieder neu Vollziehendes ansprechen zu dürfen glaubt, so hat er zuviel von FICHTE übernommen.

Die Welt als wertfrei zu denken, muß uns nicht, wie MÜNSTERBERG meint, "logisch wertvoll", es muß uns vielmehr biologisch wertvoll sein. Die theoretische Konstatierung von Tatbeständen betrachte auch ich als eine Tat des Willens, aber nicht als eine, die sich heute noch täglich und stündlich vollzieht und die zu den a priori konstatierbaren Erlebnissen des Bewußtseins gehört. MÜNSTERBERG will aus diesem Prozeß, ebenso wie es FICHTE will, die Zeit eliminieren. Ich aber kann im Entstehen der theoretischen Betrachtung nur etwas Gewordenes erblicken, das sich entwickelt hat, und zwar aus biologischen Motiven entwickelt hat. Die Welt war eben ursprünglich als Willensmotiv gegeben, und um sie zur Erhaltung und Bereicherung des Lebens verwerten zu können, hat der Mensch allmählich gelernt, die Welt als etwas Selbständiges, Objektives zu betrachten, weil es ihm nur so gelingen konnte, die in der Natur waltenden Gesetze zumindest zum Teil zu erforschen und sich so teilweise zum Herrn der Natur aufzuschwingen. Sicher aber ist das Eine: Die Erkenntnis ist nicht aus der Erkenntnis, sondern sie ist aus dem Willen zum Leben hervorgegangen.

6. Die nächste Aufgabe der Erkenntnistheorie wird also darin bestehen, zu untersuchen, wie sich unter den verschiedenen Mitteln zur Lebenserhaltung das erkennende Denken als eines der bedeutsamsten und wichtigsten unter diesen Erzeugnissen des Erhaltungstriebes herausgebildet haben mag. Dabei werden wir uns immer dessen bewußt bleiben, daß wir zu den allerersten Anfängen niemals werden vordringen können. Da wir immer nur von menschlichem Erkennen sprechen, so setzen wir den Menschen als solchen schon voraus. Den Menschen aber können wir uns nicht anders vorstellen, als ausgestattet mit den Sinnesorganen, die wir heute besitzen und ausgestattet mit einem gewissen Grad an Erinnerungsvermögen. Wie diese Vorbedingungen allen Erkennens selbst entstanden sind, das zu untersuchen ist nicht mehr Sache der Erkenntnistheorie.

Wir haben also zu fragen, wie der fühlende und wollende, der mit Wahrnehmungs- und Erinnerungsfähigkeit begabte, vom Erhaltungstrieb beseelte Mensch dazu kam, die theoretische Betrachtung der Dinge, also das denkende Erkennen, als ein Mittel zur Erhaltung und zur Bereicherung des eigenen wie des Gattungslebens in sich zu entwickeln.

7. Erkenntnistheorie ist demnach genetische und biologische Psychologie des Denkens. Als Psychologie des Denkens bezeichnet sie auch HEYMANS, der in der Einleitung seines Buches "Gesetze und Elemente des wissenschaftlichen Denkens", Bd. 1, Seite 10f, sehr treffend zeigt, daß man nur auf psychologischem Weg zum Verständnis der Phänomene gelangen kann, die wir Erkenntnis nennen. HEYMANS, dessen Buch mir zur Zeit der Abfassung meiner "Urteilsfunktion" leider noch unbekannt war, geht in der Bestimmung der Aufgabe, die eine fruchtbringende Erkenntnistheorie zu lösen hat, noch einen wichtigen Schritt weiter. Er sieht ganz richtig, daß sich alles Denken in Urteilen vollzieht und sagt ganz ausdrücklich: "Die Entstehung der Urteile im Bewußtsein zu erklären, ist die Aufgabe der Erkenntnistheorie." (a. a. O. Seite 28). Zweifellos hat HEYMANS damit das zentrale Problem der Erkenntnistheorie bezeichnet. Seine eigene Begriffsbestimmung des Urteils aber, daß er sich in dieses Problem noch nicht tief genug versenkt hat. HEYMANS versteht nämlich unter Urteil
    "eine Denkerscheinung, in welcher irgendeine Vorstellung oder Vorstellungsverbindung als wahr gesetzt wird, d. h. daß es ein Wirkliches gibt, welches mit dieser Vorstellung oder Vorstellungsverbindung übereinstimmt." (a. a. O. Seite 28)
Abgesehen von der Schwierigkeit, die der Begriff der "Übereinstimmung" in sich birgt, leidet diese Begriffsbestimmung an einem Fehler, der in den neuen Urteilslehren öfter begangen wurde. HEYMANS nimmt den Begriff der Wahrheit in die Definition des Urteils hinein und übersieht ganz, daß im Begriff der Wahrheit der des Urteils bereits vorausgesetzt ist. Wahrheit wird erst durch das Urteil geschaffen; sie existiert nicht, bevor die Urteilsfunktion ausgeübt wird. Wir müssen erst wissen, was ein Urteil ist, bevor wir den Sinn der Worte Wahr und Falsch überhaupt richtig deuten können. Eben deshalb scheint mir die Psychologie des Urteilens die wichtigste Aufgabe der Erkenntnistheorie, weil wir erst mit Hilfe und aufgrund einer richtigen Analyse des Urteilsaktes die Entstehung und Entwicklung des Wahrheitsbegriffs verständlich machen können. Wenn wir schon vorher wissen, was Wahr und Falsch bedeuten, dann verliert die Analyse des Urteils sehr viel, ja fast alles von ihrer grundlegenden Bedeutung.

Deshalb darf eben eine wirklich befriedigende, erkenntnistheoretisch fruchtbringende Begriffsbestimmung des Urteils den Begriff "Wahr" nicht schon in sich enthalten. Das Urteil muß so untersucht werden, als ob der Begriff der Wahrheit noch nicht existiert. Denn nur dann kann uns diese Untersuchung verstehen lehren, was Wahr und Falsch ursprünglich bedeuten.

8. Dieser Forderung wurde nun freilich schon die alte Definition des Urteils gerecht, wonach das Urteil als eine Verbindung von Begriffen oder von Vorstellungen bezeichnet wurde. Diese Auffassung war aber unzulänglich und falsch. Unzulänglich, weil die objektivierende Funktion des Aktes darin nicht zum Ausdruck kam, und falsch, weil im Urteil nichts verbunden wird. Der letztere Fehler wurde von WUNDT berichtigt, der die analytische Funktion des Urteils zuerst richtig erkannte. Um der objektivierenden Funktion gerecht zu werden, bezeichneten JOHN STUART MILL, BRENTANO u. a. das Urteil als einen Akt des Glaubens (belief), des Fürwahrhaltens, des Anerkennens oder Verwerfens. Damit begingen sie aber, wie ich schon öfter gezeigt habe, einen Zirkel, da ja das, was geglaubt, anerkannt oder verworfen wird, nur ein Urteil sein kann. Weil nun keine der bis dahin gegebenen Begriffsbestimmungen alle im Urteilsakt sich vollziehenden Funktionen umfaßt, habe ich geglaubt, die ganze Untersuchung von Neuem beginnen zu müssen. Im Anschluß an GUSTAV GERBER habe ich dann meine Theorie aufgestellt, die, wie ich glaube, den Urteilsakt vollständiger beschreibt und seine Entstehung und Entwicklung richtiger erklärt, als es bis dahin geschehen war.

Nach meiner Auffassung besteht der Akt des Urteilens darin, ddaß wir die Vorgänge in unserer Umgebung nach Analogie unserer Willenshandlungen auffassen und deuten. Das Urteilen ist dann weder bloß ein Trennen noch bloß ein Verbinden, sondern beides zugleich. In jedem Urteil vollziehen wir nämlich eine Gliederung des wahrgenommenen oder vorgestellten Vorgangs. Mit dieser Gliederung in Kraftzentrum und Kraftäußerung ist aber die objektivierende Funktion schon von selbst gegeben. Indem ich das wahrgenommene Ding meiner Umgebung als Kraftzentrum fasse, erteile ich ihm eine selbständige, objektive, von mir unabhängige Existenz.

Diese vermenschlichende Gestaltung der auf uns einwirkenden Vorgänge nenne ich die fundamentale Apperzeption, weil sie allem menschlichen Apperzipieren, allem menschlichen Auffassen zugrunde liegt. Diese zeigt sich schon sehr früh wirksam, entwickelt sich aber immer weiter. Sobald durch die Sprache das Mittel gefunden ist, zu einem unanschaulichen, also zum eigentlichen Denken vorzudringen, prägt sich die fundamentale Apperzeption im einfachen Satz aus und wird damit zur Urteilsfunktion. Den Vorzug meiner Theorie sehe ich darin, daß alles, was man bisher am Urteil bemerkt hat, in dieser Theorie zusammengefaßt erscheint. Man hat richtig bemerkt, daß das Urteil verbindet und hat auch gesehen, daß es trennt. Die Stoiker, JOHN STUART MILL und BRENTANO fanden die objektivierende Funktion im Urteil ganz richtig heraus, und PLATO hat auf den abschließenden Charakter des Urteils aufmerksam gemacht (vgl. meine "Urteilsfunktion", Seite 42). Nach der von mir verteidigten Auffassung finden sich nun alle diese Funktionen im Urteilsakt vereint. Das Urteil trennt und verbindet, indem es gliedert, es objektiviert und gibt zugleich dem Gedankenlauf einen vorläufigen Abschluß.

9. Den vermenschlichenden Faktor in unserer Auffassung der Außenwelt haben meine Beurteiler ja insgesamt zugegeben. Der konnte ja auch gar nicht übersehen werden, da er uns ja bei unseren Kindern so deutlich entgegentritt und sich in den Mythologien aller Völker offenbart. Was man mir nicht zugeben will, das ist zweierlei. Erstens will man nicht glauben, daß der Anthropomorphismus, den man für primitive Entwicklungsstufen gelten läßt, allem Denken dauerhaft anhaftet. Insbesondere die mathematisch und naturwissenschaftlich geschulten Denker glauben alles Vermenschlichende aus ihrem Denken eliminieren zu können. Daß dies eine Selbsttäuschung ist, habe ich dadurch zu erweisen gesucht, daß ich selbst in den abstraktesten Urteilen den gleichen Typus, die gleiche Verknüpfung aufzeigte. Ich gebe jedoch zu, daß hier noch manche Schwierigkeiten zu überwinden sind. Sicher aber ist, daß auch in den abstraktesten Beziehungsbegriffen, die als Subjekte von Urteilen fungieren, für den sprachlich geschulten und in der introspektiven Analyse geübten Beobachter der Charakter eines Kraftzentrums anzutreffen ist. Die mathematischen Sätze, die ich in meinem Buch gleichfalls analysiert habe, bedürfen allerdings einer noch eingehenderen Untersuchung.

Zweitens aber will man nicht einsehen, daß das Verhältnis von Subjekt und Prädikat wirklich dem Verhältnis von Kraftzentrum und Kraftäußerung entspricht. Daß nicht nur ich dieses Verhältnis so auffasse, dafür habe ich in dem Aufsatz "Glaube und Urteil" (Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 1894, Seite 169f) einige Beweise angeführt, von denen besonders die dort angeführten Äußerungen SCHUPPEs und KROMANs charakteristisch sind. Es gehört offenbar eine gewisse Übung in sprachlichen Untersuchungen dazu, um in der im Satz ausgedrückten Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat das Band zu entdecken, das sich zwischen beiden knüpft, ja es gehört schon eine gewisse Schulung dazu, um ein solches Band überhaupt zu suchen. Man muß die Einheit des ganzen Satzes deutlich fühlen und sich zugleich der Glieder bewußt werden, aus denen er besteht. Der Philologe, dessen Hauptbeschäftigung die Interpretation fremder Gedanken ist, hat sicher mehr Veranlassung als der Naturforscher, sich in die Ausdrucksformen des Denkens zu vertiefen und ihnen ihr geheimstes Wesen zu entlocken. Der Naturforscher betrachtet die Sprache als Verständigungsmittel und findet bei der Verwendung nicht selten heraus, daß sie oft ein unzulängliches Mittel ist, um den Gedanken ganz so, wie ihn der Forscher denkt, wiederzugeben. Er ist daher weit eher geneigt und geeignet, auf die Irrwege hinzuweisen, zu denen uns die Sprache nicht allzu selten führt. Was aber die Sprache für die Entwicklung des Denkens tatsächlich leistet, das herauszufinden hat gewiß der Philologe mehr Aussicht. So will ich denn auch keineswegs in Abrede stellen, daß die langjährige und intensive Beschäftigung mit grammatischen Fragen, das immer wiederholte Studium des Satzes, d. h. desjenigen Gebildes, in dem die Sprache allein lebendig ist, mich zur Auffindung meiner Urteilstheorie geführt hat.

10. Da nun die Auffassung des Urteils als Gliederung und Objektivierung durch Vermenschlichung alle Züge vereinigte, die bisher von den verschiedenen Forschern am Urteil bemerkt und zur Grundlage ihrer einseitigen Theorien gemacht worden waren, da sich ferner aufgrund derselben die Entwicklung der Erkenntnis, die Entstehung und Bedeutung der konkreten sowie der abstrakten Begriffe zwang- und lückenlos durchführen ließ, da sich endlich derselbe Urteilstypus bei den einfachsten wie bei den kompliziertesten Denkhandlungen immer wieder zeigte, so glaubte ich, und glaube es immer noch, in dieser Theorie den Schlüssel zum Verständnis der erkenntnistheoretischen Grundfragen gefunden zu haben.

11. Was mich in den letzten Jahren immer mehr in dieser Überzeugung bestärkte, das war der Umstand, daß die biologische Funktion des Erkennens hier klar hervortritt, und daß die Provenienz und die Bedeutung des Wahrheitsbegriffs sich jetzt leicht und einfach überblicken läßt. Diesen Punkte, der in meinen bisherigen Arbeiten zwar angedeutet, aber noch nicht zur vollen Klarheit gelangt ist, möchte ich nun hier etwas eingehender erörtern.

Die Welt ist uns, sagt MÜNSTERBERG sehr richtig, ursprünglich nur als Willensmotiv gegeben. Wahrnehmungen sind deshalb für das Kind wie für den Urmenschen noch nicht Erkenntnisse, sondern nur Anlässe zur Ausführung von Bewegungen, oder allgemeiner gesagt, zur Stellungnahme. Solange die reflektorischen und instinktiven, d. h. die ererbten Reaktionen für die Erhaltung des Lebens ausreichen, liegt kein Anlaß vor, über dieselben hinauszugehen. Nun reichen aber, wie EBBINGHAUS gezeigt hat, Reflexe und Instinkte nur für Durchschnittsfälle, für das "Meist sich wiederholende" in der Umgebung aus. Der Mensch aber unterscheidet sich eben dadurch von den Tieren, daß er sich den verschiedensten Lebensbedingungen angepaßt und sich daher viel stärker differenziert hat als irgendeine andere Gattung von Lebewesen.

Daß dem so ist, kann wohl niemand in Abrede stellen. Es fragt sich nun, was für physiologischen und psychologischen Prozessen diese höhere Entwicklung zugeordnet ist. Im Einzelnen können wir dies heute noch nicht nachweisen, allein im Großen und Ganzen lassen sich die Hauptbedingungen wohl angeben. In morphologischer und physiologischer Hinsicht ist es wahrscheinlich die Entwicklung und die Funktion der Großhirnrinde und in psychologischer Hinsicht ist es ganz sicher die Entstehung und Ausbildung des theoretischen Erkennens.

Dieses theoretische Erkennen entwickelte sich aber ganz allmählich aus einem Stellung nehmenden Ich. Die Dinge unserer Umgebung sind uns zunächst als Willensmotive gegeben. Indem wir nun gegenüber diesen Dingen, sie mögen belebt oder unbelebt sein, Stellung nehmen, verleihen wir ihnen Realität. Wir legen in alle wahrgenommenen Dinge einen Willen ein und betrachten sie selbst als gegen uns Stellung nehmend. Alles, was diese Dinge uns gegenüber sind oder tun, das geht infolge unserer Stellungnahme aus Antrieben hervor, die wir in ihr Inneres verlegen. Wir lauern auf die Betätigungen dieses in die Dinge hineingelegten Antriebes, damit wir sofort das Richtige veranlassen können. Diese Konzentration des Organismus auf das, was wir von den Dingen erwarten, ist die Aufmerksamkeit, deren biologischer Ursprung KARL GROOS richtig dargestellt hat (Die Spiele des Menschen, Seite 180f). Durch die Aufmerksamkeit werden aber, wie ich anderswo gezeigt habe (Psychologie, Seite 85f) die Wahrnehmungen in Elemente zerlegt, wodurch eine größere Beweglichkeit des Vorstellens ermöglicht wird. Diese Elemente lassen sich nämlich, wenn ein Anlaß vorliegt, zu neuen Gebilden vereinigen, die in dieser Kombination nicht gegeben waren, und so entsteht die Phantasie, die bei der Ausgestaltung dessen, was wir erwarten, eine biologisch bedeutsame Rolle spielt.

Die Aufmerksamkeit wendet sich aber nur solchen Betätigungsweisen der Dinge zu, die als Willensmotive fungieren, d. h. nur solchen Eigenschaften der Dinge, die biologisch bedeutsam sind. Dadurch aber werden die biologisch bedeutsamen Merkmale der Dinge von selbst in typischen Vorstellungen zusammengefaßt, die für die Entwicklung des theoretischen Denkens eine der wichtigsten Vorstufen bilden. Die typischen Vorstellen (vgl. oben) vereinigen zwei anscheinend unvereinbare Eigenschaften, und die Erklärung ihrer Entstehung zeigt so recht deutlich die Fruchtbarkeit des biologischen Gesichtspunktes. Die Individualvorstellung ist anschaulich, der Begriff ist unanschaulich und allgemein, die typische Vorstellung ist anschaulich und allgemein zugleich. Sie ist anschaulich, denn die biologisch bedeutsamen Merkmale treten bei jeder Wahrnehmung eines entsprechenden Dings dem stellungnehmenden Betrachter in lebendiger Wirklichkeit entgegen. Die typische Vorstellung ist aber auch allgemein, sie trägt einen repräsentativen Charakter an sich, denn überall, wo diese biologisch wichtigen Merkmale beisammen sind, veranlassen sie uns zu denselben Reaktionen. "Worauf in gleicher Weise reagiert wird, das fällt unter einen Begriff", sagt MACH sehr treffend (Prinzipien der Wärmelehre, Seite 416).

12. So bereitet die rein biologische Betätigung der seelischen Kräfte allmählich das theoretische Erkennen vor. Getragen aber wird diese Entwicklung von einer fundamentalen Apperzeption. Das stellungnehmende Ich kann seine Kräfte nur entfalten, wenn es sich Dingen gegenüber sieht, die selbst wieder gegen das Ich Stellung nehmen. Die Einlegung eines Willens in die wahrgenommenen Dinge ist noch keineswegs als ein Akt theoretischer Erkenntnis anzusehen. Dieses Einlegen gehört zum stellungnehmenden Akt. Ich kann meine Maßnahmen nur dann richtig treffen, wenn ich die Dinge meiner Umgebung als gleich selbständig und als gleich selbsttätig ansehe, wie ich mich fühle. Mir ist es nicht möglich, ihre Betätigungsweisen anders zu deuten. Ich habe nicht die Wahl zwischen mehreren Auffassungen, von denen ich die eine bevorzuge, sondern in meiner Stellungnahme liegt die Verselbständigung der Dinge und die Auffassung derselben als Kraftzentren mitinbegriffen. Das ist das Wahre in FICHTEs Gedanken von der Setzung des Nicht-Ich durch das Ich. Das Nicht-Ich ist aber dabei nicht bloß Objekt des setzenden Ich, sondern, indem es vom Ich gesetzt wird, ist es bereits zum selbständigen und selbsttätigen Subjekt geworden. Diese durch die Stellungnahme bedingte und in ihr enthaltene Auffassung der Umgebung bildet aber die Grundlage für die weitere Entwicklung, die freilich Komplikationen annimmt und einen Umfang gewinnt, den die fundamentale Apperzeption kaum ahnen ließ.

Eine künftige Erkenntnistheorie wird die Aufgabe haben, diese Entwicklung in möglichst lückenloser Vollständigkeit aufzuzeigen. Wir können hier nur auf einige der wichtigsten Phasen hinweisen, und dies tun wir hauptsächlich, um darzulegen, daß der von uns vorgeschlagene und eingeschlagene Weg uns dem Ziel wirklich näher bringt.

Die Fähigkeit, Erinnerungen für die Lebenserhaltung zu verwerten, müssen wir beim Menschen von allem Anfang an schon deshalb voraussetzen, weil wir diese Fähigkeit ja bei den meisten Tieren vorfinden. Da nun der Mensch an Körperkraft hinter vielen Tieren zurücksteht, so muß diese Fähigkeit, Erfahrungen zu machen und zu verwerten, sich bei ihm steigern, höher entwickeln, damit er dadurch ersetzt, was ihm an physischer Kraft fehlt. Um den Ereigenissen gegenüber zweckentsprechend Stellung nehmen zu können, muß sich das Interesse des Menschen in einem viel weiteren Umfang den Wahrnehmungen der Dinge seiner Umgebung zuwenden, als dies bei Tieren der Fall ist. Ihn muß gleichsam alles, was er wahrnimmt, zu irgendeiner Art von Stellungnahme veranlassen. Was nicht augenblicklich verwertbar ist, das kann für eine spätere Verwertung aufgespart werden. So wird das "Lauern" allmählich zum Beobachten überhaupt, und diese neue Art der Betätigung seiner Kräfte erweist sich für den Menschen in einem hohen Grad als förderlich. Dadurch wird sie zu einer lustvollen Beschäftigung und auf diese Weise entsteht die Freude am Schauen, am Wahrnehmen und Beobachten, auch ohne daß eine unmittelbare Verwertung in Aussicht steht. Eine neue Funktion hat sich herausgebildet und diese zeitigt wie jede andere Funktion ein Funktionsbedürfnis. Das, was man also Erkenntnistrieb zu nennen pflegt, ist kein ursprünglicher Trieb, sondern ein aus biologischen Motiven entstandenes Funktionsbedürfnis.

Den Begriff des Funktionsbedürfnisses hat, soviel ich weiß, zuerst DÖRING in die Psychologie eingeführt (Philosophische Güterlehre, Seite 102). Ich selbst habe denselben weiter entwickelt und zur Aufklärung der Psychologie des Fühlens im allgemeinen, insbesondere aber der ästhetischen Gefühle verwendet (Psychologie, Seite 159f und 174f). Auch dieser Begriff ist durch die biologische Betrachtungsweise gewonnen und erweist sich nun auch für die Erkenntnistheorie als fruchtbringend. Das theoretische Erkennen ist erst dann als eine von unmittelbaren praktischen Interessen unabhängige, für sich bestehende Funktion des Bewußtseins vorhanden, wenn der Erkenntnistrieb zum Funktionsbedürfnis geworden ist.

Vieles der ursprünglichen Anlage des menschlichen Organismus treibt zu dieser Entwicklung hin. Da ist vor allem die lange Kindheit des Menschen hervorzuheben. Hilflos, ohne die Fähigkeit für sich zu sorgen, kommt der Mensch zur Welt und bleibt viele Jahre lang auf die Fürsorge anderer angewiesen. In dieser Zeit hat er Muße genug, um seine intellektuellen Anlagen zu entwickeln. Die Spiele der Kinder, die GROOS sehr richtig als Vorübung für den künftigen Beruf auffaßt, tragen dazu bei, das intellektuelle Funktionsbedürfnis zu entwickeln. GROOS bezeichnet darum mit Recht, auch die Neugier als eine Art von Spiel (a. a. O. Seite 184f). So entwickelt sich allmählich das, was wir gewöhnlich das theoretische Interesse nennen. Die Weiterbildung des Erkenntnistriebes über das biologisch Bedeutsame hinaus ist aber wieder nur eine biologische Entwicklung. Finden wir doch noch manche andere Triebe, die sich weiter entwickeln, als es die Zwecke der Erhaltung erfordern, ja mitunter so viel weiter, daß daraus sogar schädliche Dispositionen werden können. Ich verweise dabei nur auf das bekannte Beispiel des Nachahmungstriebes und das noch bekanntere des Geschlechtstriebes, dessen zu starke Entwicklung ja schon so oft und so gründlich erörtert worden ist.

13. Die bisher betrachtete Entwicklung der Erkenntnisorgane konnte vor sich gehen, auch wenn ein einzelner Mensch allein der Natur gegenüberstand, deren Einflüsse ihn zur Stellungnahme veranlaßten. Es ist zwar nicht wahrscheinlich, daß ein einzeln lebender Mensch ohne Hilfe seiner Mitmenschen sich im Kampf mit den oft feindseligen Mächten in seiner Umgebung hätte behaupten können. Allein denkbar ist der Fall doch und als Gedankenexperiment dürfen wir ihn somit verwenden. Auch im isoliert lebenden Menschen müßte sich eine fundamentale Apperzeption ausbilden, auch der Einsame müßte in die Dinge der Umgebung einen Willen einlegen. Ebenso könnte sich bei diesem Einzigen die Aufmerksamkeit, die typische Vorstellung und das intellektuelle Funktionsbedürfnis entwickeln.

Tatsächlich aber ist es dem Menschen nur im Gemeinschaftsleben gelungen, sich zu behaupten, und so hat er dann auch nur im Verein mit seinen Genossen den Trieb nach Erkenntnis geschaffen als die wirksamste Waffe im Kampf ums Dasein. Die wertvollsten Denkmittel sind ein Produkt gemeinsamer Arbeit gewesen. Das wichtigste dieser Produkte ist zweifellos die Sprache. Die Sprache ist der weitaus wichtigste soziale Faktor in der Erkenntnisentwicklung. Ihr Einfluß ist zwar von GEIGER, STEINTHAL, LAZARUS u. a. gebührend gewürdigt worden, aber es fehlt noch sehr viel dazu, daß dies in philosophischen Kreisen allgemein anerkannt und namentlich dazu, daß es im Einzelnen durchgeführt wird. Im Gegenteil macht sich in den letzten Jahren eine Strömung geltend, die die Sprache hauptsächlich als Fehlerquelle, als Hemmnis ansieht.

Dem gegenüber muß ich auf die in meiner "Urteilsfunktion" wie auch in der "Psychologie" gegebene Darstellung dieses Einflusses verweisen. Ich glaube gezeigt zu haben, daß erst anhand der Sprache sich die typischen Vorstellungen zu unanschaulichen Begriffen entwickeln. Erst dann aber sind sie geeignet, die unendliche Mannigfaltigkeit der Anschauung zu überwinden und dadurch erst größere Denkleistungen möglich zu machen. In der Sprache findet die fundamentale Apperzeption ihre Ausprägung, indem die den ganzen Vorgang bezeichnende Wurzel in Subjekt und Prädikat auseinandertritt. Dieses aus dem Bedürfnis der Mitteilung hervorgegangene Auseinandertreten ermöglicht aber erst, wie ich ausführlich gezeigt habe, die Bildung konkreter und abstrakter Begriffe, d. h. die Zusammenfassung von Dingen und die noch wichtigere Zusammenfassung gleicher Eigenschaften und Zustände verschiedener Dinge in einem einzigen Denkakt. Dabei beweisen oft gerade die schädlichen, erkenntnishemmenden Wirkungen der Sprache, die ja kein Vernünftiger in Abrede stellen wird, die Unentbehrlichkeit des sprachlichen Denkens, wie ich dies am interessanten Phänomen des Wortaberglaubens [_woabgla] gezeigt habe (Psychologie, Seite 109f)

Zu solchen Einsichten über die Leistungen der Sprache kann man allerdings niemals durch rein deskriptive oder "phänomenologische" Analysen gelangen. Nur die genetische Betrachtungsweise und die Untersuchung primitiver Kulturzustände kann hier Aufschluß geben. Sehr lehrreich sind auch die nicht mehr seltenen Fälle, in denen Taubstumm-Blinde durch Erlernung der Sprache zur Begriffsbildung gelangen und durch ihnen eröffneten Verkehr mit Menschen erst theoretisch denken lernen. In meiner Studie über LAURA BRIDGMAN habe ich gezeigt, wie Gefühlslaute durch die aus dem erschlossenen Verkehr mit anderen hervorgehende Bereicherung des Lebensinhaltes und die dadurch bewirkte reichere Nuancierung des Gefühlslebens zu Namen geworden sind. Meine dort gegebene Erklärung von LAURA BRIDGMANs Sprachlauten ist bisher weder von den Sprachforschern, noch von den Erkenntnistheoretikern beachtet worden. Ich weise deshalb hier wieder darauf hin, weil man ja nicht so leicht Gelegenheit hat, eine Theorie über die Entstehung der Sprache durch ein Experiment der Natur bestätigt zu sehen.

Mir ist seither ein Fall von angeborener Taubheit und Blindheit bekannt geworden, von dem die deutsche Psychologie und Erkenntnistheorie noch gar keine Notiz genommen hat. Und doch kann man an der Erziehung der jetzt 19 Jahre alten MARIE HEURTIN lernen, was die Sprache für das Denken bedeutet. Man lese nur die Darstellung dieser Erziehung in dem Buch "Une âme en prison" von LOUIS ARNOULD (dritte Auflage 1904) und man wird, wenn man nicht erkenntniskritisch verwirrt ist, zugeben müssen, daß die Sprache den Menschen erst recht zum Menschen macht. Die Anlage dazu muß er natürlich mit auf die Welt bringen, aber ohne die Entwicklung dieser Anlage gelangt der Mensch nicht zum rein theoretischen Denken.

Erst durch die Sprache ist eine gemeinsame Arbeit der Menschen möglich geworden, erst die Sprache hat die zahllosen Denkmittel geschaffen, die nötig waren, um den immer mächtiger anschwellenden Strom der Erfahrungen regulieren zu können. Insbesondere die für die Wissenschaft so unentbehrlichen Beziehungsbegriffe, wie Zahl, Geschwindigkeit, Bedingung, Recht, Staat, usw. hätten nie zum Gegenstand des Nachdenkens werden können, wenn die Sprache nicht in den Wörtern die Kristallisationspunkte geschaffen hätte, an die sich dann die gemeinsamen Erfahrungen angliedern und in denen sie sich verdichten konnten. Die Erkenntnistheorie muß es deshalb als eine ihrer wichtigsten Aufgaben betrachten, den sozialen Faktor in der Erkenntnisentwicklung, wie er in der Sprache vorliegt, auf das Genaueste zu untersuchen. Wenn sie dargelegt hat, was die Sprache für das Zustandekommen der Erkenntnis leistet, dann darf sie auch auf die Fehler hinweisen, zu denen uns die Sprache oft verleitet hat und noch verleitet. Aber eine Kritik der Sprache ohne die vorangehende Erkenntnis von der Unentbehrlichkeit der sprachlichen Ausprägung unserer Begriffe ist ein Unternehmen, das die Erkenntnistheorie nicht fördert, sondern schädigt. Vorläufig werden wir die Fehler, zu denen uns die Sprache verleitet, immer noch gerne mit in Kauf nehmen, wenn wir uns gründlich davon überzeugt haben, daß es ohne Sprache keine Wissenschaft gäbe.

Alle wirklich errungene menschliche Erkenntnis ist somit, das darf wohl nicht bezweifelt werden, eine Errungenschaft der gemeinsamen Arbeit der Menschen. Ich freue mich, in dieser Überzeugung mit VIERKANDT zusammenzutreffen, der aufgrund sorgfältiger ethnologischer Untersuchungen zu demselben Resultat gekommen ist.
    "In Wirklichkeit", sagt er, "sind auch die intellektuellen Erzeugnisse Produkte der Gesamtheit und derselben Gesetzmäßigkeit unterworfen, mit derselben Notwendigkeit erzeugt, wie alle ihre Produkte." (Naturvölker und Kulturvölker, Seite 84)
Die Sprache selbst, die jede genauere Erkenntnis erst möglich macht, ist jedenfalls ein solches Naturprodukt, das dem Zusammenwirken der Menschen seine Entstehung verdankt. Dieser soziale Faktor in der Erkenntnisentwicklung ist bis jetzt so gut wie ganz übersehen worden. Die Berücksichtigung dieses Faktors aber dürfte sich geeignet erweisen, die Entwicklung es Wahrheitsbegriffs klarzulegen und dadurch eine Reihe bisher dunkler Punkte in der Erkenntnisentwicklung aufzuhellen.

14. Über die verschiedenen Auffassungen und Definitionen, die der Begriff der Wahrheit im Laufe der Zeiten erfahren hat, orientiert jetzt am raschesten und vollständigsten der Artikel "Wahrheit" in EISLERs Wörterbuch, zweite Auflage Bd. II, Seite 627f. Dort findet man zunächst die Bedeutungen und Anwendungen übersichtlich gruppiert und dann sehr zahlreiche Belegstellen aus den Werken der Philosophen von PROTAGORAS bis auf unsere Tage. Indem ich für alles Einzelne auf diese überaus fleißige Zusammenstellung verweise, gehe ich nun daran, den Ursprung und die Entwicklung dieses für die menschliche Erkenntnis zentralen Begriffs so kurz und so klar, wie es mir möglich ist, darzustellen.

Wahrheit, so zeigte ich bereits oben, wird erst durch die Urteilsfunktion geschaffen. Von wahren Vorstellungen darf man nur in dem Sinne sprechen, daß man darunter Vorstellungen versteht, die uns zu wahren Urteilen veranlassen. Im Urteil aber verhält sich der Mensch auf primitiver Entwicklungsstufe nur Stellung nehmend. Diese Stellungnahme aber besteht in den Handlungen, zu denen ihn die vollzogene Deutung eines wahrgenommenen Vorgangs veranlaßt. Erweisen sich nun die Maßnahmen, die aufgrund der vollzogenen Deutung getroffen werden, als lebensfördernd, als biologisch wertvoll, dann war die Deutung richtig; erweisen sie sich als überflüssig oder als schädlich, dann war die Deutung falsch.

Wahr und Falsch bedeutet also ursprünglich gar nichts anderes als nützlich oder schädlich in einem biologischen Sinn. Noch genauer ausgedrückt: Die Wertung, welche eine vollzogene Deutung aufgrund der Nützlichkeit oder Schädlichkeit der aufgrund derselben getroffenen Maßnahmen erfährt, diese Wertung und nichts anderes ist der Ursprung der Begriffe Wahr und Falsch.

Veranschaulichen wir uns dies an einem fingierten Beispiel. Ein Hirte hört ein Geräusch, das ihn an das Heulen eines Wolfes erinnert. Er ruft die benachbarten Hirten und fordert sie zu gemeinsamen Schutzmaßregeln auf. Die Hirten kommen, deuten das Geräusch ebenso und treffen nun gemeinsam mit dem, der sie gerufen hat, die erforderlichen Maßregeln. Kommt nun der Wolf wirklich, so waren die Maßnahmen nötig und nützlich, und eben in dieser Förderlichkeit der Maßnahmen liegt auf dieser Entwicklungsstufe das, was wir später die Wahrheit des Urteils nennen. Das wird noch deutlicher, wenn wir uns den anderen Fall denken. Die Hirten kommen, werden aber durch das Geräusch nicht an das Heulen von Wölfen erinnert. Sie weisen das Urteil dessen, der sie rief, zurück, indem sie die zu treffenden Maßnahmen überflüssig finden. Sie weisen die Deutung des Hirten insofern zurück, als sie die daraus sich ergebenden Handlungen zu vollziehen sich weigern. (1) Die Unrichtigkeit der Deutung des gehörten Geräusches besteht hier lediglich und allein in der Überflüssigkeit der Maßnahmen, zu denen die Deutung veranlaßt hatte.

15. Die biologische Bedeutung des Urteilens hat auch NIETZSCHE behauptet, allein den biologischen Ursprung von Wahr und Falsch hat er nicht gelehrt.
    "Die Falschheit eines Urteils", sagt er, "ist uns noch kein Einwand gegen ein Urteil; darin klingt unsere neue Sprache vielleicht am fremdesten. Die Frage ist, wie weit es lebensfördernd, Lebenerhaltend, Arterhaltend, vielleicht gar Artzüchtend ist; und wir sind grundsätzlich geneigt zu glauben, daß die falschesten Urteile (zu denen die synthetischen Urteile a priori gehören) uns die unentbehrlichsten sind, daß ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktionen, ohne ein Messen der Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten, Sichselbstgleichen, ohne eine beständige Fälschung der Welt durch die Zahl der Mensch nicht leben könnte, daß Verzichtleisten auf falsche Urteile ein Verzichtleisten auf Leben, eine Verneinung des Lebens wäre." (Jenseits von Gut und Böse, 4, Werke VII, Seite 12).
Man sieht, daß NIETZSCHE Wahr und Falsch nicht als Wertmaßstab der Urteile will gelten lassen. Falsche Urteile können ebenso wertvoll, ja noch wertvoller als wahre sein. Er setzt aber stillschweigend voraus, daß es ein rein theoretisches Kriterium für Wahr und Falsch gibt, leitet also den Ursprung dieser Begriffe nicht aus dem Biologischen ab.

Dagegen hat GEORG SIMMEL den biologischen Ursprung von Wahr und Falsch in seiner vollen Tiefe erfaßt. In seinem überaus anregenden Buch "Die Philosophie des Geldes" hat dieser tief grabende Denker diesen Gegenstand erörtert (Seite 58f). Er sagt unter anderem:
    "Was kann nun die Wahrheit bedeuten, die für diese (die Tiere) und uns eine ganz verschiedene ist, außerdem sich mit der objektiven Wirklichkeit gar nicht deckt, und dennoch so sicher zu erwünschten Handlungsfolgen führt, als ob das letztere der Fall wäre? Das erscheint mir nur durch die folgenden Annahme erklärbar: Die Verschiedenheit der Organisationen fordert, daß jede Art, um sich zu erhalten un ihre wesentlichen Lebenszwecke zu erreichen, sich auf eine besondere, von den anderen abweichende Art praktisch verhalten muß. Ob eine Handlung, die von einem Vorstellungsbild (ich würde sagen von einem Urteil) geleitet und bestimmt wird, für den Handelnden nützliche Folgen hat, ist also noch keineswes nach dem Inhalt dieser Vorstellung zu entscheiden, mag er sich nun mit der absoluten Objektivität decken oder nicht. Das wird vielmehr einzig davon abhängen, zu welchem Erfolg diese Vorstellung als realer Vorgang innerhalb des Organismus, im Zusammenhang mit den übrigen physisch-psychischen Kräften und im Hinblick auf die besonderen Lebenserfordernisse jenes führt. Wenn wir nun vom Menschen sagen, lebenserhaltend und fördernd handelt er nur aufgrund wahrer Vorstellungen, zerstörerisch aber aufgrund falscher - was soll diese Wahrheit, die für jede mit Bewußtsein ausgestattete Art eine inhaltlich andere und für keine ein Spiegelbild der Dinge-ansich ist, ihrem Wesen nach anderes bedeuten, als eben diejenige Vorstellung, die im Zusammenhang mit der ganzen speziellen Organisation, ihren Kräften und Bedürfnissen, zu nützlichen Folgen führt? Sie ist ursprünglich nicht nützlich, weil sie wahr ist, sondern umgekehrt. Mit dem Ehrennamen des Wahren statten wir diejenigen Vorstellungen aus, die als reale Kräfte oder Bewegungen in uns wirksam, uns zu nützlichem Verhalten veranlassen. Danach gibt es so viel prinzipiell verschiedene Wahrheiten, wie es prinzipiell verschiedene Organisationen oder Lebensanforderungen gibt. Dasjenige Sinnenbild, das für das Insekt Wahrheit ist, wäre es offenbar nicht für den Adler, denn eben dasselbe, aufgrund dessen das Insekt im Zusammenhang seiner inneren und äußeren Konstellationen zweckmäßig handelt, würde den Adler im Zusammenhang der seinigen zu ganz unsinnigen und verderblichen Handlungen bewegen. Daß für den Menschen ein Inbegriff fester und normativer Wahrheiten zustande gekommen ist, mag so zusammenhängen, daß unter unseren unzähligen psychologisch auftauchenden Vorstellungen von jeher eine Auslese unter dem Gesichtspunkt stattgefunden hat, ob ihre Weiterwirkung auf das Handeln des Subjekts sich als nützlich oder schädlich für dieses erweisen. Die ersteren nun fixieren sich auf den gewöhnlichen Wegen der Selektion und bilden in ihrer Gesamtheit die wahre Vorstellungswelt. Und tatsächlich haben wir kein anderes Kriterium für die Wahrheit einer Vorstellung vom Seienden, als daß die auf sie hin eingeleiteten Handlungen die gewünschten Konsequenzen ergeben." (Seite 65f)
Ich habe SIMMEL deshalb so ausführlich zitiert, weil hier zum ersten Mal der Begriff der Wahrheit auf seinen biologischen Ursprung zurückgeführt und zugleich angedeutet wird, wie sich daraus die theoretische Wahrheit entwickelt. Mit der biologischen Erklärung bin ich selbstverständlich einverstanden, nur müßte ich überall, wo SIMMEL von "Vorstellungen" spricht, "Urteile" an die Stelle setzen. Erst die Deutung der Vorstellung veranlaßt den Menschen zu Handlungen im engeren Sinn. Da wir nun von der Entwicklung der menschlichen Erkenntnis sprechen, so dürfen wir nur von Urteilen ausgehen. In Bezug auf Urteile aber stimme ich vollständig dem zu, was SIMMEL über die Entstehung der Wahrheit vorbringt. Ich erteile tatsächlich den Ehrennamen des Wahren denjenigen Urteilen, denjenigen Deutungen des Wahrgenommenen, die uns zu einem nützlichen Handeln veranlassen. Die "Wege der Selektion" aber, auf denen wir zu einem "Inbegriff fester und normativer Wahrheiten" gelangt sind, scheinen mir nicht so "gewöhnlich", wie SIMMEL meint. Ich glaube vielmehr, daß diese Wege sehr verschlungen sind und daß wir dabei von sehr verschiedenen inneren Kräften bestimmt werden. In diese Entwicklung des menschlichen Wahrheitsbegriffs von einem rein biologischen Ausgangspunkt bis zur streng wissenschaftlichen Formulierung, eine Entwicklung, nach der bisher kaum gefragt wurde, Klarheit zu bringen, ist eine der wichtigsten Aufgaben der Erkenntnistheorie. Darin freilich hat SIMMEL recht, daß wir auch heute kein anderes Kriterium für die Wahrheit eines Urteils haben als die Konsequenzen des Urteils. Diese Konsequenzen sind aber meist Voraussagen, zu denen wir uns aufgrund des Urteils für berechtigt halten. Vom tatsächlichen Eintreffen dieser Voraussagen hängt nun in erster Linie die Wahrheit eines Urteils ab, und dieses Kriterium habe ich bereits öfter (Urteilsfunktion, Seite 187, Einleitung, Seite 91, Psychologie Seite 122) als das sicherste und das einzige objektive Kriterium bezeichnet. Auch das ist richtig, daß wir uns zu diesen Voraussagen vielfach durch praktische Interessen veranlaßt fühlen und daß das Eintreffen derselben wieder praktische Bedeutung für uns gewinnt. Ist es doch und bleibt es doch die höchste und letzte Aufgabe der Wissenschaft, das Leben der Menschheit sicherer und inhaltsreicher zu machen. Allein zwischen die ersten Urteile, deren Wahrheit einzig und allein in der Zweckmäßigkeit der durch das Urteil veranlaßten Maßnahmen besteht und die Urteile des exakten Forschers, der die Tatsachen und Gesetze ganz ohne jede Rücksicht auf ihre Verwertbarkeit feststellt, schiebt sich eine lange Entwicklung ein. In diese aber will ich eben Einsicht zu gewinnen suchen.

16. Das Urteil ist, so sagte ich bereits oben, anfangs nur eine Stellungnahme. Bald aber erweist sich die Urteilsfunktion so wertvoll und lebensfördernd, daß sie auch dort geübt wird, wo keine unmittelbare Verwertung der Deutung bevorsteht. Wir urteilen gleichsam auf Vorrat und speichern die Ergebnisse der vollzogenen Deutungen für einen künftigen Gebrauch in unserem Gedächtnis auf. Das Urteilen verleiht uns Macht, Freiheit, Sicherheit gegenüber unserer Umgebung. Wir bewegen uns ruhig und sicher in unserer Welt, sobald wir wissen, wessen wir uns von den Dingen darin zu versehen haben. Die Macht und Freiheit verleihende Funktion wird nun mit Lust geübt und erzeugt in unserer Organisation, wie wir gesehen haben, ein intellektuelles Funktionsbedürfnis, das nach Betätigung verlangt. Damit aber ist aus dem bloß stellungnehmenden Urteil ein theoretisches Konstatieren von Tatbeständen geworden.

Damit verändert sich aber auch die Bedeutung des Wahrheitsbegriffs. Wahr ist ein Urteil im ersten Stadium der Entwicklung nur insofern, als es unmittelbar zu zweckdienlichen, lebenserhaltenden Maßnahmen veranlaßt. Sobald wir aber anfangen auf Vorrat zu urteilen, erweitert sich diese Bedeutung. Indem sich zwischen das Urteilen und dessen Verwertung eine kleinere oder größere Wartezeit einschiebt, gewinnt der Urteilsakt an Selbständigkeit. Anfangs entscheidet über die Wahrheit auch hier noch die eventuelle Verwertbarkeit, und die biologische Wurzel des Wahrheitsbegriffs zeigt sich hier noch in voller Deutlichkeit. Immer fester aber und immer allgemeiner wird die Überzeugung, daß unsere Urteil an Verwertbarkeit umso mehr gewinnen, je mehr die darin vollzogen Deutung dem tatsächlichen Verhalten der Dinge entspricht. Je weniger unsere Deutung von unserem augenblicklichen Wünschen oder Fürchten beeinflußt ist, umso sicherer und umso dauernder bleibt sie verwertbar. Das rein theoretische Konstatieren zeigt sich also als eine höchst wertvolle, höchst lebensfördernde Funktion und eben deshalb bildet sie sich in unserer psychischen Organisation immer mehr und immer exakter aus.

Das rein theoretische, möglichst objektive Urteilen ist also selbst ein Produkt des Erhaltungstriebes und, sagen wir es gleich, eines der wertvollsten und bedeutsamsten Produkte. Es bedarf zur Ausbildung dieser Funktion oft einer starken Willensanstrengung. Wir müssen dazu nicht nur die im Untergrund des Bewußtseins wirkenden Einflüsse des Fühlens und Begehrens durch die hemmende Funktion des bewußten Willens zu paralysieren bemüht sein, wir brauchen diese hemmende Kraft auch dazu, um die oft störenden Einflüsse der Assoziation zu beseitigen. Tatsächlich aber ist ein solches Urteilen möglich. Die Entstehung und Entwicklung der Wissenschaft beweist es.

Hier wird ohne Rücksicht auf den praktischen Nutzen die Gesetzmäßigkeit des physischen und psychischen Geschehens erforscht, und wenn die Resultate dieser Forschung auch in letzter Linie dazu bestimmt sind, das Leben der Menschheit sicherer, inhaltsreicher und genußvoller zu machen, so kann doch der einzelne Forscher zu diesem letzten höchsten Zweck nur dadurch beitragen, daß er dabei bemüht ist, streng objektiv zu verfahren.

Da wir es wirklich zu rein theoretischen Urteilen bringen können, das war der richtige Gedane, den ich weiter oben aus HUSSERLs Erörterungen über Wahrheit und Evidenz herauszuschälen mich bemüht habe. HUSSERL verfehlt es aber darin, daß er diese Fähigkeit für eine ursprüngliche hält, und MÜNSTERBERG hat wieder damit Unrecht, daß er auch für das entwickelte Denken die Stellungnahme als die einzig wirkliche Beziehung zwischen dem Ich und der Umgebung will gelten lassen. Wir können theoretisch denken, aber wir haben es erst lernen müssen.

Dadurch aber, daß wir es gelernt haben, hat der Begriff der Wahrheit Formen und Bedeutungen angenommen, die in ihrer oft verwirrenden Verschiedenheit in der ursprünglich rein biologischen Funktion zwar im Keim angelegt, aber keineswegs darin bereits explitzi enthalten sind.

Die Entwicklung des Wahrheitsbegriffs hat sich nun, wie ich gefunden zu haben glaube, in zwei verschiedenen Richtungen vollzogen, die sich auch für die gesamte Kulturentwicklung nachweisen lassen. Die eine dieser Richtungen ist bedingt durch die in den ersten Phasen der menschlichen Kulturentwicklung vorherrschende soziale Gebundenheit, die andere durch die später herausgebildete persönliche Freiheit der menschlichen Individuen. KANT hat mit wahrhaftem Seherblick diese beiden Tendenzen in der geschichtlichen Entwicklung bereits klar erkannt. In der kleinen, 1784 veröffentlichten Schrift "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" finden wir folgende Sätze:
    "Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen zustande zu bringen, ist der Antagonismus derselben in der Gesellschaft, sofern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird. Ich verstehe hier unter einem Antagonismus die ungesellige Geselligkeit der Menschen, d. h. den Hang derselben, in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstand, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist. Hierzu liegt die Anlage offenbar in der menschlichen Natur" (Werke IV, Seite 146).
Aus diesem Zwiespalt leitet KANT, vielleicht beeinflußt von MANDEVILLEs Bienenfabel, den fortwährenden Antrieb zum Fortschritt ab.

Die beiden Tendenzen bestehen in der Tat und ihr Antagonismus ist zweifellos richtig erkannt, nur haben wir diese Tendenzen vielleicht nicht so sehr als ursprüngliche Anlage, sondern vielmehr als Entwicklungsprodukt zu betrachten, die sich auf verschiedenen Stufen in verschiedener Weise manifestieren. Die "Geselligkeit", die soziale Gebundenheit scheint entschieden das Frühere, die Ungeselligkeit, der Trieb nach selbständiger Entfaltung und Betätigung der Persönlichkeit das Spätere zu sein. Freilich hört die soziale Gebundenheit auch auf der bisher erreichten Entwicklungsstufe nicht auf und wird voraussichtlich nie aufhören, allein sie nimmt dann eben andere, viel kompliziertere Formen an.
    "Der Mensch individualisiert sich aus einem Zustand sozialer Indifferenz, aber er individualisiert sich nicht, um sich bleibend von der Gemeinschaft zu lösen, aus der er hervorging, sondern um sich ihr mit reicher entwickelten Kräften zurückzugeben." (Wundt, Ethik, Bd. 2, dritte Auflage, Seite 61)
Diesen Gedanken habe ich bereits einmal auf die Entwicklung der Wahrhaftigkeit angewendet und gezeigt, wie die Wertschätzung der Wahrhaftigkeit und die Verabscheuung der Lüge aus zwei verschiedenen Wurzeln hervorgeht (2). Es ist mir auf diese Weise gelungen, die Konflikte und Pflichtenkollisionen, die sich aus der Pflicht zur Wahrhaftigkeit und der oft eintretenden Unvermeidlichkeit der Lüge ergeben, begreiflich zu machen und zu ihrer Lösung beizutragen.

In ähnlicher Weise hoffe ich nun in einer nächsten Arbeit zeigen zu können, wie auch der theoretische Wahrheitsbegriff dem Einfluß der "ungeselligen Geselligkeit" unterworfen war und glaube, daß unter diesem Gesichtspunkt sich manche Probleme der Erkenntnistheorie in ihrer Entstehung werden erklären und auch einer befriedigenden Lösung zuführen lassen.
LITERATUR - Wilhelm Jerusalem, Der kritische Idealismus und die reine Logik, Wien und Leipzig 1905
    Anmerkungen
    1) Aus einer solchen Zurückweisung von Urteilen entwickelt sich die Verneinungspartikel, die anfans starken Gefühlswert hat. In der allmählichen Abstumpfung dieses Gefühlswertes und der sich daraus ergebenden formalen Bedeutung der Negation spiegelt sich der Übergang zum rein theoretischen Denken, wie ich dies in der "Urteilsfunktion", Seite 182f, gezeigt habe.
    2) "Wahrheit und Lüge", zuerst veröffentlicht in der "Deutschen Rundschau" von 1898 und dann wieder abgedruckt in meinem Buch "Gedanken und Denker", Seite 26f.