p-4F. HillebrandH. SchmidTh. LippsWindelband    
 
ANTON von LECLAIR
Das kategoriale Gepräge
des Denkens

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"Das Denken ist in jedem beliebigen Stadium der Reflexion geneigt, sich selbst als Tätigkeit seinen Inhalten,  an  und  in denen  es sich verwirklicht, ontologisch gegenüberzustellen und außerdem bei dieser nur in abstracto gültigen Trennung die folgenschwere Inkonsequenz zu begehen, daß den Inhalten als solchen doch noch die Denkform der  Dingheit  belassen wird. Die letztere Zutat erscheint sogar so wesentlich, daß den allermeisten Erkenntnistheoretikern kaum ein bezeichnenderes Wort für jene Wirklichkeit zu Gebote zu stehen scheint, die sie ontologisch den Bewußtseinsaktionen entgegensetzen, als Ding und Dingwelt, um zu schweigen von den ebenso beliebten Ausdrücken  Außenwelt, äußere Wirklichkeit, objektives Reales,  welche glauben machen möchten, daß ihre Bestandteile  außen  (bzw.  innen)  und  objektiv  (bzw.  subjektiv)  an Klarheit und  voraussetzungsloser  Verständlichkeit nicht das Mindeste zu wünschen übrig lassen und sonach bei Erörterung erkenntnistheoretischer Grundfragen unbedenklich verwertet werden können."

Im einfachen nackten Satz der Grammatik werden als Bestandteile Subjekt und Prädikat unterschieden. Als ersteres fungiert ein Substantivum oder ein anderer mit Geltung des Substantivum gebrauchter Redeteil, als letzteres bald ein Substantivum oder Adjektivum mit der leeren Kopula, bald ein inhaltsvolles Verbum. Das logische Skelett dieses einfachsten Satzgebildes ist die kategoriale Beziehung zwischen den Begriffen Ding und Eigenschaft, wobei wir vorderhand der Kürze wegen unter Eigenschaft neben dem ruhenden, beharrlichen  Merkmal  auch den vorübergehenden  Zustand,  die  Tätigkeit  oder  Wirksamkeit  des Subjekt-Dings mitverstehen wollen. Die natürliche Entwicklung des Individuums wie der Völker und der ganzen Menschheit bringt und brachte es mit sich, daß die Denkakte sich zunächst an Anschauungen, an die sinnlich gegebenen und erlebbaren Dinge und Ereignisse der alltäglichen Erfahrung anschlossen. Hierbei ist nun das Subjekt-Ding im Vergleich mit dem Prädikat insofern unabhängig ist, als es für sich anschaubar und denkbar ist, auch wenn wir vom Bestandsstück, welches das Prädikat meint, vollständig absehen, sei es, um ein zweites Bestandsstück zu fixieren und zur Prädikation zu verwenden, sei es auch, um für den Augenblick wenigstens auf jede Prädikation zu verzichten.

Wenn ich urteile "der Hund bellt" oder "der Ofen glüht", so ist klar, daß die Integrität des Hundes oder Ofens nicht vom gegenwärtigen Bellen oder Glühen abhängt, mit anderen Worten, daß in der Wahrnehmung eines derartigen Individuums ohne Alterierung unserer begrifflichen Auffassung desselben statt des Bellens oder Glühens ebensogut ein konträrer Gegensatz davon gegeben sein könnte. Hier haben wir die Heimat des Dingbegriffs, jenes nicht näher zu beschreibenden, sondern nur erfahrbaren In- und Miteinanderseins von ruhenden oder wechselnden Wahrnehmungsdaten, die in Beziehung zueinander, d. h. zu dieser ihrer zeitlich und räumlichen Koexistenz bzw. Kontiguität [Berührung - wp] als  Eigenschaften  oder Zustände gedacht werden, während ihre Einheit, ihr im Rahmen derselben gesetzliches Beharren und Zusammenhängen, ihre gesetzliche gegenseitige Abhängigkeit in der Veränderung, für sich abstrahendo herausgehoben und festgehalten, die  Dingheit,  gleichsam den - freilich nur intelligiblen - Kristallisationspunkt bilden, an den jene Data als "Eigenschaften" anschließen. Insofern jede dieser "Eigenschaften" ihre Existenz hat innerhalb des Rahmens jenes Datenkomplexes, auf den durch den Urteilsakt der Begriff "Subjekt-Ding" appliziert wird, so gilt das Ding ontologisch als ein dem Rang nach Höherstehendes; als der Stoff für die Analysen, die der Prädikation bedingend vorausgehen, gilt es als das ursprünglichere, solidere Sein, dessen jegliche Denkaktion zu ihrer Grundlage notwendig bedarf.

Schon das naive Denken vollzieht in seiner Art diese Entgegensetzung: Die raumerfüllenden Dinge und deren zeiterfüllende Schicksale setzen ihm, sei es in ganz naiv-roher Weise oder in naturwissenschaftlich-theoretischer Metamorphose, die  Wirklichkeit  zusammen, um derentwillen es überhaupt ein inhalt- und sinnvolles Denken gebe. Dabei übersieht aber diese naturalistische Erkenntnistheorie vollständig die  Korrelativität  des Ding-Begriffs mit dem der Eigenschaft oder des Merkmals, sie verschließt sich der so leicht zu konstatierenden Tatsache, daß diese Korrelatbegriffe ihre Heimat und Geltung innerhalb des menschlichen  Denkens  haben. Wer von diesem glaubt absehen zu müssen, sieht in Wahrheit zugleich von der  Ding welt als solcher ab und der übrigbleibende Rest ist ein unqualifizierbares, weil eben dem Denken unnahbares Chaos. Mit der Dingheit wird der erfahrbaren Wirklichkeit Gesetz und Regel, Sinn und Zusammenhang geraubt und es bleibt nunmehr nur noch das Problem bestehen, welche ontologische Dignität diesem "Ursprünglich-Gegebenen" (1), diesem irrationalen "Rohstoff" der Erfahrung zuzumessen sei. Dieses Problem aber weiter zu verfolgen, beabsichtige ich für den Augenblick noch nicht. Ich hebe jetzt nur das Doppelte hervor, daß das Denken in jedem beliebigen Stadium der Reflexion geneigt ist, sich selbst als Tätigkeit (und Tätigkeitsherd) seinen Inhalten, an und in denen es sich verwirklicht, ontologisch gegenüberzustellen und außerdem bei dieser nur in abstracto gültigen Trennung die folgenschwere Inkonsequenz zu begehen, daß den Inhalten als solchen doch noch die Denkform der  Dingheit  belassen wird. Die letztere Zutat erscheint sogar so wesentlich, daß den allermeisten Erkenntnistheoretikern - und ein solcher ist cum grano salis [mit einer Brise Salz - wp] jeder Beliebige, sowie auch jeder  seine  Metaphysik treibt - kaum ein bezeichnenderes Wort für jene Wirklichkeit zu Gebote zu stehen scheint, die sie ontologisch den Bewußtseinsaktionen entgegensetzen, als Ding und Dingwelt, um zu schweigen von den ebenso beliebten Ausdrücken "Außenwelt", "äußere Wirklichkeit", "objektives Reale", welche glauben machen möchten, daß ihre Bestandteile "außen" ("innen") und "objektiv" ("subjektiv") an Klarheit und  voraussetzungsloser  Verständlichkeit nicht das Mindeste zu wünschen übrig lassen und sonach bei Erörterung erkenntnistheoretischer Grundfragen unbedenklich verwertet werden können.

Nicht immer ist der oben geschilderte Sachverhalt so einfach und so deutlich ausgeprägt wie in den Wahrnehmungsurteilen "Hektor bellt" oder "diese Blume duftet" oder "dieses Blatt ist welk". Dann nämlich scheint die Sache einem Wahrnemungs ganzen,  das stillschweigend als Ding aufgefaßt wird, der alle unterscheidbaren Komponenten umfassende Gattungscharakter in der Form des Dingbegriffes, sprachlich also substantivisch, konstatiert wird. Ein solches  Klassifikations- Urteil liegt auch schon den obigen Beispielen zugrunde, die offenbar folgende - allerdings unausgesprochene oder  sprachlich  verdichtete - Urteilsfällung voraussetzen: "Das ( = dieses Ding) ist Hektor", "Das ist eine Blume", "Das ist ein Blatt". Das Wesentliche des Urteilsaktes ist indessen hier dasselbe wie bei den früher gemeinten Wahrnehmungsurteilen. An der konkreten Fülle von Wahrnehmungsdaten werden gewisse allgemeine (gattungsmäßige) Charaktere bemerkt, deren Inbegriff an vielen anderen Dingindividuen, die sich sonst immerhin mehr oder weniger beträchtlich vom gegebenen unterscheiden, gleichfalls vorkommt und nun hat der Urteilende das Bedürfnis, die Zugehörigkeit des wahrgenommenen Dings zur fraglichen Dingklasse auszusprechen. So wird dann hier der Dingbegriff ebenso Kern des Prädikats, wie er die Subjekt-Daten innerlich, d. h. logisch zusammenhält. Mit dem obigen "bemerken" bezeichnen wir hier ganz kurz jene fundamentalsten und elementarsten und solidarisch wirkenden Denktätigkeiten der Identifizierung, der Unterscheidung, der Heraushebung des Generischen aus einem Individuellen. Da nun also hier eine Mehrheit von Charakteren aus dem Subjektganzen herausgehoben wird, so bietet sich zum Ausdruck ihrer Einheit und gegenseitigen Gebundenheit derselbe Grundbegriff dar, der das Subjekt stützt und trägt.

Nichtsdestoweniger bemerken wir auch hier dieselben Grundzüge des logischen Verfahrens, die wir in den scheinbar elementarsten Fällen vorfanden: Analyse eines Anschauungsganzen, welches für die an ihm ausdrücklich konstatierten Bestandsstücke, d. h. für die Prädikationen, die Wirklichkeitsbasis abgibt, indem die Abstrakta der Prädikationen notwendig das primäre Gegebensein der anschaulichen Konkreta voraussetzen und nur aufgrund dieser möglich sind, nur aufgrund dieser Sinn und Geltung haben. Hiermit aber haben wir die tiefste Wurzel allen Urteilens berührt, nämlich die Möglichkeit und das Bedürfnis, im Konkreten seinen  Gattungs charakter vom  Spezifischen  zu unterscheiden, das den Charakter des Konkreten als solchem ausmacht und von den tausend unübersehbaren und unangebbaren Bedingungen des Augenblicks abhängt. Erst mit dieser Möglichkeit beginnt die Tätigkeit des Denkens (= Urteilens) möglich zu sein. Verlautbart wird der Denkakt durch die Sprache und insofern die Sprache nicht als subjektive Eingebung des Augenblicks oder als bloß reflektorischer Effekt angesehen, sondern als konventionelles Verständigungsmittel zwischen denkenden Subjekten aufgefaßt wird, ist auch klar, daß jegliches  Wort,  aus Gründen seiner praktischen Verwertbarkeit, an einem Wahrnehmungsinhalt, der als  solcher  durch Sprachmittel allein  nicht  bezeichnet werden kann, stets  nur das Allgemeine  kann bezeichnen wollen, von dem bekannt ist oder doch vorausgesetzt wird, daß es sich an Wahrnehmungsinhalten von anderem Wo und Wann usw. vorfindet. Die Sprache steht eben mit einem durch physiologische Verhältnisse beschränkten Material von Lautelementen und Verbindungen derselben dem grenzenlosen Reichtum, der unerschöpflichen Mannigfaltigkeit der sinnlichen Eindrücke gegenüber, aus denen sich uns das Weltbild zusammensetzt.

Wir haben endlich noch jene Art von Urteilen ins Auge zu fassen, deren Subjekt keine Anschauung, sondern selbst schon Begriff ist, z. B. "der Elefant ist gelehrig". Auch hier macht das Urteil in seinem Subjekt eine Voraussetzung, die den Voraussetzungen der früheren Beispiele ähnlich ist.  Dort  wurde die vom Dingbegriff imprägnierte Anschauung des gegenwärtigen Augenblicks als dieser oder jener Dinggattung zugehörig erkannt und verlautbart und der kondensierte Ausdruck dieser vorläufigen Denkaktion war "diese Blume", "dieses Blatt".  Hier  setzt das Subjekt ohne vorliegende Anschauung voraus, daß es individuelle Dinge gibt, die gewisser übereinstimmender allgemeiner Charaktere wegen durch einen gemeinsamen Namen (Elefant) eben als ähnliche bezeichnet werden. Daß es aber solche Dinge  gibt,  kann doch nichts anderes bedeuten, als daß von verschiedenen Personen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten Wahrnehmungen erlebt worden sind, deren Konstellation und Schicksale den Dingbegriff sich mit ihnen amalgamieren ließen und an denen jene bestimmten Charaktere konstatiert werden konnten. Der Inbegriff dieser Charaktere gibt den Inhalt des Begriffs, den der Name  Elefant  unmittelbar meint und um dessentwillen er auf Individuen anzuwenden ist; und nun kann je nach Anlaß und Bedarf eine Analyse desselben zwecks Hervorhebung des einen oder des anderen Bestandsstückes (oder auch mehrerer zugleich samt dem Dingbegriff als Kern) stattfinden und zu Urteilen wie z. B. das obige führen. Der wesentliche Unterschied dieser Urteilsart gegenüber dem Wahrnehmungsurteil besteht also darin, daß nicht nur das Prädikat, sondern auch das Subjekt ein Abstraktum, ein Allgemeines ist und daß hier das Prädikat einfach ein Bestandsstück des Subjektbegriffs heraushebt, während beim Wahrnehmungsurteil der Heraushebung des Bestandsstücks die Heraushebung des Gattungscharakters desselben, welcher allein prädiziert werden kann, zur Seite gehen muß.

Daß aber im Begriffsurteil keine überflüssige Arbeit geleistet wird, ergibt sich daraus, daß, wenn wir die Praxis des Denkens befragen, bei den Begriffsurteilen nur ganz ausnahmsweise dem Aussprechen des Subjektnamens (Elefant) ein klares und vollständiges Bewußtsein von der Konstitution des fraglichen Begriffes (Begriffs inhaltes)  zur Seite geht, daß vielmehr meistens die in der Erinnerung in mehr oder weniger scharfen Umrissen eine fortlebende komplexe Anschauung zugrunde liegt und die Rolle des Subjektes spielt, sowie auch beim Zuhörer zunächst nur an die von ihm bereits erworbene Anschauung appeliert wird. Wir meinen mit unseren Subjekt-"Begriffen" meist die "wirklichen", d. h. die sinnlich gegebenen Dinge und insofern findet auch hier jenes ontologische Rangverhältnis seine Stelle, das wir schon anfangs zwischen Subjekt und Prädikat im Allgemeinen und natürlich im Sinne der gewöhnlichen, einem unhaltbaren Realismus huldigenden Anschauung glaubten aufstellen zu dürfen. Wenn wir urteilen "der Elefant ist gelehrig", so wollen wir zweifellos mehr sagen, als wenn wir etwa behaupten, der algebraisch Ausdruck

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enhält die Zahlengröße  b.  Der Dingbegriff, das logische Knochengerüst des Subjektbegriffs Elefant, zwingt selbst den analysierenden Logiker, sich die Fühlung mit der primären Wirklichkeit zu erhalten. Verlöre er sie, so hat er keinen festen Boden mehr unter den Füßen, seine Abstraktionen verlieren, ihrem Nährboden entrückt, Fleisch und Blut, sie werden zu hohlen, wesenlosen Schatten.

Es war unerläßlich, diese logische Erörterung des Dingbegriffs nach seiner Bedeutung für die Urteilslehre vorauszuschicken, da ohne dieselbe die beabsichtigte Betrachtung unverständlich bleiben müßte. Ich lege großes Gewicht darauf, noch das  eine  ausdrücklich hervorzuheben, daß der Dingbegriff nicht etwa nach Art der KANTschen Kategorie ("im Gemüte bereitliegenden" Denkform) von seiten des "Verstandes" an den in der sinnlichen Erfahrung gegebenen "Rohstoff" herangebracht und ihm gewissermaßen als ein ihm ursprünglich Fremdes aufgezwungen wird, mag immerhin ab und zu zum Zweck einer zuweilen nicht unangemessenen Abwechslung und zur Vermeidung sonst notwendiger Weitschweifigkeiten eine bildliche Wendung gebraucht werden, die  als Bild  jener Auffassung entgegenkommt, wie z. B. "sich amalgamieren", "imprägniert sein", "appliziert werden". Es wird sich auch solchen  unvermeidlichen Bildlichkeiten  der philosophischen Sprache gegenüber darum handeln, aus dem angewendeten Bild den jedesmal gerade passenden, in ihm ausgeprägten Gattungscharakter herauszu"fühlen" und ohne Rücksicht auf das spezifisch Bildliche - das vielleicht selbst in einem typischen Gepräge unserer Denkgewohnheiten wurzelt -  für sich allein  festzuhalten.

Es kann also nicht dem "Rohstoff" der sinnlichen Erfahrung das Kategorialschema gleichsam als ein ihm Äußerliches entgegengebracht und aufgezwungen werden; es ist vielmehr die Beschaffenheit des "Ursprünglich-Gegebenen" selbst, in seiner Konstitution und seinen Schicksalen jene Züge zu offenbaren, die wir eben meinen, wenn wir eine gegebene Anschauung, d. h. einen Ausschnitt aus der Totalität des Angeschauten (im weiten kantischen Sinne), als Ding proklamieren; die Dingheit ist dem Ursprünglich-Gegebenen, sowie alle Begriffe, die auf Kategorialfunktionen gehen, um den beliebten - und häufig genug mißbrauchten - Ausdruck zu gebrauchen,  immanent.  Der Inbegriff desjenigen, was ein menschliches Bewußtsein in einem bestimmten Augenblick erfüllt, ist der notwendige Ausgangspunkt, kommt aber als ein Ganzes, als ungetrennte Einheit fast nie in Betracht; stets nehmen wir Trennungen, Abgrenzungen, Gruppierungen vor und unterscheiden sonach als Konstituenten jenes Ganzen etwa Gefühle, Gedanken, Erinnerungen, Phantasien, Anschauungen oder Sinnlichkeitsdata. Auch der Inbegriff der letzteren, auf die es uns jetzt vornehmlich ankommt, bleibt nicht ungeschieden, ihre Totalität bleibt sogar für die Praxis wie auch für die Theorie gänzlich unfruchtbar; daß vielmehr  stets  nach qualitativen und anderen Gesichtspunkten Unterscheidungen vorgenommen werden, beweist schon die Geläufigkeit des Plurals, während es für das einheitliche, ungeschiedene Ganze kaum einen völlig scharf bezeichnenden Singular gibt, der nicht schon zugleich auf jenen Plural sich stützte. Innerhalb dieses Ganzen nun finden jene Abgrenzungen und Gruppierungen mit gesetzmäßigen Verhaltensweisen statt, die den Begriff der Dingheit ausmachen. Bezüglich des Details kann auf die erschöpfende Darstellung in WILHELM SCHUPPEs "Erkenntnistheoretische Logik", Bonn 1878) hingewiesen werden. Manches Wertvolle findet sich hierüber in CHRISTOPH SIGWARTs "Logik", Tübingen 1873, Seite 78.

Bevor wir in der Betrachtung weitergehen, wollen wir uns noch kurz das Resultat der vorausgeschickten Erörterung vergegenwärtigen. Der Dingbegriff enthält den Hinweis auf die letzte, durch die Erfahrung gegebene und erreichbare Wirklichkeit, auf  jene  Wirklichkeit, die mit vorherrschender Neigung als Urtypus des Seins aufgefaßt wird und eben vermöge dieses ihres Primats dazu verleiten konnte, alles sonstige Sein als ontologisch inferior [grundsätzlich - wp] zu ihr in Gegensatz zu stellen. es in ihren Dienst zu stellen und ihm selbst im Grunde ein "eigentliches" Sein abzusprechen. Dagegen nun, daß die sekundären Seinsarten, wie z. B. Erinnerungen, Phantasien, Gattungsbegriffe, in eine Art von Dienstverhältnis zu jener "eigentlichen" Wirklichkeit gebracht wrden, wäre insofern gar nichts einzuwenden, als ja in der Tat z. B. alles, was Begriff ist, Dasein, Sinn und Geltung jener Wirklichkeitsbasis verdankt, diese Basis schlechterdings voraussetzt.  Ebendeshalb  kann aber von einem ontologischen Gegensatz, der die Schärfe einer  Kontradiktion  hätte, keine Rede sein. Man hätte sich durch den Umstand, daß besagte Basis - obwohl der allgegenwärtige Hintergrund für jegliche abstrakte Bewußtseinsaktion - dennoch als solche für unsere  Denk operationen unnahbar, unfaßbar, unausschöpflich ist, weil sie eben nur als primäres (Anschauungs-) Datum  erlebbar  ist und sich dabei doch stets als unumgängliche Voraussetzung für jene Operationen fühlbar macht, - durch diesen Umstand hätte man sich nicht zu haltlosen Phantasien über Realitäten verleiten lassen sollen, deren Hauptcharakteristik und Hauptwert nach der Intention ihrer Verteidiger darin liegen soll, daß sie "jenseits" jeglichen Bewußtseinsdatums fallend mit der Wirklichkeitsspezies des letzteren nichts gemein haben und somit von derselben gänzlich unabhängig sind.

Die sprachliche Ausdrucksform für die Dingbegriffe ist, wie bekannt, das Substantivum und nun erst stehen wir unserem eigentlichen Thema knapp gegenüber. Es fragt sich nämlich, ob nicht in  jeglichen  Substantivbegriff, eben weil er seine  Form  den  eigentlichen  Dingbegriffen entlehnt, die oben entwickelten Merkmale der Dingheit eingehen, so daß infolge dessen leicht Täuschungen über die ontologische Bewertung des jedesmaligen Begriffsinhaltes entstehen können. Wir hätten es dann hier mit einer mißverstandenen, als bare Münze genommenen  Metapher  zu tun, die mit Einschluß analog übertragener Anwendung anderer Kategoriebegriffe  kategoriale  oder erkenntnistheoretische  Metapher  genannt werden könnte, zum Unterschied etwa von der ungleich enger begrenzten und weniger tief eingreifenden semiotischen Metapher auf dem Gebiet der sinnlichen Wahrnehmungen.

In der Tat bestätigt sich unsere Vermutung, wenn wir im Heer der Substantivbegriffe Umschau halten. Jeder Begriff, der sprachlich in der Substantivform erscheint, erhebt den Anspruch, unter dem Gesichtspunkt der Dingheit aufgefaßt zu werden; er wird auch erst in  diesem  Gewand für unsere Denkoperationen faßbar und handlich; mit dem Gepräge der Dingheit fungiert er im Urteil als Subjekt für Prädikationen,  usurpiert aber hiermit auch  - mehr oder weniger deutlich ausgesprochen -  den Nimbus, welcher das die oben besprochene letzte Wirklichkeit darstellende Ding, das körperliche, materielle Ding umgibt.  Man vergleiche untereinander die Begriffsreihen: Eiche, Apfel, Rappe, Wasser, Kieselstein - Schmerz, Hunger, Gesundheit, Lustigkeit, Mattigkeit - Verstand, Sinnlichkeit, Anschauungsvermögen, Natur, Kraft, Schwere, Phantasie, Gesichtssinn, Seele. Wir werden nach dem gewählten Gesichtspunkt leicht  drei  Arten der Substantivbegriffe unterscheiden können:  erstens  solche, in denen die logische Kategorie des Dings ihre urwüchsige Anwendung findet und gleichsam ihr Heimatsrecht ausübt; dahin gehören die anorganischen Stoffe, die organischen Naturkörper, die Kunstprodukte (im weitesten Sinne des Wortes genommen), die Weltkörper, die Teile der Erdoberfläche, als Kontinente, Inseln, Berge, Flüsse, Seen usw., kurz alles, was zusammengenommen den materiellen Kosmos ausmacht und dessen Existenz durch die sinnliche Wahrnehmung bedingt ist oder (mit einer transzendent-realistischen Wendung) des "Zeugnisses" der sinnlichen Erfahrung bedarf.

Zweitens  kennen wir solche Begriffe, bei denen die Applikation des Dingbegriffs, welche die Substantivform zum Ausdruck bringt, als nicht genuin [angeboren - wp], sondern als bloß metaphorisch [sinnbildlich - wp] jederzeit gefühlt und zugestanden wird und daher auch nicht leicht zu Täuschungen oder falschen Deutungen verleitet; dahin gehört die unübersehbare Schar von Substantiven, die von Adjektiven oder Partizipien oder Verben abgeleitet sind, wie z. B. Gesundheit, Munterkeit, Röte, Länge, Verdammnis, Verzeihung, Belobigung und dgl. mehr. Hierher gehören auch alle jene Begriffe, welche Raum- oder Zeitgrößen zum Inhalt haben, z. B. Jahr, Stunde, Strecke, Meile, Klafter usw.

Drittens  unterscheiden wir endlich solche Substantivbegriffe, bei denen sich zwar durch eine schärfere Analyse die metaphorische Entlehnung des Dingheitscharakters nachweisen läßt, wo aber nichtsdestoweniger die Verkennung dieses Sachverhaltes  vorherrschend  ist und auch leicht begriffen werden kann; dahin gehören die bereits oben gebrachten Beispiele: Verstand, Sinnlichkeit, Gesichtssinn, Schwerkraft und dgl. mehr.

Es sei nun gestattet, zur vollständigen Darlegung unserer Auffassung einige von diesen Begriffen einer sorgfältigeren Prüfung zu unterziehen und so den Nachweis zu liefern, wie da in entscheidender Weise auch die Kategorien der Möglichkeit und der Kausalität mit hereinspielen.

Was bedeutet etwa der Ausdruck  "Gesichtssinn",  wenn wir dabei von vornherein jede Deutung ausschließen, welche mit mehr oder weniger Konsequenz dem  psychologischen  Tatbestand  somatische  Apparate mit ihren  physiologischen  Funktionen substituiert? (JOHANNES MÜLLERs "Sinnsubstanzen"!) Mit einer ebenso naheliegenden als harmlos klingenden Paraphrase könnte man antworten: die Fähigkeit, Gesichtswahrnehmungen oder Gesichtsphänomene zu erleben". "Fähigkeit" ist hier der passende Stellvertreter des Begriffes "Möglichkeit", weil wir bei "Fähigkeit" ebenso wie bei "Gesichtssinn" an einen Besitzer oder Träger derselben denken, - an ein Bewußtsein, zu dessen Attributen oder besser: Komponenten wir neben anderem auch die bezeichnete "Fähigkeit" rechnen. Sonach zeigen diese zwei Begriffe ein schillerndes Gepräge, insofern die Substantivform auf eine Dingheit hindeutet, andererseits aber ihr unleugbares Bedürfnis der Anlehnung an ein anderes "Ding" sie der Kategorie der Eigenschaft unterstellt. Da nun aber jener Dingbegriff, der die "Fähigkeit" als die seinige stützt und trägt, mag man ihn Seele, Bewußtsein, Erkenntnisvermögen, Ich oder wie auch immer nennen, selbst erst dringend der logischen Analyse bedarf und sich wahrscheinlich als zur selben Gattung gehörig erweisen wird wie der jetzt verhandelte Begriff "Gesichtssinn", so können wir füglich die "Fähigkeit" ihres kategorialen Dimorphismus [Zwiegestaltigkeit - wp] entkleiden und an ihre Stelle die "Möglichkeit" setzen. Dann bedeutet "Gesichtssinn" die "Möglichkeit, Gesichtsphänomene zu erleben". Entkleiden wir nun auch den Begriff des Erlebens seines kategorialen Hinweises auf ein erlebendes Subjekt, so erhalten wir die schon ziemlich dürre Formel "Gesichtssinn ist die Möglichkeit, daß Gesichtsphänomene auftreten oder gegeben sind".

Selbst der hier beibehaltene Begriff "Gesichtsphänomen" scheint noch der kategorialen Anlehnung an  etwas, dem solche Phänomene erscheinen,  zu bedürfen. Es ist bekannt, daß man schon mehrfach (u. a. SPENCER) in engem Anschluß an die  Wortbildung  "Erscheinung" geglaubt hat einen Haupttrumpf gegen KANT ausspielen zu können. Indessen dürfte wohl gar keine sprachliche Darstellung diesen Schein gänzlich zu vermeiden vermögen, insofern sie durch das Mittel der Sprache die individuellen, konkreten Bewußtseinsinhalte, die als solche nur  erlebt  werden können, immer nur mittelbar bezeichnen, nur durch die so oder so gefärbte Brille eines an sie applizierten Begriffs ins Auge fassen kann. Was das Wort bedeutet, ist ein Begriff und muß, um überhaupt in die Einheit eines Gedankens eingehen zu können, ein bestimmtes kategoriales Gepräge besitzen, etwa so wie den einzelnen Trennstücken der bei Kindern beliebten Geduldspiele die Form für ihren Zweck ganz wesentlich ist. Als Erkenntnistheoretiker kann und soll man sich über diesen so bedeutungsvollen Sachverhalt klar werden: dann wird man jeden Versuch als hoffnungslos aufgeben, sei es die Tatsache von sich abzuschütteln oder sie als Prämisse zu unberechtigten Schlüssen auszubeuten. Unsere obige Behauptung liefert  selbst  in den Begriffen "Bewußtseinsinhalt", "individuell", "konkret" den deutlichsten Beleg für ihre eigene Wahrheit. Ich meine beispielsweise die gattungsverwandten Daten  A, B, C, D, E.  Will ich über diese leere, jede weitere Verständigung ausschließende Unbestimmtheit der Bezeichnung hinausgehen, so kann ich es nur mittels einer Namhaftmachung eines gemeinsamen Charakters der individuellen  A, B, C, D, E.  Dieses aber wird nur mittels eines kategorialbestimmten und beziehungsvollen Begriffes geschehen können und dabei wird es eben darauf ankommen, ob man diesen lediglich als schlechthin unvermeidliches Bezeichnungs- und Verständigungsmittel benützt, wie man etwa in einer geometrischen Zeichnung gleiche Winkel mit α bezeichnet oder ob man im besonderen Gehalt des Begriffs etwas für das Bezeichnete Meritorisches [Verdienstvolles - wp] zu erblicken und seinen Beziehungen als grundwesentlichen Bestimmungen nachzugehen geneigt ist. So verhält es sich, wenn ich von Gesichtsphänomenen, von Bewußtseinsinhalten spreche. Die Forderung, solchen Zweideutigkeiten grundsätzlich aus dem Weg zu gehen, würde gleichbedeutend sein mit der Forderung, das philosophische Denken und Diskutieren überhaupt ganz einzustellen. Daß ich mich übrigens bei der vorliegenen Untersuchung angesichts der obigen Alternative für die erste der zwei Möglichkeiten entscheide, brauche ich wohl kaum hervorzuheben.

Darf ich also in  diesem  Sinne von "Gesichtsphänomenen" sprechen, so mag das obige letzte Ergebnis, "die Möglichkeit, daß Gesichtsphänomene gegeben sind", auf den ersten Blick immerhin armselig erscheinen, nichtsdestoweniger scheint es mir der Kern des analysierten Begriffs zu sein und was zu diesem Kern noch hinzutritt, damit dasjenige resultiert, was wir mit "Gesichtssinn" zu meinen pflegen, ist eine formale Zutat des beziehungsvollen Denkens, die zwar nie ausbleiben kann, aber ebenso oft, wie sie sich an abstraktem, d. h. nicht in die sinnliche Wirklichkeitsbasis selbst hineinfallendem Stoff geltend macht, zu unberechtigter Deutung und Verwendung der fraglichen Begriffe Anlaß gibt.
LITERATUR - Anton von Leclair, Das kategoriale Gepräge des Denkens [in seinem Einfluß auf die Probleme der Philosophie, insbesondere der Erkenntnistheorie], Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 7, Leipzig 1883
    Anmerkungen
    1) Vgl. LECLAIR, Beiträge zu einer monistischen Erkenntnistheorie, Breslau 1882