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WILHELM JERUSALEM
Edmund Husserl und
die reine Logik

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"Kein Naturgesetz ist a priori einsichtig erkennbar. Der einzige Weg, ein solches Gesetz zu begründen und zu rechtfertigen, ist die Induktion aus einzelnen Tatsachen der Erfahrung. Die Induktion begründet aber nicht die Geltung des Gesetzes, sondern nur die mehr oder weniger hohe Wahrscheinlichkeit dieser Geltung, einsichtig gerechtfertigt ist die Wahrscheinlichkeit und nicht das Gesetz."

"Husserls Versuch, durch Erneuerung der scholastischen Methode zu einer reinen Logik zu gelangen, ist deshalb als vollständig mißlungen anzusehen, weil er auf dogmatischen Voraussetzungen aufgebaut ist. In negativer Hinsicht aber können wir von Husserl das eine lernen, daß es ohne psychologische und ontologische Erwägungen nicht möglich ist, zu einer befriedigenden Erkenntnistheorie zu gelangen.."

10. Die transzendentale Logik hat ein Lehrgebäude des reinen Denkens zu errichten die Kraft nicht gehabt. Sehen wir zu, ob es der scholastischen Logik, die HUSSERL zu Ehren bringen will, besser gelungen ist.

Daß HUSSERL in seinen "Logischen Untersuchungen" wirklich auf den Wegen der Scholastiker wandelt, das sagt er selbst.
    "Der Einwand aber, es handle sich hier um eine Restitution der scholastisch-aristotelischen Logik, über deren Geringwertigkeit die Geschichte ihr Urteil gesprochen hat, soll uns nicht beunruhigen. Vielleicht, daß sich noch herausstellt, daß die fragliche Disziplin keineswegs von so geringem Umfang und so arm an tiefliegenden Problemen ist, wie man ihr damit vorwirft. Vielleicht, daß die alte Logik nur eine höchst unvollständige und getrübte Realisierung der Idee jener reinen Logik war, aber immerhin als erster Anfang und Angriff tüchtig und achtenswert." (LU I, 39)
An einer anderen Stelle lobt er LEIBNIZ, weil er die scholastische Logik nicht verwarf.
    "Aber einsichtiger als seine Vorgänger faßt er (Leibniz) die scholastische Logik, statt sie als hohlen Formelkram zu verunglimpfen, als eine wertvolle Vorstufe der wahren Logik, welche trotz ihrer Unvollkommenheit dem Denken eine wahre Hilfe zu leisten vermag." (LU I 220)
HUSSERLs "Logische Untersuchungen" dürfen als ein Versuch betrachtet werden, die scholastische Logik durch Weiterbildung und Vervollkommnung zu einer "reinen", d. h. vollständig apriorischen, von aller Erfahrung unabhängigen, für sich stehenden selbstgewissen Logik auszugestalten.

Die scholastische Methode hat sich HUSSERL aber schwerlich durch das Studium der mittelalterlichen Philosophen angeeignet. Er hat dieselbe vielmehr von BRENTANO übernommen, als dessen Schüler und begeisterten Verehrer ich HUSSERL vor zwanzig Jahren in Wien kennen gelernt habe. BRENTANO, der wiederholt erklärte, den Scholastikern, die er aus einem unmittelbaren Quellenstudium sehr gut kannte, viel zu verdanken, hat einige charakteristische Eigentümlichkeiten der scholastischen Methode den meisten seiner Schüler in einer Weise beizubringen verstanden, die ein geradezu bewunderswertes akademisches Talent zeigt. Die Methode ist den meisten Jüngern BRENTANOs so in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie dieselbe anwenden, ohne sich dessen immer ganz klar bewußt zu sein. Auch HUSSERL ist in diesem und auch in anderen Punkten in höherem Grad von BRENTANO beeinflußt, als er selbst zugestehen will. Sagt er doch in der Vorrede zum ersten Band, er habe sich von den Männern und Werken, denen er seine wissenschaftliche Bildung am meisten verdankt, in den logischen Grundüberzeugungen weit entfernt (LU I 11). Tatsächlich ist in formaler Hinsicht die ganze scholastische Art, zu philosophieren, die Vernachlässigung des genetischen Gesichtspunktes in der Psychologie die schwankende Stellung zu den erkenntniskritischen Grundfragen, in materieller Hinsicht der Begriff der Evidenz und die Auffassung des Urteilsaktes, tatsächlich, sage ich, sind alle diese charakteristischen Eigentümlichkeiten von HUSSERLs Art, zu philosophieren, altes echtes Erbgut BRENTANOs.

11. Das neue Moment, das bei HUSSERL zu den von BRENTANO übernommenen Ansichten und Methoden hinzukommt, ist der mathematische Gesichtspunkt. HUSSERL hat sich zuerst mit Untersuchungen beschäftigt, die die philosophischen Grundlagen der Arithmetik zu klären bestimmt waren. Er war dabei, so sagt er selbst (LU I 8f), von der herrschenden Überzeugung ausgegangen, daß es die Psychologie ist, von der, wie die Logik überhaupt, so die Logik der deduktiven Wissenschaften ihre philosophische Aufklärung erhoffen muß. Da es ihm aber nicht gelingen wollte, "gegebene Wissenschaft durch Psychologie logisch aufzuklären", so stellte er seine philosophisch-mathematischen Untersuchungen zurück und unternahme es, von einem ganz anderen Standpunkt aus, "in den Grundfragen der Erkenntnistheorie und im kritischen Verständnis der Logik zu höherer Klarheit vorzudringen".

Dieser Standpunkt ist der eines strengen Apriorismus. HUSSERL teilt mit der Mehrzahl der Mathematiker die Überzeugung, daß die mathematischen Grundbegriffe, insbesondere die Zahlen a priori gegeben sind und weder aus der Erfahrung stammen, noch der Kontrolle der Erfahrung bedürfen. Dazu kommt noch der evidente, jeden Zweifel ausschließende Charakter der mathematischen Sätze. Diese beiden Eigenschaften der mathematischen Sätze, ihr scheinbar apriorischer Charakter und ihre tatsächliche Evidenz legt er nun mit Anlehnung an LEIBNIZ und insbesondere an BOLZANO seinen logischen Untersuchungen zugrunde.

Wir können also jetzt HUSSERLs Standpunkt und Methode als scholastisch-mathematische bezeichnen, eine Vereinigung, die er selbst an der oben zitierten Stelle (LU I 220) bei LEIBNIZ als besonders rühmenswert und also wohl auch nachahmenswert hervorhebt. Von der Scholastik hat er den strengen Dogmatismus, die sich oft im Kreis drehende Dialektik und die Lust an überfeinen, oft mehr verwirrenden als klärenden Distinktionen, von der Mathematik das Festhalten am a priori übernommen.

Ich will nun anhand von HUSSERLs Buch zeigen, wie der Verfasser die eben charakterisierten Methoden anwendet, und durch eine kritische Beleuchtung seiner Grundgedanken zum richtigen Verständnis und zur richtigen Bewertung der von HUSSERL geforderten "reinen Logik" zu gelangen suchen.

12. Der erste Band der "Logischen Untersuchungen" enthält im Wesentlichen eine Kritik des Psychologismus und die "Idee der reinen Logik". Die Bekämpfung der verschiedenen Richtungen des Psychologismus läßt den dogmatischen Charakter von HUSSERLs Philosophie mit großer Deutlichkeit hervortreten. So oft er auch das Wort Erkenntniskritik im Mund führt, kann ich von kritischen Reflexionen über das Verhältnis zwischen der Subjektivität des Erkennens und der Objektivität der Erkenntnisinhalte, zu denen sich HUSSERL nach seiner eigenen Versicherung gedrängt sah (LU I VII) in seinem Werk kaum eine Spur finden. HUSSERL behauptet einfach, die logischen und mathematischen Gesetze werden a priori und mit Evidenz erkannt. Sie sind, wie er sich ausdrückt, "Idealgesetze". Von diesem Standpunkt aus betrachtet er die anderen Theorien. Führen sie zu einer empirischen Auffassung dieser Gesetze, so sind sie alle untereinander einfach deshalb unzulänglich und falsch, weil sie seinem Dogma widerstreiten.

Die Tatsache, daß die Axiome der Geometrie nicht aus der Erfahrung zu stammen scheinen und dennoch eine unzweifelhafte Gewißheit in sich tragen, war für KANT ein Problem. Durch eindringende introspektive Untersuchungen fand KANT in unserem Selbstbewußtsein und in der Funktion des Urteilens die Quelle der objektivierenden Akte. In der traditionellen Logik, genauer in den von derselben aufgezählten Urteilsformen glaubte er die Betätigungsweisen dieser in uns wohnenden, objektivierenden Kraft zu finden. Für uns Psychologisten ist die Tatsache, daß die logischen und die mathematischen Sätze a priori evident scheinen, ebenfalls ein Problem. Wir suchen demselben durch mühevolles Studium der Entwicklungsgeschichte des Menschen und der Menschheit beizukommen. Der empirische Charakter der geometrischen Axiome wird jetzt bereits von hervorragenden Mathematikern und Naturforschern zugegeben. Für den erfahrungsmäßigen Ursprung der Zahlbegriffe glaube ich einiges nicht ganz Bedeutungsloses beigebracht zu haben und hoffe, diesen Charakter der Zahlbegriffe noch eingehender begründen zu können. Die logischen Gesetze werden voraussichtlich als denkökonmische Regeln ihre Aufklärung finden und sich so als Entwicklungsprodukte des geistigen Geschehens in den ganzen Entwicklungsgang einreihen lassen.

Für HUSSERL hingegen liegt hier überhaupt kein Problem vor. Er zerhaut den Knoten einfach durch seine streng dogmatische Behauptung und widerlegt alle anderen Auffassungen mit dem Selbstbewußtsein und mit der Unduldsamkeit, die jedem Dogmatismus anhaften, einfach damit, daß jede Ansicht, die sein Dogma leugnet oder mit diesem sich unvereinbar zeigt, eben deshalb falsch sein muß. Alles, was HUSSERL auf ungefähr 200 Seiten gegen den Psychologismus vorbringt, ließe sich etwa in folgenden Syllogismus zusammenfassen:
    Die Theorie, welche die logischen Gesetze für Wahrheiten erklärt, die a priori mit Evidenz erkannt werden, ist richtig.

    Die psychologistischen Theorien erklären die logischen Gesetze nicht für solche Wahrheiten.

    Also: Die psychologistischen Theorien sind nicht richtig.
Durch die Aufstellung dieses Syllogismus hätte HUSSERL einfach, klar und verständlich alles gesagt, was der erste Band seines Werkes enthält. Seine ganze Polemik gipfelt in diesem Syllogismus, dessen Obersatz nirgends begründet wird, sondern für ihn dogmatisch feststeht. Wo also HUSSERL die endgültige, unumstößliche Wahrheit gefunden zu haben glaubt, wo für ihn die Lösung liegt, da beginnt für mich das Problem. Sein dogmatisch aufgestellter Obersatz ist es eben, den ich bestreite. Wo HUSSERL aufhört, da fange ich erst an.

13. Ein besonders lehrreiches Beispiel für den dogmatischen Charakter von HUSSERLs Argumentation bietet seine Kritik des von MACH aufgestellten Prinzip der Denköknomie (LU I 192f). HUSSERL zeigt ein ganz entschiedenes Verständnis für die Bedeutung dieses fruchtbringenden Gedankens. Ja, er gibt sogar aus dem Vorrat seiner mathematischen Kenntnisse einige neue Gesichtspunkte für die Verwertung dieses Prinzips. Um so erstaunlicher wirkt dann seine Kritik. HUSSERL erhebt gegeb das Prinzip denselben Vorwurf, den er auch in der bereits zitierten Rezension meiner Urteilstheorie macht. Ich mache mich, so meint er, eines hysteron proteron [Beweis aus einem Satz, der erst bewiesen werden muß - wp] schuldig.
    "Die ideale Geltung der Norm ist die Voraussetzung jeder sinnvollen Rede von Denkökonomie, also ist sie kein mögliches Erklärungsergebnis der Lehre von dieser Ökonomie."

    "Man erkennt also das hysteron proteron. Vor aller Denkökonomie müssen wir das Ideal schon kennen, wir müssen wissen, was die Wissenschaft idealiter erstrebt, was gesetzliche Zusammenhänge, was Grundgesetze und abgeleitete Gesetze und dgl. idealiter sind und leisten, ehe wir die denkökonomische Funktion ihrer Erkenntnis erörtern und abschätzen können. Allerdings haben wir gewisse vage Begriffe von diesen Ideen schon vor ihrer wissenschaftlichen Erforschung, und so mag dann auch von Denkökonomie die Rede sein vor dem Ausbau der reinen Logik. Aber die wesentliche Sachlage wird dadurch nicht geändert; ansich geht die reine Logik aller Denkökonomie vorher, und es bleibt ein Widersinn, jene auf diese zu gründen." (LU I 208f)
Man sieht deutlich, wie HUSSERL argumentiert. Die Denkökonomie ist, das erkennt er an, ein fruchtbringendes, aufklärendes Prinzip. Ja, er gibt sogar zu, daß man "Machs historisch-methodologischen Arbeiten eine Fülle logischer Belehrung verdankt" (LU I 202). Warum soll nun die Denkökonomie das Entstehen und die Geltung der logischen Gesetze nicht erklären, oder sagen wir mit HUSSERL nicht "aufklären" können? Einfach deshalb, weil sie seinem Dogma von der Apriorität dieser Gesetze widerstreitet. Daß die logischen Gesetze ein Niederschlag, ein Resultat der Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens sind und sich an und mit diesem weiterbilden, das glauben wir Psychologisten, weil es mit der bisher bewährten Auffassung des geistigen Lebens übereinstimmt. Für uns ist dieser Glaube kein Dogma, sondern eine methodische, namentlich eine heuristische Regel. Der apriorische Charakter der logischen Gesetze ist durch nichts, durch gar nichts gewährleistet. Der Hinweis auf die Tatsache, daß ein wissenschaftlich gebildeter Mensch, dessen Geist geschult ist, bei oberflächlicher introspektiver Betrachtung den empirischen Ursprung der logischen Gesetze nicht sofort findet, den Hinweis darauf, daß wir die mathematischen Urteile mit weit größerer Gewißheit fällen, als wir sie bei Aussagen von vager Allgemeinheit in uns finden, gibt diesen Urteilen eine ausgezeichnete Stellung und macht sie zugleich zu einem etwas schwierigeren erkenntnispsychologischen Problem. Daß aber dieser Hinweis - und mehr findet sich bei HUSSERL nicht, weil eben nichts anderes zum Beweis der Apriorität beigebracht werden kann - daß dieser Hinweis, sage ich, schon allein genügen sollte, um ein Dogma von unerschütterlicher Geltung aufzustellen, das ist dann doch eine starke Zumutung an das Urteil der Leser. Ich habe bei der Lektüre von HUSSERLs Argumentation gegen die Denkökonomie den Eindruck, als ob der Verfasser sagen wollte:
    "Die Denkökonomie ist ein gutes, ein aufklärendes Prinzip. Man kann für die Logik viel daraus lernen. Aber zur Begründung der Logik taugt es nicht, denn es steht nicht in meiner logischen Bibel."
14. In ähnlicher Weise wie mit MACH verfährt HUSSERL mit mir, nur daß hier die Anerkennung ganz ausbleibt und der Tadel schroffe, persönlich verletzende Formen annimmt. Aus meinem Buch, meint HUSSERL, kann man überhaupt nichts lernen. Bei mir ist nirgends der
    "Charakter jener ernst zulangenden und tiefbohrenden Arbeit" zu finden, "die der Wissenschaft dauernde Förderung bringt, unabhängig von den Standpunkten und Vorurteilen des Verfassers" (Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. 9, Seite 531).
Trotzdem ist HUSSERL genötigt, meiner psychologischen Deutung des Urteilsaktes folgende Zugeständnisse zu machen:
    "Niemand wird den Anthropomorphismus leugnen, der die kindliche Auffassung beherrscht und den auch wir entwickeltere Menschen niemals ganz los werden. Gewiß zeigt die Sprache, auf deren Zeugnis der Verfasser sich mit Vorliebe beruft, überall Spuren dieses Anthropomorphismus, und gewiß wird eine biologische und kulturgeschichtliche Entwicklung des menschlichen Intellekts von diesen allbekannten Tatsachen ausgehen. Sie aber zum Fundament und Anfang einer erkenntnispsychologischen Analyse zu machen, auf sie gar eine Erkenntnistheorie, ein System der Philosophie gründen zu wollen, das ist eine nahezu unbegreifliche Verkehrtheit. Muß es erst gesagt werden (und leider scheint es nicht bloß dem Verfasser gegenüber nötig zu sein), welch proton pseudos [erster Irrtum - wp] in einer Theorie liegt, die das Wesen der Apperzeption überhaupt aufzuklären unternimmt durch eine genetische Reduktion aller materiell bestimmten Apperzeptionen auf eine einzelne unter ihnen, welche unter den faktischen biologischen Verhältnissen des Menschen natürlich erscheint?" (a. a. O. Seite 528)
Man sieht deutlich: Dasselbe Zugeständnis und dieselbe Polemik wie MACH gegenüber. HUSSERL gibt mir sogar mehr zu, als ich erwartet hätte. Er räumt ein, daß wir den Anthropomorphismus niemals los werden können (1). HUSSERL sieht gar nicht, was aus diesem Zugeständnis folgt. Wenn wir den Anthropomorphismus nie los werden, woher nimmt dann HUSSERL die Fähigkeit, ihn doch los zu werden? Woher nimmt er dann die Kraft, Gesetze aufzustellen, die absolut, ohne jede Beschränkung auf den menschlichen Intellekt, gelten sollen? Wir bescheidenen Alltagsmenschen sind zufrieden, wenn es uns gelingt, die Apperzeption aufzuklären, die "unter den faktischen biologischen Verhältnissen des Menschen natürlich erscheint". Eine "Apperzeption überhaupt", die nicht bloß für Menschen gilt, hat für mich keinen verständlichen Sinn. Wo ist der archimedische Punkt, auf den sich HUSSERL stellt, um sich und seine Vernunft über die Grenzen des menschlichen hinauszuheben? Er muß offenbar in sich eine ganz besondere, über alles Menschliche hinausgehende Intelligenz entdeckt haben, und als die Offenbarungen dieses übermenschlichen Intellekts sollen wir sein Buch betrachten. Diesen Offenbarungen sollen wir gläubigen Gemütes lauschen und uns dabei in Demut unserer Minderwertigkeit bewußt werden. Das proton pseudos, das HUSSERL in meiner Argumentation findet, ist genau dasselbe, wie das hysteron proteron, dessen er MACH bezichtigt. Mein Fehler besteht einfach darin, daß ich nicht an HUSSERLs Dogma glaube.

15. Ebenso deutlich tritt der dogmatische Charakter von HUSSERLs Philosophie an folgender Stelle hervor. HUSSERL will darlegen, daß die logischen Gesetze keine Naturgesetze sind und sagt:
    "Kein Naturgesetz ist a priori einsichtig erkennbar. Der einzige Weg, ein solches Gesetz zu begründen und zu rechtfertigen, ist die Induktion aus einzelnen Tatsachen der Erfahrung. Die Induktion begründet aber nicht die Geltung des Gesetzes, sondern nur die mehr oder weniger hohe Wahrscheinlichkeit dieser Geltung, einsichtig gerechtfertigt ist die Wahrscheinlichkeit und nicht das Gesetz. Folglich mußten auch die logischen Gesetze und zwar ausnahmslos den Rang bloßer Wahrscheinlichkeiten haben. Dem gegenüber scheint nichts offenkundiger, als daß die rein logischen Gesetze insgesamt a priori gültig sind. Nicht durch Induktion, sondern durch apodiktische Evidenz finden sie Begründung und Rechtfertigung. Einsichtig gerechtfertigt sind nicht bloß Wahrscheinlichkeiten ihrer Geltung, sondern ihre Geltung oder Wahrheit selbst." (LU I 62)
Ich hebe zunächst den ersten Satz heraus: "Kein Naturgesetz ist a priori und einsichtig erkennbar." Ich sehe hier gleich die dogmatische Voraussetzung gemacht, daß nur das einsichtig erkennbar ist, was a priori erkennbar ist. Warum diese Einsicht allen Naturgesetzen fehlen muß, das wird nirgendwo gesagt. Wenn HUSSERL zugibt, daß die Wahrscheinlichkeit von Naturgesetzen einsichtig erkennbar ist, so gibt er auch zu, daß diese Gesetze einsichtig erkennbar sind. In der Formulierung der Gesetze liegt es ja nicht, daß ihr Gegenteil undenkbar ist. Sie sagen ja nur Regelmäßigkeiten des Geschehens aus, die die Wissenschaft gefunden und die sie experimentell und theoretisch begründet hat. Zugeben kann man nur, daß die mathematischen und logischen Gesetze mit einem höheren Grad an Überzeugung für wahr gehalten werden, als etwa die physikalischen und biologischen. Das kommt aber daher, weil die logischen und mathematischen Gesetze aus Urteilen abgeleitet werden, deren Wahrheit sich immer bewährt hat. Der Gedanke, daß sie aufhören könnten, für das menschliche Denken diese überzeugende Kraft zu bewahren, ist ein ganz unfruchtbarer und überflüssiger. Man müßte dann eben zugleich die Annahme machen, daß sich die menschliche Organisation von Grund auf verändert hat. Daß also kein Naturgesetz einsichtig erkennbar ist, kann ich nie und nimmer zugeben, wohl aber räume ich ohne Weiteres ein, daß es nicht a priori erkennbar ist. Was folgt nun für mich als Psychologisten daraus? Ich betrachte mich selbst auch als ein Stück Natur und glaube deshalb, daß die Gesetze, nach denen mein geistiges Leben sich entwickelt und regelt, auch Naturgesetze sind. Deswegen nehme ich an, daß auch die mathematischen und logischen Gesetze Naturgesetze und daß sie nicht a priori, sondern nur durch Erfahrung erkennbar sind. Demgemäß such ich den empirischen Ursprung dieser Gesetze zu finden. Sollte mir das nicht sofort, nicht beim ersten Anlauf gelingen, so setze ich die Versuche fort, fühle mich aber nicht veranlaßt, wie dies HUSSERL nach seinen Äußerungen in der Vorrede getan hat, die Methode zu ändern. Daß aber auch ich kein Teil der Natur bin und daß die Entwicklung meines Geistes sich nach Naturgesetzen vollzieht, das ist für mich kein Dogma, sondern eine methodische Regel, die ich solange befolge, als sie sich bewährt. Ich schließe also: Kein Naturgesetz ist a priori erkennbar - die logischen Gesetze sind Naturgesetze - also sind sie nicht a priori erkennbar. Ganz anders schließt HUSSERL. Sein Syllogismus lautet: Kein Naturgesetz ist a priori erkennbar. Die logischen Gesetze sind a priori erkennbar. Also sind sie keine Naturgesetze. Sein Untersatz ist aber für ihn keine methodische Rege, sondern ein willkürlich aufgestelltes Dogma, an dessen Wahrheit zu zweifeln er einfach nicht gestattet.

Daß HUSSERL wirklich über der Natur zu stehen und im Besitz eines Organs übermenschlicher absoluter Erkenntnis zu sein glaubt, das geht deutlich aus seiner Kritik des Standpunktes hervor, den er als "spezifischen Relativismus" oder auch als "Anthropologismus" bezeichnet. Er versteht darunter die Ansicht, die auch ich vertrete, daß nämlich alles Erkennen, von dem wir sprechen, dessen Gesetze wir untersuchen, menschliches Erkennen ist. Wahr und Falsch hat dann nur für urteilende Menschen Sinn und Bedeutung. Diese Ansicht soll nach HUSSERL durchaus widersinnig sein.

Hören wir selbst:
    "Der spezifische Relativismus stellt die Behauptung auf: Wahr ist für jede Spezies urteilender Wesen, was nach ihrer Konstitution, nach ihren Denkgesetzen, als wahr zu gelten hat. Diese Lehre ist widersinnig. Denn es liegt in ihrem Sinn, daß derselbe Urteilsinhalt (Satz) für den Einen, nämlich für ein Subjekt der Spezies homo, wahr, für einen Anderen, nämlich für ein Subjekt einer anders konstituierten Spezies, falsch sein kann. Dies liegt im bloßen Sinn der Worte wahr und falsch. Gebrauch der Relativist diese Worte mit ihrem zugehörigen Sinn, so sagt seine These, was ihrem eigenen Sinn zuwider ist." (LU I 117)
Ich muß den Verfasser hier unterbrechen, um ihn auf einen Fehler aufmerksam zu machen, der sich in seine Argumentation eingeschlichen hat. "Derselbe Urteilsinhalt", sagt er, "kann nicht für eine Spezies wahr, für eine andere falsch sein." Wenn die beiden in Frage kommenden Spezies ganz verschieden organisiert oder "konstituiert" sind, so gibt es keine Urteilsinhalte, die für beide identisch sind. Urteilsakt und Urteilsinhalt lassen sich für gewisse Zwecke begrifflich sondern, indem man auf den einen oder anderen reflektieren, die Aufmerksamkeit dem einen oder dem andern zuwenden kann. Allein beide lassen sich nicht in der Weise trennen, daß man glauben kann, der eine bleibt konstant, wenn man den andern sich ändern läßt. Urteilsakt und Urteilsinhalt durchdringen einander vollständig und jede Änderung des Aktes zieht eine Änderung des Inhalts nach sich. Wenn ein Wesen in einer ganz anderen Weise organisiert ist, so wird auch die Art, wie es urteilt, eine ganz andere sein als die unsere, und dann gibt es auch keine Urteilsinhalte, die für beide so verschieden organisierten Wesen identisch wären. Widersinnig ist also nicht die Lehre von der Beschränkung des Wahrheitsbegriffs auf menschliches Erkennen, widersinnig ist vielmehr die Rede von identischen Urteilsinhalten bei ganz verschieden organisierten Spezies.

Doch hören wir unseren Autor weiter:
    "Die Ausflucht, es sei der Wortlaut des herangezogenen Satzes vom Widerspruch, durch den wir den Sinn der Worte wahr und falsch entfalteten, unvollständig, es sei in ihm eben von menschlich wahr und menschlich falsch die Rede, ist offenbar nichtig. Ähnlich könnte ja auch der gemeine Subjektivismus sagen: die Rede von Wahr und Falsch ist ungenau, gemeint muß sein für das einzelne Subjekt wahr, bzw. falsch."
Und natürlich wird man ihm antworten. Das evident gültige Gesetz kann nicht meinen, was offenbar widersinnig ist; und widersinnig ist in der Tat die Rede von einer Wahrheit für diesen oder jenen. Widersinnig ist die offen gehaltene Möglichkeit, daß derselbe Urteilsinhalt (wir sgen in gefährlicher Lauheit dasselbe Urteil), je nach dem Urteilenden beides, wahr und falsch ist. Entsprechend wird nun auch die Antwort für den spezifischen Relativismus lauten:
    "Wahrheit für diese oder jene Spezies, das ist, so wie es hier gemeint ist, eine widersinnige Rede. Man kann sie allerdings auch in einem guten Sinn gebrauchen, aber dann meint sie etwas total verschiedenes, nämlich den Umkreis von Wahrheiten, die dem Menschen als solchem zugänglich, erkennbar sind. Was wahr ist, ist absolut, ist ansich wahr; die Wahrheit ist identisch eine, ob sie Menschen oder Unmenschen, Engel oder Götter erfassen. Von der Wahrheit in dieser idealen Einheit gegenüber der realen Mannigfaltigkeit von Rassen, Individuen und Erlebnissen sprechen die logischen Gesetze und sprechen wir alle, wenn wir nicht etwa relativistisch verwirrt sind." (LU I 118)
16. HUSSERLs Dogma ist hier wesentlich erweitert und fordert deshalb eine erneuerte kritische Betrachtung. Er behauptet hier nicht mehr bloß, daß die logischen Gesetze a priori einsichtig erkannt werden. Er geht einen wichtigen Schritt weiter und erhebt den Anspruch, daß seine Logik "Wahrheiten ansich" aufzustellen und zu beweisen in der Lage ist. Richtiger kann man seine Auffassung so formulieren. Zum Dogma von der apriorischen Erkennbarkeit der logischen Gesetze tritt jetzt das neue, noch inhaltsschwerere Dogma von den Wahrheiten ansich dazu, das, wie es scheint, für HUSSERL eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Begründung einer reinen Logik bildet. Der Begriff "Wahrheiten ansich" oder auch "Sätze ansich" stammt, soviel ich weiß, von BOLZANO, dessen "Wissenschaftslehre" HUSSERL als ein Werk bezeicnet, "das in Sachen der logischen Elementarlehre alles weit zurückläßt, was die Weltliteratur an systematischen Entwürfen der Logik darbietet." (LU I 225) Nun betrachte auch ich BOLZANO als einen bedeutenden Logiker, allein der Begriff von "Sätzen ansich" oder "Wahrheiten ansich" ist namentlich in der Form, wie in HUSSERL anwendet, ein Gedanke, der große Unklarheiten, ja Widersprüche in sich enthält. Ich habe daher diesen Begriff, der, wie wir eben sahen, zum Dogmensystem HUSSERLs gehört, einer kritischen Prüfung zu unterziehen.

Versteht man unter "Wahrheiten ansich" nichts anderes als einen allgemeinen Ausdruck für die täglich sich wiederholende Erfahrung, daß Urteile, deren Wahrheit die Wissenschaft erwiesen hat, auch dann wahr bleiben, wenn sie von dem einen oder anderen nicht als wahr erkannt werden, dann ist der Begriff nicht widerspruchsvoll, sondern völlig harmlos und enthält nur eine Selbstverständlichkeit. Nur das müßte man sagen, daß der Terminus sehr unglücklich gewählt wäre. Nimmt man den Begriff aber so, wie ihn HUSSERL faßt, so enthält er die Behauptung, daß es Urteile gibt, die wahr bleiben, auch wenn kein einziger Mensch ihre Wahrheit einsieht oder einsehen könnte.

Diese Behauptung aber ist nicht etwa bloß terminologisch, sondern auch logisch vollkommen falsch und widerspruchsvoll. Wahrheit ist eine Beziehung zwischen dem Urteilsakt und einem vom Urteilenden unabhängig sich vollziehenden Geschehen. Schon formell liegt also hier ein Relationsbegriff vor, dessen absolute Geltung zu behaupten schon ansich ein logischer Fehler wäre. Noch deutlicher wird dies, wenn man sich die Entstehung des Wahrheitsbegriffs klar macht. Wahrheit ist eine mögliche Eigenschaft eines Urteils. Im Urteil aber prägt sich, wie ich gezeigt zu haben glaube, die menschliche Organisation deutlich aus. Eliminiert man nun aus dem Wahrheitsbegriff sein wichtigstes konstitutives Element, nämlich das Vorhandensein menschlicher Urteilsakte, so bestimmt man ihm jeden angebbaren Sinn und Inhalt. HUSSERL könnte nun darauf antworten:
    "Ich weiß wohl und gebe zu, daß der Begriff der Wahrheit urteilende Wesen voraussetzt, ich sehe aber nicht ein, daß dies urteilende Menschen sein müssen."
Da müßte man ihn dann freilich fragen, woher er denn von Urteilen, die keine menschlichen Urteile sind, eine Kenntnis erlangt hat. Ist ihm vielleicht irgendeine Offenbarung zuteil geworden, die ihm Aufschluß gab über das Urteilen über- oder untermenschlicher Wesen? HUSSERL muß doch in seinem Innern selbst zugeben, daß er, wenn er von urteilenden Wesen spricht, doch nur Menschen meinen kann, denn wie Engel oder Götter urteilen, das zu wissen wird er doch selbst nicht im Ernst behaupten wollen. Gegen den eso logos, gegen den logos en te psyche gibt es ja, wie ARISTOTELES treffend bemerkt, nicht immer einen Einwand. Nur gegenüber dem exo logos der Psychologisten kann es HUSSERL versuchen, minder geschickten Dialektikern, als er es ist, weis machen zu wollen, er könne von urteilenden Wesen im Allgemeinen sprechen, die nicht gerade Menschen zu sein brauchen. Wenn HUSSERL selbst nicht nur "reiner Logiker", sondern daneben auch ein Mensch ist, so kann auch er aus seiner Haut nicht heraus und kann sich unter diesen urteilenden Wesen auch nur Menschen vorstellen.

Aber selbst wenn ich annehme, die Wahrheit gilt für urteilende Wesen überhaupt, so bleibt sie ja noch immer eine Beziehung zwischen dem Urteilsakt dieser Wesen und dem unabhängig von diesen Wesen sich vollziehenden Geschehen. Von absoluter Wahrheit kann also auch dann nicht die Rede sein. HUSSERL verwechselt hier, wie andere Denker mit ihm, die Wahrheit mit der Tatsächlichkeit, mit dem Sachverhalt.

Ich habe auf diesen Unterschied aufmerksam gemacht ("Urteilsfunktion", Seite 186f) und gezeigt, daß sowohl der Idealismus als auch der Materialismus auf dem Standpunkt der Tatsächlichkeit bleiben und nicht bis zum Begriff der Wahrheit vordringen. Der Standpunkt des Idealismus liegt jenseits, der des Materialismus diesseits von Wahr und Falsch.

"Ansich" bestehen nur Tatsächlichkeiten oder Sachverhalte. Auf solche wirklich vorhandene Sachverhalte dürfen wir, das ist meine oft ausgesprochene Überzeugung, aufgrund unserer Urteile schließen. Damit erhalten unsere Urteile aber bereits eine mehr als psychologische und eine mehr als logische Interpretation. Sie besitzen eine ontologische Geltung. In unseren Urteilen sind eben zwei Faktoren enthalten. An ihrem Zustandekommen sind beide beteiligt. Der eine ist der objektive; er besteht aus den tatsächlichen, unabhängig von uns sich vollziehenden Sachverhalten. Der andere ist der subjektive. In ihm prägt sich unsere Organisation aus. Die Begriffe der Wahrheit und Falschheit sind die Verallgemeinerung der zwischen diesen Faktoren möglichen Beziehung, die man als ein vorhandenes oder fehlendes Übereinstimmen, als ein Entsprechen oder ein Nichtentsprechen oder sonst irgendwie bezeichnen kann.

Von objektiven Wahrheiten darf man dann insofern sprechen, als man damit die Unabhängigkeit dieser Beziehung zwischen Urteilsakt und Sachverhalt vom einzelnen Subjekt meint. Streng genommen sollte man immer nur von intersubjektiven Wahrheiten sprechen. Intersubjektive Wahrheiten sind die Ergebnisse der Wissenschaft. Von dieser kann man sagen, daß niemand sie leugnen kann, der die dazu gehörigen Erlebnisse in sich zu erzeugen vermag. Dazu gehören dann auch die logischen und die mathematischen Gesetze, und diese ganz besonders, weil die dazu gehörigen Erlebnisse, namentlich soweit die bisher erforschten logischen Gesetze in Betracht kommen, keine besonderen, nur durch die Beschäftigung mit einem speziellen Wissensgebiet zu erfüllenden Bedingungen erfordern.

Wahrheiten ansich aber gibt es nicht. Die Rede von ihnen ist eine widersinnige Rede, weil sie dem Begriff der Wahrheit seinen wesentlichen Inhalt benimmt.

17. Machen wir uns dies zum Überfluß an einem Beispiel klar. Das archimedische Prinzip, so könnte ein Anhänger der Lehre von "Wahrheiten ansich" behaupten, würde gelten, auch wenn kein einziger Mensch seine Gültigkeit einzusehen vermöchte. Untersuchen wir einmal, was das bedeutet. Wenn kein Mensch die Gültigkeit des archimedischen Prinzips soll einsehen können, so muß uns die Fähigkeit abgehen zu unterscheiden, ob ein Körper, wenn wir ihn zu heben versuchen, mehr oder weniger Gewicht hat als ein anderer. Wir müßten dann außerstande sein, den größeren vom geringeren Widerstand zu unterscheiden, den ein Körper dem Versuch, ihn fortzubewegen, entgegensetzt. Unsere ganze Art zu empfinden, somit unsere ganze Organisation müßte eine andere sein als sie ist. Dann würde freilich die Veränderung, die das Gewicht des Körpers erfährt, wenn er eingetaucht ist, in keiner Weise zu unserer Kenntnis gelangen können. Das archimedische Prinzip hätte dann aber nie gefunden, nie aufgestellt werden können und wäre dann weder wahr noch falsch. Oder wenn wir etwa gar die abenteuerliche Voraussetzung machen wollten, die Bedingungen, die zur Aufstellung des archimedischen Prinzips führten, seien einmal vorhanden gewesen, später aber verschwunden, so müßten wir sagen, das archimedische Prinzip sei früher wahr gewesen und habe später aufgehört, wahr zu sein, eben weil es für die späteren Generationen jeden Sinn, jeden Inhalt verloren hat.

Schon dieses eine Beispiel zeigt deutlich, daß von "Wahrheiten ansich", die nicht bloß für Menschen gelten sollen, nur derjenige im Ernst sprechen kann, der sich die Konsequenzen einer solchen Behauptung nicht klar gemacht hat. (2)

Bei HUSSERL hängt übrigens dieser von BOLZANO übernommene Begriff von "Sätzen ansich" mit zwei anderen Begriffen zusammen, die ebenfalls für seine ganze Denkweise charakteristisch und für die von ihm geplante "reine Logik" grundlegend sind. Es sind dies die Begriffe der "Evidenz" und der "Idealität". Beide Begriffe haben bei HUSSERL eine ganz andere Geltung und Bedeutung als die sonst übliche, und es ist deshalb unerläßlich, seine Auffassung und seinen Sprachgebrauch genau festzustellen. HUSSERL hat dies seinen Lesern ganz unglaublich schwer gemacht, und ich begreife es sehr gut, daß seine Beurteiler, soweit ich deren veröffentlichte Meinung kennen gelernt habe, sich nicht die Mühe gemacht haben, seine bald mystischen, bald widerspruchsvollen Darlegungen über diese Begriffe so durchzuarbeiten, wie es geschehen muß, wenn man einen vernünftigen Sinn darin finden will. Ich habe mir diese Mühe gemacht und glaube zu wissen, was HUSSERL unter "Evidenz" versteht und wie verschieden er das Wort "ideal" gebraucht.

Den Begriff der Evidenz hat HUSSERL von BRENTANO übernommen. In der Psychologie BRENTANOs spielt die "Evidenz" eine große Rolle. Nicht nur für die Urteile, auch für die Erscheinungen des Gefühlslebens oder, wie BRENTANO sagt, von "Liebe und Haß" wird dieser Begriff angewendet. BRENTANO schien damals nicht nur eine Logik, sondern auch eine Ethik auf diese sich unmittelbar kundgebende Stimme gründen zu wollen. Ebenso wenden die Schüler BRENTANOs, z. B. HÖFLER und MEINONG, den Begriff der Evidenz wiederholt an.

HUSSERL erörtert diesen Begriff zum ersten Mal ausführlich im ersten Band seiner "Logischen Untersuchungen" (Seite 189f). Er verwirft zunächst die Auffassung der Psychologisten, die unter Evidenz "ein zufälliges Gefühl" verstehen,
    "das sich bei gewissen Urteilen einstellt, bei anderen fehlt, bestenfalls so, daß es allgemein menschlich - genauer gefaßt, bei jedem normalen und unter normalen Urteilsumständen befindlichen Menschen - an gewisse Urteile geknüpft erscheint, an andere nicht. Jeder Normale fühlt unter gewissen normalen Umständen die Evidenz bei dem Satz 2 + 1 = 1 + 2, so wie er Schmerz fühlt, wenn er sich brennt."
Diese Auffassung verwirft HUSSERL. Man könne ja, meint er, dann nicht wissen,
    "worauf sich die Autorität dieses besonderen Gefühls gründet, wie es das anstellt, eine Wahrheit des Urteils zu verbürgen".
Er weist auch mit vollem Recht darauf hin, daß der Begriff "normal" und "unter normalen Umständen" ein vager ist. Ferner meint er, müsse auch für normale Menschen die große Mehrzahl der möglichen richtigen Urteile der Evidenz ermangeln.

18. Mit dieser Kritik eines so vagen Evidenzbegriffs wird sich wohl jeder einverstanden erklären. Aus diesem Grund habe ich auch dort, wo ich von Kriterien der Wahrheit zu sprechen hatte, den Evidenzbegriff ganz vermieden. (3) HUSSERL aber glaubt offenbar, diesen Begriff nicht entbehren zu können und versucht deswegen, ihm eine bestimmtere Fassung zu geben. Hören wir nun, zu welchem Resultat er dabei gelangt ist.
    "Wie der Empirismus überhaupt das Verhältnis zwischen Idealem und Realem im Denken verkennt, so auch das Verhältnis zwischen Wahrheit und Evidenz. Evidenz ist kein akzessorisches Gefühl, das sich zufällig oder naturgesetzlich an gewisse Urteile anschließt. Es ist überhaupt kein psychischer Charakter von einer Art, die sich an jedes beliebige Urteil einer gewissen Klasse (d. h. der sogenannten "wahren" Urteile) einfach anheften ließe, als ob der psychologische Gehalt des betreffenen, an und für sich betrachteten Urteils identisch, derselbe bliebe, ob es mit diesem Charakter behaftet ist oder nicht. Die Sache liegt keineswegs etwa so, wie wir uns den Zusammenhang der Empfindungsinhalte und der darauf bezogenen Gefühle zu denken pflegen. Zwei Personen haben dieselben Empfindungen, aber sie werden von ihnen im Gefühl anders berührt. Evidenz ist vielmehr nichts anderes als das Erlebnis der Wahrheit. Erlebt ist die Wahrheit natürlich in keinem anderen Sinn, als in welchem überhaupt ein Ideales im realen Akt erlebt sein kann. Mit anderen Worten: Wahrheit ist eine Idee, deren Einzelfall im evidenten Urteil ein aktuelles Erlebnis ist." (LU I 190)
Ich versuche, mich in diesen etwas mystisch klingenden Ausführungen zurech zu finden. Ich bemühe mich, den zugrunde liegenden Gedanken zu erraten und ihn deutlicher darzustellen, als es HUSSERL vermocht hat. Vielleicht also meint HUSSERL folgendes: Wir alle fällen gewiß oft Urteile, die wir für unbedingt wahr halten, an deren Richtigkeit zu zweifeln uns ganz unmöglich wäre, sagen wir z. B. das Urteil 2 x 2 = 4. Reflektieren wir nun auf das Gemeinsame in diesen Erlebnissen, so können wir die Inhalte dieser Urteile als Wahrheiten bezeichnen. Allen solchen Erlebnissen ist es ja gemeinsam, daß es Urteile sind, an deren Richtigkeit wir nicht zweifeln. Weiter ist ihnen auch das gemeinsam, daß wir den Grund des Nicht-Zweifeln-Könnens nicht in uns, sondern im Inhalt der Urteile zu finden glauben. Das Gemeinsame dieser Erlebnisinhalte können wir also als Wahrheit in einem gewissesn Sinn sogar als "Wahrheit ansich" bezeichnen, wenn wir damit sagen wollen, daß wir diesen Erlebnisinhalt nicht von unserer subjektiven Organisation für bedingt ansehen. Die Wahrheit wäre dann wirklich eine "Idee", d. h. ein Gattungsbegriff, der das Gemeinsame vieler Erlebnisinhalte in sich zusammenfaßt, und wir dürfen, ja wir müssen diesem Gemeinsamen auch einen Namen geben, weil wir es sonst nicht in unserem Denken festhalten könnten. Diesem Gattungsbegriff, dieser Idee geben wir also den Namen "Wahrheit". Wir brauchen dabei, zunächst zumindest, nicht an ein objektives Korrelat zu denken und können also ganz im "Idealen", d. h. im Bereich des Denkens bleiben. Wenn wir nun tatsächlich ein derartiges Urteil fällen, so können wir aus dem individuellen Erlebnis alle sich etwa einstellenden Assoziationen und Gefühle entweder durch energische Hemmungsakte eliminieren oder doch zumindest wegdenken. Was dann übrig bleibt, ist das reine Erfassen, das innere Anschauen der in einem gegebenen Urteil gegenwärtigen Wahrheit, und dieses "Erlebnis der Wahrheit" wäre dann das, was HUSSERL Evidenz nennt.

19. Wenn HUSSERL es so meint, wie ich es hier deutlich gemacht habe, so gebe ich ohne Weiteres zu, daß in diesen Erwägungen eine ernste, in die Tiefe dringende Gedankenarbeit geleistet ist. Daß er es aber so meint, das scheinen mir seine weiteren Ausführungen zu bestätigen.
    "Das Erlebnis der Zusammenstimmung zwischen der Meinung und dem Gegenwärtigen, Erlebten, das sie meint, zwischen dem erlebten Sinn der Aussage und dem erlebten Sachverhalt ist Evidenz, und die Idee dieser Zusammenstimmung die Wahrheit."
Der "erlebte Sinn der Aussage" ist eben dieser rein intellektuelle Akt, der aus dem wirklichen Erleben erst durch die Eliminierung aller störenden Einflüsse rein herauspräpariert werden muß, und die "erlebten Sachverhalte" sind die diesem reinen Akt des Intellekts entsprechenden Inhalte. HUSSERL hat es leider unterlassen, die psychologischen Bedingungen, unter denen ein solches reines Anschauen der Wahrheit möglich ist, genauer anzugeben. Dies kommt, glaube ich, daher, weil er seinem durch Abstraktion gewonnenen Begriff der Wahrheit eine gewisse Realität oder doch eine objektive Wirklichkeit zuschreibt. Für ihn ist eben der Gattungsbegriff gegenüber dem Einzelfall, in dem er realisiert erscheint, ein proteron te physei [das ansich Erste - wp]. Deswegen fügt er auch zu den oben zitierten Worten hinzu: "Die Idealität der Wahrheit macht aber ihre Objektivität aus." (LU I 191) Nach meiner Interpretation verstehe ich dann auch, warum HUSSERL sagen kann, daß evidente Urteile immer wahr sein müssen und daß es unmöglich ist, daß, was dem einen evident erscheint, dem andern nicht so erscheint. Wenn Evidenz das reine Anschauen der Wahrheit ist, dann kann dieses reine Anschauen eben nur eine Wahrheit zum Objekt haben. Es kann vorkommen, daß die störenden Einflüsse, von den ich oben gesprochen habe, das Erleben der Wahrheit also die Evidenz verhindert, aber wenn sie einmal erlebt wird, so muß das, was in ihr erlebt wird, die Wahrheit sein. (4)

Daß HUSSERL es wirklich so meint, wie ich es hier dargelegt habe, das bestätigen auch die Ausführungen über Evidenz und Wahrheit im zweiten Band, auf die er Seite 191 verweist. Was da (LU II 594f) gesagt wird, das konnte ich erst dann verstehen, als es mir gelungen war, den Gedanken HUSSERLs aufgrund seiner Ausführungen im ersten Band zu erraten. Wesentlich Neues enthalten die Erörterungen des zweiten Bandes über Evidenz und Wahrheit nicht. Sie sind nur noch schwerer verständlich, weil sie sich auf die früheren Untersuchungen über Bedeutung und Bedeutungserfüllung beziehen, die den wesentliche Inhalt des zweiten Bandes ausmachen.

Ich bezeichnete oben HUSSERLs Auffassung und Ableitung des Evidenzbegriffs, unter der Voraussetzung, daß ich sie richtig aus seinen Darlegungen herausgelesen hatten, als ein Resultat tiefdringenden Denkens. Den Ertrag dieser Denkarbeit will ich selbst in den positiven Erörterungen des folgenden Kapitels verwerten. HUSSERL aber hat sich um diesen Ertrag selbst gebracht, weil er von dogmatischen Voraussetzungen ausgeht und weil er in seinen psychologischen Analysen die hier ganz unentbehrlich genetische und biologische Betrachtungsweise grundsätzlich ablehnt. Deshalb sind auch seine Begriffe von Evidenz und Wahrheit, bei deren Gewinnung er eine sehr anerkennenswerte Zergliederungskunst an den Tag legt, so wie er sie verwendet, ganz unhaltbar.

20. HUSSERL geht, wie wir gesehen haben, um eine Grundlegung der reinen Logik zu gewinnen, von der Tatsache aus, daß wir Urteile fällen, an deren Richtigkeit zu zweifeln uns unmöglich scheint. Er sucht das Gemeinsame dieser Urteile und findet so die "Idee der Wahrheit". Diese "Idee" faßt er nun nicht als das auf, was sie für jeden nicht dogmatisch befangenen Forscher tatsächlich ist, nämlich als ein gewordenes, vom Menschengeist geschaffenes Denkmittel, das uns fähig macht, gewisse Beziehungen zwischen dem Urteilsakt und dem Urteilsinhalt kurz und verständlich zu bezeichnen. Für ihn ist vielmehr diese angeblich in den evidenten Urteilen enthaltene "Idee" ein selbständiges Ding, ein prius, ein proteron te physei, das vor allem Urteilen da ist und das als Bedingung für jedes wahre Urteil anzusehen ist. In echt scholastischer Weise geht er nun daran, die Objektivität dieser "Idee" eben aus dem für apriorisch gehaltenen Begriff der Wahrheit selbst zu beweisen. Sein Gedankengang erinnert lebhaft an den bekannten ontologischen Beweis für das Dasein Gottes, wie in ANSELM von CANTERBURY geführt hat.

Aus dem Begriff Gottes, als des vollkommensten Wesens, das gedacht werden kann, glaubt ANSELM die Existenz Gottes streng logisch deduzieren zu können. In ganz ähnlicher Weise verfährt HUSSERL. Es ist so als ob er argumentiert:
    "Im evidenten Urteil ist die Idee der Wahrheit gegeben. Diese Idee wäre aber nicht die Idee der Wahrheit, wenn sie nicht die Übereinstimmung mit den Sachverhalten verbürgt. Also muß die uns in den evidenten Urteilen gegebene Idee der Wahrheit objektive und absolute Geltung haben."
Diesem Beweis sind die umständlichen Untersuchungen des zweiten Bandes gewidmet. Was hier über "Ausdruck und Bedeutung", über die "Ideale Einheit der Spezies", über die "Idee der reinen Grammatik", über "intentionale Erlebnisse und ihre Inhalte" und dgl. mehr gelehrt wird, das ist alles dazu bestimmt, aus der gesuchten Einheitlichkeit der Wortbedeutung, aus der behaupteten selbständigen Existenz der Gattungsbegriffe das Vorhandensein dieser "Idee der Wahrheit" aus ihrem "Erlebnis" im evidenten Urteil darzulegen. In den sprachlichen Untersuchungen, di ehier einen breiten Raum einnehmen, macht sich das absichtliche Ignorieren des genetischen Moments besonders für denjenigen als konstanter und schwerer Fehler bemerkbar, der mit solchen Untersuchungen von Jugend auf vertraut ist. HUSSERL will überall die relative Einheit der Wortbedeutung, wie sie sich im Laufe des sprachlichen Denkens entwickelt hat, als ein prius, als ein von vornherein Gegebenes hinstellen und verfehlt es natürlich damit noch ärger als dort, wo er bloß mit Vorstellungen operiert.

Eine gewisse Fähigkeit zur psychologischen Analyse zeigt sich an manchen Stellen auch da, und man fühlt oft ein lebhaftes Bedauern, daß ein Mann, der so gut zu zergliedern versteht, seine eigene Arbeit so wenig fruchtbringend zu verwerten weiß, weil er von seinen dogmatischen Voraussetzungen und seinen verkehrten Methoden nicht los kann oder nicht los will.

HUSSERL zeigt sich leider in all diesen Untersuchungen als echt scholastischer Dogmatiker. Er weiß immer schon im Voraus, zu welchem Resultat er kommen muß und bemüht sich mit großer dialektischer Geschicklichkeit, dieses Resultat, dieses Dogma mit Hilfe von deskriptiven Analysen und einer sich oft im Kreis drehenden Argumentation plausibel zu machen. Dem ANSELM hat bekanntlich GANILO in einem "liber pro insipiente" geantwortet, in welchem er im Namen des "insipiens" das Wort führt, qui dixit in corde suo: non est deus [Die Toren sprechen in ihrem Herzen: Es ist kein Gott. - wp] (Psalm 14, 1). Vielleicht wird HUSSERL auch diese meine Schrift, in der ich seinen "ontologischen Beweis" für die absolute Geltung der Wahrheit bekämpfe, als liber pro insipiente bezeichnen. Ich habe gar nichts dagegen, die Rolle des "insipiens" [Unklugen - wp] zu schließen, qui dixit in corde suo: non est veritas absoluta.

Ich verteidige in der Tat die Einfalt des gesunden Menschenverstandes gegen eine sich für tiefsinnig ausgebende Philosophie, die nach dogmatisch-scholastischer Methode eine reine Logik begründen will, gegen eine spekulative Richtung, die gleich HEGEL die Erfahrung zu meistern und aus der eigenen selbstherrlichen Vernunft dem Weltgeschehen Gesetze vorzuschreiben sich unterfängt. Ich verteidige den gesunden Realismus der Wissenschaft gegen das, was uns HUSSERL als Idealismus auftischen will.

21. Damit sind wir beim zweiten der oben genannten Grundbegriffe angelangt, auf die HUSSERL seine Logik gründen will, beim Begriff der "Idealität". Die Art, wie HUSSERL diesen Begriff verwendet, wird vielleicht noch deutlicher den rein dogmatischen und echt scholastischen Standpunkt des "reinen" Logikers hervortreten lassen.

Eine Definition oder Erörterung dessen, was HUSSERL "ideal" nennt, habe ich in den zwei Bänden der "Logischen Untersuchungen" vergebens gesucht. Das Wort und seine Derivata kommen sehr oft vor, allein durchaus nicht immer in derselben Bedeutung. Ja, mitunter weiß man nicht recht, ob HUSSERL unter "ideal" das meint, was in erkenntniskritischen Untersuchungen gewöhnlich darunter verstanden wird, nämlich das, was im Bereich des Denkens, des Gedachten liegt, also das, was die neueren Erkenntnistheoretiker, z. B. RICKERT viel präziser als "immanent" bezeichnen, oder ob er das Wort in der populären Bedeutung nimmt, wo es soviel wie "möglichst vollkommen" bedeutet. So heißt es z. B. in der Polemik gegen MACHs Denkökonomie:
    "Sie mühen sich mit der Wissenschaft als biologischer Erscheinung und merken nicht, daß sie das erkenntnistheoretische Problem der Wissenschaft als einer idealen (5) Einheit objektiver Wahrheit gar nicht berühren." (LU I 210).
Heißt hier "ideale Einheit" so viel wie "möglichst vollkommene Einheit" oder ist darunter "Einheit in der Idee" oder "gedachte Einheit" zu verstehen? Die Ungewißheit wird noch dadurch verstärkt, daß man im selben Kapitel kurz vorher die Worte liest:
    "Vor aller Denkökonomie müssen wir das Ideal schon kennen, wir müssen wissen, was die Wissenschaft idealiter erstrebt."
Allein abgesehen von solchen Unklarheiten, die das Verständnis erschweren und dem Leser ein wirklich unbilliges Maß von höchst unnützer Mühe machen, ist an den meisten Stellen der Begriff des "Idealen" durch den ihm entgegengesetzten "des Realen" so weit bestimmt, daß man durch den Vergleich vieler Stellen zumindest imstande ist, mit annähernder Sicherheit zu sagen, wie HUSSERL diesen Begriff gebraucht.

Der Gegensatz von "ideal" und "real" wird von HUSSERL in einem ganz anderen Sinn aufgefaßt, als dies in erkenntnistheoretischen Untersuchungen sonst üblich ist. Ich nenne in einem solchen Zusammenhang "ideal" alles, was sich im Bereich des Denkens und des Gedachten bewegt und nicht darüber hinausgeht. "Real" hingegen nenne ich die Wirklichkeit, wie sie unabhängig davon besteht, ob wir sie denken oder nicht. Demgemäß bezeichne ich die Richtung der Erkenntnistheorie oder Erkenntniskritik als "Idealismus", welche alle Erkenntnisinhalte als "immanent" betrachtet und jeden Schritt ins "Transzendente" verbietet. Als Realismus bezeichne ich hingegen die Auffsassung, nach der es mir wohl möglich ist, mit meinem Erkenntnisorgan etwas über die Beschaffenheit der Welt zu ermitteln, und zwar der Welt, wie sie ansich, d. h. unabhängig von meinem Denken besteht. Kürzer gesagt: Der Idealismus behauptet strenge Immanenz, der Realismus hält Transzendenz für möglich.

Bei HUSSERL hingegen bedeutet der Gegensatz von "real" und "ideal" etwas ganz anderes. Für ihn ist "real" das tatsächlich gegebene psychische Erlebnis mit all den Nebenumständen, die es begleiten. Demgegenüber nennt er "ideal" das allgemeine Denkgesetz, das sich in diesem Erlebnis manifestiert. Deshalb ist für ihn das "Reale" zugleich das Subjektive. Das "Ideale" aber ist das Allgemeine und das "Objektive". So stellt er (LU I 228) dem psychologischen und "realen Zusammenhang" den "objektiven oder idealen" gegenüber. "Ideal" ist die Spezies gegenüber dem "realen" Einzelfall. Unter "Idee" versteht er nichts anderes als den Gattungsbegriff, die Spezies. Diese Gattungsbegriffe sind aber für ihn keine Abstraktionen, die das Denken vollzieht, um die Mannigfaltigkeit der Einzeldinge zu überwinden, nein, sie sind für ihn a priori gegeben. Sie stehen im Gegensatz zu einer empirischen Realität und die zwischen diesen "Ideen" obwaltenden Beziehungen sind a priori erkennbar und bedürfen durchaus nicht der Bestätigung durch die Erfahrung.

22. Sein "Idealismus" ist also nicht etwa, wie mehrere Beurteiler HUSSERLs zu glauben scheinen, eine erkenntniskritische Anschauung. Dieser "Idealismus" deckt sich vielmehr vollständig mit der Auffassung der sogenannten "Realisten" des Mittelalters, deren Schlagwort lautete: "Universalia ante rem" [Der Allgemeinbegriff existiert vor den Einzeldingen. / Die Idee besitzt objektive Realität. - wp]. Nur von diesem Standpunkt aus werden HUSSERLs Äußerungen über "real" und "ideal", über "Naturgesetze" und "Idealgesetze" verständlich. Deshalb ist "ideal" für ihn soviel wie "objektiv". (6)

Da aber HUSSERL die Worte "ideal" und "Idee" so oft im Mund führt und von der "Idee" gelegentlich so spricht, daß man an die platonischen Urbilder der Dinge zu denken sich veranlaßt fühlt, hat er eine sympathische Beurteilung bei Denkern gefunden, die wie NATORP einen wirklichen erkenntniskritischen Idealismus vertreten. Aber selbst NATORP muß zugeben (7), daß "trotz der außerordentlichen Luzidität jeder logischen Einzelausführung" dem Leser "ein geradezu logisches Mißbehagen" zurückbleibt. Dieses Mißbehagen führt NATORP darauf zurück, daß das "Reale" bei HUSSERL als ein "fremder, verworfener und doch nicht wegzuschaffender Rest" stehen bleibt. Ich glaube aber gezeigt zu haben, daß dieses logische Mißbehagen im dogmatischen Charakter der ganzen Untersuchung seinen Grund hat. Dieser dogmatische Charakter tritt in der eben festgestellten Gebrauchsweise des Begriffs "ideal" und "Idee" deutlich hervor. Die Untersuchungen des zweiten Bandes, von denen NATORP am Schluß seines Aufsatzes eine Klärung der im ersten Band noch ungelösten Fragen erhofft, lassen den starren Dogmatiker noch mehr hervortreten. Zu den grundlegenden Fragen der Erkenntniskritik nimmt er nirgends in entschiedener und klarer Weise Stellung, und wo er diese Fragen berührt, da zeigt sich überall eine durchaus schwankende Haltung, die auch nicht frei ist von direkten Widersprüchen. Ich setze, um dies zu beweisen, einige charakteristische Stellen her.

23. In § 7 des zweiten Bandes (LU II 19f) erörtert HUSSERL "Das Prinzip der Voraussetzungslosigkeit erkenntnistheoretischer Untersuchungen". Im ersten Absatz ist man zunächst sehr erstaunt, bei einem entschiedenen Gegner des Psychologismus folgenden Satz zu lesen:
    "Soll diese Bestimmung auf den Sinn der Erkenntnis kein bloßes Meinen ergeben, sondern, wie es hier strenge Forderung ist, einsichtiges Wissen, so muß sie sich rein auf dem Grund gegebener Denk- und Erkenntniserlebnisse vollziehen."
Heißt das nicht, ins Deutsche übersetzt, soviel wie die Erkenntnistheorie muß auf psychologischer Grundlage aufgebaut werden? Ja, sie darf, wie die folgenden Worte lehren, das Gebiet des Psychischen gar nicht verlassen.
    "Daß sich die Denkakte gelegentlich auf transzendente oder gar auch nicht existierende und unmögliche Objekte richten, tut dem keinen Eintrag. Denn diese gegenständliche Richtung, dieses Vorstellen und Meinen eines phänomenologischen nicht realisierten Objekts, ist natürlich ein deskriptiver Charakterzug im betreffenden Erlebnis, und es muß sich der Sinn eines solchen Meinens rein aufgrund des Erlebnisses selbst klären und feststellen lassen, ja auf andere Weise wäre dergleichen auch nicht möglich."
Also nur durch eine eingehende Zergliederung der Erkenntnisakte selbst, ohne einen Schritt über das Gebiet des Erlebens hinaus zu tun, kann man, wie HUSSERL glaubt, zu einer Grundlegung der Erkenntnistheorie gelangen. Demgemäß müßte man HUSSERL den Idealisten zurechnen, die die Existenz einer extramentalen Welt für unbeweisbar und zur Begründung der Erkenntnistheorie für überflüssig halten. Zugleich aber müßte man ihn, wenn man ihn hier beim Wort nimmt, zum Psychologisten erklären, denn er betrachtet den Gedanken an transzendente Objekte ja nur als deskriptiven Charakterzug im betreffenden Erlebnis.

Bis daher also wäre HUSSERL erkenntniskritisch den Idealisten im gebräuchlichen Sinn des Wortes und erkenntnistheoretisch den Psychologisten zuzurechnen. Kaum habe ich mir nun durch eine einfache Deutung seiner Worte diese Ansicht gebildet, sehe ich gleich aus den unmittelbar darauffolgenden Äußerungen, wie falsch ich HUSSERL verstanden habe. Es heißt nämlich weiter:
    "Von der Erkenntnistheorie durchaus geschieden ist die Frage nach der Berechtigung, mit der wir von unserem eigenen Ich unterschiedene psychische und physische Realitäten annehmen, was das Wesen dieser Realitäten ist und welchen Gesetzen sie unterstehen, ob zu ihnen die Atome und Moleküle der Physiker gehören und dgl. Die Frage nach der Existenz und Natur der Außenwelt ist eine metaphysische Frage, die Erkenntnistheorie dagegen als allgemeine Aufklärung über das ideale Wesen oder über den Sinn des erkennenden Denkens umfaßt zwar die allgemeine Frage, ob und inwiefern ein Wissen oder vernünftiges Vermuten von Gegenständen möglich ist, die im Denkerlebnis nicht selbst gegeben, also auch nicht in einem prägnanten Sinn erkannt sind, nicht aber die besondere Frage, ob wir aufgrund der uns faktisch gegebenen Daten ein solches Wissen wirklich gewinnen können oder gar die Aufgabe, dieses Wissen zu realisieren." (LU II 20)
HUSSERL bestreitet also, daß die Frage nach der Existenz der Außenwelt, die Frage, ob wir von unserem Ich unterschiedene psychische oder physische Realitäten annehmen dürfen, eine erkenntnistheoretische, oder was für ihn dasselbe ist, eine erkenntniskritische Frage ist. Diese Bestreitung beweist, daß HUSSERL das tiefste Wesen des erkenntniskritischen Problems, ja daß er die wahre Aufgabe der Erkenntniskritik überhaupt nicht erkannt hat. Die Möglichkeit und die Grenzen menschlicher Erkenntnis untersuchen heißt soviel wie fragen, ob wir uns für Immanenz oder für Transzendenz zu entscheiden haben. Diese Frage ist eine kritische und darf durchaus nicht als metaphysische bezeichnet werden, da sie eben die Vorfrage für jede Metaphysik ist, da von ihrer Beantwortung die Entscheidung abhängt, ob Metaphysik überhaupt möglich, ja ob sie überhaupt einen angebbaren Sinn und Inhalt hat. Ergibt die erkenntniskritische Untersuchung, wie der Phänomenalismus will, daß wir über die Immanenz schlechterdings nicht hinaus können und also auch nicht hinaus dürfen, dann haben wir kein Recht, metaphysische Untersuchungen anzustellen. Erst wenn die erkenntniskritische Untersuchung uns gelehrt hat, daß unsere wahren Urteile mit Recht den Anspruch erheben, eine Erkenntnis der von uns unabhängigen Wirklichkeit zu vermitteln, erst wenn die Transzendenz kritisch gerechtfertigt ist, erst dann sind wir berechtigt zu fragen, ob wir die Welt dualistisch oder monistisch, ob wir sie materialistisch oder spiritualistisch deuten sollen. Wenn HUSSERL sagt, die Frage nach der Existenz und Natur der Außenwelt ist eine metaphysische Frage, so vermengt er die Aufgaben von Erkenntnistheorie und Metaphysik in einer durchaus unerlaubten Weise. Die Frage nach der Existenz der Außenwelt gehört in die Erkenntniskritik. Die nach der Natur der Außenwelt ist einerseits Gegenstand der Naturwissenschaft, andererseits der Metaphysik oder Ontologie.

Bei einer derartigen Verwirrung in den Grundproblemen ist es kein Wunder, daß sich HUSSERL gleich in den nächsten Sätzen selbst widerspricht. Die Erkenntnistheorie umfaßt nach ihm die allgemeine Frage, ob und inwiefern ein Wissen oder vernünftiges Vermuten von Gegenständen möglich ist, die im Denkerlebnis nicht gegeben sind. Soll die Rede einen Sinn haben, so können diese Gegenstände nur wirkliche Gegenstände sein, die unabhängig davon existieren, ob sie gedacht werden oder nicht. Die Erkenntnistheorie soll nun entscheiden, ob von solchen Gegenständen ein Wissen möglich ist. Wenn sie diese Frage aufwirft, so setzt sie ja stillschweigend die Existenz solcher Gegenstände schon voraus. Oder sollte HUSSERL wirklich meinen, es könne ein Wissen von Gegenständen geben, bevor man noch weiß, ob diese Gegenstände existieren? Bei einem Scholastiker wie HUSSERL ist zwar alles möglich, aber ich habe ja zu untersuchen, ob seine Behauptungen für den unbefangenen Denker, ob sie ohne dogmatische Voraussetzungen möglich sind. Da muß man aber doch sagen, daß jeder Vernünftige, der ein Wissen von Gegenständen für möglich hält, die Frage nach der Existenz dieser Gegenstände schon entschieden haben muß. HUSSERL setzt also die Existenz von Gegenständen, die er kurz zuvor als metaphysische Frage bezeichnet hatte, bei der Grundlegung seiner Erkenntnistheorie bereits voraus. Dabei betont er aber ausdrücklich, daß seine Erkenntnistheorie jeder Metaphysik vorangehen muß (LU I 224) und versichert, daß die Untersuchungen des zweiten Bandes die Forderung nach metaphysischer Voraussetzungslosigkeit erfüllen werden (LU II 21). HUSSERL bringt es eben zustande, in einem Atem metaphysische Voraussetzungen zu machen und abzulehnen. Er weiß eben nicht, was Metaphysik ist, weil er aus seinem Dogmatismus noch nie herausgekommen ist. Den Skeptizismus, den er (LU I 110f) so energisch bekämpft, hat er eben nicht durch einen Kritizismus überwunden, sondern er stellt ihm einfach seinen Dogmatismus gegenüber.

Wie wenig sich HUSSERL über den metaphysischen Charakter seiner "reinen Logik" im Klaren ist, das zeigt auch die folgende Betrachtung, die er am Schluß des zweiten Bandes anstellt, um gleichsam die Summe aus seinen Untersuchungen zu ziehen.

24. In § 64 (LU II 668f) will HUSSERL darlegen, daß die rein logischen Gesetze als die Gesetze jedes und nicht bloß des menschlichen Verstandes zu betrachten sind. Ich habe diesen von HUSSERL bereits früher in der Kritik des "Anthropologismus" ausgesprochenen Gedanken bereits oben als unhaltbar erwiesen. Allein die von HUSSERL nicht bemerkten metaphyischen Voraussetzngen treten hier viel deutlicher hervor.
    "Daß sich ein sinnliches Material nur in gewisse Formen fassen und nur nach gewissen Formen verknüpfen läßt, und daß die mögliche Verwandlung derselben reinen Gesetzen untersteht, in welchen das Stoffliche frei variabel ist, daß somit auch die ausdrückenden Bedeutungen nur gewisse Formen annehmen, bzw. ihre Formen nur nach vorgeschriebenen Typen umwandeln können, wenn sie ihre eigentliche Ausdrucksfähigkeit nicht verlieren sollen, das alles liegt nicht an den empirischen Zufälligkeiten des Bewußtseinsverlaufs, auch nicht an denjenigen unserer intellektuellen und sei es auch allgemein-menschlichen Organisation. Es liegt vielmehr an der spezifischen Natur der bezüglichen Aktarten, an ihrem intentionalen und erkenntnismäßigen Wesen, es gehört zur Natur gerade unserer individuellen und allgemein-menschlichen Sinnlichkeit, bzw. zur Natur gerade unseres Verstandes, vielmehr zu den Ideen Sinnlichkeit und Verstand überhaupt."
Unter "Ideen" versteht HUSSERL, wie oben gezeigt wurde, nichts anderes als Gattungsbegriffe, die er aber nicht als Resultate einer Abstraktion, sondern als selbständige, gleichsam vor den Einzeldingen bestehende Wesenheiten, als "Universalia ante rem" ansieht. Wer in diesem Sinne Ideen von Sinnlichkeit und Verstand überhaupt hypostasiert [vergegenständlicht - wp], der treibt Metaphysik, so gewiß als auch PLATON Metaphysiker war. Wenn HUSSERL dies nicht merkt und es schlechthin leugnet, daß er Metaphysik treibt, dann beweist er, daß er auf dem Standpunkt des Dogmatismus stehen geblieben und sich noch nicht zum Kritizismus durchgerungen hat.

HUSSERL beansprucht aber für seine reine Logik noch weit mehr. Sie soll nicht nur als Idealgesetz für jeden Verstand gelten, es soll auch der Weltlauf sich nach diesen Gesetzen richten müssen.
    "Wir verstehen nun auch vollkommen, warum der Gedane, als könnte der Weltlauf die logischen Gesetze - jene analytischen Gesetze des eigentlichen Denkens, bzw. die darauf gebauten Normen uneigentlichen Denkens - je verleugnen, oder es müßte und könnte die Erfahrung, der matter of fact der Sinnlichkeit, diese Gesetze allererst begründen und ihnen die Grenzen ihrer Gültigkeit vorschreiben, nichts als Widersinn ist." (LU II 671)
Ich verstehe das zwar nicht, aber HUSSERL versteht es, weil er in den Begriff der "Wahrheit ansich" die Übereinstimmung mit den Sachverhalten dogmatisch hineingelegt hat, und weil ihm die selbständige, vor aller Erfahrung gegebene Existenz der Allgemeinbegriffe eine selbstverständliche Voraussetzung ist. Seine Logik soll aller metaphysischen Voraussetzungen entraten können und dabei doch eine durchaus ontologische Geltung in Anspruch nehmen dürfen. Sind wir da nicht schon bei HEGEL angelangt, dessen Logik selbst schon Metaphysik ist? Aber es kommt noch besser.
    "Gesetze, die keine Tatsachen meinen, können durch keine Tatsachen bestätigt oder widerlegt werden. Das von großen Philosophen so ernsthaft und so tiefsinnig behandelte Problem der realen oder formalen Bedeutung des Logischen, ist also ein widersinniges Problem. Es bedarf keiner metaphysischen und sonstigen Theorien, um die Zusammenstimmung des Laufes der Natur und einer dem Verstand eingeborenen Gesetzmäßigkeit zu erklären; statt der Erklärung bedarf es der bloßen phänomenologischen Aufklärung des Bedeutens, Denkens, Erkennens und der darin entspringenden Ideen und Gesetze."
HUSSERL hat eigentlich von seinem Standpunkt aus ganz recht. Er braucht keine metaphysischen Theorien, weil er in der naivsten Weise die weitgehendsten metaphysischen Behauptungen streng dogmatisch dekretiert. Seine "Idealgesetze", seine "Idee der Wahrheit" erheben den Anspruch nicht nur für jedes menschliche Bewußtsein, sondern für jedes Bewußtsein, ja sogar abgesehen von ihrer Realisierung in einem Bewußtsein "ansich" und "absolut" zu gelten. Damit überschreitet er jede mögliche Erfahrung und behauptet etwas so entschieden Transzendentes, daß man schwer begreift, wie ein Denker des 20. Jahrhunderts, ein Denker, der sich KANT nahe fühlt , sich nicht klar darüber geworden ist, daß das Metaphysik, und zwar eine ganz unberechtigte, geradezu willkürliche Metaphysik ist. HUSSERLs "phänomenologische Aufklärung" klärt nur das auf, was er dogmatisch in die Denkerlebnisse hineingelegt hat, aber nicht das, was für den wirklich voraussetzungslosen Denker tatsächlich darin liegt. Da ich keinen Grund habe, an der persönlichen Aufrichtigkeit HUSSERLs zu zweifeln, so kann ich ihn nur als einen Metaphysiker wider Wissen und Willen, als einen metaphysicien malgrés lui [Metaphysiker gegen sich selbst - wp] ansehen, der sich seines starren Dogmatismus nicht bewußt geworden ist. Wenn also seine Untersuchungen von einem Beurteiler (KARL HEIM) als "bahnbrechende" bezeichnet wurden, so muß ich dieselben in einem schroffen Gegensatz dazu als "bahnsperrend" ansehen. Sie eröffnen nicht neue Wege der Forschung, sie verlegen vielmehr dem voraussetzungslosen Denken den Weg, indem sie dieses von der Erfahrung ausgehende Denken als ein minderwertiges, als ein ganz unzulängliches hinstellen.

25. Ich habe gezeigt, daß HUSSERL trotz der von ihm behaupteten "metaphysischen Voraussetzungslosigkeit" weittragende metaphysische Behauptungen dogmatisch aufstellt. Nicht viel anders steht es mit der psychologischen Voraussetzungslosigkeit, die er an derselben Stelle ebenfalls für die Untersuchungen des zweiten Bandes in Anspruch nimmt (LU II 21). Der zweite Band enthält, wie der Titel besagt "Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie des Erkennens". Was Phänomenologie bedeutet, darüber erhalten wir klaren Aufschluß auf Seite 4:
    "Die reine Phänomenologie stellt ein Gebiet neutraler Forschungen dar, in welchem verschiedene Wissenschaften ihre Wurzeln haben. Einerseits dient sie zur Vorbereitung der Psychologie als empirischer Wissenschaft. Sie analysiert und beschreibt speziell als Phänomenologie des Denkens und Erkennens die Vorstellungs-, Urteils- und Erkenntniserlebnisse, die in der Psychologie ihre genetische Erklärung, ihre Erforschung nach empirisch-gesetzlichen Zusammenhängen finden sollen."
HUSSERL betrachtet also die Phänomenologie als eine Art von kritischer Vorarbeit für die Psychologie. Die Art aber, wie er in den Einzeluntersuchungen vorgeht, zeigt deutlich, daß seine Phänomenologie keine Vorarbeit ist, sondern daß sie ein Teil der Psychologie ist. Er gibt tatsächlich deskriptive Analysen psychischer Phänomene und damit muß ja jede Psychologie beginnen. Die Zergliederung des durch introspektive Beobachtung Gefundenen ist eine wesentliche Aufgabe der Psychologie als Wissenschaft und keine Vorbereitung derselben. Ich kann somit sagen: Was HUSSERL als Phänomenologie bezeichnet, ist nichts anderes, als rein deskriptive Psychologie, bei der der genetische Gesichtspunkt noch wegfällt. In dieser Art von Analyse, das sagte ich schon, vermag nun HUSSERL tatsächlich etwas zu leisten. Hier liegt entschieden seine stärkste Begabung. Man muß es, wie gesagt, bedauern, daß er nicht rein psychologische Untersuchungen anstellt, denn hier vermag er mich, wenn er sich eine genetische und biologische Betrachtungsweise zu eigen machen würde, in der Tat vorwärts zu bringen.

Wenn er es aber unternimmt, die Phänomenologie von der Psychologie gewaltsam zu trennen und es durchaus ablehnt, psychologische Grundlagen für die Logik finden zu wollen, so unterliegt er einer ähnlichen Selbsttäuschung, wie gegenüber der Metaphysik. Er bekämpft den Psychologismus und bleibt dabei immer selbst Psychologist. Wo er untersucht, da ist er tatsächlich Psychologe, und zwar ein sehr beachtenswerter. Wo er aber aus seinen psychologischen Analysen Folgerungen zieht, da ist er, wie er einmal von MILL sagt, "von allen Göttern verlassen". Durch die absichtsvolle Ablehnung des Genetischen hat er sich den Weg versperrt, Wahrheiten zu finden, und statt die Erlebnisse in ihrem Werden zu verstehen, legt er in diese Erlebnisse "Ideen" und "Idealgesetze" hinein, die für ihn schon vor Beginn seiner Untersuchungen dogmatisch feststanden.

26. HUSSERLs Grundlegung der "reinen Logik" ist also weder von metaphysischen, noch von psychologischen Voraussetzungen frei. Er bietet uns genau nach dem Vorbild ANSELMs einen "ontologischen" Beweis für ein bereits früher feststehendes Dogma. Die absolute Geltung der Wahrheit wird nicht aus den Tatsachen, sondern aus dem früher festgestellten Begriff rein dialektisch begründet. Die Grundprobleme der Erkenntnistheorie werden gar nicht berührt; HUSSERL ist so tief im Dogmatismus stecken geblieben, daß er zur Kritik noch gar nicht vorgedrungen ist.

COHENs transzendentale Logik der reinen Erkenntnis hat uns den fruchtbringenden Gedanken gebracht, daß die Logik die Denkmittel und die Methoden der mathematischen Naturwissenschaften benützen muß, um sich zu einer Wissenschaftslehre auszugestalten. Dadurch aber, daß COHEN der mathematischen Naturwissenschaft ihre empirische Grundlage nimmt und uns anweist, aus dem reinen Denken eine Logik aufzubauen, hat er die Früchte seiner Anregung selbst nicht zu ernten vermocht. Wenn ich dies später einmal zum Teil zumindest auf einem anderen Weg versuche, werde ich nicht vergessen, daß COHEN es war, dem ich diese Anregung verdanke.

HUSSERLs Versuch, durch Erneuerung der scholastischen Methode zu einer reinen Logik zu gelangen, ist deshalb als vollständig mißlungen anzusehen, weil er auf dogmatischen Voraussetzungen aufgebaut ist. In negativer Hinsicht aber können wir von HUSSERL das eine lernen, daß es ohne psychologische und ontologische Erwägungen nicht möglich ist, zu einer befriedigenden Erkenntnistheorie zu gelangen.
LITERATUR Wilhelm Jerusalem, Der kritische Idealismus und die reine Logik, Wien und Leipzig 1905
    Anmerkungen
    1) Zur Aufklärung bemerke ich, daß der Grundgedanke meines Buches "Die Urteilsfunktion" in der Darlegung besteht, daß wir die Vorgänge unserer Umgebung nur dadurch zu erkennen, zu unserem geistigen Eigentum zu machen imstande sind, ddaß wir sie als menschliche Handlungen auffassen. Diese von mir "fundamentale Apperzeption" genannte Auffassungsweise hat die Form des Urteils geschaffen und aus ihr kann das Verhältnis von Subjekt und Prädikat klar und verständlich gemacht werden.
    2) Vgl. dazu die treffenden Bemerkungen über die "unbedingte Notwendigkeit" bei Benno Erdmann (Logik I, Seite 375f).
    3) "Urteilsfunktion", Seite 187f. "Einleitung in die Philosophie", zweite Auflage, Seite 91f. - "Lehrbuch der Psychologie", dritte Auflage, Seite 122f.
    4) Selbstverständlich ist dann die Evidenz kein Kritisieren der Wahrheit. Dort, wo Wahrheit ist, kann sich unter günstigen Umständen auch Evidenz einstellen, das heißt nichts anderes, als daß wir Menschen fähig sind, wahre Sachverhalte rein theoretisch als wahr zu erfassen. Eben dies ist in neuerer Zeit mehrfach bestritten worden.
    5) von mir gesperrt.
    6) Wie wenig klar und einheitlich der Gebrauch des Terminus "ideal" bei Husserl ist, das soll folgende Zusammenstellung veranschaulichen. LU I 11 spricht er von Wissenschaften, die es mit der realen Wirklichkeit zu tun haben und bringt dazu die mathematischen in Gegensatz, "deren Gegenstände Zahlen, Mannigfaltigkeiten und dgl. sind, die unabhängig vom realen Sein oder Nichtsein als bloße Träger rein idealer Bestimmungen gedacht sind". Hier sind "real" und "ideal" (von mir gesperrt) so gebraucht, wie wir sonst "wirklich" und "bloß gedacht" einander entgegensetzen. Ähnlich spricht er LU I 212f von einer "idealistischen" Kritik, die er an der bisherigen Logik üben will. Nach LU I 216 ist es wiederum der "fundamentale Sinn der Idealität, daß sich "Ideales und Reales durch eine unüberbrückbare Kluft scheiden" sollen. Für den Idealisten im gewöhnlichen Sinn ist dies ganz unverständlich, da es ja für ihn kein Reales gibt, indem ja alles für real Gehaltene sich als gedacht, also als "ideal" erweist. Husserl verweist an dieser Stelle auf seine Darlegungen über "Einheit der Spezies" (LU II 106f). Dort sieht man deutlich, daß er unter "ideal" das Allgemeine der Spezies versteht, der er eine Art selbständiger und dauernder Existenz zuschreibt. Sagt er doch (LU I 129): "Die Röte aber ist eine ideale Einheit, bei der die Rede von Entstehen und Vergehen widersinnig ist." Deswegen lehnt er auch (LU II 121f bis 173) die "nominalistische" Deutung der Allgemeinbegriffe ab, und ich habe also Recht, wenn ich seine Lehre von den "Ideen" oder Gattungsbegriffen als die der Realisten des Mittelalters bezeichne.
    7) Natorp hat unter dem Titel "Zur Frage der logischen Methode" einen Aufsatz über den ersten Band der LU veröffentlicht in den Kant-Studien, Bd. VI, Seite 270f.