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WILHELM JERUSALEM
Glaube und Urteil
"Die alte Theorie, wonach das Urteil eine Verbindung von Vorstellungen oder von Begriffen sei, darf als überwunden betrachtet werden."

"Der Baum wird im Urteil  der Baum blüht  als etwas selbständig Existierendes, Wirkungsfähiges, als Kraftzentrum betrachtet und damit gewissermaßen aus meiner Vorstellung herausgestellt, objektiviert. Diese Objektivierung vollzieht sich jedoch nicht erst im vollständigen, sprachlich ausgedrückten oder sprachlich gedachten Urteil, sondern ist implizit schon in der Wahrnehmung gegeben. Darum bin ich mit Brentano der Ansicht, daß schon an der sinnlichen Wahrnehmung eines Dinges die Urteilsfunktion beteiligt sei."

"Was ich für das Wichtigste am Urteilsakt halte, das ist eben ein Hineinlegen eines Willens in die durch Vermittlung der Sinne gegebenen Empfindungskomplexe."

"Ich möchte hervorheben, daß nach meiner Meinung jedes Fürwahrhalten eines Urteils, mag es nun Glaube oder Wissen sein, sobald es nur deutlich zu Bewußtsein kommt und mehr ist, als der Urteilsakt selbst, sich als Gefühl kundgibt."

"Streng genommen kann von Wahrheit nur auf dem Boden einer Weltanschauung die Rede sein, in welcher eine vom Denkenden unabhängige Außenwelt angenommen und das Denken als ein von seinem Inhalt verschiedener Akt anerkannt wird."

Seit längerer Zeit mit der Untersuchung des psychologischen Urteilsproblems beschäftigt, habe ich selbstverständlich die betreffende Literatur mit dem größten Interesse verfolgt. Zu meiner Freude sehe ich, daß die Aufmerksamkeit der Denker vielfach auf diesen Gegenstand gerichtet ist. Meine Auffassung des Urteilsaktes, die in meinem bereits 1888 erschienenen Lehrbuch der Psychologie (Wien, 2. Auflage 1890) ausgesprochen ist, hat bis jetzt wenig Beachtung gefunden. Ich finde das begreiflich, da man einerseits in einem Lehrbuch gewöhnlich keine neuen Theorien sucht, während andererseits der enge Rahmen eines solchen ausführliche Begründungen nicht gestattet. Ich behalte mir vor, in einem größeren Werk meine Überzeugung von der Natur und der Entstehung der Urteilsfunktion darzustellen und namentlich die erkenntniskritische Bedeutung derselben in das rechte Licht zu setzen. Da jedoch gehäufte Berufstätigkeit mir nur wenig freie Zeit übrig läßt, so vermag ich leider noch nicht den Zeitpunkt zu bestimmen, wann es möglich sein wird, das Werk der Öffentlichkeit zu übergeben. Es sei mir daher gestattet, vorläufig einen Punkt herauszugreifen und den Versuch zu machen, zur Klarstellung des einigermaßen in Verwirrung gebrachten Verhältnisses zwischen Glaube und Urteil etwas beizutragen.

Die Veranlassung, gerade mit diesem Titel meiner Untersuchung hervorzutreten, finde ich in der Tatsache, daß gerade in neuerer Zeit vielfach die Ansicht ausgesprochen wurde, das wesentliche, charakteristische Moment des Urteilsaktes liege in einem Bewußtsein objektiver Gültigkeit, welches bald Glaube, bald Anerkennung und Verwerfung genannt und bald als Gefühl, bald als Willensakt, von einer Seite sogar als besondere Klasse psychischer Probleme betrachtet wird. Mit großer Energie hat besonders JOHN STUART MILL auf das Element des Glaubens (belief) im Urteil hingewiesen. "Ich weiß nicht, wie es möglich ist", sagt er, "ein Urteil von einem anderen psychischen Prozeß anders zu unterscheiden, als dadurch, daß es ein Glaubensakt ist" (Notes on J. MILL's Analysis I, Seite 342). Ebenso tadelt er HAMILTON, daß er in seiner Darlegung gerade dieses Moment, welches doch das wesentlichste sei, gar nicht berührt und meint: Das Element des Glaubens sei nicht etwa ein hinzukommendes, über das man bei einer Darstellung schweigend hinweggehen könne, gerade dieses Element mache eben den Unterschied zwischem einem Urteil und jeder anderen Tatsache des intellektuellen Lebens aus (Examination of Sir WILLIAM HAMILTON's philosophy, Seite 405) Später sind dann BRENTANO und seine Schule (1) mit der Ansicht hervorgetreten, daß im Urteilen eine eigene Klasse von psychischen Phänomenen vorliege, die ein Vorstellen zwar voraussetze, deren Wesen aber ebenfalls in einem Glaubensakt liege. BRENTANO hat dafür die Ausdrücke "Anerkennen und Verwerfen" vorgeschlagen und damit bekundet, daß für ihn das bejahende und das verneinende Urteil gleich ursprüngliche psychische Akte sind (BRENTANO, Psychologie vom empirischen Standpunkte I, Seite 269f, MARTY, "Subjektlose Sätze" in dieser Zeitschrift, Bd. 8 und 9, HÖFLER und MEINONG, Philosophische Propädeutik, 1. Teil und HILLEBRAND, Die neuen Theorien der kategorischen Schlüsse, Wien 1891). Ferner hat ALOIS RIEHL schon früher in seinem philosophischen Kritizismus (Bd. II, Seite 43ff) und jüngst wieder in dieser Zeitschrift (Bd. 16) eine ähnliche Ansicht ausgesprochen. "Jedes Urteil enthält als seinen Grundbestandteil die Behauptung:  es ist,  diese Behauptung ist die Funktion des Urteilens." Es ist daher nach RIEHL wie nach BRENTANO dem Urteil nicht wesentlich, aus zwei Vorstellungen zu bestehen. Die in seinen "Beiträgen" von RIEHL gemachte Unterscheidung von Urteilen und begrifflichen Sätzen berührt unsere Frage weniger, weshalb wir darauf hier nicht eingehen.

Außer diesen das Urteil direkt betreffenden Untersuchungen begegnen uns in neuerer Zeit nicht selten Erörterungen über die Natur jenes Phänomens, das wir "Glauben" nennen. Namentlich englische und in neuester Zeit amerikanische Psychologen beschäftigen sich damit sehr eingehend. So besonders JAMES in seiner bedeutenden Darstellung der Psychologie (II, Seite 282ff) und M. BALDWIN (II, Seite 7). Der letztere hat noch später im "Mind" (Neue Folge I, Seite 403) das Verhältnis von Glaube, Gefühl und Urteil in höchst beachtenswerter Weise besonders behandelt.

Daß im Urteilsakt ein Element sich findet, welches man als Objektivierung, Projizierung, Bewußtsein objektiver Gültigkeit bezeichnen kann und wodurch sich das Urteilen vom bloßen Affiziertwerden durch Vorstellungen unterscheidet, wird zwar erst in neuerer Zeit energisch betont, allein es ist dies schon in sehr alter Zeit bemerkt worden. Schon PLATO hat es im Theatet, Seite 184 - 187 ausgesprochen, daß das Urteil eine eigene Tätigkeit der Seele ist, worin sie sich selbst mit dem Seienden beschäftigt. Diese Tätigkeit steht über den Sinneswahrnehmungen, welche sie als Stoff benutzt und denen sie erst ihre Gültigkeit ab- und zuspricht. Noch entschiedener haben die Stoiker dieses Moment der Anerkennung betont und dasselbe direkt als Willensakt bezeichnet. Das äußere Objekt affiziert uns und erweckt Vorstellungen in uns, es regt uns zum Urteilen an. Die Zustimmung aber, die Anerkennung des vorgestellten Inhaltes, liegt in uns.

Ebenso haben DESCARTES und SPINOZA im Urteilsakt vorwiegend ein Zustimmen und Jasagen erblickt. Ein Blick in die Geschichte des Urteilsproblems lehrt uns überhaupt, daß zwei verschiedene Arten der Betrahtung unvermittelt nebeneinander hergehen und zwar einerseits die  psychologische,  andererseits die  grammatisch-logische.  PRANTL hat in seiner Geschichte der Logik so einseitig die letztere berücksichtigt, daß er die eben erwähnten Ansichten PLATOs und der Stoiker gar nicht verzeichnet hat. Und doch wird eine allseitig befriedigende Theorie des Urteils nur durch die Berücksichtigung aller jener Elemente gewonnen werden können, die im Urteil gegeben sind. M. BALDWIN hat in dem zitierten Aufsatz im  Mind  mit vollem Recht die Forderung nach einer solchen allseitigen Theorie erhoben, allein es ist bis jetzt, so viel ich weiß, keine Theorie dieser Forderung gerecht geworden.

Die alte Theorie, wonach das Urteil eine Verbindung von Vorstellungen oder von Begriffen sei, darf als überwunden betrachtet werden. Dieselbe beginnt auch bereits aus den Lehrbüchern der Logik zu verschwinden. Wenn nun WUNDT (Logik I, Seite 154f, 2. Auflage) das Wesen des Urteilsaktes nicht in einer Verbindung, sondern in einer  Zerlegung  erblickt, so ist damit entschieden ein großer Fortschritt erzielt. Der beurteilte Vorstellungsinhalt ist jedenfalls vor dem Urteil als Ganzes gegeben und auch das Abschließende des Urteilsaktes, das schon PLATO betont hatte (Sophist, Seite 262), wird dabei festgehalten. Unklar bleibt nun noch die Verbindungsweise von Subjekt und Prädikat, die ja nicht gleichwertige nebengeordnete Teile der Gesamtvorstellung sind, welche durch das Urteil zerlegt wurde und unerledigt bleibt die Frage nach der objektivierenden Bedeutung des Urteilsaktes.

In den besprochenen Ansichten MILLs, BRENTANOs und RIEHLs wird wiederum einseitig das Moment des Glaubens im Urteil betont, die Zweigliedrigkeit geleugnet und damit die gestaltende und gliedernde Funktion des Urteilsaktes verkannt.

SIGWART, dessen Darlegung mir unter den vorhandenen noch immer als die tiefste und gründlichste erscheint, sucht beiden Momenten gerecht zu werden, indem er (Logik I, Seite 98) sagt: "Mit der Ineinssetzung verschiedener Vorstellungen ist das Wesen des Urteils noch nicht erschöpft, es liegt zugleich in jedem vollendeten Urteil als solchem das  Bewußtsein der objektiven Gültigkeit  dieser Ineinssetzung." SIGWART gibt zu, daß der vorgestellte Inhalt  vor  dem Urteil dem Bewußtsein als Ganzes gegeben ist. Er fühlt jedoch das einheitliche Moment des Urteilsaktes zu deutlich heraus, als daß er in der Zerlegung dieses Inhalts die Urteilsfunktion erblicken könnte. Er findet deshalb darin ein "Ineinssetzen", ein Ausdruck, der allerdings noch manches unerklärt läßt, namentlich aber den Gedanken nahe legt, daß die beiden Vorstellungen (Subjekt und Prädikat) vor dem Urteil nebeneinander bestehen. Das Moment des Glaubens bezieht SIGWART auf die Ineinssetzung, also eigentlich auf den Urteilsakt, was viel richtiger und verständlicher ist, als BRENTANOs "Anerkennung" des vorgestellten Inhaltes, die tatsächlich etwas durchaus Unvollziehbares ist. Allein auch SIGWART hat dieses Bewußtsein der objektiven Gültigkeit ebensowenig zergliedert und erklärt, wie die Ineinssetzung und somit für die Psychologie des Urteilens noch viel zu tun übrig gelassen.

Auch BENNO ERDMANNs ausführliche Behandlung des Urteilsproblems hat keine befriedigende Lösung gebracht. ERDMANN betrachtet die prädikative Zerlegung, in welcher er das Wesen des Urteilsaktes erblickt, als eine bloß sprachliche und hat auch über die objektive Bedeutung des Aktes nicht Rechenschaft gegeben. Seine Untersuchungen sind jedoch trotzdem sehr bedeutend und anregend, besonders wegen der vielfach originellen Gruppierung und der sonst oft vernachlässigten wichtigen Unterscheidung zwischen selbständigen und mitgeteilten Urteilen.

Es kann selbstverständlich nicht meine Absicht sein, alle in neuerer Zeit ausgesprochenen Meinungen über das Urteil hier vorzuführen und kritisch zu untersuchen. Ich habe einige der hervorragensten nur deshalb erwähnt, um zu zeigen, daß eine neue Untersuchung der Frage nicht überflüssig ist und daß besonders das Verhältnis von Glaube und Urteil der Klärung bedarf. Bevor ich jedoch daran gehe, finde ich es unerläßlich, meine eigene Auffassung des Urteilsaktes, wie sie in meinem oben zitierten Lehrbuch ausgesprochen ist, mitzuteilen und kurz zu erläutern.

Durch das Urteil wird, meiner Überzeugung nach, der als Ganzes gegebene Vorstellungskomplex dadurch gegliedert und geformt, daß dieser Komplex von unserem Bewußtsein aufgefaßt wird als  Tätigkeit eines Dinges.  Die Vorstellung eines blühenden Baumes, die vor dem Urteil ein ungeschiedenes Ganzes bildete, erscheint nun als diese bestimmte Tätigkeit dieses bestimmten selbständigen Wesens; dadurch erhält der Vorgang auch etwas Abgeschlossenes, Fertiges und darf schon deshalb nicht als Assoziation betrachet werden, in deren Wesen es ja liegt, daß sie sich unaufhörlich weiter spinnt. Das Urteil ist also seinem Wesen nach ein Gestalten und Gliedern. Zum vorgestellten Inhalt wird dadurch nichts hinzugefügt, derselbe wird vielmehr von anderen Vorgängen isoliert und gleichsam für das Bewußtsein erledigt. Wir sind gewissermaßen fertig damit, allein wir haben ihn in die unserem Bewußtsein gemäße Form gebracht und uns ihn so angeeignet. Es ist eine  Deutung  der Sinnesdata, welche wir durch den Urteilsakt vornehmen. Daß wir die Vorgänge der Außenwelt gerade so und nicht anders deuten, dafür finde ich den Grund in unseren eigenen Willensimpulsen, welche uns die ursprünglichste, reichste und stärkste Apperzeptionsmasse liefern, mit welcher wir an die äußere Erfahrung heranzutreten nicht umhin können. Die weitere Ausführung dieses Punktes muß ich meinem größeren Werk vorbehalten.

Zugleich mit der Formung und Gliederung des vorgestellten Inhaltes vollzieht sich jedoch im Urteil auch das, was BRENTANO Anerkennung und die Engländer "belief" nennen. Der Baum wird im Urteil "der Baum blüht" als etwas selbständig Existierendes, Wirkungsfähiges, als Kraftzentrum betrachtet und damit gewissermaßen aus meiner Vorstellung herausgestellt, objektiviert. Diese Objektivierung vollzieht sich jedoch nicht erst im vollständigen, sprachlich ausgedrückten oder sprachlich gedachten Urteil, sondern ist implizit schon in der Wahrnehmung gegeben. Darum bin ich mit BRENTANO der Ansicht, daß schon an der sinnlichen eines Dinges die Urteilsfunktion beteiligt sei. Allerdings führe ich das, wie anderswo zu zeigen sein wird, auf eine unbewußte Wirkung jener eben angedeuteten Apperzeptionsfähigkeit zurück, vermöge welcher wir einen Komplex von Empfindungen als Wirkung eines selbständigen einheitlichen Trägers von Kräften zu deuten gezwungen sind.

Meine Auffassung des Urteilsaktes bringt es mit sich, daß ich die Zweigliedrigkeit als wesentlich für jedes Urteil betrachte. Wie dies namentlich bei den Impersonalien [Sätze ohne bestimmtes logisches Subjekt - wp] durchzuführen ist, darauf will ich hier nicht eingehen, wie überhaupt der Gültigkeitsbeweis meiner Theorie bei den verschiedenen Urteilsarten, der Nachweis, daß die Urteilsfunktionn überall wesentlich dieselbe bleibt, der geplanten ausführlichen Darstellung vorbehalten bleiben muß.

Das Gesagte dürfte genügen, um meinen Standpunkt klarzustellen. Daß ich mit meiner Theorie nicht ganz vereinzelt dastehe, dafür mögen nur einige Belege angeführt werden.

Schon WUNDT spricht (Logik I, Seite 189) einen ähnlichen Gedanken aus: "Die nämliche Gegenüberstellung, die sich vermöge der Unterscheidung des  Aktes  der Apperzeption von ihrem Inhalt in unserem Selbstbewußtsein vollzieht, erneuert sich nun fortwährend an diesem Inhalt selbst." Noch näher steht meiner Auffassung die Äußerung SCHUPPEs (Zeitschrift für Völkerpsychologie, Bd. 16, Seite 272f): "Nur aus unserer eigenen Erfahrung kennen wir zuerst das Verhältnis von Subjekt und Inhärenz (Eigenschaft oder Tätigkeit); nur wie ich mich in einem Zustand finde, mich tätig weiß, nur wie diese Inhärenzen eintreten und Vergehen, das zugrunde liegende Ich sich aber dennoch in allem Wechsel und Wandel als dasselbe eine weiß, nur die Ganzheit und Einheit dieses Ich, welches so vieles in sich birgt, ohne deshalb selbst ein vielfaches zu werden, ist von ursprünglicher und unmißverständlicher Klarheit. Hier macht sich die Eigentümlichkeit der Sache mit so unwiderstehlicher Gewalt geltend, daß das Moment des Begriffes der Zusammengehörigkeit und Einheit zunächst in dieser Gestalt gefunden werden mußte." KROMAN sagt in seiner "Kurzgefaßten Logik und Psychologie", deutsch von BENDIXEN, Seite 172: "Das Wesen des einfachen Satzes ist nämlich das, daß derselbe zu gleicher Zeit trennt und verbindet. Er trennt, indem er gewisse Glieder des Vorstellungsinhaltes als Subjekt isoliert, er verbindet aber auch, indem er das Subjekt als  Ausstrahlungspunkt  der im Prädikat ausgesagten Eigenschaften und Wirkungen auffaßt." Die größte Ähnlichkeit mit meiner Auffassung findet sich aber in GUSTAV GERBERs "Die Sprache und das Erkennen", Berlin 1884, dem ich die meiste Anregung zur Ausbildung meiner Theorie verdanke. Dort wird die formende, gestaltende Bedeutung des Urteilsaktes vortrefflich dargestellt und auch auf die Analogie mit den eigenen Willenshandlungen hingewiesen. "Sol lucet" heißt es bei GERBER Seite 81, "heißt nicht nur, daß es hell sei, nicht nur, daß mit der Helligkeit eine Sonne wahrgenommen werde, sondern eben dies, daß die Helligkeit von der Sonne bewirkt werde, daß sie leuchten tut." Die metaphysischen Folgerungen, die GERBER namentlich in seinem neuesten Buch: "Das Ich als Grundlage unserer Weltanschauung" (Berlin 1892) aus seiner psychologisch so richtigen Auffassung gezogen hat, vermag ich freilich ebenso wenig zu teilen, wie seine Auffassung der allgemeinen Urteile; allein seine Analyse des Urteilsaktes an Hand der Sprachentstehung ist meiner Ansicht nach ein bleibendes Verdienst.

Schließlich möchte ich noch auf die Gedankenverwandtschaft hinweisen, die zwischen meiner und GERBERs Theorie einerseits und dem Begriff der  "Introjektion"  [sensualistische "Hereinnahme" der Welt in den Organismus / Verschmelzung des Ich mit der Objektwahrnehmung - wp] besteht, den RICHARD AVENARIUS in seinem Buch "Der menschliche Weltbegriff" eingeführt hat. Zunächst wüßte ich für meine Ansicht vom Wesen des Urteilsaktes keinen passenderen Namen als den einer Introjektionstheorie. Was ich für das Wichtigste am Urteilsakt halte, das ist eben ein Hineinlegen eines Willens in die durch Vermittlung der Sinne gegebenen Empfindungskomplexe. AVENARIUS gibt auch Seite 36 zu, daß auf einer niedrigen Kulturstufe die Introjektion eines Geistes bei allen Gegenständen der Wahrnehmung stattfinde. Während jedoch AVENARIUS der Meinung ist, daß der natürliche Weltbegriff die Introjektion nicht enthalte und daß durch Ausschaltung der Introjektion die Rückkehr zum natürlichen Weltbegriff möglich sei, so daß die Introjektion sich als eine anthropomorphische Fehlerquelle herausstellt, halte ich im Gegenteil daran fest, daß die Introjektion zum Zustandekommen des natürlichen Weltbegriffs unentbehrlich ist, daß dieselbe ein unausbleibliches Produkt unserer psychischen Entwicklung ist und daß eine Ausschaltung derselben auch auf der höchsten Kulturstufe sich als unmöglich herausstellt. Über diesen Punkt werde ich mich im größeren Werk mit AVENARIUS auseinander zu setzen haben. Hier wollte ich nur auf das Übereinstimmende in den Gedankengängen hingewiesen haben.

Soll nun aufgrund der kurz dargelegten Theorie das Verhältnis von Glaube und Urteil klargelegt werden, so ist es unerläßlich, zuvor festzustellen, was unter Wahrheit des Urteils zu verstehen ist. Ist doch der Glaube nichts anderes, als ein Gefühl, welches das Fürwahrhalten eines Urteils begleitet.

Durch die Urteilsfunktion macht der Mensch den irgendwoher gegebenen Inhalt zu seinem geistigen Eigentum, indem er denselben analog seinen eigenen Willenshandlungen formt und zugleich dadurch objektiviert, daß er ihn als Tätigkeit oder als Zustand irgendeines Dinges auffaßt. Die im Urteil liegende Objektivierung und Herausstellung enthält somit  implizit  den Begriff der Wahrheit in sich, insofern nämlich jedes selbstgefällte und naiv, d. h. ohne Nebenzweck hingestellte Urteil schon in sich den Glauben enthält, daß der im Urteil gedeutete Vorgang wirklich Ausfluß der im Subjektswort zusammengefaßten Kräfte und natürlich auch, daß das im Subjektswort zusammengefaßte Kraftzentrum objektiv vorhanden ist. In diesem Sinne hat JOHN STUART MILL recht, wenn er sagt: "Urteilen und ein Urteil für wahr halten ist dasselbe." Wenn wir sagen, die Wahrheit liege implizit im Urteilsakt, so meinen wir damit: Das, was wir später aufgrund langer Erfahrung im Urteilen Wahrheit nennen, dazu liegen die Keime schon im primitiven Urteilsakt enthalten. Der Bewußtseinszustand und die Beziehung, auf die wir reflektieren, wenn wir den Begriff der Wahrheit bilden, sind im Urteilsakt enthalten. Damit sie aber zum Gegenstand der Aufmerksamkeit gemacht und so zum Begriff erhoben werden können, müssen sie durch besondere Entwicklung zu lebendiger Deutlichkeit gebracht werden. Diese Entwicklung wollen wir kurz skizzieren.

Soll der Begriff der Wahrheit explizit möglich werden, dann muß der Mensch zuvor die Erfahrung gemacht haben, daß manche seiner Urteile durch spätere Erfahrung sich als unrichtig erweisen. Dies mußt besonders häufig in der Weise vorkommen, daß eine Wahrnehmung unrichtig gedeutet wurde oder genauer gesprochen, daß eine spätere Wahrnehmung Anlaß wurde, ein anderes Urteil zu fällen, als es aufgrund der früheren Wahrnehmung geschehen war. Denken wir uns z. B.: Jemand taucht einen Stab schief ins Wasser ein. Aufgrund der Gesichtswahrnehmung fällt er das Urteil: "Der Stab ist gebrochen." Beim Herausziehen merkt er nun, daß der Stab nicht gebrochen sei. Ähnliche Anlässe zur Rektifizierung [Berichtigung - wp] eines früheren Wahrnehmungsurteils müssen sich naturgemäß sehr häufig einstellen. Man deutet ein Geräusch von ferne als das Rauschen eines Wassers und es erweist sich als Sausen des Windes: man glaubt, es donnert und es rollt ein Wagen oder umgekehrt. Namentlich aber muß es vorkommen, daß zwei Personen einen und denselben Vorgang verschieden deuten und diese Deutungen einander gegenüber stellen. Immer wird es dabei geschehen, daß zur Zeit der rektifizierten Deutung auch noch die frühere eigene oder die von anderen vorgeschlagene im Bewußtsein lebendig ist. Es wird sich demnach mit der Rektifizierung eine Zurückweisung der früheren Deutung verbinden. Diese Zurückweisung ist namentlich auf niedriger Kulturstufe gewiß immer mit lebhaften Gefühlen verbunden und zwar mit ums so lebhafteren, je größer und unmittelbarer das Interesse an der richtigen Deutung ist. Der Urteilsakt hat eben wie jeder psychische Vorgang seine  biologische  Bedeutung. Die Erhaltung des Lebens hängt vielfach von der richtigen Deutung der Wahrnehmungwahrnehm.htmlen ab und wird durch eine unrichtige gefährdet. Es wird somit die im Urteilsakt vollzogene Deutung meist praktische Konsequenzen haben und das Handeln bestimmen. Wer also eine solche Deutung zurückweist, der weist eben damit ihre Konsequenzen und zwar vornehmlich diese, zurück und eben deshalb ist diese Zurückweisung ein lebhafter, gefühlswarmer Willensakt. da nun dieser Willensakt auch bei verschiedenen Inhalten der zurückgewiesenen Deutungen wesentlich derselbe bleibt, so wird er eben wegen der ihm innewohnenden starken Gefühlswärme leicht dazu gelangen, in einem eigenen Laut seinen sprachlichen Ausdruck zu finden. Ein solcher sprachlicher Ausdruck liegt nun vor in der  Negation.  Diese ist nichts anderes, als der sprachliche Ausdruck für die Zurückweisung eines Urteils. Jede Verneinung setzt also ein bejahendes Urteil voraus. Nur ein Urteil kann verworfen werden, nicht aber, wie BRENTANO will, eine bloße Vorstellung. Eine solche Verwerfung scheint mir etwas vollkommen Unmögliches. Ja, ich weiß gar nicht, wie ein solcher Gedanke überhaupt entstehen kann und was es für einen Sinn hat: eine Vorstellung verwerfen. Sobald die Vorstellung einmal da ist, ist sie eine nicht aus der Welt zu schaffende Tatsache. Die Vorstellung kann aus dem Bewußtsein schwinden und es kann auch gelingen, durch Hinlenken der Aufmerksamkeit auf etwas anderes dieses Schwinden herbeizuführen. Das ist aber kein Verwerfen der Vorstellung oder des vorgestellten Inhaltes. Das meint auch BRENTANO nicht. Wenn seine Behauptung einen verständlichen Sinn haben soll, so kann man unter Verwerfen eines vorgestellten Inhaltes nur verstehen, diesen Inhalt aus dem Reich des Existierenden verbannen. In dem von BRENTANO gewählten Beispiel "Es gibt keine Gespenster" werden also die Gespenster vorgestellt und dann durch einen Urteilsakt aus dem Reich des Existierenden verbannt. Damit wird aber der vorgestellte Inhalt nicht verworfen, sondern immer nur das Urteil "Gespenster sind etwas Reales, Greifbares" zurückgewiesen. Immer muß die Vorstellung zuerst einer Deutung unterworfen werden und erst diese Deutung kann zurückgewiesen werden. Die Negation ist, wie zuerst SIGWART gesehen hat, ein Urteil über ein Urteil und setzt ein affirmatives Urteil voraus. BRENTANO und seine Schule kümmern sich eben nicht um die genetische Entwicklung der Phänomene. Sie wollen ein Inventar des entwickelten Bewußtseins aufnehmen und vergessen, daß man psychische Tatsachen gar nicht richtig beschreiben kann, wenn man über ihre Entstehung nicht ins Klare gekommen ist. Geleitet vom aristotelischen Satz, daß jeder Bejahung eine Verneinung entgegengesetzt werden kann, nehmen sie eine mögliche logische Hilfsoperation für eine psychologische Urtatsache und betrachten "Anerkennen und Verwerfen" für gleich ursprüngliche Beziehungen des Bewußtseins zum "intentionalen Objekt" Wenn die betreffenden Forscher untersuchen wollen, was vom anerkannten oder verworfenen Vorstellungsinhalt übrig bleibt, wenn man das Moment der Anerkennung und Verwerfung eliminiere, so würden sie wohl sich selbst gestehen müssen, daß dies nicht eine bloße Vorstellung, sondern eben ein Urteil ist.

Sobald die Negation sprachlich fixiert ist, kann es leicht geschehen, daß sich das mit der Zurückweisung verbundene Gefühl durch häufige Wiederholung abstumpft. Dadurch wird die Negation nach und nach zum formalen Urteilselement, das sich zunächst eng mit dem Prädikatsverb oder mit der Kopula verbindet. Die sprachlich ausgedrückte Zurückweisung eines Urteils wird zu einem verhältnismäßig ruhigen Akt des Intellekts. Häufig enthält die Zurückweisung eines Urteils den Antrieb, an die Stelle der falschen Deutung die richtige zu setzen. Wo die Zahl der Deutungsmöglichkeiten eine beschränkte ist, da kann sogar in der Zurückweisung, in der Negation selbst schon ein Hinweis auf die richtige Deutung liegen. In solchen Fällen verschmilzt die Negation leicht mit dem Prädikat zu einem neuen Begriff, der durch häufige Anwendung immer reicher, immer positiver wird. "Unsterblich, unglücklich, ungern, unwillig, ungerecht" sind Beispiele solcher Verschmelzungen. Urteile mit solchen Prädikaten enthalten, wie BENNO ERDMANN (Logik I, Seite 355) richtig zeigt, immer noch die Zurückweisung, allein es liegen darin auch positive Bestimmungen vor.

Daß der Gefühlswert auch der als Urteilselement fungierenden Negation nicht fehlt, das zeigt sich oft schon in der energischen Betonung des "nicht". Daß auch im entwickelten Denken die Zurückweisung kein bloß theoretischer Akt des Intellektes ist, läßt sich an vielen Beispielen zeigen. Wenn JULIA ruft: "Es ist die Nachtigall und nicht die Lerche", so weist sie ROMEOs Deutung des gehörten Lautes zurück, weil die Konsequenz daraus die Trennung wäre und fügt eine andere Deutung hinzu, welche längeres Verweilen gestattet. Der Gefühlswert der Negation ist ferner noch lebendig in Zusammensetzungen wie "Unsitte, Unart", d. h. eine Sitte, eine Art, die nicht sein sollte, die ich nicht mag, die ich zurückweise.

Weitere Ausführungen über negative Urteile gehören in die Logik und man kann aus den betreffenden Abschniten bei WUNDT, SIGWART und BENNO ERDMANN sehen, wie wichtig es auch für die Logik ist, daß die psychologische Natur der Funktionen erkannt werde. Hier genügt das Gesagte, da sich daraus die psychologische Natur des Wahrheitsbegriffes deutlich machen läßt.

Implizit ist, wie gesagt, die Wahrheit, d. h. der Glaube an die Richtigkeit der vollzogenen Deutung in jedem ursprünglich und naiv gefällten Urteil enthalten. Zum Bewußtsein wird aber die Wahrheit erst gebracht, wenn die Erfahrung die Möglichkeit des Irrtums gelehrt und wenn durch sprachlichen Ausdruck die Negation zu einem geläufigen Urteilselement geworden ist. Bei jedem gefällten Urteil wird dann der Gedanke an eine mögliche Zurückweisung oder Negierung sich einstellen und wenn sich das Urteil gegen alle diese Möglichkeiten behauptet, dann stellt sich die Überzeugung ein, daß der tatsächliche Verlauf des Geschehens der getroffenen Deutung entsprechen wird. Erst durch die Zurückweisung der möglichen Negation durch Negierung des Irrtums entsteht im Bewußtsein der Begriff der Wahrheit des Urteils. Die Sprache bildet erst dann ihr "ja" aus, welches die Geltung eines Urteils gegenüber allen Anfechtungen aufrecht erhält. Dieses "ja" bleibt ein vom Urteilsakte selbst verschiedener und auch im Bewußtsein getrennter Ausdruck der Zustimmung, weil eben nicht immer ein Anlass vorliegt, ein Urteil zu verteidigen. Schon darin, daß die Sprache die Bejahung viel weniger reicht ausgebildet und weit weniger eng mit dem Satz selbst verschmolzen hat, zeigt es sich, daß es besonderer Anlässe bedarf, die Wahrheit des Urteils zu Bewußtsein zu bringen.

Die Wahrheit erscheint somit psychologisch als Unanfechtbarkeit, als ein Sich-Behaupten, als ein Verteidigen der vollzogenen Deutung. Was auf diese Weise verteidigt werden kann, ist aber nur das Urteil und deshalb kann nur beim Urteil von Wahrheit die Rede sein. Das bloße Vorstellen, das Fühlen, das Wollen enthält in sich nur die  Tatsächlichkeit,  die nicht angefochten, also auch nicht verteidigt werden kann. Das Urteil aber enthält mehr. Durch die Introjektion eines Willens oder auf höherer Entwicklungsstufe einer Kraft in das Subjekt bekommt der so geformte Vorgang Unabhängigkeit und Selbständigkeit. Das Urteil enthält in sich die Überzeugung, daß der gesamte Vorgang auch bestehen bleibt und daß das im Subjektswort dargestellte Kraftzentrum fortwirkt, mag ich nun ein Urteil darüber fällen oder nicht. Das ist die Bedeutung des Urteilsaktes, das ist das, was wir meinen, wenn wir urteilen. BRADLEY hat in seiner Logik darauf aufmerksam gemacht, daß man bei der Vorstellung den psychischen Akt von dem unterscheiden müsse, was dieser Akt meine oder bedeute. Für die bloße Vorstellung könnte ich diesen Unterschied nicht gelten lassen und müßte BRADLEY, der verlangt, man solle zwischen "an idea as a fact" und "an idea as a meaning" unterscheiden, die Behauptung entgegensetzen: Eine Vorstellung ist nur als Tatsache und nicht als Meinung vorhanden. Das Urteil hingegen ist beides. Als psychologische Tatsache ist es das Formen eines Vorstellungsinhaltes und als Meinung, als Bedeutung ist es ein selbständiger, von der Tatsache des Urteilens unabhängig gedachter, objektiver Vorgang.

Die  Wahrheit  ist nun eine  Beziehung  zwischen diesen beiden Seiten des Urteilsaktes und ist demgemäß schon von Alters her als Übereinstimmung des Denkens mit der Wirklichkeit definiert worden. Durch die erkenntniskritischen Betrachtungen haben sich jedoch dabei große Schwierigkeiten herausgestellt. Namentlich müßte der neukantianische Idealismus am Begriff der Übereinstimmung Anstoß nehmen: wenn das Sein, wie es LECLAIR ["Beiträge zu einer monistischen Erkenntnistheorie", Breslau 1882, Seite 19] formuliert, immer nur gedachtes Sein und das Denken immer das Denken eines Seienden ist, so können immer nur Bewußtseinsinhalte mit Bewußtseinsinhalten verglichen werden; allein die Übereinstimmung dieser gibt nicht den Begriff der Wahrheit. Die Beziehung setz zwei verschiedene Glieder voraus. Sobald eines dieser Glieder eliminiert ist, hört die Beziehung auf, sie wird gegenstandslos. Es gibt für diesen Standpunkt eben nur eine Tatsächlichkeit, aber keine Wahrheit. Man hat versucht, den Begriff der Wahrheit dadurch zu retten, daß man ihn als Denknotwendigkeit faßte. Diese ist aber immer nur eine modifizierte Tatsächlichkeit und keine Wahrheit. Es hat deshalb entschieden etwas für sich, wenn MÜNSTERBERG ["Aufgaben und Methoden der Psychologie", Seite 29] meint, der Standpunkt der reinen Erfahrung liege jenseits von wahr und falsch.

Ebenso vernichtet aber auch der Materialismus den Begriff der Wahrheit, indem er alle psychischen Vorgänge nur als Gehirnfunktionen, also eigentlich als physische Vorgänge aufzufassen gebietet. Auf dem Standpunkt des Materialismus ist das Urteil nichts als ein chemischer Vorgang im Gehirn, also ebenfalls nur eine Tatsache und es kommt eben allen Vorgängen nur Tatsächlichkeit, aber niemals Wahrheit zu. Man könnte vielleicht diesen Standpunkt als diesseits von wahr und falsch bezeichnen.

Der Begriff der Wahrheit kann also nur aufgrund der Weltanschauung bestehen, als welcher er entstanden ist, nämlich aufgrund der Annahme eines extramentalen, vom Urteilenden unabhängigen Geschehens, dessen Gesetze und dessen tatsächlicher Verlauf vom Urteilenden in der dem menschlichen Bewußtsein einzig möglichen Form bestimmt wird. Es sei gestattet, von diesem Standpunkt aus kurz das Wesen der Beziehung, die im Wahrheitsbegriff liegt, zu erläutern.

Die Wahrheit eines Urteils erfährt ihre Bestätigung auf zweifache Art und zwar einerseits durch das Eintreffen der an ein Urteil geknüpften Voraussagen, andererseits durch die Zustimmung der Denkgenossen. Die erstere Bestätigung möchte ich die  objekive,  die zweite die  intersubjektive  nennen. Die objektive Gültigkeit eines Urteils erweist sich also dadurch, daß Voraussagen eintreffen, das heißt aber nur so viel, daß ich mich veranlaßt sehe, diejenigen Urteile zu fällen, die ich erwartet habe. Da ich mir das objektive Geschehen nur in Form von Urteilen zugänglich machen kann, so beschränkt sich die objektive Bestätigung darauf, daß ich voraussage, was für Urteile werden gefällt werden und daß diese Urteile dann wirklich gefällt werden. Sie werden aber - und jetzt kommt der Realismus zu seinem Recht - nicht deshalb gefällt, weil ich sie vorausgesagt habe, sondern weil das im Subjektswert zusammengefaßte Kraftzentrum unabhängig von mir so fortgewirkt hat, wie ich es vermutet hatte, als ich das erste Urteil fällte. Mein Urteil hat also dem wirklichen Verlauf  entsprochen.  Dieser Ausdruck des Entsprechens wird allerdings an die Stelle der überlieferten Übereinstimmung zu setzen sein. Dieselbe drückt aus, daß zwischen dem wirklichen Vorgang und meinem Urteil eine konstante Beziehung herrscht. Die Urteile sind Zeichen, aber nicht Bilder des wirklichen Geschehens, daß sie aber wirklich Zeichen sind und auch eine objektive Komponente enthalten, das wird eben durch das Eintreffen der Voraussagen bestätigt.

Die  intersubjektive  Bestätigung besteht in der Zustimmung der Denkgenossen. Diese wird selbstverständlich nicht jedesmal abgewartet, sondern vielmehr im sprachlichen Ausdruck des Urteils schon vorausgesetzt. Die allgemein in gleichem Sinne gebrauchten Worte sind ja der Niederschlag zahlreicher übereinstimmend gefällter Urteile. Sprechen heißt eben, wie HUMBOLDT sagt, sein eigenes Denken an das allgemeine anknüpfen. Wer aufgrund einer Wahrnehmung sagt: "Es regnet", behauptet damit schon, daß die Sprachgenossen, unter gleiche Bedingungen gestellt, dasselbe Urteil fällen würden und in der Tatsache, daß seine Worte wirklich verstanden werden, liegt schon die Bestätigung dieser Behauptung. Die intersubjektive Bestätigung und Übereinstimmung wird eben wieder nur begreiflich unter der Annahme einer gemeinsamen, von den Individuen selbst unabhängigen Ursache, eines realen extramentalen Vorganges, während der Idealismus zur Erklärung dieser Übereinstimmung die kühnsten Fiktionen herbeiziehen muß.

Die Wahrheit des Urteils ist also eine Beziehung zwischem einem Urteil als psychologischer Tatsache und dem beurteilten Vorgang, welchen eben das Urteil bedeutet. Wir bezeichnen diese Beziehung als ein "Entsprechen" und finden das Eintreten, das Vorhandensein derselben abhängig vom Eintreffen der Voraussagen und von der Zustimmung der Denkgenossen. Die Wahrheit liegt implizit schon in den ersten naiv gefällten Wahrnehmungsurteilen, insofern schon diese psychische Akte sind, die einen Vorgang formen und objektivieren. Damit diese Beziehung jedoch deutlich zu Bewußtsein komme und durch Reflexion zum Begriff erhoben werden könne, dazu ist die Erfahrung des Irrtums notwendige Bedingung. Erst dadurch, daß wir wiederholt in die Lage kommen, die im Urteil vollzogene Deutung zu verteidigen, gelangt das Wesentliche des Wahrheitsbegriffes zu genügender Klarheit. Die Wahrheit wird erst durch das Urteil geschaffen und setzt das Vorhandensein psychischer Vorgänge und einer Außenwelt voraus. Sie ist verschieden von bloßer Tatsächlichkeit und es ist ein schwerer, aber leider nicht seltener Denkfehler, von Wahrheit zu sprechen, wo nur Tatsächlichkeit gemeint sein kann. Es ist logisch ebenso unzulässig, die Wahrheit einseitig durch subjektive psychologisch, wie durch objektive Merkmale zu bestimmen. Die Wahrheit ist weder bloß Denknotwendigkeit, noch bloß objektive Wirklichkeit. Sie ist eine Beziehung und setzt daher unbedingt zwei von einander verschiedene Glieder voraus. Wer eines dieser Glieder als nicht vorhanden betrachtet, hat damit dem Begriff der Wahrheit den Boden entzogen und kann nur mehr von bloßer Tätsächlichkeit sprechen.

Es sei nun gestattet, diesen so klargestellten Wahrheitsbegriff dadurch zu erläutern, daß wir versuchen, den Wahrheitswert der wichtigsten Arten der Urteile, wenn auch nur in aller Kürze, zu prüfen.

Die ersten Urteile, die gefällt wurden, sind zweifellos Urteile, denen als Stoff die sogenannte äußere Wahrnehmung zugrunde liegt. Trotz der mannigfachen Sinnestäuschungen muß man zugeben, daß diesen Urteilen ein sehr großer Wahrheitswert innewohnt. Werden doch die Sinnestäuschungen selbst nur durch andere spätere Wahrnehmungen als solche erkannt. Dabei muß hervorgehoben werden, daß die Sinnestäuschungen, d. h. die unrichtigen Wahrnehmungsurteile, meist durch Gesichts- oder Gehörs-, Geruchs- oder Geschmackswahrnehmungen veranlaßt werden, während die Rektifizierung auf Grund von Wahrnehmungen des Tastsinnes erfolgt. Die hohe Glaubwürdigkeit, die den Tasturteilen zukommt, ist oft hervorgehoben worden, besonders eingehend im Buch von SCHWARZ, "Das Wahrnehmungsproblem". Was wir sehen, kann ein Schein sein; was wir mit Händen greifen, hat für uns tatsächliche "handgreifliche" Wirklichkeit. Der Grund für diese unzweifelhafte Tatsache mag wohl in der innigen Verbindung liegen, welche zwischen Tast- und Bewegungsempfindungen besteht. Bewegungsempfindungen aber sind es, welche schon dem Kind die Vorstellung des Widerstandes vermitteln. Das Hindernis, die Bewegung auszuführen, mag sich schon dem Kind als ein fremdes Etwas darstellen, in welches das Kind einen Willen hineinlegt, der dem seinigen entgegenwirkt. Englische Psychologen, namentlich BAIN, haben vielfach auf diese Entwicklung hingewiesen und in dieser aufgezwungenen Anerkennung eines Hindernisses den Keim des  Dingbegriffs  erblickt. "A thing is an obstacle" lautet der kurze Ausdruck für diese Überzeugung. Aufgrund meiner Urteilstheorie möchte ich den Satz umkehren und sagen: "Ein Hindernis ist ein Ding." was ich als Hindernis, als Widerstand empfinde, das muß ich in Folge der in mir wirkenden Urteilsfunktion als ein wirkungsfähiges, selbständig existierendes Ding fassen.

Tatsache ist es jedenfalls, daß die Glaubwürdigkeit der Sinne durch die Sinnestäuschungen nicht erschüttert wird und Tatsache ist es ebenfalls, daß die aufgrund von Wahrnehmungsurteilen sich einstellenden Erwartungen in der Regel bestätigt werden, sowie daß sie Zustimmung bei den Denkgenossen finden. Wir können also nicht umhin, die Wahrnehmungsurteile im Allgemeinen für wahr zu erklären, ja wir müssen sogar noch weiter gehen und behaupten, daß die Wahrheit der anderen Urteile von ihrer Verifizierbarkeit durch Wahrnehmungsurteile abhängt und daß sie ihre Glaubwürdigkeit daher beziehen. Bei den Erinnerungsurteilen hängt die Wahrheit ohne Zweifel von der Deutlichkeit des Erinnerungsbildes ab. Solche Erinnerungsbilder sind in gewissem Sinne dann den Wahrnehmungen gleichwertig und dieser Umstand mag für HUME der Anlaß gewesen sein, im "belief" nichts anderes zu finden, als ein deutliches lebhaftes Vorstellen.

Den Nachweis, daß auch Begriffsurteile und auch mathematische Urteile ihren Wahrheitswert auf die Glaubwürdigkeit der sinnlichen Wahrnehmung gründen, muß ich für einen anderen Ort aufsparen; allein über die Urteile der sogenannten  inneren  Wahrnehmung möchte ich mir noch einige Bemerkungen erlauben, weil hier meine Auffassung stark von der gewöhnlichen abweicht.

Die Urteile der inneren Wahrnehmung haben, so hören wir häufig, eine unmittelbare und unzweifelhafte Gewißheit, sie sind evident. Dieser Ansicht bin ich nun genötigt auf das Entschiedenste entgegenzutreten. Die psychischen Vorgänge, der Gegenstand der inneren Wahrnehmung, sind allerdings nur in  einer  Weise erlebbar, sie haben keine andere Seinsform, als die, in der wir sie erleben. Sie unterscheiden sich dadurch von den vorausgesetzten Vorgängen in der Außenwelt, zu der in diesem Sinne auch unser Körper gehört. Diesen schreiben wir außer dem Dasein, das sie als Bewußtseinsinhalte führen, noch ein anderes, eigenes, von uns unabhängiges zu. Am Bild, das wir uns von den Vorgängen machen, sind zwei Komponenten, eine objektive und eine subjekte, beteiligt. Die psychischen Vorgänge hingegen erscheinen nicht, sie werden nur in  einer  Weise erlebt. Das ist zweifellos richtig, aber trotzdem müssen wir leugnen, daß die Urteile, in welchen wir eigene Bewußtseinsphänomene beschreiben, in sich die Gewähr der Wahrheit haben. Es ist nämlich etwas ganz anderes, einen psychischen Vorgang erleben und wieder etwas anderes, denselben zu beurteilen. Die Vorgänge können zwar nur in  einer  Weise  erlebt,  aber in  verschiedener  Weise  beurteilt  werden. Die psychischen Vorgänge werden als Tätigkeiten des Ich oder gewisser Teile des Ich, wie des Verstandes, des Gefühles, der Vernunft gedeutet und diese Deutung birgt in sich keine Gewähr der Wahrheit. Es kann ja geschehen, daß ich bei der Beurteilung unrichtig analysiere, daß ferner die sprachliche Bezeichnung den Vorgang nicht richtigt ausdrückt, indem noch eine individuelle Nuance da ist, die in Worten gar nicht ausgedrückt werden kann.
    "Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen?  Spricht  die Seele, so spricht, ach, schon die  Seele  nicht mehr."
sagt SCHILLER sehr treffend. Wie oft spricht man von einem unsagbaren Etwas im Bewußtsein, von einem  nescio quid,  [ich weiß nicht was - wp] einem  je ne sais quio  [ich weiß nicht was - wp] da drinnen und gibt damit selbst die Unzulänglichkeit des Urteils zu. Übrigens liegt eine Fehlerquelle für Urteile der inneren Wahrnehmung schon in der Sprache selbst. Diese ist ja durch sinnliche Eindrücke geweckt und entfaltet worden und sinnliche Vorgänge waren ohne allen Zweifel die ersten, welche sprachlich bezeichnet wurden. Unter der Herrschaft der äußeren Eindrücke hat die Urteilsfunktion endlich im Satz ihre endgültige Form gefunden und nur in dieser Form vermögen wir uns die Außenwelt verständlich zu machen. Diese Form war längst fertig und geläufig, als eine späte Reflexion sich mit dem eigenen Seelenleben zu beschäftigen und dieses zum Gegenstand von Urteilen zu machen begann. Man hat aber nicht nur diese fertige und ausgebildete Urteilsfunktion auf die Vorgänge im Bewußtsein angewendet, man hat auch die sprachlichen Bezeichnungen dafür in den seltensten Fällen neu gebildet, sondern meist Worte für sinnlich wahrnehmbare Vorgänge in übertragenem, bildlichen Sinn auf das Seelenleben angewendet. Im Laufe der Zeiten hat sich allerdings ein kleiner Sprachschatz für seelische Vorgänge gebildet, allein jedermann weiß, wie viel Verwirrung die Bildlichkeit der Termini in der Psychologie angerichtet hat und heute noch anrichtet. Die bilderstürmerische Tätigkeit, welche die moderne Psychologie in Angriff genommen hat, ist noch lange nicht zuende. Man sollte glauben, daß HUME den Glauben an die Substantialität des ICH für immer zerstört hat, allein noch immer erscheinen Bücher, in denen auseinandergesetzt wird, daß das Ich unter allen Dingen das Gewisseste sei und noch immer werden Änderungen und Störungen im Vorstellungs- und Gefühlsleben als Krankheiten oder Änderungen der Persönlichkeit gedeutet.

Die Urteilsfunktion selbst, die ja alle Vorgänge in das Schema von Ding und Tätigkeit bringt, kann der vollkommen substratlosen Natur der psychischen Vorgänge, die niemals ein Sein, sondern immer ein Geschehen darbieten, gar nicht gerecht werden. Wenn man gesagt hat, statt: "Ich denke", müsse man sagen: "Es denkt in mir", so steckt darin ein tiefer Kern von Wahrheit. WUNDT hat am Schluß seiner neu bearbeiteten "Vorlesungen über Menschen- und Tierseele" wahrhaft goldene Worte über diese Eigentümlichkeit der psychischen Phänomene gesprochen und ich möchte nur wünschen, daß dieselben ihre Wirkung tun.

Aus diesen Gründen bin ich nun nicht imstande zuzugeben, daß Urteile der inneren Wahrnehmung eine unmittelbare und unzweifelhafte Gewißheit oder gar die Gewähr der Wahrheit in sich tragen. Im Gegenteil glaube ich, daß wahre Urteile hier nur bei großer Vorsicht und erst nach einiger Übung gewonnen werden können. Man muß alles aufbieten, um die in der Urteilsfunktion liegende Personifikation zu eliminieren und immer wieder betonen, daß man mit dem Urteil nichts anderes wolle, als den Vorgang zu beschreiben, daß ihn der Hörer oder Leser in sich nacherzeugen oder wenn er ihn erlebt, wieder erkennen kann. Erst durch die mit solchen Beschreibungen erzielten Zustimmungen von Denkgenossen und im Eintreffen von Voraussagen liegt auch hier, wie bei anderen Urteilen, die Gewähr der Wahrheit.

Wer den Aussagen über eigene Erlebnisse unbedingte Wahrheit zuschreibt, der verwechselt wieder, wie oben ausgeführt wurde, Wahrheit mit bloßer Tatsächlichkeit. Der Grund für die so vielfach verbreitet Behauptung scheint mir übrigens auch darin zu liegen, daß Urteile über eigene psychische Vorgänge ja von niemandem angefochten werden können. Niemand kann ja, um es recht trivial auszudrücken, in mich hineinschauen und eben deswegen bin ich geneigt, diese scheinbare Unanfechtbarkeit meines Urteils für Wahrheit zu halten. Indessen sind ja, wie bekannt, Selbstttäuschungen gar nicht selten, schon deshalb, weil ja vielfach unbewußte psychische Vorgänge einen wesentlichen Faktor unseres Seelenlebens bilden, der sich der unmittelbaren Beobachtung entzieht, dessen Wirkungen aber auch von mir selbst nachträglich erkannt werden können. Auch ist es nicht einmal richtig, daß meine Urteile über mein Seelenleben vollkommen unanfechtbar sind. Ein Freund, der mich genau kennt, kann gar leich in die Lage kommen, meinen Seelenzustand richtiger zu beurteilen, als ich selbst. Ein so großer Seelenkenner, wie GOETHE schreibt einmal an SCHILLER: "Fahren sie fort, mich mit mir selbst bekannt zu machen," und bestätigt damit gewiß die obige Behauptung.

Die Urteile der inneren Wahrnehmungen sind ebensosehr Objektivierungen und Formungen und Gliederungen eines gegebenen Inhalts und tragen in sich durchaus nicht die Gewähr dafür, daß dieser Inhalt richtig gedeutet ist. Ja, die Gefahr eines Irrtums liegt hier in Folge der substratlosen Natur der psychischen Phänomene noch näher, als bei den Urteilen der äußeren Wahrnehmung. Wahr ist, daß die psychischen Vorgänge unmittelbar erlebt werden und daß ihnen kein von diesem Erlebtwerden verschiedenes Sein zukommt oder anders ausgedrückt, daß sie nicht erscheinen, sondern nur in  einer  Weise vor sich gehen. Die auf sie angewendete Urteilsfunktion verwischt schon an und für sich ihr eigentliches Wesen und kann nur durch sorgsame Elimination jeder Personifikation zur richtiger Beschreibung werden. DESCARTES hatte also nicht das Recht, sein "cogito, ergo sum" als erste und sicherste Wahrheit hinzustellen. Denn sowohl das Ich, als auch das "Denke" und "Bin" sind Produkte, in denen der wirkliche Vorgang den einen, die Urteilsfunktion den anderen Faktor bildet.

Trotzdem aber werden Urteile der inneren Wahrnehmung immer in hohem Grad unsere eigene Zustimmung, werden sie immer Glauben finden, weil sie eben, wie bereits bemerkt wurde, unanfechtbar scheinen. Diese Zustimmung zu einem Urteil ist aber mit der Wahrheit desselben durchaus nicht identisch. Ist es doch gewiß Tatsache, daß vielfach wahre Urteile nicht geglaubt werden, während unwahre Zustimmung finden. Worin besteht nun psychologisch das, was wir Zustimmung, Glaube, Anerkennung nennen? Soviel ist jetzt schon klar, daß dieser psychische Akt sowohl das Urteil, als auch den Begriff der Wahrheit voraussetzt. Wir wollen nun versuchen, die als tatsächlicher Vorgang jedem bekannte Zustimmung zu einem Urteil oder den Glauben an die Wahrheit eines Urteils psychologisch zu analysieren und damit das Verhältnis zwischen Glaube und Urteil klarzustellen.

So wie schon oben bemerkt wurde, liegt ein Akt des Glaubens schon implizit im Urteilsakt selbst. Jedes selbstgefällte Urteil enthält in sich den Glauben an die Richtigkeit der durch dasselbe vollzogenen Deutung. Dieser, ich möchte sagen, embryonale Glaube enthält aber noch gar nichts vom Seelenzustand, den wir im entwickelten Bewußtsein Glaube oder Zustimmung nennen. Damit dieser Zustand entstehe, dazu muß nicht nur die Urteilsfunktion, sondern auch schon der Wahrheitsbegriff ausgebildet sein. Die Wahrheit eines Urteils ist keineswegs Bedingung für den Glauben. Es ist gewiß überflüssig, darauf hinzuweisen, wie viele unwahre Urteile geglaubt worden sind und noch geglaubt werden. Auch macht sich der Glaube am meisten bemerkbar bei Urteilen, denen Phantasievorstellungen zugrunde liegen und bei solchen, die auf Zukünftiges gehen, wo also die Wahrheit des Urteils gar nicht oder noch nicht aufgezeigt werden kann. Man weiß, wie heftig gerade der Glaube an religiöse Dogmen verteidigt und verfochten wurde und gerade da ist es ja fast unmöglich, sich von der Wahrheit der Urteile zu überzeugen. Der Glaube muß also eine andere psychologische Quelle haben und diese scheinen mir die Engländer sehr richtig im  Gefühl  gefunden zu haben.

Der Gegensatz vom Glauben ist nicht Unglaube, sondern Zweifel. Dieser wird ja allgemein zu den Gefühlen gerechnet und so wird auch der Glaube vorwiegend Gefühl sein. Ich sage vorwiegend; denn darüber besteht ja kein Streit mehr, daß die wirklich erlebten Seelenzustände niemals nur aus  einem  elementaren Vorgang bestehen, sondern immer aus Vorstellungs-, Gefühls- und Willenselementen zusammengesetzt sind. Die Benennung und Einordnung geschieht jedoch nach dem vorherrschenden Element und dies ist beim Glauben das Gefühl.

Um Mißverständnissen vorzubeugen, müßte ich noch hervorheben, daß ich hier Glauben nicht etwa im Gegensatz zu Wissen betrachte, sondern darunter vielmehr ganz im Allgemeinen das Fürwahrhalten verstehe, unter welchem Begriff WUNDT [Logik I, Seite 412] Glauben und Wissen zusammenfaßt. WUNDT unterscheidet beide dadurch, daß der Glaube aus Zeugnissen subjektiver, das Wissen aus Zeugnissen objektiver Art hervorgehe. Das subjektive Fürwahrhalten hängt auch nach WUNDT mit Gefühlen zusammen, das objektive, das er Wissen oder Gewißheit nennt, läßt er lediglich aus intellektuellen Momente entstehen. Dem gegenüber möchte ich nun hervorheben, daß nach meiner Meinung jedes Fürwahrhalten eines Urteils, mag es nun Glaube oder Wissen sein, sobald es nur deutlich zu Bewußtsein kommt und mehr ist, als der Urteilsakt selbst, sich als Gefühl kundgibt. Natürlich habe ich dabei nur die psychologische Natur des wirklichen Erlebens im Auge, keineswegs die logische oder erkenntniskritische Berechtigung.

Ich verkenne nicht, daß der Terminus  Glaube  für diese ganz allgemeine Art des Fürwahrhaltens nicht ganz geeignet ist. Das englische "belief" ist besser, weil es nicht so sehr die religiösen Assoziationen weckt, wie unser Glaube; allein da kein passenderer Ausdruck zur Verfügung steht, so will ich das Wort Glaube beibehalten, nur möchte ich bitten, darunter nichts anderes zu verstehen, als ein deutlich bewußtes, d. h. also gefühltes Fürwahrhalten.

Was ist nun Glaube in diesem Sinn? Wodurch wird dieses Gefühl hervorgerufen, das zum Urteil hinzutritt, es durchdringt und eben zu einem fürwahrgehaltenen macht? Dieses Gefühl besteht, wie ich aufgrund der Selbstbeobachtung zu finden glaube, darin, daß ich die im Urteil enthaltene Deutung in Übereinstimmung zu bringen vermag mit meinem sonstigen Denken und Fühlen, daß ich in diesem Urteil streng genommen nur eine Fortsetzung und Weiterführung dessen erblicke, was ich sonst gedacht und gefühlt habe. Der Glaube ist das Gefühl des Zusammenstimmens mit meinem bisherigen Bewußtseinsinhalt, mit meiner bisherigen Weltanschauung. So wie der Zweifel aus dem Widerstreit eines Urteils mit meinem sonstigen Denken entsteht, so ist umgekehrt das Gefühl des Glaubens eine Folge der Übereinstimmung. "Der Glaube ist die Eintracht mit Dir selbst" sagt GRILLPARZER und hat meiner Meinung nach die psychologische Natur des Glaubens sehr treffend charakterisiert.

Wie jedes Gefühl hat auch der Glaube Intensitätsabstufungen und wir wollen durch Betrachtung dieser Seite unsere Theorie erläutern und auf die Probe stellen. Zuvor aber müssen wir auf einen Unterschied im Urteilen aufmerksam machen, auf welchen in ausführlicher Weise zuerst BENNO ERDMANN hingewiesen hat. Es ist der Unterschied zwischen dem psychischen Vorgang, wenn wir aufgrund eigener Wahrnehmung oder eigenen Denkens ein Urteil fällen und wenn wir ein mitgeteiltes Urteil aufzufassen und zu verstehen versuchen.

Jedes selbständig aufgrund eigener Wahrnehmungen oder eigener Vorstellungsverknüpfungen gefällte Urteil enthält, wie oben bereits erwähnt, in sich den Glauben an seine Richtigkeit. Es ist dies nach unserer jetzigen Erklärung noch begreiflicher. Mein Urteil ist ja meine aufgrund meines bisherigen Wissens ausgeführte Tat und ist daher selbstverständlich in Übereinstimmung mit meiner ganzen Persönlichkeit. Allein dieser Glaube bleibt dabei embryonal und kommt nicht selbständig zu Bewußtsein. Auch geschieht es gar oft, namentlich wenn es sich um komplizierte Denkobjekte handelt, daß mir das Urteil zunächst nur als Vermutung, als Versuch, als Frage sich aufdrängt. Wenn dann nun ein solcher Einfall, nachdem er formuliert ist, fortwährend Unterstützung aus meinem Wissensbereich erhält, wenn immer neue Einfälle zuschießen, die den ersten bestätigen, dann wird das Urteil zur Überzeugung, dann kommt die Übereinstimmung mit meinem bisherigen Denken, mit meiner Weltanschauung immer deutlicher zu Bewußtsein und dann gesellt sich zum Urteil das Gefühl des Glaubens, durchdringt es immer mehr und macht es gleichsam zu einem Teil meiner Persönlichkeit. Ich habe diese Vorgänge gerade bei der hier verteidigten Urteilstheorie in reichstem Maße erlebt und bin überzeugt, jeder, der einmal die Lösung eines Problems selbst gefunden zu haben glaubt, wird mir das nachfühlen. Das Gefühl des Glaubens wird dabei allerdings nicht ganz rein zu Bewußtsein kommen, indem sich die davon ganz verschiedene Freude am Gelingen dazu gesellt.

Wesentlich anders stellt sich der Vorgang bei der Auffassung mitgeteilter Urteile. Während ich bei selbständig gefällten Urteilen einen irgendwie gegebenen Inhalt zerlegend forme und gliedere und dabei das Gefühl selbständiger eigener Tätigkeit habe, muß ich bei Auffassung eines mitgeteilten Urteils zunächst synthetisch vorgehen. Es wird von mir verlangt, daß ich den in die Urteilsform auseinander gelegten Inhalt zu einem einheitlichen Bild zusammenfüge und möglichst anschaulich und lebendig vorstelle. Damit ist häufig meine Aufgabe beendet. Namentlich bei Beschreibungen und Berichten über erlebte Vorgänge, die wir hören oder lesen, haben wir die mitgeteilten Urteile dann aufgefaßt, wenn ein anschauliches Bild des geschilderten Vorgangs vor unserem inneren Auge steht. Dabei ist zunächst von Glauben keine Rede, weil ja gar nicht geurteilt, sondern nur vorgestellt wird. Oft ist es jedoch nötig, daß wir den durch die mitgeteilten Urteile gewonnenen Vorstellungsstoff selbst wieder so formen, wie es der Mitteilende in seinem Urteil getan hat. Da entstehen nun die verschiedenen Phasen und Intensitätsstufen des Glaubens, von denen wir oben sprachen.

Die geringste Intensität des Glaubens wird sich da einstellen, wo ich bei Anhörung des Urteils in meinem sonstigen Bewußtseinsinhalt nichts finden, was dem gehörten oder gelesenen Urteil widerspricht. Teilt mir z. B. jemand mit, er sei gestern im Theater gewesen, so werde ich, wenn die Person sonst glaubwürdig und mir als gelegentlicher Theaterbesucher bekannt ist, einfach nicht zweifeln und ihn etwa fragen, wie er sich unterhalten habe. Der Glaube wird einfach darin bestehen, daß ich in meinem Bewußtseinsinhalt nichts finde, was der gehörten Tatsache widerspräche. Dieser  indifferente  Glaube, wie ich ihn nennen möchte, kommt im gewöhnlichen Leben sehr häufig vor. Das Urteil stimmt mit meinem sonstigen Bewußtseinsinhalt überein, insofern es ihm nicht widerspricht; allein es erweckt nicht lebhafte Zustimmung. Es ist wie mit einer Symmetrie, die nicht reich genug zur Geltung kommt. Eine solche Figur, etwa eine Ellipse, in der die beiden Achsen nicht gezogen sind, ist nur insofern symmetrisch, als sie nicht durch Asymmetrie das Auge verletzt, allein das durch Bewegungsempfindungen von mäßiger Intensität hervorgerufene ästhetisch wohltuende Gefühl der Symmetrie stellt sich nicht ein. Die Intensität des Glaubens kommt besonders deutlich dann zu Bewußtsein, wenn wir in die Lage kommen, ein Urteil zu verteidigen oder überhaupt, wenn uns ein Urteil mitgeteilt wird, das mit früher geglaubten im Widerspruch steht. Namentlich wenn die Autorität des Mitteilenden eine große ist, wird die innere Bewegung oft heftig werden. Der Autoritätsglaube, der noch wenig einer psychologischen Analyse unterzogen wurde, scheint mir überhaupt meine Auffassung im hohen Grade zu bestätigen. Der Vater, der für seine jungen Kinder eine Autorität ist, wird bei ihnen unbedingten Glauben finden, weil ihre kleine Weltanschauung ganz über den Haufen geworfen würde, wenn sie an die Richtigkeit der vom Vater gefällten Urteile nicht glauben sollten. Jeder, der für mich Autorität ist, ist es dadurch, daß seine Glaubwürdigkeit, seine Wahrhaftigkeit und seine Urteilsfähigkeit für mich feststeht und zum Inventar meiner Seele gehört. Der Autoritätsglaube erfährt natürlich mit zunehmendem Alter fast bei jedem Menschen Erschütterungen und diese sind bekanntlich oft mit den heftigsten Gemütsbewegungen verbunden. Namentlich in religiösen Dingen, wo der Glaube ja ganz auf Autorität beruht, sind die Änderungen des Glaubens deshalb oft mit so heftigen Gemütsbewegungen verbunden, weil hier eine ganze, in sich geschlossene, reich ausgebildete Weltanschauung zerstört wird. Die Intensität des Glaubens hängt eben auch von der Zahl der Fäden ab, durch welche das zu glaubende Urteil mit meiner sonstigen Persönlichkeit, mit dem, was ich denke und bin, zusammenhängt. Irgendeine einzelne Tatsache kann ich glauben oder auch nicht, ohne daß mein ganzes Gedankensystem bewegt wird. Wo es sich aber, wie in religiösen Dingen, um die ganze Weltanschauung handelt, da ist Glaube und Unglaube gleich intensiv und wird deutlich gefühlt.

Ebenso wird in wissenschaftlichen und politischen Fragen mit viel Intensität geglaubt, weil auch hier eine einheitliche, reich ausgebildete Welt- und Lebensanschauung in Betracht kommt. Hier wird auch eine einzelne Tatsache oder Tatsachengruppe oft den intensivsten Glauben oder Unglauben finden. Auch hier spielt Autorität und Glaubwürdigkeit eine große Rolle. Wir glauben das, was wir in Übereinstimmung bringen können mit dem Ganzen unserer Überzeugungen, alles andere weisen wir meist ab. Neuen Tatsachen gegenüber, die uns mitgeteilt werden, bringen wir, sobald dieselben in unsere Weltanschauung nicht passen, zunächst Zweifel entgegen. Wird dann die Autorität der Mitteilenden immer stärker, so wird der Zweifel schwächer oder er macht wohl einem indifferenten Glauben Platz. Wir können die Tatsachen nicht mehr bestreiten, allein wir glauben sie so lange nicht, als es uns nicht gelingt, dieselben in unsere Weltanschauung oder in die wissenschaftliche Überzeugungen auf diesem Gebiet einzufügen und mit diesen in Einklang zu bringen. Da man psychische Vorgänge nur an selbsterlebten Beispielen schildern kann, so sei mir gestattet, das eben Gesagte an einem solchen Beispiel zu illustrieren.

Die  hypnotischen  Erscheinungen waren für mich, als sie mir gegen das Ende der Siebziger Jahre aus den Schriften der Franzosen und gelegentlichen Zeitungsnotizen entgegentraten, etwas ganz Neues, Unbegreifliches. Eine lange Zeit hindurch verhielt ich mich skeptisch dagegen und betrachtete die Hypnotiseure und die Hypnotisierten als Schwindler und Simulanten. Wie aber das Material immer wuchs, wie ich erfuhr, was Männer wie CHARCOT, RICHEL, BERNHEIM an ihren Kliniken vor vielen Zeugen beobachteten und in streng fachwissenschaftlichen Zeitschriften publizierten, da konnte ich nicht gut an der Wahrheit gewisser Tatsachen zweifeln, allein mein Glaube war ein indifferenter. Ich wäre schwerlich je auf den Gedanken gekommen, eine solche Tatsache psychologisch zu verwerten, d. h. in meine Gedankengänge mischte sich der Hypnotismus nicht, er blieb abseits liegen. Da hatte ich vor einigen Jahren durch die Gefälligkeit eines befreundeten Arztes Gelegenheit, einige Versuche aus eigener Anschauung kennen zu lernen. Da gelang es mir nun bald, diese Tatsachen wenigstens im Allgemeinen in meine psychologischen Überzeugungen einzufügen. Erst von da an fällt es mir nicht mehr ein, an den Tatsachen der Hypnose zu zweifeln und ich bin mir derselben beim Nachdenken über psychologische Fragen immer bewußt, sie gehören, wenn ich so sagen darf, zu meinem psychologischen Inventar. Erst seitdem dies der Fall ist, glaube ich wirklich daran. Als zweites Beispiel möchte ich die Erscheinungen der Telepathie anführen. Hier stehe ich noch immer auf dem Standpunkt der Ablehnung und vermag also die Erscheinungen noch nicht in mein Denken einzubeziehen. Ja, ich muß sagen, daß ich mich durch die bisher bekannt gewordenen Tatsachen auch noch gar nicht bewogen gefühlt habe, den Versuch einer solchen Einfügung zu machen.

Selbstverständlich beabsichtige ich nicht, mit diesen Bemerkungen etwas zur Erklärung der Hypnose oder Telepathie beizutragen, bin auch nicht so unbescheiden, anzunehmen, daß jemanden meine Stellung zu diesen Problemen oder die angedeutete Theorie der Hypnose interessiert. Ich habe die Beispiele nur gewählt, weil mir die dabei erlebten Phasen des Glaubens besonders lebhaft in Erinnerung waren.

Daß der Glaube Intensitätsabstufungen habe, das wußten auch die Religionsstifter sehr gut, denn sie verlangen alle Stärke und Festigkeit im Glauben. Das Fürwahrhalten dessen, was die religiösen Schriften lehren, darf kein indifferentes sein, es muß das ganze Bewußtsein durchdringen und die Weltanschauung des Gläubigen bestimmen. Nur ein solcher Glaube kann Berge versetzen. Nicht zweifeln ist hier viel zu wenig.

Unsere hier vorgebrachte Erklärung des Glaubens wird ferner durch die Tatsache bestätigt, daß Kinder und Ungebildete so leichtgläubig sind. Die Weltanschauung des Kindes ist in keiner Weise fertig. Überall sind da offene Fragen und die darauf erfolgenden Antworten, sowie überhaupt alle dem Kinde mitgeteilten Urteile sind die Bausteine, aus denen sich seine Weltanschauung zusammensetzt. Glauben heißt eben sich aneignen, in seine Gedankenwelt einfügen. Zu Begin des Denklebens wird aber alles Gehörte angeeignet und deshalb geglaubt. Hat sich jedoch ein fester Stock fürwahrgehaltener Urteile gebildet, dann wird nicht mehr jedes Urteil, das einem irgendwie zugemittelt wird, geglaubt, sondern nur diejenigen, die ich mir aneigne, die ich in meine Gedankenwelt einfügen kann, ohne daß sich ein Widerspruch geltend macht oder erst nachdem derselbe zum Schweigen gebracht wurde.

Eine weitere Bestätigung für meine Theorie, daß der Glaube etwas zum Urteil Hinzutretendes sei und daß er im Gefühl der Übereinstimmung bestehe, liefert die Tatsache, daß oft eigene Einbildungen, ja manchmal sogar eigene Lügen geglaubt werden. Wir stellen alles,, was wir vorstellen, existierend vor, auch die Gebilde unserer Phantasie, allein wir versagen den darauf gegründeten Existentialurteilen in normalen Verhältnissen den Glauben. Wir fassen, genauer gesprochen, die vorgestellten Vorgänge nicht als Tätigkeit der unabhängig von uns bestehenden Wesen auf, sondern betrachten sie als Schöpfungen der Phantasie. Je länger wir uns aber damit beschäftigen, je ernster wir sie nehmen, je mehr sie zu einem Teil unseres Ich werden, desto stärker ist der Anlass, diese Phantasie-Erzeugnisse für wirkliche Dinge zu halten. Die vielen mythischen Personen, die Gottheiten, die Dämonen sind auf diesem Weg Gegenstände festen Glaubens geworden. Durch Überlieferung gesellt sich die Autorität dazu und die späteren Generationen glauben an diese Wesen, weil sie ihnen in autoritativ mitgeteilten Urteilen als existierende wirkliche Wesen entgegentreten. Immer aber bleiben es Phantasiegebilde, die nur deshalb für wirklich gehalten werden, weil sie Elemente der Weltanschauung geworden sind. Werden uns nun Tatsachen bekannt, die sich mit der Existenz dieser lieb gewordenen Phantasiegebilde nicht vereinigen lassen, so entsteht der Zweifel, welcher, wie schon das deutsche Wort sagt, eine Entzweiung des Ich herbeiführt. Diese kann mit so heftigen Unlustgefühlen verbunden sein, daß die Vernichtung des Daseins als eine Erlösung erscheint.

Damit der Glaube an Phantasiegebilde ein fester werde, dazu bedarf es vor allem der Zustimmung der Denkgenossen. Nur selten werde ich an meine eigenen Phantasiegebilde glauben, wenn sich bei den Stammesgenossen nicht ähnliche finden und das scheint mir für den Ursprung der Religion von Bedeutung. Die auf Träumen und phantasievollen Deutungen der Naturereignisse beruhenden Göttergestalten konnten schwerlich zum Gegenstand festen und starken Glaubens werden, wenn sie nicht von mehreren in ähnlicher Weise erlebt und durch gegenseitige Mitteilung bestätigt worden wären. Die Religion ist also überall ein Produkt des Zusammenlebens und trägt deshalb sozialen Charakter. Immer aber ist der Glaube nur dann ein fester, wenn das Urteil mit der Persönlichkeit, mit der Weltanschauung des Glaubenden eng verwachsen ist.

Der Glaube an eigene Lügen ist zwar viel seltener, als der an phantasievolle, durch Wahrnehmung nicht zu bestätigende Deutungen von Naturereignissen, allein daß er vorkommt, wird doch mehrfach bezeugt. Die Lüge ist bisher viel mehr vom ethischen Standpunkt betrachtet, als pychologisch untersucht worden. Die Lüge ist ein Urteil, das in der Absicht ausgesprochen wird, um im Hörenden die Vorstellung zu erwecken, die ihn zu unrichtigen Urteilen führen müssen. Die Lüge hat vornehmlich biologischen Charakter und sie wird als ein Mittel betrachtet, sich Lustgefühle zu verschaffen oder Unlustgefühle abzuwehren. Wer nun eine Lüge oft wiederholt und sich dabei so benimmt, als halte er das Lügenhafte für wahr und dieses Spiel längere Zeit hindurch fortsetzt, bei dem geschieht es zuweilen, daß seine Lügen so sehr zum integrierdenden Bestandteil des Ich werden, daß er selbst sie für wahr hält. "Er ward vom Schelm zum Thor mit grauem Haupte, der seine eigenen Lügen endlich selber glaubte," sagt GRILLPARZER von einem berühmten Staatsmann.

Fassen wir nun die Ergebnisse unserer Untersuchung kurz zusammen. Im Urteil machen wir den irgendwie gegebenen Vorstellungsinhalt dadurch zu unserem geistigen Eigentum, daß wir ihn analog unseren eigenen Willenshandlungen formen und gliedern. Wir objektivieren dadurch auch den Vorgang, projezieren ihn, stellen ihn aus uns heraus. In dieser objektivierenden Arbeit der Urteilsfunktion liegen die Keime enthalten, aus denen sich später Wahrheit und Glaube entwickelt. Die Wahrheit eines Urteils ist eine Beziehung zwischem Urteilsakt und beurteiltem Vorgang. Wir bezeichnen diese Beziehung nicht als Übereinstimmung, sondern als  Entsprechen.  Der Begriff der Wahrheit entsteht erst durch Reflexion auf diese Beziehung. Eine solche Reflexion wird aber erst möglich, wenn wir die Erfahrung gemacht haben, daß unrichtige Deutungen, Irrtümer vorkommen und wenn die Zurückweisung solcher Deutungen in der Negation ihren sprachlichen Ausdruck gefunden hat und dadurch zu einem gefühlsfreien formalen Urteilselement geworden ist. Durch Verteidigung der in einem Urteil enthaltenen Deutung gegen mögliche Anfechtungen erhält die Beziehung, welche wir Wahrheit nennen, jene Deutlichkeit, welche gestattet, auf sie zu reflektieren und sie zum Begriff zu erheben. Streng genommen kann von Wahrheit nur auf dem Boden einer Weltanschauung die Rede sein, in welcher eine vom Denkenden unabhängige Außenwelt angenommen und das Denken als ein von seinem Inhalt verschiedener Akt anerkannt wird. Der Idealismus wie der Materialismus können immer nur Tatsächlichkeit, nie Wahrheit finden. Für den Idealismus ist ein wahres Urteil immer nur ein unter Zwang vollzogener, also nur ein psychologisch modifizierter psychischer Vorgang; für den Materialismus besteht es nur insofern, als die es begleitenden physiologischen Vorgänge wirklich sind. Kriterien der Wahrheit sind das Eintreffen der Voraussagen und die Zustimmung der Denkgenossen. Glaube endlich ist das Fürwahrhalten eines Urteils, setzt also sowohl das Urteil, als auch die Wahrheit voraus und kann nie eine bloße Vorstellung zum Gegenstand haben. Implizit ist der Glaube in jedem selbständigen Urteil enthalten. Als deutlich erlebter Bewußtseinszustand ist der Glaube das Gefühl der Übereinstimmung eines Urteils mit der Weltanschauung des Glaubenden. Sätze, wie: "Ich glaube an Gott, an eine Freundschaft, ich glaube nicht an Gespenster" sind nur ein abgekürzter Ausdruck für: Ich halte die Urteile: es gibt einen Gott, eine Freundschaft, für wahr, dagegen das Urteil: es gibt Gespenster, für falsch. Das Prädikat solcher Urteile, denen man in letzter Zeit vielfach die Aufmerksamkeit zugewendet hat, ist der Begriff der Existenz. Die Untersuchung dieses Begriffs und der diesbezüglichen Urteile wird durch die vorstehenden Erörterungen geradezu gefordert. Wir wollen dieselben in einem anderen Artikel vornehmen.
LITERATUR - Wilhelm Jerusalem, Glaube und Urteil, Viertelsjahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 1894
    Anmerkungen
  1. In dem vortrefflichen Aufsatz von W. ENOCH über BRENTANOs Reform der Logik (Philosophische Monatshefte XXIX, 1893, Seite 434f) wird die Schule BRENTANOs die österreichische Schule genannt. Tatsächlich findet sich nun in Österreich eine Anzahl von Denkern, die BRENTANOs psychologische Grundansichten, namentlich seine Lehre vom Urteil zu den ihrigen gemacht haben und in ihren Schriften vertreten. Tatsache ist es ferner, daß diese Philosophen eine Art von Schule bilden, indem sie mehrfach durch persönliche Freundschaft miteinander verbunden sind, einander gegenseitig literarisch aufs Eifrigste fördern und sich auch zu gemeinsamer Abwehr anderer Ansichten verbinden. Es sei jedoch dem gegenüber auch gestattet, darauf hinzuweisen, daß in Österreich auch ROBERT ZIMMERMANN und FRIEDRICH JODL als Hochschullehrer wirken, die beide gewiß nicht zur Schule BRENTANOs gehören. Außerdem beschäftigen sich in Österreich noch viele mit Philosophie, die durchaus nicht im Bann BRENTANOscher Gedankenkreise befangen sind, ja zum Teil sogar seinen Lehren entschieden entgegentreten. Ich nenne nur Prof. Dr. A. von LECLAIR, RICHARD WAHLE, ADOLF STÖHR und schließlich mich selbst. Im Namen aller österreichischen Denker, die nicht zur Fahne BRENTANOs schwören, möchte ich daher gegen die Bezeichnung der Schule BRENTANOs als österreichische Schule Verwahrung einlegen.