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FRANZ BRENTANO
Über die Gründe der Entmutigung
auf philosophischem Gebiet


"Wo Wissen ist, da ist notwendig Wahrheit; und wo Wahrheit ist, da ist Einigkeit: denn es gibt viele Irrtümer, aber nur eine Wahrheit."

"Der Naturforscher beobachtet die Naturerscheinungen und ihre Aufeinanderfolge, sucht zwischen den verschiedenen Fällen Ähnlichkeiten auf und will auf diese Weise allgemeine und unveränderliche Beziehungen der Erscheinungen, d. h. Gesetze ihres Zusammenhangs ermitteln. Was er darunter versteht, wenn er von einer Erklärung von Tatsachen spricht, ist nichts anderes als die Unterordnung einzelner Phänomene unter gewisse allgemeine Tatsachen, deren Zahl er durch weitere und weitere Rückführung auf noch allgemeinere Gesetze fortwährend zu verringern strebt."

"Das Gesetz der allgemeinen Anziehung ist das erweiterte Gesetz der Schwere irdischer Körper. - Allein was ist die Anziehung und was ist die Schwere? Enthüllt uns die Erklärung Newtons das wirkende Prinzip und die innere Weise des Vorgangs? - Keineswegs!"

"Wir sehen verschiedene Erscheinungen regelmäßig aufeinander folgen; wir schließen aus der Regelmäßigkeit auf die Notwendigkeit des Zusammenhangs: aber was, den Erscheinungen zugrunde liegend, diese Notwendigkeit erzeugt, sehen wir nicht, noch erfassen wir es sonst mit einem unserer Sinne."


Euer Exzellenz!
Hohe Versammlung!

Vor wenigen Jahrzehnten würde ein Lehrer der Philosophie beim Eintritt in einen neuen Wirkungskreis sicher darin seine Aufgabe erblickt haben, ein Bild seines besonderen philosophischen Systems vor den Augen seiner Zuhörer zu entrollen.

Vor wenigen Jahren dagegen hätte er es wohl im gleichen Fall vor allem für geboten erachtet, sich über die Methode seiner Forschung auszusprechen: darüber, ob er den menschlichen Geist für fähig halte, durch intuitiv schöpferische Konzeption und durch apriorische Konstruktion ein Gebäude spekulativen Wissens herzustellen, oder ob er, ähnlich dem Naturforscher, keinen anderen Weg zur Wahrheit kenne als den der Beobachtung und Erfahrung; ob er, von kühnem Fittich emporgetragen, das Ganze der Wahrheit mit einheitlichem Blick zu überschauen hoffe, oder ob er sich damit begnüge, Satz um Satz, Wahrheit um Wahrheit im Einzelnen aufzuspüren und zu sichern.

Heute ist die Sachlage abermals verändert. Der Kampf von damals ist ausgestritten; die damals schwebende Frage ist entschieden. Kein Zweifel besteht mehr, daß es auch in philosophischen Dingen keine andere Lehrmeisterin geben kann als die Erfahrung und daß es nicht darauf ankommt, mit einem genialen Wurf das Ganze einer vollkommeneren Weltanschauung vorzulegen, sondern daß der Philosoph wie jeder andere Forscher nur Schritt für Schritt erobernd auf seinem Gebiet vordringen kann.

Aber etwas anderes erregt Bedenken. Es fragt sich, ob auch nur ein solches, bescheideneres Unternehmen gelingen wird, und ob überhaupt Wahrheit und Sicherheit in philosophischen Fragen erreichbar ist.

Es ist unleugbar, daß sich die Philosophie keines großen Vertrauens erfreut. Sehr allgemein betrachtet man das von ihr erkorene Ziel, entweder als verschleiertes Bild durch dessen Hülle kein sterblicher Blick zu dringen vermag, oder als die Lösung eines Knäuels vielverschlungener Fäden die keine menschliche Hand zu entwirren imstande ist. Die Philosophie, glauben die Meisten, sei darum nicht eigentlich den Wissenschaften beizuzählen. Sie ziehen vor, sie der Astrologie oder der Alchemie an die Seite zu stellen. Auch diese nannten sich einst Wissenschaften: jetzt aber gibt es keinen Verständigen, der nicht die ganze Sterndeuterei und die gesamte Goldmacherei mit ihrem Stein des Weisen für ein eitel Hirngespinst erklären würde. Ähnlich jagt dann auch die Philosophie nach Unmöglichem und nach eitlen Phantomen.

In den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts waren die Hörsäle der deutschen Philosophen überfüllt: in neuerer Zeit ist der Flut eine tiefe Ebbe gefolgt. Man hört darum oft, wie bejahrtere Männer die jüngere Generation anklagen, als ob ihr der Sinn für die höchsten Zweige des Wissens mangelt.

Das wäre eine traurige, aber zugleich auch eine unbegreifliche Tatsache. Woher sollte es kommen, daß das neue Geschlecht in seiner Gesamtheit an geistigem Schwung und Adel so tief hinter dem früherer zurückstehen soll?

In Wahrheit war nicht ein Mangel an Begabung, sondern eben jener Mangel an Vertrauen die Ursache, welche die Abnahme des philosophischen Studiums zur Folge hatte. Wäre die Hoffnung auf Erfolg zurückgekehrt, so würde sicher auch jetzt die schönste Palme der Forschung nicht vergeblich winken.

Deshalb glaube ich meine Wirksamkeit an der hiesigen Hochschule nicht besser einleiten zu können als durch eine Betrachtung der Gründe, welche das allgemeine Mißtrauen veranlaßten, und eine Prüfung ihrer Kraft und Berechtigung.

Führen wir uns zu diesem Zweck die vornehmsten unter ihnen in einem raschen Überblick vor.

Wo Wissen ist, da ist notwendig Wahrheit; und wo Wahrheit ist, da ist Einigkeit: denn es gibt viele Irrtümer, aber nur eine Wahrheit.

Blicken wir nun auf die philosophische Welt um uns. Weit entfernt von Einheit und Übereinstimmung der Lehre, finden wir sie vielmehr in eine große Menge von Schulen zerspalten und zerteilt, so daß hier beinahe das Sprichwort: "So viele Köpfe, so viele Sinne", seine volle Bewährung findet.

Und diese Uneinigkeit beschränkt sich keineswegs auf eine Meinungsverschiedenheit in einzelnen, besonderen Fragen. Diese wird auf jedem Gebiet der Forschung bestehen. In der Philosophie betrifft der Streit selbst die ersten und grundlegenden Sätze; die ganzen Systeme stehen einander entgegen und bekämpfen sich mit äußerster Heftigkeit.

Gewiß wird niemand sagen, daß dieser Anblick geeignet ist, unseren Glauben an den wissenschaftlichen Charakter der Philosophie zu stärken. Die Philosophie ist so alt wie irgendein anderer Zweig der Forschung. THALES, dem man die Entdeckung einiger einfacher geometrischer Lehrsätze nachrühmt, wird von ARISTOTELES auch als Vater der Philosophie gepriesen. Wäre die Philosophie eine Wissenschaft, so sollte man meinen, es könne wenigstens heute nach mehr als zweitausendjährigen Forschungen ein solcher Mangel allgemein anerkannter Theoreme nicht mehr in ihr bestehen.

Ferner: Blicken wir aus der Gegenwart in die Vergangenheit zurück. Auch der geschichtliche Verlauf der Philosophie hat etwas, was wenig der Geschichte einer Wissenschaft entsprechen möchte. Die Geschichte jeder Wissenschaft, sollte man meinen, müsse in der Art sich weiter bilden, daß die im Anfang unvollständige Erkenntnis durch die Hinzufügung neuentdeckter Wahrheiten sich mehr und mehr erweitert und so zur vollendeten Wissenschaft auswächst. Eine Wissenschaft setzt nicht in jedem Kopf neu an. Es besteht eine Tradition, ein Erkenntnisschatz, der sich erhält, indem die spätere Zeit die Erbschaft der früheren antritt.

Anders jedoch zeigt sich die Geschichte der Philosophie. Was wäre, das hier feststände und den Wechsel der Zeiten überdauerte und von Philosophen auf Philosophen sich vererbte? Wiederholt finden wir, und gerade noch in der neusten Zeit, einen gänzlichen Umschwung der Systeme; das Folgende tritt zum Vorausgehenden in den entschiedensten und bewußtesten Gegensatz. Auf einen breit angelegten Dogmatismus folgt ein Kritizismus und auf ihn, dessen Zurückhaltung oft ins Skeptische geht, eine absolute Philosophie mit dem Anspruch überschwänglicher Erkenntnis. Wie könnte das eine Wissenschaft, also Wahrheit sein, was sozusagen alle Jahre gänzlich Gestalt und Farbe wechselt, so daß es nicht mehr zu erkennen ist?

Während meiner Studienjahre geschah es, daß ich einem der berühmtesten Historiker unserer Zeit begegnete, der sich auch mit der Geschichte der Philosophie eingehend beschäftigt hatte. Der Eindruck, den ihre Betrachtung in ihm zurückgelassen hatte, war nicht eben ein tröstlicher. Die Geschichte der Philosophie, sagte er, könne man am besten mit einem großen Friedhof vergleichen. Zahllose Monumente seien da zu sehen; das eine ansehnlicher und prächtiger, das andere niedriger und weniger reich geschmückt; aber auf dem einen wie auf dem andern liest man dasselbe traurige "Hic jacet" [Hier ruht ... - wp]. Daß nach solchen Erfahrungen auch für die Zukunft keine Hoffnung bleibt, schien ihm wenigstens außer Zweifel. Und so würde denn die Philosophie überhaupt mit Unrecht einen Platz in der Reihe der Wissenschaften beanspruchen.

Zu derselben Ansicht werden andere auf einem anderen Weg geführt.

Faßt man die Natur der Probleme genauer ins Auge, mit welchem der Philosoph sich zu beschäftigen pflegt, so scheinen sie von ganz anderem Charakter als die der übrigen Wissenschaften. Die Philosophie scheint eine Weise der Erklärung und Ergründung zu erstreben, die für den menschlichen Verstand völlig unmöglich ist.

Gewiß, wenn jemand auf die Erbfolge blickt, welche die Forschung auf dem Gebiet der Naturwissenschaft erzielt hat, so wird er anerkennen, daß hier Leistungen vorliegen, welche eine frühere Zeit ebenfalls für unmöglich gehalten hätte. Das unsichtbar Kleine und das unsichtbar Ferne hat sie sich zugänglich gemacht und auf die Entwicklung längstvergangener Perioden ein Licht geworfen, wie sie andererseits künftige Ereignisse mit Sicherheit vorherbestimmt.

Nichtsdestoweniger ist die Weise der Erklärung, die der Naturforscher anstrebt, eine sehr bescheidene. Er geht niemals darauf aus, in das eigentliche Wesen der Dinge einzudringen. Er verlangt niemals, das innere Wie und Warum eines ursächlichen Zusammenhangs zu ergründen. Er beobachtet die Naturerscheinungen und ihre Aufeinanderfolge, sucht zwischen den verschiedenen Fällen Ähnlichkeiten auf und will auf diese Weise allgemeine und unveränderliche Beziehungen der Erscheinungen, d. h. Gesetze ihres Zusammenhangs ermitteln. Was er darunter versteht, wenn er von einer Erklärung von Tatsachen spricht, ist nichts anderes als die Unterordnung einzelner Phänomene unter gewisse allgemeine Tatsachen, deren Zahl er durch weitere und weitere Rückführung auf noch allgemeinere Gesetze fortwährend zu verringern strebt.

Niemals, auch da, wo die Naturerklärung als eine im höchsten Maß gelungene betrachtet wird, bietet sie mehr als dies.

Der hervorragendste Fall unter allen ist wohl die Erklärung der Himmelserscheinungen durch das allgemeine Gesetz der Gravitation, das NEWTON entdeckte. Aber inwiefern sagen wir, daß der Lauf der Gestirne durch dieses Gesetz erklärt wird? - Es faßt die ganze unendliche Mannigfaltigkeit astronomischer Ereignisse in einer Einheit zusammen: nämlich in der Tatsache, daß die Körper einander anziehen im direkten Verhältnis ihrer Massen und im ungekehrten der Quadrate ihrer Entfernungen. Und diese Tatsache erscheint zugleich nur als Erweiterung einer solchen, mit der wir schon anderweitig vertraut sind; das Gesetz der allgemeinen Anziehung ist das erweiterte Gesetz der Schwere irdischer Körper. - Allein was ist die Anziehung und was ist die Schwere? Enthüllt uns die Erklärung NEWTONs das wirkende Prinzip und die innere Weise des Vorgangs? - Keineswegs! Diese Untersuchung über Wie und Wodurch überläßt der Naturforscher der Spekulation des Philosophen.

Wird nun dieser imstande sein, die Frage zu beantworten? Wird er uns wirklich Aufschlüsse zu geben vermögen, welche den Zusammenhang der Erscheinungen in seiner Notwendigkeit verstehen lassen? - So viel ist sicher: der gemeine Weg der Forschung, wie andere Wissenschaften ihn wandeln, führt nicht dahin. Sollten Beobachtung und Erfahrung zur Lösung der Frage uns den Schlüssel bieten, so müßte unsere Wahrnehmung in das wahre und innerste Wesen der Dinge eindringen und uns seinen Begriff erfassen lassen. Das ist aber nicht der Fall. Wir sehen verschiedene Erscheinungen regelmäßig aufeinander folgen; wir schließen aus der Regelmäßigkeit auf die Notwendigkeit des Zusammenhangs: aber was, den Erscheinungen zugrunde liegend, diese Notwendigkeit erzeugt, sehen wir nicht, noch erfassen wir es sonst mit einem unserer Sinne. Wenn der Philosoph nicht ein anderes Auge hat, für welches dieses Dunkel Licht ist, so wird daher all sein Streben fruchtlos sein. Und nur das etwa mag geschehen, was der Dichter sagt, daß da, wo die Begriffe fehlen, ein Wort zur rechten Zeit sich einstellt.

Es scheint also, wie gesagt, unser philosophisches Streben ein völlig hoffnungsloses zu sein.

Zu den angegebenen Gründen, der Philosophie die Bedeutung einer Wissenschaft abzusprechen, kommt endlich als ein gewichtiges Argument ihre praktische Unfruchtbarkeit.

Jede Erkenntnis, wie auch immer aus bloßem Wissensdrang entsprungen, erweist sich früher oder später auch im Leben nutzbar. Die Untersuchungen, die ARCHIMEDES und APOLLONIUS über die Kegelschnitte anstellten, haben nach vielen Generationen zur Erneuerung der Astronomie geführt; und dies machte die Vervollkommnung der Schiffahrt möglich, so daß CONDORCET mit Wahrheit sagen konnte:
    "Der Seemann, der durch die genaue Beobachtung der geographischen Länge vor dem Schiffbruch gerettet wird, verdankt sein Leben einer Theorie, welche 2000 Jahre früher von genialen Denkern aufgestellt wurd, die auf nichts anderes als auf geometrische Betrachtungen bedacht waren."
Alle Zweige der anerkannten allgemeinen theoretischen Wissenschaft, die Physik und unorganische Chemie ebenso, wie die organische Chemie und Physiologie, sind darum die Grundlage praktischer Bestrebungen geworden. Sie haben durch mannigfache Verbesserungen und Entdeckungen die Medizin und Agrikultur und sozusagen das ganze Leben umgestaltet. Photographie wie Eisenbahn und Telegraph sind ihnen entsprungen.

Man kann daran zweifeln, ob, wie BACON wollte, in der Erweiterung der Macht des Menschen das einzige oder auch nur das höchste Ziel wissenschaftlichen Strebens liegt: daß aber das Wissen eine Macht ist, das steht unerschütterlich, nicht bloß innerhalb des Kreises der Gelehrten, sondern für jeden Gebildeten fest.

Nur die Philosophie scheint sich nicht in ähnlicher Weise als eine Macht bewähren zu wollen.

Wohl haben manche philosophischen Ideen am Ende des vorigen Jahrhunderts mächtig das französische Volk ergriffen und zu gewaltigen Katastrophen geführt. Aber, wie man auch über sie und ihre Folgen urteilen mag, sicher wird kein Verständiger in ihnen eine ähnliche Bewährung der Philosophie erblicken, wie andere Wissenschaften sie in der Praxis gefunden haben Was immer für Änderungen eingetreten sind, die Erwartungen welche die begeisterte Bewegung der Massen hervorriefen sind nicht in Erfüllung gegangen. Das aber ist nicht wahrhaft eine Macht, was zwar große Wirkungen, aber nicht die gewollten Wirkungen hervorbringt. Von großem Einfluß kann oft auch ein Irrtum sein, und es wird demnach hierdurch die philosophische Spekulation in nichts als ein Wissen gekennzeichnet.

Also die Philosophie hat allein unter den abstrakten Wissenschaften sich nicht durch praktische Früchte bewährt. Wäre dies der Fall, so wäre der allgemeine Zweifel an ihr auch nicht möglich. Aber er ist möglich, denn er ist wirklich. Und sein wirkliches Bestehen scheint somit selbst schon seine Berechtigung darzulegen.

Dies etwa sind die vorzüglichsten Ursachen, aus welchen das allgemeine Mißtrauen gegen die Philosophie als Wissenschaft entspringt: Mangel allgemein angenommener Lehrsätze; gänzliche Umwälzungen, welche die Philosophie ein um das andere Mal erleidet; Unerreichbarkeit des angestrebten Ziels auf dem Weg der Erfahrung; und Unmöglichkeit der praktischen Verwertung. - Wer könnte leugnen, daß diese Tatsachen gewichtig und wohl geeignet sind, das Urteil zu bestimmen?

Dennoch gelingt es uns vielleicht zu zeigen, daß die erbrachten Gründe nichts oder daß sie zumindest nicht so viel beweisen, als man daraus zu folgern geneigt ist.

Wenn wir die verschiedenen allgemeinen theoretischen Wissenschaften, die Mathematik, die Physik, die Chemie, die Physiologie, nebeneinander stellen: so finden wir, daß sie eine Reihe bilden, in welcher jedes frühere Glied abstrakter als das nachfolgende ist. Der Gegenstand der später genannten Wissenschaft ist verwickelter und zwar in der Art, daß die Phänomene, die Gegenstand der früher genannten sind, sich bei ihr durch neue Elemente und Bedingungen komplizieren. Hieraus folgt, daß jede später genannte Wissenschaft von der früher genannten abhängig ist, während das Gegenteil nicht oder doch nur in einem ungleich geringerem Maß der Fall ist. Und eben deshalb wird die später genannte in ihrer Entwicklung langsamer sein, und wenn man den jeweiligen Grad ihrer Vollkommenheit mit demjenigen vergleicht, welchen eine früher genannte zu derselben Zeit erreicht hat, so wird sie um ein Bedeutendes Zurückgeblieben erscheinen.

Dies lehrt die Geschichte der Wissenschaften auf das Deutlichste. Mathematische Entdeckungen hatten schon die Griechen in reicher Fülle aufzuweisen. In der Physik begründete zwar ARCHIMEDES den einfachsten Teil, die statische Mechanik; aber alle weiteren nennenswerten Erfolge blieben der Zeit GALILEIs und den darauf folgenden Jahrhunderten aufbewahrt. Die eigentlich wissenschaftliche Chemie wiederum ist um Vieles jünger als die Physik; LAVOISIER, der bekanntlich als ein Opfer der französischen Revolution gefallen ist, wird gemeinhin als ihr Gründer betrachtet. Und die festere Gestaltung einer wissenschaftlichen Physiologie gehört erst unserem Jahrhundert an. Auch steht sie unverkennbar in ihrer Entwicklung heute noch weit hinter der Chemie, so wie diese hinter der Physik zurück. Und die Physik kann sich ebenso mit den mathematischen Wissenschaften nicht entfernt an Vollommenheit vergleichen.

Es ist nun klar, daß, wenn es Phänomene gibt, die sich ähnich zu den physiologischen, wie diese zu den chemischen und die chemischen zu den physischen verhalten: die Wissenschaft, welche sich mit ihnen beschäftigt, sich in einer noch unreiferen Phase der Entwicklung finden muß. Und solche Phänomene sind die psychischen Zustände. Sie begegnen uns nur in Verbindung mit Organismen und in Abhängigkeit von gewissen physioogischen Prozessen. Somit ist es offenbar, daß die Psychologie heutzutag, wo sogar die Physiologie noch relativ geringe Fortschritte gemacht hat, nicht über die ersten Anfänge ihrer Entwicklung hinausgeschritten sein kann, und daß in einer früheren Zeit, abgesehen von gewissen glücklichen Antiziationen, von einer eigentlich wissenschaftlichen Psychologie gar nicht geredet werden konnte.

Mit der Psychologie steht aber die Gesellschaftswissenschaft, sowie auch alle übrigen Zweige der Philosophie in Zusammenhang. Werden sie ja nur darum zu einer Gruppe zusammengefaßt, weil ihre Forschungen untereinander durch die engsten Beziehungen verknüpft sind.

Wir sehen also wohl, daß die Philosophie, auch dann, wenn es ihr an der Fähigkeit zu wahrer wissenschaftlicher Entfaltung nicht fehlen sollte, heutzutage unmöglich einen hohen Grad an Entwicklung erreicht haben kann; daß man also aus ihrem gegenwärtigen, zurückgebliebenen Zustand keineswegs den Schluß ziehen darf, daß ein wissenschaftlicher Fortschritt in ihr überhaupt unmöglich ist und somit ihre Forschungen nicht wahrhaft den Namen wissenschaftlicher Bestrebungen verdient.

Wenn nun aber der unvollkommene Zustand, in welchem sich die Philosophie befindet, zu einem solchen Schluß nicht berechtigt, so dürften auch alle die Gründe, welche, wie wir sagten, das Mißtrauen und die tiefe Entmutigung für philosophische Forschungen erzeugten, nichts gegen den wissenschaftlichen Charakter der philosophischen Aufgaben beweisen, da sie sich leicht als Folgen dieser Tatsache begreifen lassen.

Man sagt: Jede allgemeine Wissenschaft trägt die Früchte für das Leben. Die Philosophie aber tut es nicht. Also ist sie keine Wissenschaft. - Allerdings trägt jede Wissenschaft praktische Früchte; aber erst dann, wenn sie den Zustand einer gewissen Reife erreicht hat. Die großen praktischen Leistungen der Physik gehören mit geringen Ausnahmen der modernen Zeit, die der Chemie dem gegenwärtigen Jahrhundert an; die Physiologie aber beginnt sozusagen erst in unseren Tagen die Heilkunst neu zu gebären. Die praktischen Früchte, welche die Philosophie, nach meiner Überzeugung, mit aller Sicherheit zu bringen berufen ist, kann also offenbar der heutige Tag nicht brechen.

Man sagt weiter, die Weise der Erklärung und Ergründung, nach welcher der Philosoph verlangt, sei von ganz anderer Art als die, welche der Naturforscher anstrebt. Der Philosoph wolle in das innere Was und Wie der Dinge eindringen, zu welchem Beobachtung und Erfahrung keinen Zugang besitzen. - Wir antworten: Auch dies ist nur die Folge des zurückgebliebenen Zustandes der Philosophie. Es ist ein Zeichen davon, daß sie über die Grenzen möglicher Erkenntnis und über die richtige Weise, in welcher sie ihre Fragen zu stellen hat, sich vielfach noch nicht klar geworden ist. Auch auf anderen Gebieten des Wissens war einst Ähnliches der Fall. Nicht immer setzte sich der Naturforscher die bescheidene Aufgabe, die einzelnen Vorgänge in der Körperwelt als Fälle allgemeinerer Tatsachen zu begreifen. Im Gegenteil ging er vor Zeiten selbst darauf aus, die innersten Kräfte der Natur als das was sie sind und in der Weise wie sie wirken zu verstehen. Erst sehr spät und allmählich ist er dazu gelangt, sich von solchen Versuchen zurückzuziehen und sie dem Philosophen zu überweisen. Mehr und mehr gesellte sich dann zu diesem Verzicht ein mitleidiges oder auch wohl ein spöttisches Lächeln. Der Naturforscher war sich darüber klar geworden, daß die Grenzen, die er in dieser Weise seiner Forschung steckte, zugleich diejenigen sind, welche die Natur selbst hier dem Streben der Wissenschaft gesetzt hat. Nur der zurückgebliebene Zustand der Philosophie hat es aber verschuldet, daß die Philosophen sich nun wirklich häufig dieser Fragen bemächtigten. Sie hätten sonst nicht bloß dieses Danaergeschenk zurückgewiesen, sondern auch auf ihrem eigenen Gebiet in analoger Weise die Forschungen nach dem inneren Wesen der Vorgänge als etwas Unmögliches aufgegeben. Sie hätten, wie der Naturforscher für die physischen, für die psychischen Phänomene aus der Beobachtung einzelner Tatsachen allgemeine Gesetze festzustellen gesucht und dann, durch die Verknüpfung der einzelnen Erscheinungen mit diesen allgemeinen Gesetzen, gewisse Vorgänge zu erklären und andere vorauszubestimmen gestrebt. Und ebenso wären sie auf dem Gebiet der Metaphysik darauf ausgegangen, allgemeinere, für das Gebiet der physischen wie psychischen Phänomene und so für das Ganze des Universums gleichmäßig geltende Wahrheiten aufzufinden. Auch sie hätten es sich an der relativen Erkenntnis genügen lassen, und sich nicht mehr durch den Anspruch auf absolute Erkenntnis in das Gebiet des völlig Unbegreiflichen verstiegen. An großen und reichen Aufgaben würde es der Philosophie nach einer solchen Klärung und Reinigung ihres Strebens sicher ebensowenig wie der Naturwissenschaft gefehlt haben.

Wir haben als Grund des Mißtrauens gegen die Philosophie auch angeführt, daß sie nicht in derselben Weise wie andere Zweige der Forschung eine stetige wissenschaftliche Tradition aufweist; daß noch die allerneueste Zeit gänzliche Umwandlungen gesehen hat, indem sich das folgende System in einem schroffen Gegensatz gegen das vorangegangene erhob.

Auch dies erklärt sich unschwer aus der langsameren Entwicklung, welche der Philosophie im Vergleich mit anderen Wissenschaften zukommen mußte.

Einmal gewinnt jede wissenschaftliche Forschung erst in ihrem weiteren Verlauf einen gewissen festeren Bestand. Erst wenn sie zum breiten Strom geworden ist, besitzt sie ein unwandelbares Bett; vorher geschieht es wohl, daß sie sich wie der Gießbach im Gebirge im neuen Frühjahr eine neue Bahn wühlt. Die verschiedensten Hypothesen tauchen auf und verschwinden, indem sich die eine so unhaltbar wie die andere zeigt.

Andererseits ist jede Wissenschaft in unreiferen Phasen am meisten der Gefahr ausgesetzt, auch das bereits Gewonnene wieder zu verlieren. Sie gleicht dem zarten Organismus des Kindes, welcher leichter als der zu voller Kraft erwachsene einer Störung und Krankheit erliegt. So zeigt dann in der Tat die philosophische Forschung nicht bloß eine geringere Entwicklung als andere Wissenszweige, sondern auch einen öfteren und tieferen Verfall.

Vielleicht ist auch die jüngstvergangene Zeit eine solche Epoche des Verfalls gewesen, in der alle Begriffe trüb ineinander schwammen, und von sachentsprechender Methode nicht eine Spur mehr zu finden war. Der rasche Auf- und Niedergang entgegengesetzter Systeme wird uns in diesem Fall nicht mehr befremden können.

Die Gegenwart ist aber dann wohl eine Zeit des Übergangs von jener entarteten Weise des Philosophierens, zu einer naturgemäßeren Forschung. In einem solchen Augenblick werden die philosophischen Ansichten natürlich am meisten auseinandergehen. Die Einen stehen noch ganz unter dem Einfluß der letzten Systeme; Andere suchen in früheren Zeiten Anknüpfungspunkte; wieder Andere beginnen völlig neu, indem sie sich von fortgeschritteneren Wissenschaften Winke für die Methode entnehmen; und die Allermeisten stellen in verschiedenen Verhältnissen Mischungen von alten und neuen Elementen dar. So erklärt sich dann vollkommen auch jener chaotische Widerstreit der philosophischen Ansichten in unserer Zeit, der vielleicht mehr als alles Andere das Ansehen der Philosophie in den weitesten Kreisen zu untergraben dient, und den ich darum vor allen anderen als Grund des herrschenden Mißtrauens hervorgehoben habe.

Ich habe nun in rückläufiger Ordnung die früher erwähnten Einwände, einen um den anderen, in ihrer Tragweite geprüft; und ich habe gefunden, daß keiner etwas Weiteres erschließen läßt, als daß die Philosophie noch nicht in so vollkommener Weise wie andere allgemeine Disziplinen als Wissenschaft gegründet ist. Ich sehe also hieraus, in welchem Sinn etwa das Mißtrauen gegen die Philosophie berechtigt ist und in welchem nicht.

Es ist berechtigt, insofern der Philosoph heutzutage nicht bloß in einem geringeren Umfang, sondern gewöhnlich auch mit geringerer Sicherheit und Schärfe die ihm zufallenden Fragen beantworten kann als ein anderer Forscher die Fragen seines Gebietes.

Es ist aber nicht berechtigt, wenn es so weit führt zu glauben, daß die Philosophie nur nach Phantomen jagt; daß sie Ziel verfolgt, zu denen kein Weg und kein Steg führt und die für alle Ewigkeit unerreichbar und unnahbar sind. Wie sie auch immer manchmal ihre Grenzen verkannt haben mag: es bleibt ihr ein Kreis von Fragen, auf deren Beantwortung nicht verzichtet werden muß und, im Interesse der Menschheit, nicht verzichtet werden kann. Sie hat darum ohne Zweifel eine Stelle unter den Wissenschaften auszufüllen, und eine Zukunft bleibt ihr gesichert. Jene Entmutigung also, die in unseren Tagen nur allzuweit um sich gegriffen hat, erweist sich als eine völlig unbegründete.

Ja, ich darf sogar mehr sagen als dies. - Wenn irgendeine Zeit Ursache hatte, auf einen glücklichen Erfolg der philosophischen Forschungen zu hoffen, so gilt dies von der unsrigen. Gerade der Blick auf die Naturwissenschaften, deren schönere und fruchtbarere Entfaltung beim ersten Ansehen den Philosophen verzagen lassen möchte, dient hierfür zum Beweis. Die Wissenschaften sind wie Pflanzen, von denen, ihrer Art und Natur nach, die eine früher als die andere grünen und blühen muß. Solange die Naturwissenschaft und jede ihrer Unterarten nicht reiche Knospen getrieben hatte, war für die Philosophie die Zeit des Frühlings noch nicht gekommen. Nun aber, da selbst die Physiologie kräftiger zu sprossen beginnt, fehlt es nicht mehr an den Zeichen, welche auch für die Philosophie die Zeit des Erwachens zu einem fruchtbringenden Leben ankündigen. Die Vorbedingungen sind gegeben: die Methode ist vorbereitet; die Forschung ist vorgeübt.

So scheint dann, wenn nicht alles trügt, das Verzagen in unserer Zeit nicht unähnlich dem der Gefährten des KOLUMBUS zu sein, die gerade dann die Hände hoffnungslos sinken lassen wollten, als das ersehnte Land im Begriff war, vor ihnen aus dem Meer emporzusteigen.

Und noch etwas anderes zeigt sich, weshalb gerade in unseren Tagen am wenigsten der Mut erschlaffen darf. Es ist das wachsende Bedürfnis nach Philosophie.

Mag auch die Philosophie mehr von den Naturwissenschaften abhängen als umgekehrt, so ist doch hier wie überall, wo sich Wissenschaften berühren, zugleich die entgegengesetzte Beziehung nicht ausgeschlossen. Psychologisches und Physiologisches stehen in Wechselwirkung; uns so hört man sehr häufig gerade die eifrigsten Vorkämpfer des Fortschritts in der Physiologie, wie z. B. HELMHOLTZ in seiner physiologische Optik, über den zurückgebliebenen Zustand der Psychologie Klage führen, der sie in der Lösung der wichtigsten Probleme aufhält. Und auch auf die Probleme der Metaphysik, wie auf die Frage über das allgemeine Kausalgesetz und seinen etwaigen apriorischen Charakter, sieht man die Naturforscher eingehen, und andere ihrer Untersuchungen, wie z. B. die über das Gesetz der Wechselwirkung der Naturkräfte, führen sie bis hart an die Schwelle der höchsten metaphysischen Fragen.

Mit dem wissenschaftlichen Bedürfnis verbindet sich zugleich das praktische. Die sozialen Fragen treten in unserer Zeit mehr als in jeder früheren in den Vordergrund. Das Bedürfnis nach einer befriedigenderen Lösung erweist sich dringender als irgendeine Verbesserung der Gesundheitspflege, der Landwirtschaft oder des Verkehrswesens. Aber offenbar gehören die sozialen Erscheinungen, und kein anderes Wissen kann hier als ordnende Macht zu Hilfe gerufen werden als die Kenntnis der psychischen Gesetze, also das philosophische Wissen. Auch dieser Umstand hat in unseren Tagen schon mehr als einen hochdenkenden Mann, dem das Wohl der Menschheit am Herzen lag, dazu bestimmt, sich ernst und sorgfältig mit psychologischen Untersuchungen zu beschäftigen.

Darum hoffe ich auch mit Zuversicht, daß die Ebbe im philosophischen Studium, die bei der deutschen Jugend eintrat, wie sie bereits heute nicht mehr den äußersten Stand ihrer Tiefe zeigt, bald wieder in einer neuen Flut aufgehoben erscheint. Und die deutschen Jünglinge Österreichs, begünstigt von einer Regierung, deren Weisheit den Wert der Wissenschaft erkennt und nach jeder Seite und mit allen Mitteln sie zu fördern sucht, werden in diesem edlen Streben hinter ihren Brüdern in anderen Gauen gewiß nicht zurückbleiben wollen.
LITERATUR - Franz Brentano, Über die Gründe der Entmutigung auf philosophischem Gebiet [gehalten beim Antritt der philosophischen Professur an der k. k. Hochschule zu Wien am 22. April 1874] Wien 1874