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Die Aufgabe einer Psychologie der Deutung [als Vorarbeit für die Geisteswissenschaften]
I. Die Voraussetzungen und der Begriff der Deutung Vom menschlichen Geistesleben ist uns nun aber unmittelbar nur unser eigenes gegeben. Nur von unseren Gedanken, Gefühlen, Wollungen haben wir genau genommen eine eigentliche Kenntnis. Nur das von uns selbst erlebte Geistesleben ist unserem Wissen direkt zugänglich. Und doch kann sich der Forscher unmöglich auf sein eigenes Ich beschränken, nicht bloß, weil das Objekt seiner Forschung doch nicht bloß er selbst ist, sondern weil er dabei der Gefahr einer Verallgemeinerung zufälliger individueller Besonderheiten nicht entgehen würde. Er muß also zumindest auch fremdes Geistesleben in den Kreis seiner Untersuchung ziehen. Die Vergleichung der Äußerungen und Produkte des Geisteslebens verschiedener Menschen, Völker, Zeitalter ist ja das fruchtbarste Forschungsmittel der Geisteswissenschaften. Nun ist aber das jenseits unseres eigenen Ich liegenden Geistesleben nirgends unmittelbar, sondern stets nur mittelbar in seinen Äußerungen und Produkten gegeben. Diese Äußerungen und Produkte liegen uns vor in Worten der Laut- und Schriftsprache, Gebärden, Werken der Technik, Staatsverfassungen, bestimmten Formen der Religion und des Kultus. Wir erhalten also von ihnen Kenntnis ausschließlich durch unsere Sinne, indem wir sie schauen, hören, betasten oder von ihnen lesen, den Bericht über sie hören. Der Weg zu ihrer Erforschung geht stets durch sinnliche Medien. Ansich sind uns außer den in unserem eigenen Ich sich abspielenden geistigen Vorgängen nur Komplexe sinnlicher Eindrücke gegeben. Für ein bloßes Sinnenwesen wären jene Geisteserzeugnisse bloße Zusammensetzungen von kleinen schwarzen Flecken auf weißem Papier, Geräuschen und Tönen, Tastempfindungen, Farben und Formen ohne weitere Bedeutung (1). Sie sind es auch für uns in einer fremden Sprache, die wir nicht verstehen. Wenn wir nun allen diesen unserer sinnlichen Wahrnehmung gegebenen Erscheinungen eine "mehr-als-mechanische" Bedeutung zuschreiben, wenn wir sie als Äußerungen und Produkte denkender, fühlender, wollender Wesen wie wir auffassen, so tun wir das unter der Voraussetzung, daß es eine menschliche Gattung gibt, der gewisse Grundzüge geistigen Lebens gemeinsam sind, und daß die Betätigung dieses geistigen Lebens bei ihnen ähnlich wie bei uns zutage tritt. Mit anderen Worten: wir deuten jene sinnlichen Eindrücke nach der Analogie unseres eigenen Geisteslebens. In gewissem Sinn kann man daher allerdings sagen: was wir als "andere Menschen" bezeichnen, ist nichts anderes als ein "modifiziertes eigenes Ich".
Zweitens aber wird auf die Ergebnisse dieser Wissenschaften der Vorgang von großem Einfluß sein, durch welchen aufgrund jener Analogie mit dem eigenen Bewußtsein die Brücke vom sinnlichen Zeichen zur geistigen Bedeutung geschlagen wird. Die Art der Vermittlung durch die sinnlichen Medien und der Anknüpfung des geistigen Inhalts wird die Resultate in ausschlaggebender Weise modifizieren. Die Erforschung des Vorgangs der Deutung wird daher als unerläßliche Vorarbeit für die Geisteswissenschaften zu betrachten sein. Unter Deutung verstehen wir den Vorgang, in welchem wir aus sinnlich gegebenen Zeichen ein Geistiges erkennen und wiedergeben. Nach zwei Seiten hin haben wir denselben abzugrenzen. Zuerst der sogenannten Einfühlung gegenüber. Wenn wir uns die Bewegung einer Linie, in das Gleichgewicht oder Ungleichgewicht äußerer Massenverteilung, in den Flug des Vogels, in die Bewegungen des Turners "einfühlen", so findet ein Miterleben des fremden Zustandes, ein "inneres Mitmachen" statt, bei welchem wir dem Eindruck des Geschauten unmittelbar und rückhaltlos hingegeben sind (4). Sinnliche Anschauung und gefühlsmäßige Miterleben (5), Ich und Nicht-Ich vereinigen sich hier so eng in einem einheitlichen Akt, daß sie als unterschiedene Elemente überhaupt nicht zu Bewußtsein kommen. Daher auch die Möglichkeit, in das Leblose, das nicht Geisteserzeugnis ist, Gefühle hineinzuverlegen, eine Möglichkeit, welche durch die Reflexion auf den Unterschied zwischen dem lebendigen Ich und dem unlebendigen Nicht-Ich sofort aufgehoben wird. Anders die Deutung, bei welcher wir uns des Unterschieds zwischen dem eigenen Ich und dem an die sinnlichen Zeichen geknüpften Inhalt als eines fremden Erzeugnisses in der Regel bewußt sind. Die Einfühlung mag daher gelegentlich ein Hilfsmittel der Deutung werden, z. B. bei der Einfühlung in die Stellung einer antiken Statue, die gedeutet werden soll; ihre volle Ursprünglichkeit wird daher in demselben Maß abnehmen, als die Reflexion darüber Platz greift. In zweiter Linie ist die Deutung dem bloßen Verstehen gegenüber abzugrenzen. SCHLEIERMACHER, dem wir die Theorie der Hermeneutik verdanken, die wohl immer noch als die beste systematische Bearbeitung dieses Gegenstandes bezeichnet werden kann, hat die Hermeneutik, die nichts anderes ist als eine kunstmäßige Deutung, als Kunst des Verstehens bezeichnet (6). AUGUST BOECKH, dessen in der "Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften" gegebene "Theorie der Hermeneutik" (7) sich an SCHLEIERMACHER anschließt, folgt ihm darin und charakterisiert die Aufgabe der Hermeneutik nach zwei Gesichtspunkten:
II. als Verstehen aus den subjektiven Bedingungen des Mitgeteilten, und zwar teils aus dem Subjekt ansich, sofern jeder Sprechende und Schreibende die Sprache auf eigentümliche und besondere Weise gebraucht - individuelle Interpretation; teils aus dem Subjekt in Beziehung auf die subjektiven Verhältnisse, die in den individuellen Zwecken und in der subjektiven Richtung der Darstellung liegen - generische (wegen der "in einer besonderen Form, einer Gattung ausgeprägten" mit dem Zweck gegebenen Kunstregel) Interpretation. Beiden Begriffen, dem Verstehen wie auch der "Einfühlung" gegenüber, kommt endlich noch das Weitere hinzu, daß zur Deutung in der Regel nicht bloß die Auffassung, sondern auch die Wiedergabe des Aufgefaßten in sprachlicher Form gerechnet wird. Darauf weist auch im Wort Hermeneutik die gemeinsame Wurzel mit Hermes, dem Götterboten, der die göttlichen Gedanken in sinnlich Faßbares übersetzt. Wollten wir also die Deutung als eine Art des Verstehens bezeichnen, so wäre zumindest dieses Merkmal der sprachlichen Fassung des Verstandenen zum Zweck der Mitteilung hinzuzufügen. Eine Theorie der Deutung, wie sie die Geisteswissenschaften fordern müssen, hätte also hauptsächlich folgende Punkte zu beachten:
2. die Art der Verbindung dieser sinnlich gegebenen Zeichen mit dem geistigen Inhalt, und 3. die Art der Wiedergabe dieses geistigen Inhalts in sprachlicher Form. 2. Damit sind wir aber bereits auf die zweite Frage, den Hauptpunkt, die Art der Verbindung der sinnlichen Zeichen mit dem geistigen Inhalt geführt. Wir lesen z. B. eine Zeitung und im Augenblick des Lesens kommen uns nicht bloß die tatsächlich allein gegebenen gedruckten Buchstaben und daraus zusammengesetzten Wörter, sondern auch deren Bedeutungen, zumindest der Sinn der ganzen Sätze zu Bewußtsein. Dies ist nur möglich aufgrund der assoziativen Verbindungen zwischen den Wortbildern und ihrer Bedeutung, vermöge welcher uns die Wahrnehmung der ersteren sogleich die letztere vergegenwärtigt. Woher stammen aber diese Assoziationen? Wir setzen voraus, daß die Wörter unserer Sprache eine allgemein anerkannte Bedeutung haben, mit anderen Worten: daß allgemeingültige Assoziationen zwischen Wortbild und Bedeutung bestehen. Aber nur das Wortbild ist uns gemeinsam (11) und als identisch im strengen Sinn kontrollierbar. Die Vorstellungen, durch welche wir uns die Bedeutung vergegenwärtigen, können wir ja niemals unmittelbar mit den Bedeutungsvorstellungen anderer Menschen vergleichen. Alle Versuche dieser Art sind stets wiederum sinnlich vermittelt! Die Assoziation zwischen Wortbild und Bedeutung ist also trotz aller Abhängigkeit vom überlieferten Wissensschatz zuletzt doch unser eigenstes Eigentum, das Ergebnis unserer individuellen Entwicklung (12). Wie sind diese Assoziationen entstanden? Der Grundstamm derselben hat sich bereits im Kindesalter gebildet, und es leuchtet von hier aus ein, von welcher Wichtigkeit Untersuchungen über die Entwicklung von Sprechen und Denken beim Kind oder über die Entstehung der ersten Wortbedeutungen bei Kind sind, wie sie z. B. BENNO ERDMANN (13), WILHELM AMENT (14), ERNST MEUMANN (15) angestellt haben. In dem hier sich anschließenden Entwicklungsprozeß, welcher unter normalen Bedingungen zur annähernden Aneignung des Sprachschatzes der Muttersprache mit den geläufigen Wortbedeutungen führt, lassen sich als Hauptfaktoren unterscheiden: die zunehmende Kenntnis des Baus der Sprache, die fortschreitende Ausbildung des Denkens, und die wachsende Ausbreitung des Wissens, also der grammatikalische, logische und historische Faktor, deren Zusammenwirken dann im einzelnen Fall das Verständnis der Sprachzeichen ermöglicht. Die psychologische Verfolgung dieses ganzen Prozesses bis in das Kindesalter zurück unterliegt aber der Schwierigkeit, daß wir vom eigenen kindlichen Denken keine zuverlässige Kenntnis haben, und daher auch in der Analyse der Entwicklung selbst auf eine Deutung des kindlichen Sprechens angewiesen sind. Die Unsicherheit der Deutung wird größer, wenn es sich um frühere Epochen der eigenen Sprache oder um fremde Sprachen handelt. Das fremde Wort wird in Wörtern der eigenen Sprache wiedergegeben. Es wird übersetzt. Aber eine Bürgschaft dafür, daß sich nun die daran sich knüpfenden, die Bedeutung repräsentierenden Vorstellungen decken, ist noch weniger vorhanden. Vielmehr werden, je entlegener die Kultur eines Volkes ist und je größer daher der Abstand vom eigenen Wissensinhalt und der eigenen Denkweise ist, umso mehr auch die Vorstellungen selbst und die daraus gebildeten Begriffe differieren. Die aristotelische entelechia läßt sich mit keinem deutschen Ausdruck wiedergeben, der mit Sicherheit dieselbe Vorstellung hervorruft, welche mit dem griechischen Wort für den Griechen verbunden war. Die Forderung der Deutung führt hier daher zu eingehenden grammatikalischen, logischen, psychologischen und historischen Untersuchungen. Das Wort wird etymologisch untersucht, in der Wandlung seiner Formen verfolgt, in einem grammatikalischen Zusammenhang des Satzes betrachtet. Es wird ferner die Bedeutung desselben, der zugrunde liegende Begriff logisch zergliedert und dadurch die Möglichkeit geschaffen, durch eine Aufzählung der Merkmale in Wörtern der eigenen Sprache den Inhalt des fremden Begriffs vollständig zu umschreiben. Je größer der Abstand der Begriffe und sprachlichen Formen der Fremdsprache von der Muttersprache ist, desto schwieriger wird jene Zergliederung der Begriffe und umso vollständiger muß sie doch erfolgen, da in demselben Maß die Wahrscheinlichkeit abnimmt, in der eigenen Sprache entsprechende Wörter für denselben Begriff zu finden. Darin liegt ja die der Übung in den alten Sprachen zugeschriebene Gymnastik des Denkens. Aus der, dieser logischen Zergliederung häufig entgegenwirkenden, im Übrigen nicht zu entbehrenden, lexikalischen Behandlung entsteht die Gefahr für die Aufgabe der Deutung, daß zwischen dem Fremdwort und irgendeinem in der Bedeutung oder im Laut demselben nahekommenden Wort der Muttersprache eine Assoziation hergestellt wird, die schließlich völlig geläufig wird und zu der falschen Annahme einer vollständigen Identität der Bedeutungen führt. Man denke an die Wiedergabe des englischen "idea" durch "Idee" oder "belief" bei HUME durch "Glaube". Dieser Gefahr hat neben jener logischen Bearbeitung der durch die Worte bezeichneten Begriffe entgegenzuarbeiten: die psychologische Berücksichtigung der individuellen Eigenart des Urhebers eines Schriftwerkes und seiner Denkweise und das historische Verständnis der Sprachzeichen und ihrer Bedeutung aus der Vorstellungswelt ihrer Zeit. Es bedarf keiner besonderen Hervorhebung, daß diese Hilfsmittel der Deutung selbst wieder das Verständnis der Sprachzeichen voraussetzen, mit deren Hilfe grammatikalisches, logisches, psychologisches, historisches Wissen gewonnen wird. Sie sind daher - das lehrt die psychologische Untersuchung des Deutungsvorgangs - dem Bewußtsein des Forschers selbst gegenüber sekundär, aus welchem als der primären Quelle die toten Buchstaben mit einem lebendigen Inhalt erfüllt werden. Nicht dieser Inhalt selbst, sondern nur die fortlaufende Berichtigung und Ergänzung desselben kann aus den Schriftwerken und Aussagen anderer gewonnen werden. Eine Psychologie der Deutung wird aber ihre Aufmerksamkeit besonders dem Umstand zuwenden müssen, daß bei vollständiger Deutung eines Schriftwerks vergangener Zeit all jene Hilfsmittel womöglich in einem Akt zusammenwirken müssen. Man sagt vom Philologen, der sich daran macht, ein Schriftwerk z. B. den neuaufgefundenen aristotelischen "Staat der Athener" zu deuten: er hat neben der grammatikalischen Kenntnis der Sprache ein "Bild" der geschichtlichen Größe, z. B. des Hellenentum, aus welcher das Schriftwerk stammt. Ist aber die historische Gesamtkenntnis, die er von einer geschichtlichen Epoche besitzt, tatsächlich ein Vorstellungsganzes, ein Gesamtbild, mit dem im Augenblick der Deutung die einzelnen Vorstellungen zusammengehalten werden könnten, ob sie hineinpassen oder nicht? Sie erschöpft sich darin schon deshalb nicht, weil die Vergegenwärtigung einer solchen charakteristischen Geschichtsepoche zweifellos mit vielerlei Gefühlselmenten verwoben ist, noch ganz abgesehen davon, daß das Ganze viel zu kompliziert ist, um zu einem einheitlichen "Vorstellungsganzen", sich zu einem "Bild" zusammenzuschließen. Was ist aber dann das Wesentliche an diesem Vorgang? Die populäre Ausdrucksweise kann uns hier den richtigen Weg weisen. Man sagt, der Historiker, der Sprachforscher hat ein "Gefühl" dafür, was der richtige Sinn einer Stelle, die richtige Auffassung eines Schriftstücks ist. Er wird dieses "Gefühl" durch grammatikalische, logische, psychologische, historische Gründe zu rechtfertigen suchen, aber es wird ihn vielfach vor aller wissenschaftlichen Beweisführung auf den richtigen Weg weisen, und es wird vor allem in zweifelhaften Einzelfällen, wo eine Entscheidung nur durch ein Zusammenwirken der genannten Faktoren zu gewinnen ist, oder wo es sich um die Auffassung der charakteristischen Grundzüge eines Zeitalters handelt, eine maßgebliche Rolle spielen. Lassen wir einen Meister der Altertumswissenschaft aus seiner Selbstbeobachtung heraus reden. AUGUST BOECKH sieht in seiner bereits erwähnten Theorie der Hermeneutik (16) eine Hauptschwierigkeit dieser Disziplin, einen unvermeidlichen Zirkel darin, daß die verschiedenen Arten der Auslegung reale Kenntnisse der geschichtlichen Entwicklung voraussetzen, während doch andererseits diese erst durch die Auslegung des gesamten Quellenmaterials gewonnen werden können, und daß ferner jede individuelle Äußerung durch eine unendliche Anzahl von Verhältnissen bedingt ist, weshalb es unmöglich ist, diese zu einer diskursiven Klarheit zu bringen. Die Aufgabe der Hermeneutik kann daher nur durch unendliche Approximation, d. h. durch eine allmähliche, Punkt für Punkt fortschreitende, aber nie vollendete Annäherung gelöst werden. Und er fährt dann fort:
"Gefühl, welches aus der Ähnlichkeit mit dem Erklärten herauswirkt, ist ein innerlich produktives; es tritt an die Stelle des Verstandes die Phantasie als hermeneutische Tätigkeit." (17) Vielleicht läßt sich angeben, in welcher Richtung diese Arbeit etwa liegt. Das in Betracht kommende "Gefühl" ist jedenfalls durch das Zusammenwirken vieler Faktoren zustande gekommen, es ist ein Verschmelzungsprodukt aus vielen einzelnen Gefühlen, es ist - nach WUNDTs Ausdrucksweise - ein "Totalgefühl", das aus einer Vielheit von "Partialgefühlen" entspringt (18), nur daß wir dabei zu berücksichtigen haben, daß darauf eigentlich besser das Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen, als das des Ganzen zu den Teilen paßt. (19) Wir haben nach Beispielen hierfür in unserem Seelenleben nicht weit zu suchen. Das bekannteste unter ihnen ist das sogenannte "Gemeingefühl", ein Ausdruck, der eigentlich am Besten für sämtliche Gefühle dieser Art gebraucht würde, unter dem man aber in der Regel das sogenannte "Lebensgefühl" versteht, eine Art Resultante unserer sämtlichen sinnlichen Gefühle, ein Verschmelzungsprodukt aus sämtlichen mit unserem körperlichen Zustand verbundenen Gefühlen, dessen Qualität besonders durch die sogenannten Organempfindungen, wie Hunger und Durst, die Atem- und Pulsbewegung bestimmt wird. Charakteristisch ist für dieses "Lebensgefühl" das mehr oder weniger vollständige Aufgehen der einzelnen Gefühle in das Gemeingefühl und das Ausstrahlen (die Irradiation) einzelner Organgefühle auf die allgemeine Gefühlslage, so daß die Qualität dieser letzteren überwiegend von irgendeiner Organempfindung aus bestimmt wird. So beherrscht z. B. die Erschwerung des Atems in zunehmendem Maß die ganze Gefühlslage. Innerhalb der höheren Gefühle hat sich eine ähnliche Beobachtung besonders an das Sprachgefühl geknüpft, das als ein unmittelbares Gefühl des Sprachrichtigen aus unzähligen Übungen im Sprechen, Hören, Lesen der Sprache, aus grammatikalischen Kenntnissen und logischen Prozessen, die alle ihrerseits von Schwingungen des Gefühlslebens begleitet waren, entstanden ist. Ähnlich ist der Sachverhalt in vielen anderen Fällen, wenn etwa die Gesamteindrücke von Personen, Gebäuden mit ihren Einzelräumen und ihrer Ausstattung, Landschaften oder auch gelesenen Büchern eine "Stimmung" in uns zurücklassen, die sich aus der Gesamtheit der bisherigen Gefühlserlebnisse zusammensetzt, meist aber unter dem Einfluß der Irradiation einer vorwiegenden Gefühlsqualität steht. Diese Beobachtung haben wir nun wohl auf auf den Vorgang der Deutung anzuwenden, der uns hier zur vollständigen "Interpretation" im Sinne BOECKHs wird. Auch das Studium einer geschichtlichen Epoche hinterläßt einen solchen Gefühlsniederschlag, zu welchem eine große Zahl von Einzelgefühlen zusammengewirkt hat, die sich ihrerseits zu Gemeingefühlen vereinigten, um dann in Gemeingefühle höherer und noch höherer Ordnung einzugehen. Gefühlstöne führt in der Regel schon das einzelne Wort mit sich. Wir dürfen nur Wörter wie Großmut, Gemeinheit, Ekel, Waldesrauschen, Verwesung aussprechen, um uns der mitschwingenden Gefühlsqualitäten bewußt zu werden. In der Fremdsprache ist es ferner der Klang der Sprache selbst, welcher zu einer bestimmten Modifikation der stimmungsmäßigen Auffassung beiträgt. Die Kenntnis der überlieferten Literatur, der Kunst, der Wissenschaft, einzelner hervorragender geschichtlicher Persönlichkeiten, des geschichtlichen Verlaufs selbst, der geographischen Beschaffenheit kommt dazu, um dieses gefühlsmäßige Gesamt"bild" zu vollenden. Bei entsprechender Ausdehnung und Vertiefung er geschichtlichen Kenntnis ist das Ergebnis dann ein "Gemeingefühl" von ganz bestimmter oder vielmehr innerhalb ganz bestimmter Grenzen sich bewegender Nuance des Gefühlslebens, das nun mit dem Namen der Epoche oder des Volkes in assoziativer Verbindung steht. So führt der Name für geschichtliche Epochen oder auch Ereignisse: Hellas, Renaissance, römische Kaiserzeit, französische Revolution, Freiheitskriege einen Gefühlston allgemeiner Art mit sich, der sich aus vielen einzelnen Gefühlsfaktoren zusammensetzt. Es fehlt auch nicht am Moment der Irradiation. In der Gefühlswelt, in welche uns das Hellenentum versetzt, mögen vielleicht die Gefühlseindrücke, welche sich an den Hermes des PRAXITELES oder an die Persönlichkeit PLATOs oder an die olympischen Spiele knüpfen, den ausschlaggebenden Einfluß auf die Gefühlsqualität üben. Jedenfalls ist für unsere Frage wesentlich, daß diese historischen "Totalgefühle" oder "Gemeingefühle" (20), wie man sie auch nennen könnte, trotz aller scheinbaren Unbestimmtheit für die Deutung einen sicheren Kanon abgeben können. Ist die Auslegung einer Schriftstelle, die Deutung eines Kunstwerks zweifelhaft, oder handelt es sich um die richtige Auffassung ganzer Kulturepochen, so leiten sie den Forscher in einer ganz bestimmten Richtung. Ob eine Vorstellung oder ein Vorstellungskomplex mit dem Gefühlszuwachs, den sie bringen, in dieses Gefühlsganze hineinpaßt oder nicht, wird mit instinktiver Sicherheit entschieden. Wie beim Sprachgefühl ist auch hier der ganze Vorgang nicht leicht faßbar, aber ebenso wie bei diesem die Leitung, welche dem Vorstellungsverlauf zuteil wird, eine außerordentlich zuverlässige. Wir werden annehmen müssen, daß ein besonders feiner Sinn für Gefühlsähnlichkeiten hier wirksam wird, der alles die Harmonie dieses Gefühlsganzen Erhöhende sofort herausfühlt und jede abweichende Schattierung als störenden Mißton empfindet. 3. Wir dürfen denselben Vorgang nur in umgekehrter Richtung verfolgen, um zu erkennen, auf welchen Grundlagen die mit der Deutung in der Regel verbundene sprachliche Fassung des Gedeuteten beruhen wird. Dort Einzelvorstellungen mit ihren Bedeutungen und Gefühlstönen, deren einheitliches Zusammenwirken einen Gefühlsniederschlag hervorbringt; hier die Umsetzung des Gefühlten in Sachvorstellungen und dieser in Worten. Die Art des letzteren Vorgangs können wir uns etwa an folgendem Beispiel deutlich machen. Es ist bekannt, wie Stimmungen auf den Vorstellungsverlauf wirken. Eine trübe Stimmung ruft eine Reihe unangenehmer Vorstellungen ins Bewußtsein. Diese Vorstellungen sind häufig untereinander nicht assoziativ verknüpft. Unter dem Einfluß eines verdorbenen Magens ist vielleicht das Barometer des Lebensgefühls gesunken und nun tauchen unangenehme Vorstellungen der verschiedensten Art auf, die mit der Vorstellung des verdorbenen Magens gar nichts zu tun haben. Sie haben nur eine ähnliche Gefühlsqualität. Es ist also hier nicht die Vorstellungsassoziation, welche sie über die Schwelle des Bewußtseins auftauchen läßt, sondern es sind die begleitenden Gefühlstöne, welche um ihrer Ähnlichkeit mit der allgemeinen Gefühlslage willen auch den mit ihnen verbundenen Vorstellungen zur Reproduktion verhelfen. So hat jedes "Gemeingefühl" und zwar in umso stärkerem Grad, je mehr es die allgemeine Gefühlslage in einem gegebenen Augenblick beherrscht, die Tendenz, Vorstellungen hervorzurufen, welche einen ihm ähnliche Gefühlston mit sich führen, oder allgemeiner gesagt, solchen Vorstellungen zur Reproduktion zu verhelfen, welche einen der Qualität des Gemeingefühls entsprechenden Gefühlszuwachs bringen. So vermag der Übersetzer einen dem Gesamtcharakter der Epoche und des Volkes entsprechenden Ausdruck zu finden. So kann der Historiker eine geschichtliche Periode anschaulich schildern, indem er aus der Stimmung heraus, in welche er sich bei der Vertiefung in dieselbe versetzt fühlt, eine Reihe von Vorstellungen und entsprechenden Wortbildern in sich hervorruft, deren Gefühlswirkung jener Stimmung entspricht und die daher auch den Hörer oder Leser in dieselbe Gefühlslage überführt. Er wandelt im Geist unter der Sonne HOMERs und er weißt die Töne zu finden, die auch in anderen dieselbe Stimmung anklingen zu lassen. Hier berührt sich der Historiker mit dem Dichter. Die Phantasie ist es, welche hier die maßgebliche Rolle spielt und aus einem mächtigen Gefühl heraus eine Vorstellungswelt und einen adäquaten Ausdruck für sie hervorbringt (21). Wenn dieses Hineinragen des Gefühls- und Stimmungsmäßigen auch in die wissenschaftliche Forschung bedenklich erscheint, so ist zu beachten, daß die hier besprochenen Gefühlsfaktoren, soweit ihnen dieser weitgehende Einfluß zugestanden wird, ja selbst erst aus der wissenschaftlichen Arbeit entstehen und durch sie beständig reguliert werden. Wird es doch kaum einem ernsthaften Widerspruch begegnen, daß bei jeder schöpferischen Geistesarbeit, auch der wissenschaftlichen, Phantasie und Verstand zusammenwirken. Die Verstandesseite zu bearbeiten ist hauptsächlich Sache der wissenschaftlichen Methodenlehre. Eine Psychologie der Deutung wird sich vorwiegend der Gefühlsseite dieses Vorgangs zuwenden müssen, welcher, obwohl von so großem Einfluß, doch noch so wenig aufgehellt ist. Von der Lösung dieser Aufgabe konnten hier freilich nur Andeutungen gegeben werden. Vielleicht liegt aber doch in der gezeigten Richtung einer der Wege, welche die Psychologie gehen kann, um den Geisteswissenschaften mehr und mehr eine verdienstvolle Mitarbeiterin zu werden.
1) Von einem erkenntnistheoretischen Standpunkt, von dem aus jene Sinneseindrücke selbst als Reaktionen unserer Organisation auf bestimmte davon völlig verschiedene Reize zu betrachten wären, kann ich hier absehen, da es hier nur darauf ankommt, wie sie mir erscheinen. Es gilt auch hier der Grundsatz, in eine Spezialuntersuchung so wenig als möglich systematische Voraussetzungen einzumischen. Auch mit dem "naiven Realismus" läßt sich wie mit irgendeiner anderen konstanten Fehlergröße wissenschaftlich arbeiten. 2) Theodor Lipps, Grundlegung der Ästhetik, Bd. 1, 1903, Seite 106. 3) In derselben Lage ist auch die experimentelle Psychologie, wenn sie die physischen Begleiterscheinungen psychischer Prozesses an anderen Menschen variiert, um daraus Schlüsse auf die psychischen Vorgänge zu ziehen. Denn jene physischen Vorgänge haben überhaupt "mehr-als-mechanische" Bedeutung nur dadurch, aß wir sie aufgrund eigener Erlebnisse deuten. Die wissenschaftliche Erforschung jener eigenen Erlebnisse ist also auch hier eine unumgängliche Voraussetzung. Dies tritt am stärksten da hervor, wo wir uns auf gar keine zuverlässige Aussagen stützen können, wie in der Psychologie des Kindes oder der Tiere. Hier ist es ja völlig einleuchtend, aß nur die Analogie unseres eigenen Bewußtseins uns eine Deutung ermöglicht. 4) Lipps, a. a. O., Seite 111f. Ob die "Einfühlung" als Prinzip der Ästhetik verwertbar ist, kommt hier nicht in Betracht, wo es sich nur um die Abgrenzung des tatsächlichen Vorgangs gegen die "Deutung" handelt. 5) vgl. Volkelt, Zur Psychologie der ästhetischen Beseelung, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 2, 1898, Seite 164. 6) Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament, 1838, Seite 7. 7) August Boeckh, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, 1886, Seite 79f. 8) Dilthey, Die Entstehung der Hermeneutik, Philosophische Abhandlungen, Sigwart zu seinem 70. Geburtstag gewidmet, 1900, Seite 187-202. Die Abhandlung Diltheys wurde mir erst bekannt, als die Grundzüge des vorliegenden Vortrags bereits entworfen waren. 9) Dilthey, a. a. O., Seite 188. 10) Benno Erdmann und Raymond Dodge, Psychologische Untersuchungen über das Lesen, 1898. Julius Zeitler, Stachistoskopische Untersuchungen über das Lesen, Philosophische Studien, Bd. 16, 1900, Seite 380f. 11) In der Sprache des "naiven Realismus" geredet. Wollte man diese Ausdrucksweise vermeiden, so könnte man etwa sagen: unseren Sinnen in derselben Weise gegeben. 12) Wobei sich bereits in der sinnlichen Vermittlung Unterschiede geltend machen, sofern sich beim Akustiker die Bedeutung vorwiegend an das akustische Wortbild knüpft, bei Motoriker an das motorische. Es fragt sich, ob hierbei Mittelglieder übersprungen werden, so aß nach vollständiger Bildung des Wortassoziationskomplexes sich die Bedeutung an jeden sinnlichen Bestandteil desselben knüpfen kann. 13) Benno Erdmann, Die psychologischen Grundlagen der Beziehungen zwischen Sprechen und Denken, Archiv für systematische Philosophie, Bd. 2. 14) Wilhelm Ament, Die Entwicklung von Sprechen und Denken beim Kind, 1899. 15) Ernst Meumann, Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kind, Festschrift für Wilhelm Wundt zu seinem 70. Geburtstag, Bd. 2, 1900, Seite 152-215. 16) Boeckh, a. a. O. Seite 82f 17) Boeckh, a. a. O. Seite 86f 18) Wundt, Grundriß der Psychologie, dritte Auflage, Seite 192 19) Vgl. hierzu und zum Folgenden meinen Aufsatz "Über Verallgemeinerung der Gefühle", Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 24, Seite 194f. 20) Zur Rechtfertigung dieser Gleichstellung vgl. meine oben angeführte Abhandlung über Gemeingefühle. 21) Daher kann auch der Dichter historischer Dramen, der sich gegen geschichtliche Einzelheiten verfehlt, dadurch gerechtfertigt sein, daß er aus seinem "Gemeingefühl" heraus durch das Medium der Anschauung doch auch den Zuschauer und Hörer in dieselbe Gefühlsstimmung versetzt. |