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HANS CORNELIUS
Psychologie
als Erfahrungswissenschaft


"Eine Empfindung, die niemandes Empfindung wäre, oder was dasselbe sagt, die nicht Inhalt eines Bewußtseins wäre, ein Gedanke, ein Urteil, eine Gemütsstimmung, ein Willensakt, die niemandes Bewußtseinsinhalt wären, von niemanandem erlebt würden, sind nicht denkbar."

"Gleichbedeutend mit dem Wort  Bewußtseinsinhalt  gebrauchen wir gelegentlich auch die Ausdrücke  Gegenstände  oder  Objekte  des Bewußtseins; mit der ausdrücklichen Bemerkung, daß hier mit den Worten Gegenstand und Objekt keinerlei metaphysische Nebenbedeutung verbunden, sondern einfach eine Bezeichnung eben jener direkt erkennbaren Tatsachen gegeben sein soll. Im gleichen Sinne wie Bewußtseinsinhalt wird auch das Wort  Erscheinung  oder  Phänomen  gebraucht: wobei abermals zu erinnern ist, daß damit keinerlei Gegensatz eines  bloßen Erscheinens  gegen eine  den Erscheinungen zugrunde liegende Wirklichkeit  angedeutet oder zugegeben sein soll. Die vorgefundenen Erscheinungen, unsere Erlebnisse oder Bewußtseinsinhalte sind vielmehr die Elemente, aus welchen sich alle Wirklichkeit für uns aufbaut."


Vorwort

Dieses Buch soll nicht eine nach dem heutigen Stand der Wissenschaft vollständige Aufzählung und Darstellung der Tatsachen des psychischen Lebens und der zur Erklärung derselben aufgestellten Theorien geben. Seine Aufgabe ist vielmehr diejenige  erkenntnistheoretischen Grundlegung  der Psychologie: die Begründung einer  rein  empirischen Theorie der psychischen Tatsachen unter  Ausschluß aller metaphysischen Voraussetzungen. 

Den Weg zur Lösung dieser Aufgabe weisen die Betrachtungen, durch welche auf physikalischem Gebiete KIRCHHOFF und MACH die metaphysischen Begriffe durch empirische ersetzt haben. Mit der Erkenntnis, daß auf dem Boden reinen Erfahrungswissens  Erklärung  überall mit  Vereinfachung  in der zusammenfassenden  Beschreibung  der Tatsachen identisch ist, gewinnt die Forderung einer empirischen Theorie der psychischen Tatsachen ihre nähere Bestimmung: als ihr Aufgabe ergibt sich - in Analogie mit KIRCHHOFFs Definition der Mechanik - die  vollständige und einfachste zusammenfassenden Beschreibung  der psychischen Tatsachen.

Den Ausgangspunkt für eine solche Beschreibung dürfen nicht irgendwelche willkürliche Abstraktionen oder Hypothesen, sondern einzig die tatsächlich vorgefundenen, direkt bekannten psychischen Erlebnisse bilden. Andererseits wird für alle Begriffe, die zur zusammenfassenden Beschreibung dieser Erlebnisse dienen sollen, eine  empirische Definition  gefordert werden müssen: kein Begriff darf zugelassen werden, ohne daß die psychischen Erfahrungstatsachen aufgezeigt sind, die durch denselben bezeichnet sein sollen. Nur wo diese Forderungen erfüllt sind, kann eine reine, von aller willkürlichen Begriffsdichtung und allen Unklarheiten freie Erfahrungswissenschaft zustande kommen.

Der so bezeichnete Weg zur Begründung einer rein empirischen Psychologie muß in seinen ersten Schritten sowohl mit demjenigen übereinstimmen, welchen HUME in seinem Hauptwerk eingeschlagen hat, als auch mit den Anfängen von JAMES' klassischer Analyse der Bewußtseinsverlaufs. Die Forderung streng empirischer Definition aller verwendeten Begriffe aber bedingt im Fortgang der Untersuchung wesentliche Abweichungen von den Ergebnissen des einen wie des anderen der genannten großen Psychologen.

Zum Teil befinden sich die gewonnenen Resultate in Übereinstimmung mit denjenigen der erkenntnistheoretischen Untersuchungen von AVENARIUS und MACH. Ebenso berühren sie sich in vielen Punkten mit den Posititionen der Philosophie KANTs. Ich habe die Beziehungen meiner Untersuchungen und ihrer Ergebnisse zu denen der Kantischen Vernunftkritik an einzelnen Stellen angedeutet; eine ausführliche Darlegung dieser Beziehungen bleibt eines späteren Publikation vorbehalten.

Der Gegensatz gegen alle "atomistische" Psychologie, die unsere Bewußtseinsvorgänge aus hypothetischen einfachen Elementen in hypothetischer Weise synthetisch entstehen läßt - vor allem also gegen jede Art  bloßer  Assoziationspsychologie - ist durch die Forderung des rein empirischen Ausgangspunktes der Untersuchung und den Hinweis auf deren Verwandtschaft mit der JAMES'schen Analyse hinreichend bezeichnet. Auch zu derjenigen Abart physiologischer Psychologie, welche nicht von psychologischen, sondern von gehirnphysiologischen Tatsachen ausgeht, steht die hier zu gewinnende Grundlegung der Psychologie in einem durchaus gegensätzlichen Verhältnis, da sie eben Wissenschaft von  psychischen  Tatsachen sein will - die zu physiologischen zwar in mannigfachen Beziehungen stehen, aber mit den letzteren nicht identisch sind, und ihrerseits bekannt und analysiert sein müssen, ehe irgendeine psychologische Deutung der physiologischen Tatsachen versucht werden kann.

Soweit ich mir der Abhängigkeit meiner Ergebnisse von fremden Anregungen im Einzelnen bewußt war, habe ich auf die betreffenden Arbeiten entweder im Text oder in den Anmerkungen hingewiesen. Meine Literaturhinweise verfolgen nur diesen Zweck. Eine vollständige Angabe aller Arbeiten, welche mit den einzelnen Behauptungen des Textes in Übereinstimmung oder in Widerstreit stehen, lag nicht in meiner Absicht.

Polemischen Diskussionen glaubte ich nur so weit Raum geben zu sollen, als sie für die klare Formulierung der Probleme selbst unentbehrlich erschienen. Ich bin nicht der Meinung, daß eine empirische Theorie an Überzeugungskraft durch die Widerlegung aller entgegenstehenden Theorien gewinnen kann oder wohl gar erst durch eine solche Widerlegung ihr Recht zu erweisen habe. Kann sich eine Theorie nicht durch den Hinweis auf die Tatsachen Anerkennung verschaffen, zu deren Beschreibung sie dienen soll, so hat sie keine Existenzberechtigung; erweist sie sich aber als geeignet zur einfachsten Beschreibung der Tatsachen, so bedarf sie keiner weiteren Legitimation - ihre Anerkennung kann dann nur eine Frage der Zeit sein.





Einleitung

Psychische Tatsachen.  Unter Psychologie verstehen wir die Wissenschaft von den Tatsachen des geistigen Lebens oder den  psychischen Tatsachen. 

Psychische Tatsachen heißen sämtliche Tatsachen, welche jedem von uns als seine  Erlebnisse,  oder, wie man auch sagt, als  Erscheinungen  oder  Inhalte  seines  Bewußtseins  direkt bekannt sind: wie Empfindungen, Vorstellungen der Erinnerung und der Phantasie, Erkenntnisse, Zweifel, Hoffnung und Furcht, Liebe und Haß, Begehren und Wollen. Diese Beispiele geben zwar keine vollständige Übersicht über die verschiedenen Arten psychischer Tatsachen, genügen aber zur Darlegung des Sinnes, in welchem dieser Ausdruck verstanden werden soll.

Man bezeichnet die psychischen Tatsachen bald als Zustände, bald als Inhalte oder Objekte unseres  Bewußtseins.  Indem wir die psychischen Tatsachen erleben, haben wir eine direkte Kenntnis derselben: sie sind uns bewußt, oder, wie man auch sagt, wir sind uns derselben bewußt, und sie haben keinerlei Bedeutung oder Existenz, außer insofern sie eben Gegenstand dieses unseres Bewußtseins sind. Eine Empfindung, die niemandes Empfindung wäre, oder was dasselbe sagt, die nicht Inhalt eines Bewußtseins wäre, ein Gedanke, ein Urteil, eine Gemütsstimmung, ein Willensakt, die niemandes Bewußtseinsinhalt wären, von niemanandem erlebt würden, sind nicht denkbar. (1)

Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß das Wort Bewußtsein hier nur in rein tatsächlichen Sinne gebraucht wird: zur Bezeichnung des Tatbestandes, der überall vorliegt, wo irgendeine psychische Tatsache erlebt, Gegenstand unserer Kenntnisnahme wird. Auf irgendeine  Theorie  über die Art, wie eine solche Kenntnisnahme erfolgt, oder wie unsere Erlebnisse sich als Teile  eines  kontinuierlichen Zusammenhangs darstellen, soll mit jenem Wort nicht hingewiesen sein; ebensowenig auf irgendeine Theorie der Persönlichkeit, des Ich, des Subjektes, dem gegenüber alle diese Inhalte als  seine  Inhalte, als die Objekte  seines  Bewußtseins bezeichnet werden. In welcher Weise die unmittelbar gegebenen Tatsachen zu diesen Begriffe bzw. Gegensätzen führen, wird erst im weiteren Verlauf unserer Betrachtungen zu besprechen sein.

Man hat die psychischen Tatsachen auch als Objekte der  inneren Erfahrung  bezeichnet, im Gegensatz zu den anscheinend unabhängig von unserem psychischen Leben verlaufenden Vorgängen in der materiellen Welt, welche als Gegenstände der  äußeren  Erfahrung bezeichnet werden. Inwieweit diese Scheidung einer inneren und äußeren Erfahrung sich sachlich rechtfertigen läßt, wird später zu entscheiden sein. Wenn wir die innere Erfahrung als diejenige definieren, welche eben unsere psychischen Tatsachen zum Gegenstand hat, so wird durch einen solchen Sprachgebrauch wenigstens keine Gefahr eines Mißverständnisses bedingt sein. Angemessener erscheint die Bezeichnung der psychischen Tatsachen als der Gegenstände der  unmittelbaren  Erfahrung - im Gegensatz zu denjenigen Tatsachen, deren Kenntnis uns nicht direkt gegeben, sondern durch jene Erfahrung  vermittelt  wird. In welcher Weise ein solcher Gegensatz zustande kommt, kann erst im Folgenden gezeigt werden. Es hat jedoch sein Mißliches, dieser Terminologie gemäß die Psychologie als Wissenschaft von der unmittelbaren Erfahrung zu definieren (2). Eine solche Definition erscheint zur vorläufigen Bestimmung der Aufgabe der Psychologie zum einen deshalb nicht geeignet, weil sie keine keineswegs einfache psychologische Distinktion - eben diejenige der mittelbaren und der unmittelbaren Erfahrung - bereits als bekannt voraussetzt; zum anderen aber auch, weil sie, was mit diesem ersteren Mangel zusammenhäng, leicht den Anschein erwecken kann, als ob die Psychologie in keiner Weise sich mit der mittelbaren Erfahrung zu beschäftigen hätte. Wir werden aber sehen, daß eine solche Beschäftigung sich mit jener Definition sehr wohl verträgt.

Daß es psychische Tatsachen gibt, kann niemand bezweifeln. Dagegen hat man bezweifelt, daß dieselben eigenartige, von den Vorgängen der materiellen Welt wesentlich verschiedene Tatsachen sind. Die neumaterialistische Schule glaubte alle psychischen Erscheinungen in physische Prozesse - mechanische, chemische, elektrische Veränderungen der Gehirnsubstanz - ohne Rest auflösen zu können. Eine Polemik gegen diese Ansicht erscheint nicht mehr zeitgemäß. So wenig ein Blindgeborener aus der Lehre der Physik, daß das spektrale Blau durch elektromagnetische Schwingungen dieser oder jener Schwingungsdauer hervorgerufen wird, jemals eine Vorstellung der blauen Farbe gewinnen kann, so wenig könnte auch die genaueste Kenntnis der Vorgänge in der Nervensubstanz uns eine Vorstellung von den entsprechenden psychischen Tatsachen geben, wenn wir eine solche nicht schon anderweitig besäßen. Die psychischen Erscheinungen sind zwar bis zu einem gewissen Grad wenigstens sicher  abhängig  von den physiologischen Vorgängen in der Nervensubstanz; aber sie sind mit denselben nicht  identisch  und die Beschreibung der einen ist nicht gleichbedeutend mit der Beschreibung der andern.

Methode und Stellung der Psychologie.  Die Psychologie kann, wie jede Wissenschaft von Tatsachen, solange sie überhaupt Wissenschaft bleiben wille, nur  Erfahrungswissenschaft  sein. Nicht auf irgendwelche metaphysische Hypothesen, sondern nur auf das empirisch gegebene Tatsachenmaterial dürfen sie ihre Betrachtungen stützen: sie darf sich keiner Begriffe bedienen, deren empirischen Ursprung sie nicht nachweisen, deren empirische Bedeutung sie nicht aufzeigen kann.

Man pflegt als die allgemeine Aufgabe der Erfahrungswissenschaften die Beschreibung und Erklärung der Tatsachen zu bezeichnen; der Psychologe würde hiernach die Aufgabe der Beschreibung und Erklärung der psychischen Tatsachen zufallen. Dieser Formulierung gemäß hat man eine bloß beschreibende und eine erklärende Bearbeitung der Psychologie unterschieden. Sachlich ist jedoch eine solche Unterscheidung nicht gerechtfertigt: auf rein empirischem Boden ist aller Fortschritt, den man gemeinhin als  Erklärung  der Tatsachen bezeichnet, nichts anderes als eine vereinfachte, zusammenfassende Beschreibung der Tatsachen. Alle Erklärung führt das Zusammengesetztere auf Einfacheres, das Unbekannte auf Bekanntes zurück: jede solche Zurückführung aber kann - solange sie sich der obigen Forderung entsprechend auf die Verwendung empirischer Begriffe beschränkt - nur dadurch zustande kommen, daß die zu erklärende Erscheinung mit anderen, eben mit einfacheren, bekannteren Erscheinungen, unter ein und denselben Begriff bilden, gewinnen wir eine vereinfachte Darstellung unserer Erfahrungen; was zuvor durch verschiedene Ausdrücke beschrieben werden mußte, können wir jetzt durch jenen Begriff zusammenfassend in  einfacherer  Weise bezeichnen. Aller Fortschritt auf empirischem Gebiet beruth einerseits auf der  Vervollständigung,  andererseits aber auf dieser  zusammenfassenden Vereinfachung der Beschreibung  der Tatsachen. Als Beleg hierfür kann jedes beliebige Beispiel einer naturwissenschaftlichen Erklärung dienen. Der Fortschritt, welchen NEWTONs große Entdeckung bezeichnet, ist nur ein solcher in der zusammenfassenden Beschreibung eines zuvor scheinbar zusammenhanglosen Gebietes von Tatsachen: nicht nur vereinigt jene Entdeckung die von KEPLER gefundenen Gesetze der Planetenbewegungen unter ein einziges Prinzip, als welchem sich jene einzelnen Gesetze ableiten lassen, sondern sie läßt zugleich die Wurf- und Fallbewegung der terrestrischen Objekte als Fälle desselben Gesetzes erscheinen, welches die Bewegungen der Himmelskörper beherrscht. Sie gibt nichts anderes als die zusammenfassende Beschreibung sämtlicher Fälle von Bewegungen der einen wie der anderen Art in einer einzigen Formel.

Der Erkenntnis, daß auf empirischem Gebiet alle Erklärung in der eben dargelegten Weise auf Vereinfachung der Beschreibung beruth, hat GUSTAV KIRCHHOFF in seiner Definition der Aufgabe der Mechanik Ausdruck verliehen. (3) Wollen wir die gleiche Erkenntnis in der Definition der Psychologie als Erfahrungswissenschaft zum Ausdruck bringen, so werden wir anstelle der oben wiedergegebenen Definition dieser Wissenschaft eine andere, der KIRCHHOFFschen Definition der Mechanik entsprechende Formulierung zu setzen haben: wir werden der Psychologie die Aufgabe stellen müssen,  die psychischen Tatsachen vollständig und in der einfachsten Weise zu beschreiben. 

An einer späteren Stelle werden wir das soeben geschilderte Streben nach einer zusammenfassenden Beschreibung unserer Erfahrungen, wie es aller wissenschaftlichen Theorienbildung zugrunde liegt, als Spezialfall eines allgemeineren, unser gesamtes Denken beherrschenden psychologischen Gesetzes erkennen. (4)

Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei bemerkt: die Behauptung, daß alle Erklärung auf empirischem Gebiet nichts anderes ist, als eine vereinfachte Beschreibung der Tatsachen, will in keiner Weise anstelle des herkömmlichen Begriffs der Erklärung etwas Neues setzen, sondern nur diesen Begriff erläutern und gegen Mißbrauch schützen. Jede  Theorie,  durch welche wir vorgefundene Tatsachen erklären, ist tatsächlich eine Vereinfachung der zusammenfassenden Beschreibung unserer Erfahrungen; und sie kann als Erklärung jeweils nur genausoweit gelten, als sie unter den Begriff einer zusammenfassenden Beschreibung der Tatsachen fällt. Jeder anderweitige Faktor der Erklärung würde selbst wieder einer Erklärung bedürftig sein und so die gegebene Erklärung illusorisch machen. Diese Bemerkung erscheint mir namentlich gegenüber dem mit Kausalerklärungen vielfach in der Philosophie getriebenen Mißbrauch durchaus nicht überflüssig. Daß mit der Beschreibung hier nicht die einfache Aufzählung der wahrgenommenen Erscheinungen gemeint ist, geht aus dem Gesagten deutlich genug hervor, vor allem aus der Forderung der  Vereinfachung  der Beschreibung: die bloße Aufzählung des Beobachteten würde nicht die einfachste, sondern die  wenigst  einfache Art der Beschreibung unserer Erfahrungen sein, da sie jede einzelne Tatsache besonders zu erwähnen hätte. Den Namen der Wissenschaft würde eine solche Beschreibung nicht verdienen. (5)

Wie die geforderte Art der Beschreibung zu leisten ist, zeigt das Beispiel der Naturwissenschaften. Im einzelnen wird sich freilich die Psychologie ihre eigentümlichen Methoden der Forschung und der Bearbeitung des gewonnenen Materials in derselben Weise bilden müssen, wie sich die einzelnen Zweige der Naturwissenschaft ihre besonderen Methoden geschaffen haben; im allgemeinen aber wird der Weg der Forschung hier der gleiche sein, wie dort: Klassifikation der Erscheinungen, Untersuchung der Gesetzmäßigkeiten und Bedingungen ihres Verlaufs, Theorienbildung zur Zusammenfassung des scheinbar Verschiedenartigen unter einheitlichen Gesichtspunkten, eventuell Heranziehung hypothetischer Hilfsbegriffe, wo die Analogie mit anderweitig bekannten Erscheinungen von der Einführung bildliche Vorstellungen eine Vereinfachung in der zusammenfassenden Beschreibung der Tatsachen erhoffen läßt - überall unter Zugrundelegung des durch Analyse der gemachten Erfahrungen, durch Beobachtung und Experiment gewonnenen empirischen Materials.

Als Erfahrungswissenschaft erscheint die Psychologie zunächst den Naturwissenschaften koordiniert. Ob man sie selbst als Naturwissenschaft bezeichnen soll ist eine ziemlich müßige Frage, deren Beantwortung davon abhängt, ob man unter Naturerscheinungen nur die Vorgänge in der materiellen Welt oder auch diejenigen des psychischen Lebens verstehen will. Entscheidet man sich hergebrachter Weise für die erstere Definition, so ist Psychologie natürlich nicht Naturwissenschaft.

Wichtiger ist die Frage, ob die Psychologie den Naturwissenschaften auch ihrer  erkenntnistheoretischen  Stellung nach zu koordinieren sei. Die Naturwissenschaften pflegen von gewissen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen auszugehen - so der Voraussetzung der absoluten Existenz von Raum, Zeit, Materie und Bewegung - ohne sich um die Rechtfertigung dieser Voraussetzungen und die eventuellen Folgen der Unmöglichkeit ihrer Rechtfertigung zu kümmern. Die Lösung dieser Schwierigkeiten bleibt der Philosophie überlassen. Die Versuchung liegt nahe, auch in der Psychologie ähnlich zu verfahren. Die Fortschritte, welche die Psychologie bisher unbekümmert um die erkenntnistheoretische Begründung ihrer Voraussetzungen gemacht hat, scheinen sie zu rechtfertigen, wenn sie es auch in Zukunft der Philosophie anheimstellt, sich mit diesen Voraussetzungen abzufinden, sich selbst aber das Recht der Spezialwissenschaften wahrt und allgemeinere Erörterungen von sich abweist.

Indessen erheben sich gegen ein solches Verfahren gewichtige Bedenken. Wenn es überhaupt Philosophie als Wissenschaft geben soll, so muß dieselbe von gewissen  Erfahrungen  als ihrer Grundlage ausgehen. Das letzte Fundament aller Erfahrung aber sind unsere Erlebnisse: diese also müssen notwendig auch den Ausgangspunkt der Philosophie bilden. Man wende nicht ein, daß dies ein dogmatisches Verfahren sei, welches die kritische Philosophie nicht billigen könne. Es kann sich, wie die Psychologie der Erkenntnis zeigt, niemals um die Frage handeln, ob die Erscheinungen unseres Bewußtseins als solche wahr oder falsch sind: dieselben stehen außerhalb der Frage nach der Wahrheit. Die psychologische Analyse führt uns zur Definition der Wahrheit, zur Darlegung des psychischen Tatbestandes, welcher überall vorliegt, wo wir eine Behauptung als wahr oder falsch erklären. Die so zu gewinnende Definition der Wahrheit wird uns zeigen, daß von einem Glauben oder Nichtglauben an die Daten des Bewußtseins als solche und somit auch vom Vorwurf des Dogmatismus in unserem Fall überhaupt nicht die Rede sein kann.

Aufgrund dieser Erkenntnis erscheint die Psychologie als das einzig mögliche Fundament aller Philosophie, insbesondere also auch der Erkenntnistheorie. Muß somit Philosophie im weiteren Sinne sich überall auf Psychologie stützen, so wird offenbar nicht umgekehrt die Psychologie der Philosophie die Verantwortung für ihre Voraussetzungen aufladen dürfen, wenn nicht ein Zirkel entstehen soll. Für diejenigen Teile der Psychologie also, welche der Erkenntnistheorie als Fundament dienen müssen, werden wir jenes Recht der Spezialwissenschaften keinesfalls in Anspruch nehmen dürfen; und die etwa in anderen Teilen der Bequemlichkeit halber zuzulassenden Annahmen, welche einer erkenntnistheoretischen Rechtfertigung bedürfen, werden in jenem Teil sorgfältig ausgeschieden werden müssen. Zu diesen Annahmen gehört in erster Linie diejenige des Dualismus der psychischen und der materiellen Welt. (6)

Subjektive und objektive Psychologie.  Da jedem von uns direkt nur die Erscheinungen seines eigenen Bewußtseinsverlaufes bekannt sind, und alle Schlüsse auf fremde Bewußtseinstatsachen nur nach Analogie unserer eigenen psychischen Erlebnisse gezogen werden können, so muß die Erkenntnis unserer eigenen Bewußtseinsphänomene aller weiteren psychologischen Forschung zugrunde liegen. Wir können aber eine solche Erkenntnis nicht anders gewinnen, als durch die direkte Betrachtung, Analyse und Vergleichung der Erlebnisse, welche uns unser Bewußtseinsverlauf darbietet - entweder während ihres Auftretens oder nachträglich mit Hilfe des Gedächtnisses. Die letztere Art der Betrachtung ermöglicht eine Erkenntnis und Vergleichung auch für solche Erlebnisse, welche während ihres Verlaufes nicht genügend beobachtet werden können. Die eine wie die andere Art der Gewinnung unseres Erfahrungsmaterials kann durch das Experiment unterstützt werden, indem wir auf künstlichem Weg die Bedingungen für die zu beobachtenden Erscheinungen herstellen und eventuell wiederholt in Wirksamkeit treten lassen können.

Diese Methode der subjektiven psychologischen Analyse führt zunächst zu einer bloß  subjektiven Psychologie  oder  Individualpsychologie.  Außer der genannten direkten Quelle psychischer Erfahrung besitzen wir aber eine indirekte in der Betrachtung der Ausdrucksbewegungen und Mitteilungen anderer Individuen, die wir aufgrund der Analogie mit unseren eigenen Äußerungen als Zeichen psychischer Vorgänge deuten. Insoweit wir überhaupt aufgrund einer solchen Analogie die Existenz empfindender, fühlender und denkender Wesen außer uns erschließen können, gibt uns diese mittelbare Erkenntnis des psychischen Lebens Anderer erstens die Gewißheit, daß die durch die subjektive Analyse gewonnenen Beschreibungen psychischer Tatsachen nicht bloß subjektive Bedeutung beanspruchen dürfen, sondern daß unserer zunächst nur subjektiven Psychologie eine allgemeinere, "objektive" Bedeutung zukommt. Andererseits aber können wir mit Hilfe dieser indirekten Quelle psychischer Erfahrungen die Resultate unserer subjektiven Analyse nicht selten wesentlich ergänzen; dann nämlich, wenn es uns gelingt, unzweideutige Äußerungen von Individuen zu erlangen, welche sich in Verhältnissen befinden, in die wir uns selbst versetzen nicht in der Lage sind. Inbesondere kann die Beobachtung von Äußerungen solcher Individuen von Wichtigkeit werden, deren psychisches Leben aus irgendeinem Grund dem unsrigen gegenüber als ein einfacheres erscheint (7); vornehmlich, wenn es gelingt, ein in der ursprüngliche Entwicklung fehlendes Element später in dieselbe einzuführen und so gewissermaßen einen Teil der sonst im ersten Kindesalter verlaufenden Entwicklung in einem Lebensalter nachzuholen, in welchem das betreffende Individuum bereits hinreichend geistig abgebildet ist, um über seine Erlebnisse Mitteilung zu machen. Die Verwertung solcher an Kindern, an körperlich oder geistig anomalen Individuen, an operierten Blindgeborenen u. a. gemachten Studien läßt freilich bisher noch viel zu wünschen übrig.

Psychophysik und physiologische Psychologie.  Der durch die Analyse unserer eigenen Bewußtseinserscheinungen und durch die Deutung fremder Mitteilungen über Bewußtseinserscheinungen gewonnenen  reinen Psychologie  reiht sich die  Psychophysik  im weitesten Sinne des Wortes an als die Wissenschaft von den Beziehungen des psychischen Lebens zu den Vorgängen der materiellen Welt.

Nichts ist augenfälliger als daß unsere Erlebnisse von Vorgängen in der materiellen Welt abhängen; in letzter Instanz erkennen wir dieselben als abhängig von Vorgängen in der Nervensubstanz des Gehirns. Die Erforschung der Abhängigkeit unserer Bewußtseinsvorgänge von den Erregungen des Nervensystems bildet den Gegenstand der  physiologischen Psychologie,  diejenige ihrer Beziehungen zu den Vorgängen außerhalb des Nervensystems den Gegenstand der  Psychophysik  im engeren Sinne. Da die letzteren Vorgänge nur dadurch als Bedingungen unseres psychischen Lebens fungieren, daß sie zunächst auf unsere Nerven wirken, so muß sich mit dem Fortschreiten der Wissenschaft die Psychophysik mehr und mehr auf physiologische Psychologie reduzieren.

Die physiologische Psychologie aber ihrerseits muß, da sie die Beziehungen der psychischen zu materiellen Vorgängen untersucht, die Resultate der psychologischen Analyse als bekannt voraussetzen; sie kann nicht auf rein physiologischem Weg zu einer psychologischen Deutung der Vorgänge im Nervensystem gelangen. Andererseits würde die psychologische Analyse ohne Hilfe der physiologischen Psychologie eine Reihe wichtiger Probleme unerörtert lassen müssen. Wir werden daher die reine wie die physiologische Psychologie als integrierende Bestandteile der psychologischen Gesamtwissenschaft betrachten, der ersteren aber in jeder Hinsicht den Primat zuerkennen müssen.

Genetische Psychologie.  Nicht alle Bewußtseinsinhalte sind in gleicher Weise  ursprüngliche  Inhalte. Wir beobachten im Laufe unseres Lebens, wie manche Begriffe, manche Unterscheidungen neu  erworben  werden, wie sich unser Denken und Handeln  entwickelt  und  übt.  Wenn wir aber im späteren Leben unsere Inhalte in dieser Weise in Veränderung begriffen finden, so werden wir konsequenterweise auf analoge Entwicklungen in früheren, uns zum Teil nicht mehr erinnerlichen Stadiens unseres Lebens schließen müssen, in welchen sich unser gegenwärtiger Besitz an Begriffen, unsere Erfahrung und unsere Dispositionen zu Urteilen und Handlungen gebildet haben. Wir werden uns daher nicht damit begnügen dürfen, nur die Tatsachen unseres  entwickelten  Lebens zu beschreiben; sondern wir werden diejenigen Bestandteil des psychischen Geschehens suchen müssen, welche sich erst im Laufe unserer Entwicklung gebildet haben, aufzuzeigen und die Art ihrer Entstehung zu erschließen. (8)

Das Prinzip, auf welches sich Schlüsse der letzteren Art gründen müssen, wenn der rein empirische Charakter unserer Wissenschaft gewahrt bleiben soll, ist dieses: wir dürfen keine anderen Arten der Entwicklung für die früheren Phasen unseres Lebens voraussetzen, als diejenigen, welche wir noch in den unserer Beobachtung bzw. Erinnerung zugänglichen Phasen nachweisen können. Nur indem wir dieses Prinzip beachten, gewinnen wir eine Vereinfachung in der zusammenfassenden Beschreibung unserer Erfahrungen, inden wir eben die früheren mit den jüngeren Phasen der Entwicklung unter gemeinschaftliche Gesetze zusammenfassen.

Unsere Untersuchung wird uns mit einer Anzahl solcher Gesetze bekannt machen. Sie wird uns aber zugleich eine Reihe von Tatsachen aufweisen, welche wir als ursprüngliche, schon den ersten Anfängen psychischen Lebens zugrunde liegende Tatsachen deswegen betrachten müssen, weil ohne dieselben die Entstehung irgendeiner Erfahrung, die Bildung der ersten Begriffe, welche aller weiteren Erfahrung zugrunde liegen, niemals möglich gewesen wäre. Diese Tatsachen sind diejenigen, welche die Erkenntnis des  zeitlichen Verlaufs  und des  Zusammenhangs  unserer Erlebnisse bedingen.

Mit der Erkenntnis dieser Tatsachen beantwortet sich die Frage von selbst, welche KANT als Frage nach den Gründen zur Möglichkeit der Erfahrung in der "Deduktion der reinen Verstandesbegriffe" (9) gestellt und zu beantworten gesucht hat. Die Antwort, welche unserer Untersuchung liefert, unterscheidet sich zwar in vielen und sehr wesentlichen Beziehungen von derjenigen KANTs; auf die Übereinstimmung beider Fragestellungen aber, wie auch der Prinzipien, auf welche sich die Beantwortung hier wie dort gründet, sei ausdrücklich hingewiesen. (10)

Eben jene Tatsachen, welche als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung erscheinen, enthalten zugleich die Bedingungen der Gesetze in sich, auf welchen die  Entwicklung  der Erfahrung beruth: so daß wir mit der Erkenntnis jener Tatsachen uns in den Stand gesetzt sehen, die Entwicklung unseres psychischen Lebens, die Genesis unserer Erfahrung wenigstens in ihren Hauptzügen vollständig zu überschauen. Mit der Erkenntnis dieser Entwicklung ist das Ziel der allgemeinen Psychologie erreicht und die Grundlage gegeben, auf welche sich der Ausbau der Wissenschaft im einzelnen überall stützen kann.


Erstes Kapitel
Elementare Tatsachen des
Bewußtseinsverlaufs

Gemäß den in der Einleitung dargelegten Prinzipien wird es unsere erste Aufgabe sein, die Tatsachen des psychischen Lebens, wie sie sich uns als unsere Erlebnisse direkt darbieten, zu analysieren und zusammenfassend zu beschreiben. Diese Beschreibung wird sich zunächst nur auf die allgemeinsten, überall wiederkehrenden Tatsachen richten können; das so gewonnene erste, skizzenhafte Bild werden die folgenden Kapitel im einzelnen weiter auszuführen haben.

Das Leben.  Was sich uns ohne jede weitere Analyse unmittelbar als gegeben darbietet, ist die Kenntnis einer Summe von Ereignissen, die wir zusammenfassend als den  Inhalt unseres Lebens  bezeichnen können. Diese Ereignisse oder Erlebnisse erscheinen in gewisser Weise geordnet: sie bilden eine zeitlich verlaufende Reihe, deren Glieder untereinander in einem gewissen Zusammenhang stehen, so daß keines der Erlebnisse ohne irgendwelche  Beziehungen zu vorhergegangenen Erlebnissen  erscheint. Nur ein sehr kleiner Teil dieser Ereignisse erscheint jeweils als  gegenwärtig;  von den übrigen sagen wir, sie seien  vergangen  - ohne daß sie doch darum spurlos verschwunden und in nichts zerflossen wären, da sie nicht nur in gewisser Weise von uns im Gedächtnis betrachtet werden können, sondern auch die folgenden Glieder der Reihe überall wesentlich mitbestimmen. Zum Teil glauben wir die Reihe unserer Erlebnisse deutlich zu überblicken, zum Teil scheint sie in ein mehr oder minder tiefes Dunkel gehüllt; ihren Anfang vermögen wir nicht zu erkennen und ein Ende der Reihe scheinen wir uns kaum vorstellen zu können. Über die Beschaffenheit und die Unterschiede ihrer einzelnen Glieder ist ohne eingehende Analyse zunächst nicht viel auszusagen. Nur ihr rastloses Hinströmen, ihr Kommen und Gehen und ihr eigentümlicher gegenseitiger Zusammenhang, der sie nicht als selbständig bestehend, sondern als Glieder einer Kette, als Wellen eines Stromes (11) erscheinen läßt, fällt unmittelbar ins Auge.

Um jedoch das Wesen und die Eigenschaften dieses Stromes und seiner Bestandteile näher kennen zu lernen, brauchen wir nichts zu tun, als eben unsere Erlebnisse, die in den verschiedenen Momenten unseres Lebens konkret gegebenen Erscheinungen und die eigentümliche Art des Zusammenhangs derselben genauer ins Auge zu fassen. Diese Betrachtung liefert uns sogleich eine Reihe fundamentaler Tatsachen, deren Beschreibung in diesem Kapitel versucht werden soll.

Bewußtseinsinhalte.  Die erste und allgemeinste Tatsache, welche wir aufgrund einer solchen Betrachtung konstatieren können, ist die, daß sich in jedem Augenblick unseres wachen Lebens  Bewußtseinsinhalte  vorfinden. Was mit dieser Behauptung gemeint ist, darf nach den Ausführungen der Einleitung als einem jeden verständlich betrachtet werden. Wie immer sich unser Leben augenblicklich gestaltet: ob wir uns mit dem Eifer der Betrachtung irgendeines Phänomens hingeben oder uns planlos und träumend dem Zug unserer Phantasie überlassen; ob wir uns erinnernd das Vergangene vergegenwärtigen oder uns Erwartungen für die Zukunft ausmalen; ob wir fragen, zweifeln, urteilen, ob wir uns passiv genießend oder leidend verhalten, sehnen, wünschen, hoffen, fürchten, oder ob wir uns entschließen, wollen, handeln - in jedem Augenblick ist uns etwas gegeben, wovon wir jeweils eine unmittelbare Kenntnis haben, worauf sich, wie man sagt, unsere Gedanken richten, was uns als Inhalt unseres Vorstellens oder unseres Beobachtens, als das eigentümliche Erlebnis des Zweifels, des Vollzugs eines Urteils, als das Gefühl des Schmerzes oder der Freude, des Wunsches oder des Wollens gegenwärtig ist oder als Ziel unseres Handelns vorschwebt. Was dieser Inhalt unseres Bewußtseins in jedem Augenblick ist, läßt sich sprachlich freilich nicht immer deutlich zum Ausdruck bringen. Die Sprache besitzt für die unendlich mannigfaltigen Nuancen verschiedenartiger Bewußtseinsinhalte auch nicht annähernd ausreichende Bezeichnungen - eine Tatsache, deren Gründe wir später betrachten werden. Jedenfalls aber ist irgendetwas zu jeder Zeit unseres wachen Lebens und, wie wir gleich hinzufügen können, auch jeweils in unseren Träumen in der angegebenen Weise Inhalt unseres Bewußtseins; und soweit unsere Erinnerung reicht, ist uns zu jeder Zeit unseres Lebens irgendein solcher Bewußtseinsinhalt gegenwärtig gewesen, ausgenommen einzig die Zeiten des traumlosen Schlafes, für welche uns die Erinnerung keine derartigen Inhalte erkennen läßt.

Gleichbedeutend mit dem Wort Bewußtseinsinhalt gebrauchen wir gelegentlich auch die Ausdrücke  Gegenstände  oder  Objekte  des Bewußtseins; mit der ausdrücklichen Bemerkung, daß hier mit den Worten Gegenstand und Objekt keinerlei metaphysische Nebenbedeutung verbunden, sondern einfach eine Bezeichnung eben jener direkt erkennbaren Tatsachen gegeben sein soll. Im gleichen Sinne wie Bewußtseinsinhalt wird auch das Wort  Erscheinung  oder  Phänomen  gebraucht: wobei abermals zu erinnern ist, daß damit keinerlei Gegensatz eines "bloßen Erscheinens" gegen eine "den Erscheinungen zugrunde liegende Wirklichkeit" angedeutet oder zugegeben sein soll. Die vorgefundenen Erscheinungen, unsere Erlebnisse oder Bewußtseinsinhalte sind vielmehr die Elemente, aus welchen sich alle Wirklichkeit für uns aufbaut.

Man bezeichnet die Bewußtseinsinhalte auch vielfach als  Vorstellungsinhalte  und gebraucht das Wort  Vorstellen  (oder "Vorstellung" im aktiven Sinn) für die Tatsache, daß uns ein Inhalt erscheint, welcher seinerseits als Objekt dieses Vorstellens (als "Vorstellung" im passiven Sinne) bezeichnet wird.

Dieser Sprachgebrauch erscheint jedoch aus mehreren Gründen unzweckmäßig. Einmal deshalb, weil er leicht zu Verwechslungen Anlaß gibt. Die vulgäre Bedeutung des Wortes "Vorstellung" ist eine engere: die der "bloßen Vorstellung" im Gegensatz zum "wirklich Existierenden" - wie wir von der bloßen Vorstellung eines Schmerzes im Gegensatz zum wirklichen Schmerz sprechen. Bezeichnet man nun wissenschaftlich alle psychischen Tatsachen als Vorstellungen, so liegt die Gefahr nahe, daß der Schein des Unwirklichen, welcher dem Wort von seiner vulgären Bedeutung her anhaftet, unwillkürlich auch auf seinen weiteren Gebrauch übertragen wird. Nur durch diese irrige Übertragung hat der Begriff des Vorstellungsinhaltes in seinem weiteren Sinn und damit der Begriff der "Welt als Vorstellung" den unverdienten Beigeschmack des Traumhaften, Wesenlosen erhalten; die gleiche Verwechslung hat zu mannigfaltigen Verwirrungen in der Theorie des Urteils Anlaß gegeben. (12). Auf der anderen Seite legt die Bezeichnung unserer Erlebnisse als Vorstellungen die Auffassung nahe, als ob wir, entsprechend dem aktiven und passiven Gebrauch des Wortes Vorstellung, auch zwischen einem  Akt  des Vorstellens zu unterscheiden hätten, auf welche diese Tätigkeit gerichtet wäre, und die uns gewissermaßen als etwas Fremdes, Äußerliches gegenüberständen. Eine solche Auffassung ist in der Tat weit verbreitet. Man sagt uns,  derselbe  Bewußtseinsinhalt könne  in verschiedener Weise  Gegenstand unseres Vorstellens, unserer "psychischen Tätigkeit" werden: einmal als wirklich empfunden, ein anderes Mal als bloß vorgestellt; einmal ohne Gefühlsinteresse betrachtet, dann wieder als begehrt oder verabscheut. Es müsse somit die Verschiedenheit dieser Fälle durch Verschiedenheiten der psychischen  Akte  bedingt sein,  durch  welche oder  in  welchen wir uns den betreffenden Bewußtseinsinhalt vorstellen. Diese Argumentation ist jedoch inkonsequent. Wenn alles, wovon wir direkte Kenntnis haben, alles also, was wir vorfinen, als Vorstellungsinhalt bezeichnet wird, so können auch irgendwelche Unterschiede unserer Erlebnisse, welche wir vorfinden eben nur als Unterschiede des Vorgefundenen, also der Vorstellungs inhalte  bezeichnet werden. Demgemäß müssen auch in den eben angeführten Fällen, in welchen scheinbar - nämlich nach vulgärem Sprachgebrauch - die  gleichen  Inhalte in verschiedener  Weise  vorgestellt werden, tatsächlich die vorgefundenden Unterschiede auf Unterschiede der  Inhalte  zurückgeführt werden. In der Tat ist z. B. das bloße Phantasma eines Tones, das Erlebnis also, welches vorgefunden wird, wenn die "bloße Vorstellung" eines Tones erscheint, vom gegenwärtig erklingenden,  empfundenen  Ton wesentlich verschieden; ein Unterschied, welcher gegenüber weitverbreiteten Mißverständnisse nicht scharf genug betont werden kann. (13) Auch die eben erwähnten Unterschiede der "Gefühlsbetonung" lassen sich, wie wir sehen werden, durchaus auf Unterschiede der vorgefundenen Inhalte zurückführen. Der Anschein, als ob hier gleiche Inhalte mit verschiedener Wirkung auf das Gefühl, gleiche Bewußtseinsobjekte mit verschiedener Wirkng auf das "Subjekt des Vorstellens" vorlägen, entsteht nur daraus, daß irgendein Teil des gesamten Bewußtseinsinhaltes allein  beachtet  und deshalb für den  einzigen  Inhalt gehalten wird, während tatsächlich der Bewußtseinsinhalt noch durch eine Reihe weiterer, jeweils  verschiedener  Faktoren bestimmt wird. (14)

Alle Bewußtseinsinhalte werden vorgefunden und sind somit als Gegenstände einer direkten  Kenntnisnahme  zu bezeichnen. Man spricht daher auch davon, daß dem Bewußtsein die Funktion des  Erkennens  zukommt. Mit diesem Ausdruck ist aber nur das Vorhandensein psychischer Tatsachen in anderer Weise bezeichnet. Das Wort Bewußtsein kann für uns zunächst keine andere Bedeutung haben, als die eines allgemeinen Ausdrucks für die gemeinsame Eigentümlichkeit aller psychischen Tatsachen; ein Gegensatz zwischen einem erkennenden Bewußtsein und den erkannten Tatsachen läßt sich von vornherein wenigstens in keiner Weise empirisch definieren. Wir finden keine Abstraktum "Bewußtsein", sondern nur konkrete Bewußtseins inhalte  vor. (15)

Eben weil wir aber mit dem Namen Bewußtsein das Gemeinsame der psychischen Tatsachen bezeichnen, erscheint jene "erkennende Funktion" als die allgemeinsten Funktion des Bewußtseins. Sie ist aber keineswegs die einzige: vielmehr muß jeder Unterschied der Bewußtseinsinhalte zugleich als Unterschied der Bewußtseins funktion  erscheinen, wenn wir den vulgären Sprachgebrauch, der im Vorfinden der Inhalte eine Funktion des Bewußtseins sieht, überhaupt zulassen wollen. Denn eben dieses Vorfinden ist nicht mehr dasselbe, sobald die Inhalte verschieden sind: nur solange wir von den Unterschiede der Inhalte  abstrahieren,  erscheint ein "Vorfinden" begrifflich in den verschiedenen Fällen als das gleiche. Daher verträgt es sich denn mit der allgemeinen erkennenden Funktion des Bewußtseins sehr wohl, daß dasselbe gleichzeitig noch andere "Funktionen", z. B. die des als angenehm oder unangenehm Empfindens, des Wollens oder Nichtwollens besitzt. (16)

Sukzessive und gleichzeitige Inhalte.  Eine weitere Tatsache, welche sich ebenso allgemein konstatieren läßt, wie die eben besprochene, ist die des  raschen Wechsels  unserer Bewußtseinsinhalte. Auch diese Tatsache bedarf als solche keiner näheren Erläuterung. Die Änderungen des Vorgefundenen, welche wir als Änderungen in der  Umgebung  unseres Körpers, wie auch jene, welche wir als bedingt durch Bewegungen unseres Körpers oder seiner Teile erkennen, sind jedermann hinreichend bekannt. Aber auch wo solche Änderungen nicht vorgefunden werden, ist doch ein Wechsel unserer Bewußtseinsinhalte jederzeit zu konstatieren, indem sich, wie man zu sagen pflegt, unsere Aufmerksamkeit bald dieser bald jener Empfindung, bald wieder dem Zug unserer Phantasie oder unserer Erinnerungen zuwendet. Zum Teil pflegen wir diese Änderungen einer Aktivität unsererseits zuzuschreiben, zum Teil scheinen sie ohne unser Zutun einzutreten; die tatsächlichen Unterschiede, auf welche diese Ausdrücke hinweisen, können erst später näher besprochen werden. Endlich vollziehen sich auch beim Beobachten einer konstanten Empfindungsqualität Veränderungen unseres Bewußtseinsinhaltes: wenn wir auf einen konstant klingenden Ton horchen, so ist unser Bewußtseinsinhalt nach einer bestimmten Dauer dieses Tones ein anderer als nach der doppelten oder dreifachen Dauer desselben; mit anderen Worten: auch wo keine anderweitige Änderungen bemerkt werden können, lassen sich doch stets  zeitliche  Änderungen - Änderungen der Inhalts dauer  - konstatieren.

Die hier beschriebene Erkenntnis des zeitlichen Wechsels, oder, wie wir hierfür auch sagen wollen, die  Unterscheidung sukzessiver Bewußtseinsinhalte  ist die fundamentale Tatsache, welche der Erkenntnis des zeitlichen Verlaufs unseres Lebens zugrunde liegt. Da wir uns irgendwelche psychische Tatsachen  ohne  zeitlichen Verlauf nicht auszudenken imstande sind, so besteht keine Aussicht, die genannte Tatsache auf  andere, einfachere  psychische Daten zurückzuführen - wenn gleich eine eingehende Analyse uns im Folgenden noch zu einer anderen Art der Darstellung  derselben  Tatsache führen wird. Diese Tatsache ist in jeder anderen psychischen Tatsache enthalten und vorausgesetzt; auch die (hypothetischen) ersten Anfänge unseres psychischen Lebens können nicht ohne dieselbe gedacht werden.

Mit der Behauptung des Wechsels unserer Bewußtseinsinhalte soll nicht gesagt sein, daß kein Inhalt auch nur die kleinste Zeit als  konstant  vorgefunden werden könne. Alles, was die direkte Erfahrung lehrt, ist vielmehr nur, daß wir jeweils nach Ablauf einer im allgemeinen sehr kurzen Zeit etwas anderes vorfinden als zuvor; von einem  kontinuierlichen Bemerken  von Änderungen aber ist für gewöhnlich wenigstens ganz sicher nicht die Rede. Die ausführlichere Betrachtung dieses Punktes folgt im dritten Kapitel. Ebensowenig ist mit jener Behauptung gemeint, daß wir alle die Unterschiede sukzessiver Inhalte, welche sich uns bei nachträglicher Reflexion zu erkennen geben, auch unmittelbar während des Verlaufs der betreffenden Inhalte schon vorfinden müßten. Was mit jener "Unterscheidung aufgrund nachträglicher Reflexion" gemeint ist und inwiefern uns dieselbe zu der Behauptung berechtigt, daß stets kürzere oder längere Reihen von Inhalten verlaufen,  ohne  daß wir dieselben als sukzessive Inhalte unmittelbar unterscheiden, die vielmehr erst nachträglich (in  mittelbarer  Weise) als Mehrheiten sukzessiver Teile beurteilt werden, wird gleichfalls erst später zu besprechen sein.

Wir finden nicht nur Mehrheiten sukzessiver, sondern auch Mehrheiten  gleichzeitiger  Inhalte vor. Auch diese Tatsache kann jedermann unmittelbar erkennen: was mit derselben gemeint ist, zeigt am deutlichsten der Hinweis auf das Gebiet der Gesichtsempfindungen. Ein Nebeneinander verschieden gefärbter Flächen (wie etwa der Mond auf dem dunklen Hintergrund des Himmels) erscheint direkt als Mehrheit verschiedener Teile und zwar auch  ohne  daß wir den Blick wandern lassen und die verschiedenen Teile  sukzessive  wahrnehmen. Ebenso werden die gleichzeitigen Empfindungen verschiedener Organe, wie z. B. unsere Gehörs- und Gesichtsempfindungen nebeneinander ohne weiteres als Mehrheiten gleichzeitiger Inhalte erkannt. Eine gleichzeitige Mehrheit von Inhalten wird ferner unmittelbar vorgefunden, wo wir an Vergangenes denken und zugleich den Eintritt irgendwelcher gegenwärtiger Empfindungen bemerken. Gleichzeitige Mehrheiten von Inhalten lassen sich also wenigstens im entwickelten Leben ebenso unmittelbar erkennen, wie die Mehrheiten sukzessiver Inhalte. Die Frage, ob sich die Erkenntnis gleichzeitiger Mehrheiten überall ebenso ursprünglich vollzieht, wie diejenige der sukzessiven, wird erst später zu untersuchen sein; desgleichen werden wir die "Zerlegung" eines zunächst einheitlich auftretenden Inhaltes in eine Mehrheit gleichzeitiger Teile erst in einem der folgenden Kapitel betrachten.

Mit der Erkenntnis der Mehrheit geht bei sukzessiven wie bei gleichzeitigen Inhalten ein Unterscheiden der Teile dieser Mehrheiten Hand in Hand, oder, strenger gesprochen, die Mehrheitserkenntnis ist hier wie dort mit einer solchen Unterscheidung identisch. Erst indem ich einen Inhalt von einem andern - vorhergegangenen oder gleichzeitigen - Inhalt unterscheide, gewinne ich die Erfahrung von einer Mehrheit sukzessiver, bzw. gleichzeitiger Inhalte. Im letzteren Fall ist mit der Behauptung einer Mehrheit gleichzeitiger Inhalte nur ausgesagt, daß sich Unterschiede finden, welche nicht durch Sukzession bedingt sind.

Die elementare Unterscheidung, von welcher hier die Rede ist, braucht übrigens keineswegs als solche  beurteilt  zu werden. Wir finden die unterschiedenen Teile, die Mehrheiten von Inhalten vor, aber wir finden durchaus nicht jederzeit daneben noch eine  Unterscheidung  derselben vor. Was als eine  Beurteilung  dieser Unterscheidung selbst bezeichnet wird, sind weitere psychische Vorgänge, die sich an jenen Tatbestand anschließen; dieser aber ist von solchen  Folge vorgängen seinerseits natürlich durchaus unabhängig. Ebensowenig braucht sich mit der Unterscheidung jeweils die ausdrückliche Beurteilung der unterschiedenen Teile  als  einer Mehrheit zu vollziehen. Die hier erwähnten Urteilsvorgänge werden später besprochen werden; hier mußte nur auf sie hingewiesen werden um naheliegenden Mißverständnissen zu begegnen. Als ein Mißverständis müßte es auch bezeichnet werden, wenn jemand behaupten wollte, daß wir, um zwei Bewußtseinsinhalte als verschieden zu erkennen (d. h. eben um sie zu unterscheiden), bereits erkannt haben müßten, daß wir eine Mehrheit von Inhalten vor uns haben und daß somit eine andere, elementare Erkenntnis - Mehrheitserkenntnis - der Unterscheidung des Sukzessiven wie des Gleichzeitigen vorausgehen müßte.  Wir verstehen  unter der hier besprochenen Unterscheidung eben diese elementare Mehrheitserkenntnis; zu dieser ist eine besondere  Vergleichungstätigkeit  nicht erforderlich,  sie  ist es vielmehr, welche aller weiteren Vergleichungstätigkeit vorangehen muß, da wir ohne sie die zu vergleichenden Inhalte überhaupt nicht auseinanderhalten könnten. Der Einwand endlich, daß das Vorfinden der Bewußtseinsinhalte auch ohne Unterscheidung vor sich gehen könnte, faßt gleichfalls den Begriff der Unterscheidung in einem zu engen Sinn: jede Erkenntnis eines Inhaltes als  dieses  bestimmten, eben  jetzt  wahrgenommenen schließt die hier besprochene Unterscheidung von anderen in sich. Daß auch diese individualisierenden Prädikate eines jeden einzelnen Inhaltes nicht jedesmal besonders  beurteilt  werden müssen, damit der Inhalt individualisiert, d. h. eben  unterschieden  sei, bedarf nach den obigen Bemerkungen nicht einer nochmaligen Betonung. (17)
LITERATUR - Hans Cornelius, Psychologie als Erfahrungswissenschaft, Leipzig 1897
    Anmerkungen
    1) Daß hiermit nicht etwa von vornherein die Möglichkeit abgeschnitten ist, den Begriff  unbewußter  psychischer Tatsachen einzuführen zeigen die Betrachtungen des dritten Kapitels.
    2) Man beachte den Unterschied des hier bezeichneten Gegensatzes mittelbarer und unmittelbarer Erfahrung gegenüber dem in WUNDTs "Grundriß der Psychologie", Seite 3, bezeichneten Gegensatz, der sich auf eine "unmittelbare" Zerlegung jeder Erfahrung in zwei Faktoren gründet. Findet eine solche Zerlegung jeder Erfahrung statt, so ist die Erkenntnis eines jeden der beiden Faktoren eine  unmittelbare  Erfahrung in unserem Sinne und beide Faktoren sind daher Gegenstände der  psychologischen  Untersuchung.
    3) GUSTAV KIRCHHOFF, Vorlesungen über mathematische Physik. Mechanik. 2. Auflage, Seite 1. Die Einsicht in die allgemeinere Bedeutung dieses Prinzips verdanken wir MACH und AVENARIUS (vgl. Kap. II)
    4) Siehe Kapitel II
    5) Diese Bemerkungen werden, wie ich hoffe, die gegebene Definition der Psychologie vor den Vorwürfen sichern, welche LIPPS in seinem Vortrag "Über den Begriff des Unbewußten in der Psychologie" (Bericht über den III. internationalen Kongreß für Psychologie, Seite 146f) mit Recht gegen die beschreibende Psychologie im  hergebrachten  Sinne dieser Bezeichnung erhebt. - Einen ähnlichen Standpunkt wie die Ausführungen des Textes vertritt JODL in der Einleitung seines jüngst erschienenen Lehrbuchs der Psychologie.
    6) Die Befürchtung von JAMES, daß eine solche von metaphysischen Voraussetzungen freie Behandlung der Psychologie sich nicht in einem Buch, sondern nur in einer ganzen Bibliothek werde leisten lassen, hoffe ich durch die folgende Darstellung zu widerlegen.
    7) Vgl. u. a. BRENTANO, Psychologie vom empirischen Standpunkt, Bd. 1, 1874, Seite 49f
    8) Zu diesen nichtursprünglichen Bestandteilen gehört, wie hier vorgreifend bemerkt sein mag, der Begriff des  Dings  und der damit auf engste zusammenhängende Gegensatz des  Subektiven  und  Objektiven  (vgl. Kap. II und V). Wir dürfen diesen Gegensatz deshalb nicht von vornherein als einen gegebenen und selbstverständlichen unseren Betrachtungen zugrunde legen.
    9) In der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft.
    10) Vgl. meinen Aufsatz "Das Gesetz der Übung", Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. XX, Leipzig 1896, Seite 48
    11) Nach JAMES (Principles of Psychology, Bd. 1, Seite 239) wäre nur dieser zweite Vergleich zutreffend. Die folgenden Betrachtungen dürften jedoch auch das Bild der "Kette" nicht als unannehmbar erscheinen lassen.
    12) Vgl. meine Schrift "Versuch einer Theorie der Existenzialurteile" (München 1894), Seite 94f
    13) Vgl. die in der vorigen Anmerkung zitierte Schrift Kapitel II und IV.
    14) Siehe besonders weiter unten Kapitel III. - Mit den Betrachtungen des Textes soll übrigens selbstverständlich nicht das Vorhandensein einer Aktivität, eines  Tätigkeitsgefühls  bei manchen Erlebnissen geleugnet werden. Allein wir dürfen eine solche Aktivität erstens nicht in die Fälle hineininterpretieren, in welchen die Erfahrung eine bloße Passivität zeigt; wir dürfen also vor allem nicht die Tatsache, daß irgendein Bewußtseinsinhalt  erscheint,  überall auf eine solche Aktivität zurückführen, die sich in der Erfahrung nicht vorfindet. Und ferner werden wir jenes Aktivitätsgefühl da, wo es sich findet, eben auch seinerseits als Erlebnis, als als Bewußtseins inhalt  - oder zumindest als  Eigenschaft  einer besonderen Klasse von Bewußtseinsinhalten - zu betrachten haben. Die  Analyse  dieses Aktivitätsbewußtseins folgt später (Kapitel VII).
    15) Das Wort "Erkennen" ist hier in seiner weitesten Bedeutung gebraucht. Vielfach wird mit demselben ein engerer Komplex von Tatsachen bezeichnet, der im Folgenden (bei der Betrachtung des Wiedererkennens und der Prädikation von Bewußtseinsinhalten) zu beschreiben sein wird. Dieser engere Sinne des Wortes Erkennen steht dem hier gemeinten weiteren Sinn desselben ebenso gegenüber, wie das "knowledge about an object" der einfachen "acquaintance" with the object" in JAMES' Terminologie (Principles of Psychology, Bd. 1, Seite 221 uns sonst mehrfach).
    16) JAMES legt (a. a. O. Seite 225 und 284f) hohen Wert auf den Begriff einer  auswählenden  Funktion des Bewußtseins, vermöge deren wir fortwährend einen Teil der sich darbietenden Inhalte bevorzugen, andere vernachlässigen. Es will mir scheinen, als ob wenigstens ein Teil der Tatsachen, die JAMES durch diesen Begriff bezeichnet, einer noch weiteren und einfacheren Beschreibung zugänglich wäre.
    17) Wer etwa einwendet, daß man doch "einen Menschen sehen und dabei von seiner Verschiedenheit anderen Menschen gegenüber ganz absehen" könne, trifft damit natürlich nicht die hier gegebene Auseinandersetzung. Die Unterscheidung eines Menschen von anderen Menschen fällt mit der Unterscheidung des wahrgenommenen Inhaltes von anderen Inhalten nicht zusammen; die letztere Unterscheidung aber ist notwendig, um den "gesehenen Menschen" als Menschen von seiner Umgebung abzuheben - ohne dieselbe würden wir eben nur ein einheitliches Gesichtsfeld und keinen als menschliche Figur zu charakterisierenden  Teil  des Gesichtsfeldes vorfinden.