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MORITZ SCHLICK
Erscheinung und Wesen

"Die Bewußtseinswirklichkeit ist ein Gefüge zahlloser unaufhörlich wechselnder Qualitäten; und wenn man uns frägt, was denn nun die übrige reale Welt sei, so werden wir antworten: nun, sie ist eben auch ein Gewebe unablässig wechselnder Qualitäten. Die weitere Frage, wie denn nun diese Qualitäten  ansich beschaffen seien, d. h. unabhängig von unserer Bezeichnung durch Begriffe, wird als falsch gestellt abgelehnt werden müssen, denn jede nur denkbare Anwort auf eine solche Frage könnte eben doch wieder nichts anderes leisten und bedeuten als eine Bezeichnung durch einen Begriff. Was sich über das Wesen der Außenwelt sagen läßt, ist vollsändig enthalten in dem ihr zugeordneten Begriffssystem, das wir Naturwissenschaft nennen."

"Wir haben keinen Grund, über die Unerkennbarkeit der Welt zu klagen, und darüber, daß uns etwa nur ihre  Erscheinung zugänglich sei. Im Gegenteil, was wir durch unsere Begriffe erkennen, ist immer nur Wesen; es gibt keine Erscheinung."


Von der Philosophie haben ihre Freunde sowohl wie ihre Gegner zuweilen behauptet, daß sie niemals in demselben Sinne positive Arbeit leisten könne wie die Einzelwissenschaften. Sie bereichert, so heißt es, unser Wissen nie um neue Tatsachen, sondern nimmt nur auf anderem Weg bereits gefundene Tatsachen auf und sucht sie in ihr System einzufügen. Man entgegnet wohl: die Tatsachen seien auch gar nicht das Wichtige, einzig Belangreiche und Wesentliche menschlicher Wissenschaft, sondern das läge allein den  Gedanken  über die Tatsachen, und im System dieser Gedanken, und deren Heimat sei in der Philosophie, von ihr würden sie in letzter Linie hervorgebracht.

Aber auch das wird bestritten. Mit der Wahrnehmung der Tatsachen, sagt man, sind auch schon Gedanken über sie da, das Faktische ist nach GOETHEs Wort schon Theorie; das vorwissenschaftliche und das einzelwissenschaftliche Vorstellungsleben des Menschen ist schon durchsetzt von Begriffen, enthält einen Schatz von Begriffen; mit ihm arbeitet die Philosophie und muß mit ihm arbeiten, ohne ihn wahrhaft bereichern zu können. Ihre Aufgabe erschöpft sich nach dieser Meinung darin, diese Begriffe miteinander zu kombinieren, zu versöhnen und in ein widerspruchsloses System zu bringen. HERBART definierte die Philosophie als Bearbeitung der Begriffe, nicht etwa als Schöpfung der Begriffe. Das ist charakteristisch. Er meinte, daß alle vorphilosophischen Begriffe an Widersprüchen kranken, und die Philosophie habe kein anderes Ziel als diese Widersprüche zu überwinden, das wissenschaftliche Gedankensystem von ihnen zu reinigen. HERBART war ein Freund der Philosophie, ihre Gegner aber erklärten es für einen Mangel, daß sie ihre letzten begrifflichen Elemente nicht erschaffe, sondern nur ordne und säubere, sie sahen darin einen Beweis ihrer Fruchtlosigkeit und Entbehrlichkeit und priesen der Philosophie gegenüber die Einzelwissenschaften als die allein schöpferischen, nur durch sie käme wahrhaft neues Material in die menschliche Erkenntnis und wirklicher Fortschritt.

Ich erinnere nicht daran, um in diesen Tadel mit einzustimmen, aber ich vertrete in der Tat die Meinung, daß die beschriebenen Anschauungen vom Wesen der Philosophie einen richtigen und gesunden Kern enthalten, und sie sind nur insofern irrig, als sie damit zugleich ein Werturteil über die philosophische Arbeit fällen, mit dem sie ihr bitter unrecht tun und ihren Erfolg verkennen.

KANT, in dessen Namen diese Studien erscheinen (womit bekanntlich nicht gesagt sein soll, daß ihre Mitarbeit auf das Kantische System schwören, wohl aber, daß sie in ihm einen Lehrmeister der Philosophie sehen, irgendetwas an seiner Methode als vorbildlich bewundern), - KANT nannte seine Methode eine  kritische.  Er hat eingesehen, daß die Tat der Philosophie kritisch ist, nicht schöpferisch in dem Sinne, wie die alte Metaphysik schöpferisch - sein  wollte.  Und wer die moderne Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens begreift, muß hier mit KANT übereinstimmen, und höchstens  den  Vorwurf werden wir zuweilen gegen ihn erheben, daß seine Methode noch nicht kritisch  genug  war.

Die geschilderten Auffassungen der Philosophie treffen aber  nicht  die Wahrheit, wenn sie von der richtigen Einsicht in ihren kritischen Charakter zu einer Geringschätzung philosophischen Strebens gelangen und seine Leistung für sekundär und für letzten Endes entbehrlich halten. Ganz das Gegenteil ist der Fall: die kritische Arbeit krönt und vollendet erst die Einzelerkenntnisse, verbindet sie zur Einheit und zeigt ihren systematischen Zusammenhang. Vergegenwärtigen wir uns doch, was sie leistet: Kritische Reinigung und Versöhnung der Begriffe, ihre Durchbildung und Einfügung in ein System, das heißt logisch gesprochen weiter nichts als Entfernung jedes Widerspruchs aus den Urteilen, durch welche sich die Begriffe verknüpfen lassen. Ausmerzung aller Widersprüche, das bedeutet aber: Befreiung von allen Irrtümern! Jeder Irrtum nämlich muß sich zuletzt in irgendwelchen Widersprüchen kundgeben, die er gebiert - denn wir verstehen eben unter Irrtum einen Gedanken, der irgendwie zum Widerspruch mit der Erfahrung oder mit bereits durch Definition feststehenden Begriffsbildungen führt. Alles Irrens aber ledig zu sein - ein höheres Ziel gibt es für unser Forschen nicht. Vor dem Irrtum aber rettet man sich nur auf zwei Wegen: entweder man entsagt dem Denken überhaupt, oder man sucht das Heil in der Philosophie.

Natürlich sind auch in vorphilosophischen Gedankenbildungen schon Kräfte tätig, die an der Beseitigung der Widersprüche erfolgreich arbeiten, aber ihre Reinigung dringt nur bis zu gewissen allgemeinsten Begriffen vor, die im Betrieb des Lebens und der Einzelwissenschaften zunächst unangefochten bleiben können. Diese höchsten Begriffe, die wegen ihrer Allgemeinheit  alle  andern durchdringen, verbinden die einzelnen Wissenschaften miteinander und schlagen Brücken zwischen ihnen und dem praktischen Leben, weil sie ihnen allen gemeinsam sind. Zu ihnen gehören z. B., um nur ein paar herauszugreifen, Raum und Zeit, Ursache, Stoff usw. Sie bergen gerade die größte Zahl von Irrtumsmöglichkeiten, weil sie am abstraktesten sind, sich am weitesten vom Greifbaren, Anschaulichen entfernen; und wenn es gilt, aus der Menge der über sie möglichen Urteile die widersprechenden auszuscheiden, so ist das Sache der allgemeinsten Wissenschaft, der Wissenschaft von den Prinzipien, der Philosophie. Wo auch die Einzelwissenschaften diese Aufgabe direkt angreifen (wie es etwa die Physik gerade tut), da werden sie eben selber zur Philosophie. Zwischen ihr und ihnen besteht überhaupt nicht die scharfe Grenze, die man so oft vergeblich sucht, sie ist nicht eigentlich eine besondere Wissenschaft neben oder über ihren Schwestern, sondern sie ist etwas  in  ihnen, ihr Lebensprinzip, ihr treibender Geist, und der Philosoph ist nur der Schatzgräber, der diesen Geist ans Licht bringt.

So läßt sich das Werk der Philosophie in der Tat auffassen als eine allmähliche Säuberung menschlicher und wissenschaftlicher Meinungen von Irrtümern und Irrtumsmöglichkeiten. Sie schafft nicht unerhörte neue Wahrheiten, sondern scheidet aus dem Wirrsal der Gedanken nach einer  methodus exlusionis  alles Falsche mehr und mehr aus und reinigt es, wie BACON die philosophische Aufgabe ganz richtig formulierte, von den "idola", d. h. den Irrtümern, den Widersprüchen, den Vorurteilen, in die der Mensch durch seine Geburt und Umgebung verstrickt ist. Räume alle Vorurteile weg, und du behältst die Wahrheit rein übrig, denn jedes falsche Urteil muß ein Vorurteil, ein vorschnell gefaßtes Urteil, sein.

Wenn es solchergestalt die Aufgabe der Philosopie ausmacht, fundamentale Widersprüche zu überwinden, so müssen ihre großen Probleme aus gewissen Unverträglichkeiten entspringen, aus gewissen Begriffsgegensätzen, die zur Quelle von Widersprüchen werden. Und so verhält es sich wirklich: alle großen philosophischen Fragen werden am deutlichsten durch ein gegensätzliches Begriffspaar bezeichnet. Ich brauche nur einige solcher Paare zu nennen, damit wir die Richtigkeit dieser Behauptung einsehen: Freiheit und Notwendigkeit, Leib und Seele, Egoismus und Altruismus, Subjekt und Objekt, Erscheinung und Wesen. Die Schwierigkeiten der durch diese Begriffspaare gekennzeichneten Probleme beruhen tatsaächlich - was nicht immer richtig erkannt wird - auf gewissen direkten Widersprüchen, zu denen sie überaus leicht Anlaß geben - aber ich muß mir hier versagen, das näher nachzuweisen, und stattdessen lieber von den Möglichkeiten reden, diese Widersprüche aufzulösen.

Die großen Begriffsgegensätze der Philosophie, von denen ich soeben einige aufgezählt habe, sind nun keineswegs unabhängig voneinander, sondern sie hängen auf eigentümliche Weise zusammen, so daß man fast sagen kann: alle diese Probleme verlieren auf einmal ihren Schrecken, wenn man nur eins von ihnen restlos gelöst hat. Wenn wir uns daher nunmehr dem Begriffspaar Wesen und Erscheinung zuwenden, so werden sich ganz von selbst, und ohne daß ich darauf aufmerksam mache, manche Beziehungen zeigen etwa zu der psychophysischen Frage oder zum Subjekt-Objekt-Problem -, Beziehungen, die hier nicht weiter verfolgt werden können.

Die fraglichen Begriffspaare führen zu Widersprüchen, weil sie falsch gebildet sind. Sie bilden so lange kein Problem, als sie die Träger gewisser Vorurteile bleiben, und es ist gelöst, wenn diese unbegründeten Urteile als Quelle aufgedeckt sind. Wie eigentlich der Irrtum überhaupt zustande kommt, worauf seine Möglichkeit beruth, ist eine noch wenig behandelte Frage, für den Philosophen wohl nicht weniger interessant, als es die Frage nach dem Ursprung des Bösen für den Theologen sein mag.

Worin also liegt der Grund, der Rechtsgrund für die Aufstellung des Gegensatzes von Wesen und Erscheinung? Man wird ihn suchen müssen im Unterschied des Konstanten und Variablen, des Bleibenden und des Flüchtigen in unserem Erleben, vor allem den sinnlichen Wahrnehmungen. Sie sind fließend, ungleich und veränderlich. Ein Haus sieht grundverschieden aus, je nachdem ich es am Morgen oder am Abend, von rechts oder von links, von innen oder von außen betrachte. Und doch ist es dasselbe Haus, wird durch denselben Namen, denselben Begriff bezeichnet, es ist irgendetwas an ihm, das sich nicht verändert, und irgendwie muß man doch wohl auf dieses Konstante zielen, wenn man das Wort "Wesen" gebraucht, und auf jene flüchtigen Einzelwahrnehmungen, wenn man von "Erscheinungen" spricht. Das Erkennen nämlich richtet sich stets auf das Unveränderliche, Gleichbleibende, denn Erkenntnis ist überhaupt gar nichts anderes als die Auffindung des Gleichen im Verschiedenen. So bedeutet  Wesen  den ruhenden Pol in der Flucht der  Erscheinungen. 

Diese Gegenüberstellung des Konstanten, Identischen und des Fließenden, Verschiedenen ist sicherlich berechtigt und von fundamentaler Bedeutung. Solange die Trennung von Wesen und Erscheinung nichts weiter bedeuten möchte als dies, muß sie widerspruchslos durchführbar sein. Aber schon die Wortbildung deutet an, daß eben noch etwas anderes gemeint ist, daß man in dieses Begriffspaar noch viel mehr hineingelegt hat. Und in diesem Mehr liegen tausend Irrtumsmöglichkeiten. Kaum ist jener Gegensatz aufgestellt, so hängen sich schon Nebengedanken an ihn, die den Widerspruch fast unvermeidlich machen. Der älteste Fehler besteht darin, daß man vergißt, zwischen Erscheinung und Schein zu unterscheiden; ihn haben bereits die Eleaten begangen, bei denen überhaupt das Begriffspaar, von dem wir sprechen, seine erste Ausprägung findet. Schein aber bedeutet das Unwirkliche, und wenn Erscheinung damit identifiziert wird, so wird zugleich das  Wesen  mit dem  Wirklichen  identisch. Das Wesen also, d. h. der Gegenstand der Erkenntnis, der Inhalt des Denkens, der Inhalt der Begriffe, wird zum wahren Sein: das Denken ist dasselbe wie das Sein, so formulierten es die Eleaten. Die Erscheinung aber, der Inhalt der Wahrnehmung im Gegensatz zum Wesen als Inhalt des Denkens, wird zum NIchtseienden, zum Trug, zur Täuschung. Die Wirklichkeit der Wahrnehmungswelt wird einfach geleugnet.

Vom  Wesen  der Welt, das bei den Eleaten als reines, unveränderliches Sein in erhabener, aber glanzloser Starrheit dasteht, weiß PLATON ein strahlendes Bild hinreißend zu entwerfen. Ihm offenbart sich das wahre Sein als Reich der  Ideen:  die Ideen, d. h. die Begriffe, die Denkinhalte, das Gedachte, sind das echte Sein, das  Wesen,  das  ontos on  [seiende Sein - wp] das wirklich Wirkliche, wie wir übersetzen müssen - die Sinnendinge dagegen, die Welt der Wahrnehmungen, Erde, Flüsse, Berge, Bäume, sind nicht im selben Sinn wirklich, nicht Wesen. - Natürlich wird man der Platonischen Philosophie nicht gerecht, wenn man einfach den Gegensatz Ideenwelt - Sinnenwelt mit dem Gegensatz Wesen-Erscheinung gleichsetzt; viel mehr, viel tieferes liegt noch darin - aber dieses Verhältnis Wesen-Erscheinung liegt unzweifelhaft  auch  darin. NIcht mehr, wie für die Eleaten, sind für PLATON die Sinnendinge nur Schein, damit lassen sie sich nicht abtun, sie sind nicht wesen los,  sondern haben eben doch  teil  an den Ideen, am Wesen. Die unsägliche Mühe, mit der PLATON diese Teilhabe der Einzeldinge an den Ideen zu erklären und zu rechtfertigen sucht, ohne daß es ihm doch gelänge, das ist eben die Mühe des Kampfes mit dem Probel Wesen-Erscheinung, wie er ganz ähnlich bis in unsere Zeit hinein noch gekämpft wird. Es ist das Problem, das immer da entstehen muß, wo man zwei verschiedene  Arten  der  Wirklichkeit  unterscheidet, eine wesenhafte und eine erscheinungshafte, eine subjektive und eine objektive, eine psychische und eine physische, eine substantielle und eine akzidentielle, - oder wie die Gegensätze sonst noch heißen mögen. Die Eleaten wollten das Problem aus der Welt schaffen, indem sie den sinnlichen Gegenständen die Teilnahme am Reich der Wirklichkeit einfach verwehrten; PLATON mußte der Wahrnehmungswelt ihr Recht lassen, und er versuchte es, indem er - wenn auch nicht in dieser grobschlächtigen Formulierung - ihre Wirklichkeit als eine andere, eine geringere, von der eigentliche kernhaften Realität der Ideen unterschied. Und damit hat der Gegensatz von Wesen und Erscheinung bei ihm einen Gehalt gewonnen, welcher heute noch einen wichtigen Teil der Bedeutung des Begriffspaares ausmacht. Denn wer Erscheinung und Wesen einander gegenüberstellt, der denkt dabei - mag es ihm ausdrücklich zu Bewußtsein kommen oder nicht - an zwei verschiedene  Grade  der Wirklichkeit: das Wesen ist die echte, die Erscheinung eine sekundäre Art der Realität.

Diese Unterscheidung zweier verschiedener Seinswesen ist, wie gesagt, der zentrale Punkt. Wir werden in ihr das  proton pseudos  [die erste Lüge - wp] erkennen, das Anlaß gibt zu einem Problem, und damit zu einer Kette von Problemen, an der durchaus die schwersten philosophischen Entscheidungen hängen. Man kommt, behaupte ich, ihrer Lösung ein gutes Stück näher, wenn man den Gedanken mehrerer Seinsweisen, verschiedener Realitätsgrade seinerseits überwindet - oder besser noch, ohn von vornherein vermeidet. Dann können jene Probleme sich überhaupt nicht voll entfalten, sie werden als fehlerhafte Fragestellungen erkannt. - Damit wir uns aber am Sieg über den Irrtum so recht erfreuen können, wollen wir uns einen Augenblick in dem Gebiet umtun, in dem er herrscht, und zusehen, welche Unordnung er dort angerichtet hat.

Überall, wo verschiedene Arten der Wirklichkeit unterschieden werden, eine wesenhafte und eine erscheinungshafte - wenn nicht gar noch mehr Arten daneben - wird auch alsbald eine Stufenfolge und eine Rangordnung zwischen ihnen behauptet. Die eine Art des Seins gilt für höher, echter, vornehmer, wichtiger als die andere, d. h. es spielt hier der  Wert gedanke hinein. Gerade bei PLATON ist diese Verwechslung oder Identifizierung des Wertgesichtspunktes mit dem logischen Gesichtspunkt am offenkundigsten. Dieser Platonismus ist auch heute noch unter uns auf die verschiedenste Weise wirksam; er ist im Grund daran schuld, daß das Wort  Idealismus  so oft mißbraucht wird und rein sachliche Beurteilungen durch ethische, ästhetische und religiöse Wertschätzungen verwirrt und getrübt werden. Doch diese Verzweigungen der Gegensätze können hier nicht weiter verfolgt werden; sie bilden ein besonderes Kapitel für sich. - Als die höhere bedeutsamere, wertvollere Wirklichkeit gilt dann immer die fernere, schwerer zu erreichende, also in unserem Fall diejenige des  Wesens  gegenüber der des Erscheinens. Das ist verständlich. Denn das Fremde, Entfernte weckt eigenartige, stärkere Gefühlsbetonungen als das Nahe, Alltägliche; die nur dem Denken erreichbare Realität wird daher für erhabener geschätzt als die unmittelbar und mühelos gegebene, wahrgenommene. Als unmittelbar gegeben galten aber dem antiken Denken die physischen Objekte selber, aus denen sich die in heraklitischem Fließen begriffene Sinnenwelt aufbaut. Nicht sie sind daher das wahrhaft Wirkliche, sondern die allem heraklitischen Fließen entzogenen, über die Sinnenwelt erhabenen Ideen, zu denen das Denken erst durch mühsame Arbeit vordringt, die sich aber in den Wahrnehmungsgegenständen offenbaren.

Wenn nun auch in der Folgezeit die Begriffe von Wesen und Erscheinung einen etwas anderen Inhalt gewannen, so blieb doch ihr gegenseitiges Verhältnis im großen Ganzen dasselbe: sie rücken gleichsam beide dem Menschen näher, ohne doch ihren gegenseitigen Abstand zu ändern. Das geschah besonders durch die Entdeckung der Subjektivität der Sinnesqualitäten durch DEMOKRIT, den älteren Zeitgenossen PLATONs. Damit wird das Problem eigentlich bereits  vor  PLATO auf die Ebene gehoben, auf der es sich in der neueren Philosophie bewegt; es tritt nämlich dadurch ein Moment hinzu, das in der neueren Auffassung einen integrierenden Bestandteil des Erscheinungsbegriffs bildet und ihn erst vollständig macht: eben das Moment der Subjektivität. Zur Eigentümlichkeit der Erscheinung gehört erstens ein Objekt,  das  da erscheint, und ein Subjekt,  dem  es erscheint. Erscheinung ist stets Erscheinung  von  etwas und Erscheinung  für  jemand. Das Wesen dagegen ist ansich und für sich selbst. Das Wesen, das wirklich Wirkliche, sind bei DEMOKRIT die Atome, also die physischen Objekte. Ihr Wesen erfassen wir nach seiner Erklärung allein durch das Denken; die sekundäre Wirklichkeit aber erblickt er in den Sinnesqualitäten, den Empfindungsinhalten rot, grün, warm, kalt, süß, bitter usw., in ihnen erkennt er das unmittelbar Gegebene, und er verachtet sie, weil sie die Bedingung der Konstanz, der Identität nich erfüllen, ohne welche, wie wir gesehen haben, das Denken nicht zum Erkennen wird. DEMOKRITs Standpunkt ist in unserer Frage derselbe wie derjenige des Materialismus des vorigen Jahrhunderts, auch die Materialisten vergaßen in ihrer Bewunderung der Realität des physischen Stoffes vollkommen, daß es auch eine Welt der Bewußtseinswirklichkeit gibt - oder glaubten doch so sprechen zu dürfen, als wenn sie überhaupt gar nicht da wäre. Die Erscheinung hat also hier, fast wie bei den Eleaten, eine so sekundäre Wirklichkeit, daß sie wiederumg einfach zum Nichts wird.

Ein solcher Standpunkt ist unmöglich in jedem erkenntnistheoretisch fundierten System der neueren Philosophie. Denn die neuere Philosophie beginnt, als DESCARTES des Satz an die Spitze stellt: Gerade das unmittelbar gegebene, die Bewußtseinswirklichkeit, das Erlebnis - oder wie man es nun bezeichnen will -, gerade dieses ist schlechthin wirklich, besitzt echte, vollgültige Realität und wenn auch außer ihr überhaupt nichts anderes real wäre. Dieser Satz von der Realität der Bewußtseinsinhalte - gewöhnlich in die Formel "cogito ergo sum" gekleidet, und bekanntlich schon vor DESCARTES gelegentlich ausgesprochen - bedeutet nicht etwa die Auffindung einer besonderen, vorher unbekannten Eigentümlichkeit der Bewußtseinsdaten, nämlich ihrer Existenz, ihrer unumstößlichen Wirklichkeit, sondern er bedeutet vielmehr umgekehrt die Aufdeckung des reinen Sinnes und der wahren Quelle des Wirklichkeitsbegriffs. Wir  nennen  eben das  wirklich,  was wir unmittelbar erleben. Nicht das Denken, sondern in letzter Linie nur das Erlebnis lehrt uns, was unbezweifelbar und schlechthin wirklich ist. Was unter  Realität  zu verstehen ist, läßt sich nicht definieren, sondern nur aufzeigen, ebenso wie man nicht definieren kann, was "Lust" ist, oder was "rot" ist. Der Erlebnisinhalt ist der Prototyp alles Realen, ganz allein in ihm liegt die Wurzel des Wirklichkeitsbegriffs; und wo unser Denken darüber hinaus ein Sein als wirklich annimmt, das nicht Bewußtsein ist, also ein transzendentes Sein, da bedarf es dazu doch irgendwelcher Hinweise und Anhaltspunkte im unmittelbar Gegebenn; von diesem, vom Erlebnis geht also letztlich alle Realitätssetzung aus.

Nach der DESCARTESschen Klärung dieses Sachverhalts wird von nun an fast immer das Erlebte, das Subjektive, das Psychische als echtes Wesen anerkannt; und wer sich mit der Psychologie der metaphysischen Systeme beschäftigt hat, wundert sich nicht darüber, daß nun bald der Spieß noch ein wenig weiter herumgedreht wurde und jetzt gerade das objektive, außerbewußte Sein, früher als das eigentliche Wesen geachtt, zur Realität zweiten Grades herabgewürdigt wurde. Zur  Erscheinung  konnte es zwar wohl nicht gemacht werden, dazu fehlte ihm das Merkmal der Subjektivität; es mußt für Trug und Schein, oder für ein bloßes Nichts, höchstens für eine Hilfskonstruktion erklärt werden. In der Tat finden wir diesen Standpunkt auch oft genug ausgebildet: es ist der des subjektiven Idealismus, wie z. B. BERKELEY ihn vertreten hat. Ihm ist das objektive Sein, das Physische, die Materie, überhaupt nicht wirklich. Realität kommt einzig dem Psychischen, den Bewußtseinsinhalten zu, die irgendwelchen Subjekten gegeben sein müssen, und wo Einzelindividuen als Subjekte nicht in Frage kommen, da tritt an ihre Stelle das allumfassende Subjekt, nämlich Gott. Hier hat also der Dualismus von Wesen und Erscheinung bereits einem metaphysischen Monismus Platz gemacht. Auch moderne Richtungen passen durchaus in den Rahmen dieser Anschauungen hinein, so der Psychomonismus, wie er etwa vom holländischen Philosophen HEYMANS und manchen andern verteidigt wird.

Aber die DESCARTESsche Wendung hat bekanntlich nur vereinzelt eine solche Wirkung entfaltet - von vielen Denkern wurde der Gegensatz von Erscheinung und Wesen auch fernerhin beibehalten, ja noch schärfer und deutlicher ausgeprägt. Es bleibt ihm vor allem häufig noch eine Neigung, die Wirklichkeit des Erlebens herabzusetzen zugunsten des Transzendenten, und diesem Hang begegnet man auch bei solchen Philosophen, die bewußt von der ursprünglichsten Realität der Bewußtseinsinhalte ausgehen und sich bemühen, ihr volles Recht widerfahren zu lassen.

So vor allen bei KANT. Der eben beschriebene Hang bricht in seiner praktischen Philosophie mit Gewalt hervor; aber auch in der Erkenntnistheorie weist er dem Sein des Nichtgegebenen, des Nichterlebten einen ausgezeichneten Platz an  vor  der Wirklichkeit des Erlebens. Das erstere ist ihm das Reich der Dinge ansich, das letztere bezeichnet er als Erscheinung. Der Begriff des Dings ansich vertritt bei KANT in der Tat genau das, was wir bisher als "Wesen" bezeichneten, denn die Dinge ansich sind das aller Subjektivität Entrückte. Er wird nicht müde, die "bloßen Erscheinungen" und die "selbständigen Wesen" einander gegenüberzustellen. (1) Natürlich sind die Erscheinungen für KANT etwas Reales; immer wieder hat er ja betont, daß Erscheinung nicht zu verwechseln sei mit  Schein.  Die sinnliche Körperwelt hat auch bei KANT diejenige volle Realität und Objektivität, mit der sie jedermann in Leben und Wissenschaft gegenübertritt, aber KANT unterscheidet doch ihre Realität als eine empirische von der "absoluten" der Dinge-ansich. Dies seine eigene Ausdrucksweise. So kann es nicht ausbleiben, daß das Sein der Dinge-ansich als ein echteres, kernhafteres gewertet wird: die Welt der Naturdinge ist "nur" Erscheinung. Der Begriff des Phänomens setzt etwas voraus, das selbst nicht Phänomen ist, sondern eben  mehr  als Erscheinung. In diesem "nur" und dem "bloß", mit dem KANT von den Erscheinungen redet, offenbart sich immer wieder der Gedanke, als komme den Dingen ansich eine "höhere" Realität zu. Die Erscheinungen sind, wie er stets wiederholt, bloße Vorstellungen des Gemüts, d. h. Inhalte unseres Bewußtseins. Mithin sind die Dinge ansich Wirklichkeiten, die nicht nur im Bewußtsein, sondern als selbständige Wesen für sich existieren, absolut, nicht einem Subjekt gegeben sind, sondern den Vorstellungen des Subjekts "zugrunde liegen", in ihnen erscheinen. So treten das im Bewußtsein gegebene und das nicht so gegebene Sein als zwei verschiedene Arten der Realität auseinander: die Dinge können wohl da sein, ohne zu erscheinen, aber die Erscheinungen können nicht da sein ohne Dinge, ihr Sein ist diesen gegenüber ein unselbständiges, abhängiges, sekundäres. Moderne Denker haben es auch in der Terminologie zum deutlichen Ausdruck bringen wollen, daß sie hier tatsächlich einen Unterschied der Realität selber vorliegend erachten: so verwandte KÜLPE das Wort "wirklich" nur für das unmittelbar Gegebene, und bezog das Wort "real" nur auf die bewußtseinstranszendente Welt. Er sagt von den "wirklichen" und den "realen" Elementen, daß zwischen ihnen eine "nahe Beziehung" besteht - aber damit ist natürlich das Verhältnis zwischen den beiden Reichen eher verdunkelt als geklärt. - Und selbst wenn man den Gedanken abwehrt, die Realität des einen von ihnen für echter, höher anzusehen als die andere, so bleibt doch ihre bloße Unterscheidung als ein Fehler bestehen, dem unlösbare Probleme entquellen.

Die Kantische Philosophie schafft an dieser Stelle keine größere Klarheit als die Platonische, welche die Art des Teilhabens der Dinge an den Ideen nicht plausibel machen konnte. Wenn man mit KANT eine Vorstellung (d. h. eine Wahrnehmungsvorstellung) als die Erscheinung eines Dings bezeichnet, so meint man natürlich nicht, daß sie etwa ein Teil des Dinges sei, ein Ausfluß, der in das Bewußtsein hineinströme oder hineinrage. Überflüssig, zu sagen, daß die Erscheinung auch nicht etwa als ein  Bild  des erscheinenden Dings aufgefaßt werden darf. Solche naiven Denkweisen sind ja in der nachkantischen Philosophie mit Recht kaum wieder im Ernst aufgetreten. Und wenn man, statt von einem Bild zu sprechen, sie als Projektion, Nachahmung, Abschattung oder sonstwie bezeichnen wollte, so ist damit natürlich außer der Einführung neuer Worte nichts weiter gewonnen. Tatsächlich ist mit der Unterscheidung dieser beiden Sphären des Seins ein besonderes Verhältnis statuiert, das sich gar nicht weiter klären läßt, weil es einzigartig ist, nicht auf ein anderes bekanntes zurückgeführt werden kann. Es ließe sich höchstens durch Analogien verdeutlichen, die der empirischen Welt - also, in der Sprechweise des Systems, der Welt der Erscheinungen entnommen sind. Ein solcher Verdeutlichungsversuch soll es offenbar sein, wenn KANT die Erscheinungen als die  Wirkungen  bezeichnet, welche die Dinge ansich auf das Bewußtsein ausüben, wörtlich: als "Vorstellungen, die sie in uns wirken, indem sie unsere Sinne affizieren". Das muß, wie gesagt, bildlich gemeint sein, denn wir wissen, daß nach Kantischer Lehre die Begriffe Ursache und Wirkung nur im Reich der Erscheinungen Sinn und Bedeutung haben und daher nicht auf ihr Verhältnis zum Reich des Wesens angewandt werden dürfen. Daß KANT dies scheinbar doch tut, hat ihm ja bekanntlich schon von den Zeitgenossen den Vorwurf des Selbstwiderspruchs eingetragen.

Nun könnte man ja beim Dualismus stehen bleiben, ihn als unvermeidliches Übel hinnehmen, man kann sagen: es  ist  eben so, daß Dinge einerseits und Erscheinungen andererseits existieren und in einem nicht weiter aufzuklärenden Verhältnis zueinander stehen. Aber erstens wäre es unbefriedigend, die zwei Reiche getrennt und unreduzierbar nebeneinander anzunehmen, denn der Wille zur Erkenntnis fordert die Reduktion des einen auf das andere - Erkenntnis ist nichts anderes als eine solche Reduktion -, und deshalb kann das Denken sich bei einem derartigen Dualismus nicht beruhigen; zweitens aber, und das ist entscheidend, stellt sich auch die Kantische Fassung unseres Gegensatzes überhaupt als undurchführbar heraus, weil sie im Rahmen seines Systems an innerem Zwiespalt, an Widersprüchen leidet. Zwar nicht so, daß jeder Begriff eines Dings ansich notwendig unvollziehbar wäre - davon kann ich mich durchaus nicht überzeugen -, aber er wird überflüssig und vollkommen bedeutungslos, man verliert jedes Recht, das Dasein von Dingen ansich noch zu behaupten, wenn man mit KANT jede angebbare Beziehung der Erscheinungen zu ihnen leugnet. Unter der Voraussetzung einer solchen Beziehungslosigkeit nämlich kann in den Erscheinungen - und außer ihnen ist uns ja nichts bekannt und gegeben - niemals ein Hinweis auf die Existenz von transzendenten Dingen liegen, denn jeder Hinweis setzt irgendeine angebbare Beziehung voraus, er bedeutet ja gerade eine solche, besteht in nichts anderem. Deshalb würde jeder Grund fehlen, ein von der Sphäre der Erscheinungen unterschiedenes Reich des Wesens überhaupt anzunehmen. Man kann nicht das Dasein von etwas behaupten, ohne zu wissen,  wovon  man denn das Dasein behauptet. Es gibt kein Wissen über Existenz ohne jedes Wissen über Essenz. Hieran muß jeder strenge Phänomenalismus in letzter Linie scheitern. Opfert man aber die Dinge ansicht, so stellt man sich damit - das kann modernen Deutungsversuchen gegenüber nicht genug hervorgehoben werden - gänzlich außerhalb der Kantischen Philosophie. Ohne das Ding ansich kann man nach dem bekannten Wort JACOBIs tatsächlich nicht in das Kantische System hineingelangen.

Die zweite Möglichkeit wäre, den Gedanken der gänzlichen Beziehungslosigkeit beider Reiche fallen zu lassen; auch damit aber wäre ein bedeutsamer, charakteristischer Zug in KANTs Kritizismus verwischt: die Unnahbarkeit, Unerreichbarkeit des Wesens wäre dahin, die Dinge wären erkennbar geworden und damit ein prinzipieller Unterschied aufgehoben, der bei KANT Erscheinung und Wesen von einander trennt, denn er fällt für ihn zusammen mit dem Gegensatz der unerkennbaren und der erkennbaren Wirklichkeit. Immerhin drängen die im Kritizismus liegenden Keime viel mehr zu einer Entwicklung in Richtung der zweiten als in Richtung der ersten Möglichkeit, die etwa auf FICHTEsche Wege führt. Ich komme gleich darauf zurück.

Wir sehen einstweilen, daß es auch KANT nicht gelingt, das Begriffspaar Wesen-Erscheinung in befriedigenderer Weise zu fassen als seine Vorgänger, die sich mit dieser Dualität abmühten. Die Schwierigkeiten würden sich noch deutlicher zeigen und ihren Charakter als unauflösliche Widersprüche offenbaren, wenn wir die Beziehung unseres Problems zum psychophysischen Problm verfolgen wollten, das aufs engste mit ihm verknüpft ist und auch bei KANT so verknüpft erscheint, oder wenn wir gar auf die Lehre vom sogenannten inneren Sinn eingehen würden, durch welche KANT den Gegensatz von Wesen und Erscheinung in ein Gebiet zu tragen suchte, das bis dahin noch von ihm verschont geblieben war und nur durch ganz künstliche Maßnahmen unter seine Herrschaft gebracht werden konnte. Aber ich muß auf diese Prüfung hier verzichten, denn es ist an der Zeit, endlich die systematische Hauptfrage zu stellen, wie der Knoten denn nun zu lösen sei, der unweigerlich durch die Annahme zweier Arten von Realität geschürzt wird.

Die nächstliegende Lösung würde natürlich darin bestehen, eine der beiden Arten gänzlich zu streichen, schlechthin für nicht vorhanden zu erklären. Im Altertum strichen die Eleaten das Reich der Erscheinungen aus der Wirklichkeit weg - in unserer Periode der neueren Philosophie aber kann nicht der geringste Zweifel sein, daß höchstens der umgekehrte Versuch gemacht werden könnte: soll eine Realität aus dem metaphysischen Weltbild ausgemerzt werden, so kann es nur die der Dinge ansich sein, denn die sogenannten Erscheinungen, das Gegebene, die Bewußtseinsinhalte, stehen jenseits aller philosophischen Künste. Sie sind schlechthin wirklich. Sie sind die Elemente, aus denen sich die Welt der Phänomene aufbaut. Daß sie die  einzige  Realität darstellen, ist die Behauptung des strengen  Positivismus Die Elemente des Bewußtseinslebens - rot, grün, warm, kalt, süß, bitter etc., sind als unmittelbar gegeben einfach real, und der Positivismus fügt nun hinzu, daß außer ihnen und ihren Beziehungen zueinander nichts anderes real ist, daß es neben ihnen nichts anderes gibt. Dieser Standpunkt, dessen bedeutendster Vertreter in der Gegenwart MACH gewesen ist, setzt also Wirklichkeit identisch mit unmittelbarer Gegebenheit. -

Das ist aber dann eine bloße Definition des Realitätsbegriffs, und als solche willkürlich, ohne gehörige Rücksicht auf die Funktion dieses Begriffs in Wissenschaft und Leben aufgestellt. Es bedeutet ihnen gegenüber eine Einengung der Bedeutung des Wortes "wirklich", die das Realitätsproblem durch eine Definitioni abschneidet, statt es zu lösen, denn dieses Problem stellt gerade die Frage, ob etwa noch anderes als das schlechthin Gegebene als wirklich zu bezeichnen sei. Auf diese Weise gerät die positivistische Auffassung in Schwierigkeiten, wenn sie vom echten Sinn der Realwissenschaften Rechenschaft geben will - doch ich kann das hier nicht näher begründen und will mich sogleich zur Besprechung der übrigen Möglichkeiten wenden, durch die man versuchen kann, des Gegensatzes Wesen-Erscheinung als zweier verschiedener Realitätsstufen Herr zu werden.

Der strenge Positivismus wollte es erreichen, indem er der einen von beiden überhaupt die Anerkennung versagte, er strich sie fort und behielt allein diejenige Sphäre übrig, welche KANT Erscheinung nannte, und dadurch wurde sie zum Wesen erhöht. Man kann den Zwiespalt aber auch dadurch zu überwinden suchen, daß man ihn nicht als eine Abgrenzung zweier Wirklichkeitssphären auffaßt, sondern bloß als eine logische oder methodische Unterscheidung. Das ist der Standpunkt der neukantischen Richtungen der Gegenwart, von denen die einen glauben, damit die wahre Kantische Meinung zu treffen, während die andern eine bewußte Weiterbildung und Vollendung seiner Gedanken zu geben meinen. Auf für diese Ansicht gibt es nur  eine  Wirklichkeit, und in ihr wird der Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Sein und Erscheinen durch das Denken erst geschaffen, ja die Wirklichkeit wird als solche selbst erst durch das Denken  erzeugt,  zur Wirklichkeit gemacht durch den Richtersprucht der Vernunft - im Gegensatz zur positivistischen Anschauung, nach welcher die Realität  vor  allem Denken gegeben ist. Realität, so sagt man nämlich, ist ja eine Kategorie, ein Verstandesbegriff, eine Denkform, in der wir Gegenstände denken; es ist also der Verstand, das Denken, welches die Gegenstände in den Rang von Realitäten erhebt, indem es eben die Kategorie der Realität auf sie anwendet - sie haben daher keine Wirklichkeit unabhängig vom Denken. Die Behauptung einer solchen Unabhängigkeit wäre in sich widersprüchlich, sinnlos, weil Realität eben selber eine logische Form ist. Mit anderen Worten: ein unabhängiges Wesen, Dinge ansich, gibt es nicht. Sie dienen höchstens als methodischer Grenzbegriff, wie die Unterscheidung von Subjektivität und Objektivität in ihren verschiedenen Stufen gleichfalls nur methodische Bedeutung hat. Die im wachen Leben wahrgenommenen Gegenstände sind objektiv gegenüber den Traumgestalten, aber subjektiv gegenüber den durch die mathematische Naturwissenschaft bestimmten Gegenständen. Diese Unterscheidungen sind korrelativ zueinander, Subjektivität und Objektivität bezeichnen keine absoluten Gegensätze, sondern verschiedene Erkenntnisstufen, und das Begriffspaar Wesen-Erscheinung, in dem dieser Gegensatz als ein absoluter auftritt, kann überhaupt keine Anwendung mehr finden, und dieser logische  Idealismus  erklärt ihn daher für restlos überwunden.

Gegen die dargestellte Lehre ist einzuwenden, was überhaupt gegen jeden Rationalismus eingewandt werden muß: vergeblich ist das Bemühen, das Sein durch das Denken zu begründen, reale Beziehungen auf logische zurückzuführen. Dies gelingt dem logischen Idealismus der Neukantianer so wenig, wie es HEGEL gelungen ist. es bleibt ein bedeutungsloses Spiel mit Gedanken - fast möchte man sagen, mit Worten, wenn das Denken, das Logische, dem Sein, dem Wirklichen übergeordnet wird, wenn man beides identifiziert, weil doch alles Sein schließlich Denkinhalt sei. In Wahrheit ist Realität etwas  Irrationales deutlicher ausgedrückt: der Wirklichkeitsbegriff ist undefnierbar; seinen Inhalt durch Begriffe zu bestimmen, ist unmöglich. Was "wirklich" heißt, läßt sich nicht logisch erklären, nicht auf etwas zurückführen, das noch nicht wirklich wäre, sondern es läßt sich nur im Erleben aufzeigen. Ich wies schon vorhin darauf hin, was ja auch von der Mehrzahl der Erkenntnistheoretiker anerkannt wird, daß der Begriff des Wirklichen seine letzte Quelle im unmittelbar Gegebenen hat, den Bewußtseinsdaten, den Empfindungen und Gefühlen. Der Gedanke, das Logische, kann nicht zum Richter über diese Wirklichkeit gemacht werden, sondern setzt sie jederzeit voraus. Dies war gerade auch für KANT selbstverständlich: er hat besonders erklärt, daß bei der DESCARTESschen Frage nach der Realität der Bewußtseinsinhalte die  Existenz  noch  keine  Kategorie sei, und damit die vorlogische Realität anerkannt. Deshalb ist der eben skizzierte logische Idealismus nicht die natürliche Fortsetzung der Kantischen Philosophie, sondern er scheint mir eine einseitige Umbildung zu sein. Die Stufenfolge der Objektivität, durch welche der Neukantianismus den Gegensatz von Wesen und Erscheinung vermeiden möchte, hat KANT wohl beachtet, und ausdrücklich hat er jenen Unterschieden seinen eigenen Erscheinungsbegriff als den "transzendentalen" gegenübergestellt.

Nein, die einzig natürliche Fortbildung der Kantischen Erkenntnistheorie, zu der sein System von verschiedenen Seiten aus hindrängt, liegt nicht in der idealistischen, sondern in der realistischen Richtung, und man gelangt zu ihr durch eine Revision der Bestimmungen, die KANT über das sogenannte Ding-ansich und seine Erkennbarkeit gemacht hat. Ich freue mich, das Vorhandensein dieser Anlage in KANTs Kritizismus ganz neuerdings wieder von kompetenter Seite durch eine rein  historische  Untersuchung bestätigt zu finden: in der soeben veröffentlichten Berliner Akademie-Abhandlung von BENNO ERDMANN über die "Idee von Kants Kritik der reinen Vernunft".

Wir gelangen meines Erachtens zu einer allseitig befriedigenden Auffassung, die dem Zwiespalt von Wesen und Erscheinung die Wurzel abgräbt und uns aller Schwierigkeiten enthebt, wenn wir von KANT ausgehend zunächst einmal seinen Erkenntnisbegriff einer Klärung unterziehen, deren er dringend bedarf. KANT hat in unkritischer Weise vorausgesetzt, daß zum Erkennen eines Objektes in letzter Linie eine  Anschauung  des Objekts irgendwie notwendig gehöre. Gleich im ersten Satz der transzendentalen Ästhetik sagt er das mit aller Deutlichkeit. Aber in Wahrheit gibt uns die Anschauung überhaupt keine Erkenntnis; sie ist ganz unwesentlich dabei. Se lehrt uns wohl Gegenstände  kennen,  niemals aber erkennen. Die Verkennung dieses Unterschiedes, den ich bei früheren Gelegenheiten oft schon zu betonen hatte (2), ist die Ursache der gefährlichsten Irrtümer in der Philosophie gewesen, gerade auch mancher neueren Systeme, die auf dem Weg reiner Intuition oder Wesensschau wissenschaftliche Erkenntnis zu erringen hoffen.

Bei sorgfältigster Analyse aber ergibt sich: Einen Gegenstand oder Vorgang  erkennen  heißt immer: andere Gegenstände oder Vorgänge in ihm auffinden, solche Beziehungen zwischen ihm und ihnen entdecken, daß er durch sie dargestellt und auf sie zurückgeführt werden kann. Er wird auf sie zurückgeführt, das heißt: er wird als Spezialfall von allgemeinen Fällen dargestellt. Es bedarf nun zu diesem Prozeß keiner unmittelbaren Anschauung der Gegenstände, sondern es genügt, wenn wir imstande sind, sie durch Begriffe zu bezeichnen. Dazu ist weiter nichts nötig als eine eindeutige Zuordnung der Begriffe zu den Objekten. Und Erkenntnis bedeutet demnach die Schaffung einer Ordnung zwischen diesen Begriffen; sie werden zueinander durch den Erkenntnisprozeß auf die beschriebene Weise in Beziehung gesetzt, und damit sind die Objekte erkannt, denen jene Begriffe zugeordnet waren; der Ordnung der Objekte entspricht die Beziehung der Begriffe zueinander. Erkenntnis bedeutet also Stiftung einer Beziehung zwischen den zu erkennenden Objekten - oder vielmehr zwischen ihren Begriffen, nicht aber stellt sie eine reale Beziehung her zwischen dem erkennenden Subjekt und den erkannten Gegenständen. Im Gegensatz dazu bedeutet Anschauung gerade einen innigen realen Konnex zwischen Anschauendem und Angeschauten. Bei einem anschaulichen Erlebnis - wenn ich z. B. einen Ton höre - tritt dieser Ton tatsächlich in Realunion mit den anderen Erlebnissen, die mein Ich konstituieren; er gehört zu diesem Ich, er wird von mir erlebt, er wird mir dadurch  be kannt. Aber  er kannt wird er dadurch noch keineswegs; dazu gehört noch ganz etwas anderes; dazu müßte sein Begriff zu anderen Begriffen in Beziehung gesetzt, müßten z. B. die Bedingungen seiner Entstehung erforscht werden, und dadurch wäre er in den allgemeinen Zusammenhang der Natur einzuordnen, mit Hilfe des Begriffs der Schwingungszahl und anderer. Einen direkteren Weg zu seiner Erkenntnis gibt es nicht; dadurch, daß ich ihn nur höre, anschaulich erlebe, wird er bloß  gegeben,  nicht erkannt. Und umgekehrt: um etwas zu erkennen, brauche ich es keineswegs unmittelbar anzuschauen, sondern ich brauche nur die Beziehung aufzusuchen, in denen der Begriff davon zu anderen Begriffen steht. Das folgt ganz allgemein aus der Analyse des Erkenntnisbegriffs; und wenn es daher überhaupt eine  Wesens erkenntnis geben soll, so kann sie nicht Wesensschau sein, sondern eben auch nur eine Beziehung und Ordnung der dem Wesen zugeordneten Begriffe. Ein Blinder, der nie einen Lichtschimmer geschaut hat, kann doch das  Wesen  des Lichts vollkommen  er kennen, nämlich durch das Begriffssystem der theoretischen Optik. Nur kennen,  erleben  kann er es nie - das ist eben etwas anderes, hat mit Erkenntnis nichts zu tun. Dem Physiker ist das Wesen der Elektrizität allein beschlossen in den Gleichungen MAXWELLs, das Wesen der Gravitation in den Gleichungen EINSTEINs; er denkt nicht daran, es schauen zu wollen.

Doch jetzt die Anwendung auf unser Problem. Nur solange man das unmittelbare Anschauen für eine notwendige Bedingung der Erkenntnis hält, fällt der Gegensatz von Erscheinung und Ding ansich mit dem des Erkennbaren und des Unerkennbaren zusammen. Denn anschaulich sein heißt Bewußtseinsinhalt sein, und das sind freilich nur die "Erscheinungen" - die Dinge ansich aber sind ihrer Definition nach  nicht  Bewußtseinsinahlt und folglich der Anschauung gänzlich entzogen. Wir wissen aber jetzt, daß das kein Hindernis ihrer Erkenntnis zu sein braucht -  könnten  wir sie anschauen, so würde uns das zu ihrer Erkenntnis unmittelbar gar nichts helfen. Wenn wir überhaupt Gründe haben, außerhalb der Bewußtseinswirklichkeit noch ein reales Sein anzunehmen, so ist es auch erkennbar. Denn dazu wird nur vorausgesetzt, daß jenen Realitäten irgenwie Begriffe als Zeichen eindeutig zugeordnet werden können - eine solche Zuordnung jedoch wird von einzelwissenschaftlichen, empirischen Gesichtspunkten aus ebenso gebieterisch und mit denselben Gründen gefordert wie das Dasein jener Realitäten selbst. Diese aber nun als "Dinge ansich" zu bezeichnen, haben wir gar keinen Anlaß mehr, denn erstens werden wir uns vor dem Wort "Ding" hüten, weil darin manche Nebengedanken liegen (z. B. der der Substantialität), die wir vermeiden müssen, und außerdem sind sie dadurch, daß wir sie im Netz der Begriffe einfangen, aus Wirklichem  ansich  zugleich zu Wirklichem  für uns  geworden. Ferner ist nun aber auch der Terminus "Erscheinung" für das Reich des Bewußtseinswirklichen nicht mehr passend, denn es lassen sich  die  Merkmale gar nicht mehr an ihr finden, die für den Erscheinungsbegriff durch die ganze Entwicklung der Philosophie hindurch gerade die wesentlichen waren.

So schwindet der Gegensatz von Wesen und Erscheinung ganz von selbst. Damit wir dies deutlich einsehen und ein klares Bild von diesem Standpunkt gewinnen, zu dem wir uns auf diese Weise erheben, vergegenwärtigen wir uns noch einmal die genaue Bedeutung unseres Begriffspaars, die durch alle besprochenen Wandlungen hindurch dieselbe blieb und eben das ganze Problem in sich schließt.

Das Wort  Erscheinung  deutet stets auf etwas außerhalb Liegendes hin, das da erscheint, und ohne welches die Erscheinung nicht da wäre. Dagegen können die wesenhaften Realitäten, mag man sie als Dinge oder sonstwie fassen, sehr wohl vorhanden sein,  ohne  irgendeinem Subjekt zu erscheinen. Sie sind also der Erscheinung gegebenüber etwas Selbständiges, Unabhängiges; es besteht zwischen beiden Gliedern eine einseitige Abhängigkeit, welche die Erscheinungen jener Selbständigkeit beraubt, die zum Begriff des wesenhaft Wirklichen unabtrennbar gehört. -

Es gibt keine Tatsache, die zu einer derartigen Gegenüberstellung zweier irreduzibler Realitäten zwänge oder auch nur berechtigte, von denen die eine ganz auf sich selbst ruht, während die andere von ihr abhängig ist. Wir gelangen nur dann zu einem befriedigenden Weltbild, wenn wir  allem  Wirklichen, den Bewußtseinsinhalten sowohl wie allem außerbewußten Sein die gleiche  Art  und den gleichen  Grad  von Realität ohne jeden Unterschied zuerkennen. Alle sind im gleichen Sinne selbständig, alle aber auch im gleichen Sinne voneinander abhängig. Das heißt: Die Vorgänge in meinem Bewußtsein werden nicht nur durch eine transzendente Welt bedingt, deren Erscheinungen sie wären, sondern sie stehen vollkommen gleich wirklich und gleichberechtigt neben jener außerbewußten Welt und bedingen ihrerseits die Vorgänge in ihr, sodaß die Abhängigkeit durchaus gegenseitig ist; und es fehlt jeder Grund, anzunehmen, daß die Wechselbeziehungen zwischen den beiden Reichen anderer Natur wären als die innerhalb eines jeden der beiden bestehenden. Es sind also überhaupt gar nicht zwei Reiche verschiedener Art, sondern nur Teil eines einzigen Wirklichkeitsreiches, von denen der eine zufällig zu unserem Bewußtsein gehört, der andere nicht. Der eine ist anschaulich gegeben, der andere zufällig nicht. Deswegen ist aber der letztere nicht etwa weniger gut erkennbar als der erste - im Gegenteil, die Physik ist bisher unvergleichlich erfolgreicher gewesen als die Psychologie. Die Anschaulichkeit der psychologischen Gegenstände nützt eben nichts für ihre Erkenntnis, sondern es kommt allein auf die Möglichkeit der begrifflichen Verarbeitung und Ordnung an. Durch das Begriffssystem der Naturwissenschaften erkennen wir tatsächlich das  Wesen  der extramentalen Wirklichkeit. Nicht un erkennbar ist sie, wie der Phänomenalismus seit KANT immer wieder behauptet, sondern nur un kenn bar, unerlebbar, und das ist etwas ganz anderes. Die Bewußtseinswirklichkeit ist ein Gefüge zahlloser unaufhörlich wechselnder Qualitäten; und wenn man uns frägt, was denn nun die übrige reale Welt sei, so werden wir antworten: nun, sie ist eben auch ein Gewebe unablässig wechselnder Qualitäten. Die weitere Frage, wie denn nun diese Qualitäten  ansich  beschaffen seien, d. h. unabhängig von unserer Bezeichnung durch Begriffe, wird als falsch gestellt abgelehnt werden müssen, denn jede nur denkbare Anwort auf eine solche Frage könnte eben doch wieder nichts anderes leisten und bedeuten als eine Bezeichnung durch einen Begriff. Was sich über das Wesen der Außenwelt sagen läßt, ist vollständig enthalten in dem ihr zugeordneten Begriffssystem, das wir Naturwissenschaft nennen. Wer aber damit nicht zufrieden ist, sondern etwa begehrt, die extramentalen Qualitäten  kennen  zu lernen, so wie er die eigenen mentalen Qualitäten kennt - z. B. Lust, Schmerz, grün, warm -, aus dem spricht nicht der Wille zur Erkenntnis, sondern der Wille zum Erleben, zum Schauen. Was er wünscht, hat mit Erkenntnis nichts zu tun. Wir haben keinen Grund, über die Unerkennbarkeit der Welt zu klagen, und darüber, daß uns etwa nur ihre "Erscheinung" zugänglich sei. Im Gegenteil, was wir durch unsere Begriffe erkennen, ist immer nur Wesen; es gibt keine Erscheinung.

Die unmittelbaren Daten des Bewußtseins sind selbständiges Sein, vollgehaltiges Wesen; und wir vermögen keinen Sinn mehr zu verbinden mit der Behauptung, daß sie nur die Phänomene eines verborgenen, transzendenten Seins wären. Gewiß sind sie von anderen Realitäten abhängig, aber nur in dem Sinne, in dem eben überhaupt alles Wirkliche miteinander zusammenhängt - und wenn jemand  das  Erscheinung nennen wollte, so wäre  alles  Erscheinung von  allem.  Unsere Erlebnisse, Wahrnehmungen, Vorstellungen und Gefühle sind nicht etwas Sekundäres, nicht ein Sein zweiten Grades, sondern im gleichen Sinn selbständig real wie irgendwelche transzendenten Wesen. Es gibt nur  eine  Wirklichkeit, und sie ist immer  Wesen.  Gewiß gibt es unendlich viele Arten wirklicher Gegenstände, aber es gibt nur eine Art der Wirklichkeit, und sie kommt ihnen allen in gleicher Weise zu. Das war eben der Grundfehler, der überall Anlaß zur Entstehung des Problems, ja fast zu jedem philosopischen Dualismus gab: man glaubte an verschiedene Arten von  Realität,  wo man nur von verschiedenen Arten des  Realen  hätte sprechen dürfen. Da man nun merkte, daß zwei Realitäten sich miteinander nicht vertragen, so mußte man eine von ihnen aus der Welt schaffen. Die alten Philosophen erklärten, die neueren suchten statt dessen lieber die sogenannten Dinge ansich loszuwerden. Beide haben unrecht, weil sie mit der anfänglichen Zerlegung der Welt in Wesen und Erscheinung unrecht hatten.

Nur wenn wir jede Trennung innerhalb des Wirklichkeitsbegriffs vermeiden, bleiben wir seinem ursprünglichen Sinn treu. Seine Quelle war das unmittelbar Gegebene, dieses ist schlechthin real, und die Fragestellung des Realitätsproblems richtet sich darauf, ob  dieselbe  Realität außerdem noch anderen Gegenständen zugeschrieben werden darf. Wer die Wirklichkeit der letzteren als etwas andersartiges und Neues betrachtet, nimmt jenem Problem den Sinn und erfindet frei einen Realitätsbegriff, der der Erfahrungsgrundlage entbehrt und in endlose Widersprüche führt.

Es gibt nur  eine  Wirklichkeit, und alles, was in ihren Bereich fällt, ist unserer Erkenntnis prinzipiell auf gleiche Weise zugänglich, dem Dasein wie dem Wesen nach. Nur ein kleiner Teil dieser Wirklichkeit ist uns jeweils gegeben, alles übrige ist uns nicht gegeben, aber die dadurch bedingte Scheidung des Erlebten und des Nichterlebten, des Subjektiven und Objektiven ist zufälliger Art, nicht prinzipieller Natur, wie es diejenige zwischen Wesen und Erscheinung sein sollte, die wir als unmöglich erkannt haben.

Ist diese Einsicht richtig, wie ich zuversichtlich glaube, so würde damit nicht bloß die Frage nach dem Verhältnis von Wesen und Erscheinung verstummen müssen, sonern wegen der eingangs hervorgehobenen innigen Verflechtung der philosophischen Probleme wäre auch auf andere, noch tiefergreifende Fragen ein klärendes Licht geworfen, und ein weiteres Stück Weges zur Einheit des philosophischen Weltbildes läge in hellerer Beleuchtung vor uns.
LITERATUR - Moritz Schlick, Erscheinung und Wesen, Kant-Studien Bd. 23, Berlin 1918
    Anmerkungen
    1) Zum Beispiel "Kritik der reinen Vernunft", Ausgabe KEHRBACH, Seite 314f
    2) Vgl. z. B. meinen Aufsatz "Gibt es eine intuitive Erkenntnis?", Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 36