cr-4Fichte - Anweisung zum seeligen Leben    
 
JOHANN GOTTLIEB FICHTE
(1762-1814)
Vom Ursprung der Sprache

"Die anderen, die sich bemühen, diese leichteren Gehörzeichen verstehen zu lernen, werden es bald bequemer finden, diese Art zu sprechen, die sich durch ihre größere Leichtigkeit empfiehlt, auch nachzuahmen."

Der Mensch wird nämlich leicht veranlaßt, den geistigen Begriff mit dem sinnlichen Gegenstande, von welchem das Zeichen entlehnt wird, zu verwechseln.

In einer Untersuchung über den Ursprung der Sprache darf man sich nicht mit Hypothesen, nicht mit willkürlicher Aufstellung besonderer Umstände, unter welchen etwa eine Sprache entstehen  konnte,  behelfen. Man muß aus der Natur der menschlichen Vernunft die Notwendigkeit dieser Erfindung ableiten. Man muß dartun, daß und wie die Sprache erfunden werden  mußte. 

Sprache, im weitesten Sinne des Wortes, ist der Ausdruck unserer Gedanken durch willkürliche Zeichen. Durch Zeichen, sage ich, also nicht durch Handlungen. - Ein vernünftiges Wesen kann aus diesen meinen Handlungen auf das, was ich gedacht habe, schließen. Dies heißt aber nicht  Sprache.  Bei allem, was Sprache heißen soll, wird schlechterdings nichts weiter beabsichtigt, als die Bezeichnung des Gedankens, und die Sprache hat außer dieser Bezeichnung ganz und gar keinen Zweck.

Bei einer Handlung hingegen ist der Ausdruck des Gedankens nur zufällig, ist durchaus nicht Zweck. Ich handle nicht, um andern meine Gedanken zu eröffnen. Ich esse z.B. nicht, um andern anzudeuten, daß ich Hunger fühle. Jede Handlung ist selbst Zweck: ich handle, weil ich handeln will.

Ich habe mich bei der Erklärung der Sprache des Ausdruckes:  willkürliche Zeichen  bedient. Darunter verstehe ich hier solche Zeichen, welche ausdrücklich dazu bestimmt sind, diesen oder jenen Begriff anzudeuten. Ob dieselben mit dem Bezeichneten  natürliche  Ähnlichkeit haben, oder nicht, das ist hier völlig gleichgültig. Ich mag zu dem anderen das Wort "Fisch" sagen - ein Zeichen, das mit dem Gegenstande, welches es ausdrücken soll, gar keine Ähnlichkeit hat - oder ich mag ihm einen Fisch vorzeichnen, ein Zeichen, welches mit dem Bezeichneten allerdings Ähnlichkeit hat - in beiden Fällen habe ich keinen Zweck, als den, die Vorstellung eines bestimmten Gegenstandes bei dem andern zu veranlassen, - folglich kommen beide Zeichen darin überein, daß sie willkürlich sind.

Die Frage, die sich uns zunächst darbietet, ist folgende: Wie ist der Mensch auf die Idee gekommen, seine Gedanken durch willkürliche Zeichen anzudeuten? Diese enthält unter sich folgende zwei:
    1) Was brachte den Menschen überhaupt auf den Gedanken, eine Sprache zu erfinden?

    2) In welchen Naturgesetzen liegt der Grund, daß diese Idee gerade so und nicht anders ausgeführt wurde? Lassen sich Gesetze auffinden, welche den Menschen bei der Ausführung leiteten?
Es ist im Wesen des Menschen gegründet, daß er sich die Naturkraft zu unterwerfen sucht. Die erste Äußerung seiner Kraft ist gerichtet auf die Natur, um sie für seine Zwecke zu bilden. Selbst der roheste Mensch trifft irgend eine Vorkehrung für seine Bequemlichkeit und seine Sicherheit. Er gräbt sich Höhlen, bedeckt sie mit Laub, und wenn er des Feuers etwa habhaft werden kann, zündet er Holz an, um sich so gegen den Frost zu schützen. - In diesem Verhältnis steht der Mensch mit der belebten und leblosen Natur: er geht darauf aus, sie seinen Zwecken zu modifizieren.

Wie verhält sich dagegen der Mensch ursprünglich gegen den Menschen selbst? Sollte wohl zwischen ihnen im rohen Naturzustande dasselbe Verhältnis stattfinden, welches zwischen dem Menschen und der Natur ist? Sollten sie wohl darauf ausgehen, sich selbst untereinander zu unterjochen, oder, wenn sie sich dazu nicht Kraft genug zutrauen, einander gegenseitig fliehen?

Und doch finden wir, daß die Menschen sich miteinander vertragen, daß sie sich gegenseitig unterstützen, daß sie in gesellschaftlicher Verbindung mit einander stehen. Der Grund dieser Erscheinung muß wohl in dem Menschen selbst liegen: in dem ursprünglichen Wesen desselben muß sich ein Prinzip aufzeigen lassen, welches ihn bestimmt, sich gegen seinesgleichen anders zu betragen, als gegen die Natur.

Der Mensch geht darauf aus, die rohe oder tierische Natur nach seinen Zwecken zu modifizieren. Dieser Trieb muß untergeordnet sein dem höchsten Prinzip im Menschen, dem: sei immer einig mit dir selbst, nach welchem Prinzip er den allgemeinen Äußerungen seiner Kraft beständig forthandelt, auch ohne sich desselben bewußt zu sein. Der Mensch sucht also die nichtvernünftige Natur sich deswegen zu unterwerfen, damit alles mit seiner Vernunft übereinstimme, weil nur unter dieser Bedingung er selbst mit sich selbst übereinstimmen kann.

Der Mensch geht notwendig darauf aus, alles, so gut er weiß,  vernunftmäßig  zu machen. Wenn er nun in diesen Versuchen auf einen Gegenstand stoßen sollte, an welchem sich die gesuchte Vernunftmäßigkeit ohne seine Mitwirkung schon äußerte, so wird er sich in Rücksicht auf diesen aller Bearbeitung wohl enthalten. Er wird sich freuen, ein mit ihm gleichgestimmtes Wesen - einen Menschen angetroffen zu haben.

Man beruft sich gewöhnlich, um die Erfindung solcher Bezeichnungen zu erklären, auf Verabredung: man nimmt an, die Menschen, in einer Lage, die ihnen eine Gehörsprache notwendig mache, wären übereingekommen, diesen Gegenstand "Fisch", jenen "Netz" zu nennen, usw. Allein dies ist grundlos.

Wer weiß, wieviel tausend Jahre verflossen sind, ehe die Ursprache Sprache fürs Gehör wurde? - Eine lebende Sprache verändert sich immer im umgekehrten Verhältnis mit ihrer Kultur: je mehr Ausbildung sie erhalten hat, desto weniger rückt sie vorwärts, je unkultivierter sie noch ist, desto mehr modifiziert sie sich, und sie verändert sich am stärksten, wenn ihre Laute noch nicht durch Schriftzeichen festgehalten werden. Diese Bemerkung brauchen wir, um uns zu erklären, wie die Ursprache sich in Gehörsprache verwandelt hat.

In der Ursprache mußten bald die Zeichen für Gehör, welche Nachahmung natürlicher Töne waren, z.B. die Bezeichnung des Löwen, des Tigers usw., die durch das ihnen eigentümliche Gebrüll ausgedrückt wurden, merkliche Veränderungen leiden. Bei einem Volke, das - wie von den Stämmen der Wilden bekannt ist - die Zusammenkünfte liebt, in Gesellschaft arbeitet und schmaust usw., wird es leicht dahin kommen, daß ein Mensch durch die Überlegenheit seines Geistes einen Vorzug vor den übrigen behauptet, und, ohne durch Stimmen dazu erwählt zu werden, den Heerführer im Kriege, und in ihren Versammlungen den Sprecher vorstellt.

Ein solcher Mensch, auf dessen Reden man vorzüglich achtet, wird sich durch Gewohnheit eine Geläufigkeit im Sprechen erwerben und durch diese Geläufigkeit bald dahin kommen, daß er die Dinge nur flüchtig bezeichnet, sich es nicht übel nimmt, den oder jenen Ton im Reden zu überspringen. Man wird sich an diese Abweichung bald gewöhnen und diese flüchtigere Bezeichnung leicht verstehen lernen. Allmählich wird er sich von der eigentlichen Nachahmung der natürlichen Töne immer mehr entfernen, seine Bezeichnung wird nach und nach flüchtiger, kürzer und leichter werden, so daß sich - vielleicht nach einem Zeitraum von einigen Jahrzehnten schon - zwischen seiner Bezeichnung eines Gegenstandes und dem natürlichen Ton, durch welchen sich dieser dem Gehör ankündigt, kaum noch eine Ähnlichkeit wird entdecken lassen.

Die anderen, die sich bemühen, diese leichteren Gehörzeichen verstehen zu lernen, werden es bald bequemer finden, diese Art zu sprechen, die sich durch ihre größere Leichtigkeit empfiehlt, auch nachzuahmen.

Oft konnte auch ein Zufall, welcher sich ereignete, als gerade ein Mensch mit der Betrachtung eines Gegenstandes sich beschäftigte, die Erfindung des Tones für denselben veranlassen. Zum Beispiel jemand sah eine Blume, indem flog eine Biene, welche Honig aus derselben gesaugt hatte, sumsend davon. Er sah beides noch nie; in seiner Phantasie vereinigte sich jetzt das Sumsen mit dem Gedanken an die Blume, und diese Verbindung leitete ihn sehr natürlich darauf, für die Blume und Biene eine Bezeichnung zu finden. Auf diese Weise kam man darauf, Dinge nach gewissen, zufällig mit ihnen verbunden, oder auf sie bezogenen Tönen zu benennen.

Aber wer war es denn, der für die Erfindung und Ausbildung einer Gehörsprache zu sorgen hatte? - Der Natur der Sache nach mußte dieses Geschäft vorzüglich dem Hausvater und der Hausmutter einer Familie angehören, die bei ihren häuslichen Geschäften oft Gelegenheit hatten, mancherlei neue Töne zu erfinden, womit sie ihren Hausgenossen die Bearbeitung eines Gegenstandes in einem Ausdruck auftragen konnten, den sie anfänglich durch Vorzeigung des Gegenstandes erklärten.

Es wird unter unkultivierten Völkern immer wenige geben, welche Kopf und Lust besitzen, sich mit der Ausbildung der Sprache vorzüglich zu beschäftigen. Daher werden diejenigen, welche Fähigkeit und Neigung zu diesem mühsamen Geschäfte zeigen, schon dadurch bald über die Horde großen Einfluß gewinnen. - Diese werden nun die Bezeichnungen, die sie für die Bedürfnisse ihrer Familie erfunden hatten, in die Volksversammlung bringen, man wird sie annehmen und fort brauchen.

Der Sprecher brachte nicht etwa ganze Reihen neuer Töne vor, die er auf einmal zu behalten ausdrücklich aufgab; sondern die Ausdrücke kamen im Fluß der Rede einzeln vor und waren, wenn auch nicht an sich, doch durch den Zusammenhang mit anderen bekannten Worten verständlich.

Mit mehreren Schwierigkeiten wird die Untersuchung über die Bezeichnung allgemeiner Begriffe verbunden sein. Zu Bezeichnungen der Gattungsbegriffe gelangte man sehr leicht. Ein Hausvater zeigte einem seiner Kinder eine Blume, die er "Rose" nannte. Bald darauf schickt er es, ihm die Rose zu holen. Das Kind hatte mit diesem Tone gewiß den Begriff jener bestimmten individuellen Blume verbunden, welche ihm der Vater gezeigt hatte. Es findet sich aber die bestimmte Blume nicht mehr, doch erblickt es daneben eine Blume von gleicher Gestalt, welche dem Kind nun auch Rose heißt. Es bringt sie dem Vater, der die Blume als Rose anerkennt.

Sehr abstrakte Begriffe werden erst ganz spät benannt, und die Zeichen derselben sind öfters vorher Zeichen der Gattung gewesen. Einer der allerabstraktesten Begriffe ist der eines "Dinges", durch welches Wort ein "Seiendes überhaupt" bezeichnet wird, - ein "Etwas überhaupt".

So wie sich bei einem Menschen die geistigen Ideen (z.B.  Seele, Unsterblichkeit  usw.) mehr und mehr aufklärten, regte sich auch in ihm der Trieb, andere mit dem, was er erforscht hatte, bekannt zu machen; denn nie ist der Trieb, sich mitzuteilen, lebhafter, als bei neuen und erhabenen Gedanken. Es mußten also auch Zeichen für jene Vorstellungen aufgefunden werden. Diese Zeichen finden sich bei übersinnlichen Ideen aus einem in der Seele des Menschen liegenden Grunde sehr leicht. Es gibt nämlich in uns eine Vereinigung sinnlicher und geistiger Vorstellungen durch die Schemata, welche von der Einbildungskraft hervorgebracht werden.

Von diesen Schematen werden Bezeichnungen für geistige Begriffe entlehnt. Nämlich, das Zeichen, das der sinnliche Gegenstand, von welchem das Schema hergenommen wurde, in der Sprache schon hatte, wurde auf den übersinnlichen Begriff selbst übergetragen. Diesem Zeichen lag nun freilich eine Täuschung zum Grunde, aber durch dieselbe Täuschung wurde es auch verstanden, weil bei dem anderen, welchem der geistige Begriff mitgeteilt wurde, an dem gleichen Schema auch der gleiche Gedanke hing.

So muß, um ein recht auffallendes Beispiel zu geben, die  Seele, das Ich,  als unkörperlich gedacht werden, insofern es der Körperwelt entgegengesetzt ist. Wenn es aber vorgestellt werden soll, so muß es außer uns gesetzt, folglich unter die Gesetze, nach welchen Gegenstände außer uns vorgestellt werden, unter die Formen der Sinnlichkeit gebracht, und mithin im Raume vorgestellt werden.

Hier ist ein offenbarer Widerstreit des Ich mit sich selbst: die Vernunft will, daß das Ich als unkörperlich vorgestellt werde, und die Einbildungskraft will, daß es nur als den Raum erfüllend, als körperlich erscheine. Diesen Widerspruch sucht der menschliche Geist dadurch zu beheben, daß er  etwas,  als Substrat des Ich, annimmt, das er allem, was er als grobkörperlich kennt, entgegensetzt. Also wird der Mensch, wenn er noch gewohnt ist, Materialien zu seinen Vorstellungen vorzüglich durch den Sinn des Gesichtes zu erhalten, zu einer Vorstellung des Ich einen solchen Stoff wählen, der nicht in die Augen fällt, den er aber sonst wohl spürt, z.B. die  Luft  und wird die Seele "Spiritus" nennen.

Die Übertragung sinnlicher Zeichen auf übersinnliche Begriffe ist indes Ursache einer  Täuschung.  Der Mensch wird nämlich durch diese Bezeichnungsart leicht veranlaßt, den geistigen Begriff, welcher auf eine solche Weise ausgedrückt worden ist, mit dem sinnlichen Gegenstande, von welchem das Zeichen entlehnt wird, zu verwechseln. - Die Täuschung war unvermeidlich. Man  konnte  jene Begriffe nicht anders bezeichnen.

Die ersten Wörter waren gewiß ganze  Sätze:  sie faßten, vielleicht in einer einzigen Silbe, welche wiederholt werden konnte, ein Substantiv und ein Zeitwort in sich. Zum Beispiel die Nachahmung des Löwengebrülls deutete der Horde an, es  komme  ein Löwe. - Die ersten Worte waren so unbestimmt als möglich. Sie bezeichneten keine bestimmte Zeit, sondern waren bloß  aoristisch  (Verbalform, die eine einmalige, abgeschlossene Handlung bezeichnet): es wurde das Vergangene und Gegenwärtige zugleich ausgedrückt.

Also die ersten Worte faßten in sich ein Substantiv und ein Zeitwort: das Tempus war der Aorist, die Person ganz gewiß die dritte, denn die Ursprache fängt an mit dem Erzählen, und der Ton der Erzählung redet in der dritten Person. Die ersten Zeitwörter waren weder Aktiva noch Passiva, sondern Neutra. Denn das Neutrum bezeichnet einen Zustand, der durch sich selbst bestimmt ist, der folglich auch, seiner Einfachheit wegen, am frühesten zum Bewußtsein und zur Bezeichnung kommen mußte.

Nach unserer Deduktion muß ein Wort, welches als Substantiv gebraucht werden soll, den Satz eröffnen: und da das Wort, welches den Satz schloß, durchgängig den stärksten Ton erhielt, weil es denjenigen Begriff ausdrückte, auf dessen Mitteilung es hauptsächlich abgesehen war, so mußte, weil unsere Kehle bei mehreren zugleich vorzutragenden Tönen nur einen stärker aussprechen kann, notwendig das Substantiv, als das vorangehende Wort, leichter und mit dem folgenden zusammenfließend ausgedrückt werden. Da hingegen das Zeitwort, welches, unserer Theorie gemäß, immer das letzte Wort in einem Satze war, sich dadurch auszeichnete, daß auf ihm der volle Ton ruhte.

Man könnte gegen diese Theoriee einwenden, daß es verschiedene Sprachen gebe, denen man ihre Entstehung nach den von uns vorgetragenen Regeln nicht ansehe. - Auf diesen Einwurf läßt sich folgendes erwidern: Man sah sich bald genötigt, neue Worte zu erfinden. Die Worte, welche man zur Bezeichnung neuer Vorstellungen erfand, mußten das Gepräge der Bildung tragen, welche der menschliche Geist in dem Zeitpunkt jener erfundenen neuen Bezeichnungen hatte.

Nun geht der gebildete Mensch vom Ich aus: er wird also auf dieser Stufe der Kultur auch bei der Aufstellung eines neuen Zeitwortes von der ersten Person ausgehen. Daher kann es nicht fehlen, daß ein neues Wort, gebildet in Zeiten höherer Kultur, von den ursprünglichen Formen derselben Sprache abweichen mußte.

Im Anfange wurden nun solche Worte mit den alten, von welchen sie abstammten, zugleich gebraucht; aber bald wurden jene allgemein und verdrängten die letzteren. - So wird selbst bei einem Volke, das von allen äußeren Einflüssen frei bleibt, sich mit keinem anderen Volke vermischt, seinen Wohnplatz nie ändert, usw., die rohe Natursprache nach und nach untergehen, und an deren Stelle eine andere treten, die von jener auch nicht die leiseste Spur an sich trägt.
LITERATUR, J. G. Fichte, Sämtliche Werke, hrsg. von I. H. Fichte, Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprunge der Sprache, Bd. 8, 1846