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WILHELM DILTHEY
Über die Möglichkeit einer
allgemeingültigen pädagogischen Wissenschaft


"Nur aus dem Ziel des Lebens kann das der Erziehung abgeleitet werden, aber dieses Ziel des Lebens vermag die Ethik nicht allgemeingültig zu bestimmen."

"Die Pädagogik empfing ihr Ziel vom leitenden sittlichen Gedanken des 18. Jahrhunderts, daß das letztlich Wertvolle in allem Lärm der Geschichte und der Gesellschaft die Auffassung der Individuen ist. Dieses Prinzip trat als eine absolute und allgemeingültige Wahrheit auf, war aber nur der Ausdruck der Denkweise des 18. Jahrhunderts."

"Erziehungswirklichkeiten sind immer geschichtlich und darum immer nur von relativer Geltung. Daher können keine konkreten Erziehungsfragen durch eine allgemeingültige Wissenschaft aufgelöst werden."

"Interesse und Aufmerksamkeit müssen überhaupt als die bewegende Kraft angesehen werden, die für alle Wirkungen im Unterricht erforderlich ist. Die Aufmerksamkeit wird durch das Interesse geleitet. Unter diesem verstehen wir den Anteil der Seele an einer Vorstellung oder Vorstellungsverbindung."

Die hervorragenden pädagogischen Systeme beanspruchen das Ziel der Erziehung, die Werte der Lehrgegenstände und die Methoden des Unterrichts allgemeingültig, sonach für ganz verschiedene Völker und Zeiten, zu bestimmen. HERBART und SCHLEIERMACHER, SPENCER und BAIN, BENEKE und WAITZ stimmen hierin überein. Solche Ansprüche der Systeme müssen die radikale Neigung befördern, die ein einförmiges Ideal ohne Rücksicht auf die Verschiedenheiten der Nationen und das Bedürfnis der Staaten dem bestehenden Schulwesen aufdrängen möchte. So wird ein Irrtum in der pädagogischen Theorie zu einer Gefahr für unser Schulwesen. Auf dem engeren und stilleren Gebiet der Schule wiederholt sich in unseren Tagen was sich im 18. Jahrhundert auf der Bühne des Staatslebens abspielte. Eine abstrakte, mit einem falschen Anspruch auf Allgemeingültigkeit auftretende Theorie wirkt revolutionär und zersetzend auf die geschichtlichen Ordnungen der Gesellschaft. Aus diesem Verhältnis empfängt die Kritik unserer heute herrschenden Pädagogik eine erhebliche praktische Bedeutung.


I. Die wissenschaftliche Rückständigkeit der
herrschenden pädagogischen Systeme

Die heutige Pädagogik entstand im 17. und 18. Jahrhundert und ist ein Teil jenes natürlichen Systems, welches sich damals als Naturrecht, als natürliche Religion oder Theologie und als allgemeingültige Moral, Ästhetik und politische Ökonomie entwickelt hat. Als das Wachstum der Naturwissenschaften und die Ausbildung der weltlichen Monarchie das europäische Bildungsideal umgestalteten und nun die neue höfische und naturwissenschaftliche französische Bildung alle Begabteren mit ihrem Zauber an sich zog: mußte für das erweiterte Material des Lernens im Leben und den Köpfen der Jugend durch einfachere Methoden Raum geschafft werden. Zugleich war nun in den neuen Methodenlehren von BACON, DESCARTES und ihren Genossen das Hilfsmittel geschaffen, eine Didaktik als Methodenlehre des Unterrichts zu begründen. So entstand die allgemeingültige Didaktik des 17. Jahrhunderts. Ihr Grundgedanke war: es gibt einen natürlichen Gang der Ausbildung unserer Intelligenz durch den Unterricht, und dieser geht von Erfahrungen zu abstrakten Wahrheiten, von der lebendigen Sprache zu den Regeln derselben, von der nächsten Umgebung des Kindes zur Orientierung im Weiten. Von diesem natürlichen System des Unterrichts schritt dann das 18. Jahrhundert zu dem der gesamten Erziehung fort. Die natürliche Entwicklung und die Vollkommenheit der Person wurden nun auf dieser Grundlage für das Jahrhundert Ziel und Prinzip der ganzen Erziehung. TRAPP, SCHWARZ und NIEMEYER haben zuerst auf dieser Grundlage regelrechte pädagogische Systeme geschaffen.

Konnten diese und die ihnen folgenden pädagogischen System ihren Anspruch, die Erziehung allgemeingültig aus Grundsätzen zu regeln, auch verwirklichen? Eine Pädagogik, welche solchen Ansprüchen genug tun will, muß von der Ethik die Kenntnis ihres Zieles empfangen und von der Psychologie die Kenntnis der Einzelvorgänge und Maßregeln, in denen die Erziehung dieses Ziel zu erreichen strebt. So wird sich fragen, was diese beiden Wissenschaften für die Pädagogik zur Zeit leisten können.

Nur aus dem Ziel des Lebens kann das der Erziehung abgeleitet werden, aber dieses Ziel des Lebens vermag die Ethik nicht allgemeingültig zu bestimmen. Dies kann schon aus der Geschichte der Moral erkannt werden. Was der Mensch ist und was er soll, erfährt er erst in der Entwicklung seines Wesens durch die Jahrtausende und nie bis zum letzten Wort, nie in allgemeingültigen Begriffen, sondern immer nur in den lebendigen Erfahrungen, welche aus der Tiefe seines ganzen Wesens entspringen. Dagegen hat sich jede inhaltliche Formel über den letzten Zweck des Menschenlebens als historisch bedingt erwiesen. Kein moralisches System hat bisher allgemeine Anerkennung erringen können. Derselbe Schluß kann aus der psychologischen Analyse abgeleitet werden. Da wir ein metaphysisches welterklärendes Prinzip von unbestrittener Geltung nicht besitzen, so können Prinzipien des sittlichen Lebens nur aus den lebendigen Regungen und Trieben abstrahiert werden, derart sind auch Sympathie, das Streben nach Vollkommenheit und Glück und das Gefühl der Verpflichtung in gegenseitiger Bindung. Aber die begriffliche Fassung dieser Antriebe und die Verbindung der so entstehenden Formeln zu einem Ganzen ist immer eine Interpretation derselben, und eine solche Interpretation ist stets als ein ethisches Ideal oder System historisch bedingt oder begrenzt. Ja diese Regungen selber, zusammengesetzt wie sie sind, sind geschichtlich in ihrer Beschaffenheit wie ihren Stärkeverhältnissen veränderlich. Dasselbe läßt sich schließlich noch tiefer erkenntnistheoretisch begründen. Das sittliche Urteil ist keine Aussage, welche durch die Sinnfälligkeit der Wahrnehmung oder durch die Evidenz der Verknüpfung im Denken gewährleistet wäre. Der moralische Satz ist niemals in dem Sinne allgemeingültig, in welchem es ein logischer oder mathematischer Satz ist. Die Verurteilung einer Handlung ist vielmehr entweder ein Gefühl, eine Willensregung, welche sich im Täter selbst gegen seine Handlung wendet, oder eine Art von Repulsion [Abstoßung - wp], die von den umgebenden Willen ausgeht. Und zwar zeigt dieser Widerstand des Gefühls und Willens, den wir als Verurteilung bezeichnen, sehr charakteristische Unterschiede. Wenn der, durch eine förmlich geäußerte Versprechung Gebundene diese Bindung seines Willens durch die übernommene Pflicht mißachtet, findet er sich aus dem Bezirk ausgeschlossen, in welchem gegenseitig auf Treue und Pflicht gerechnet wird. Wenn aber ein Wille dem Wohlwollen und der Sympathie, die wir fremden Leiden entgegenbringen, sich nicht überläßt, sondern diese in Gefühl und Handlung verletzt, findet sich derselbe aus der gegenseitigen Hilfsbereitschaft und Teilnahme ausgeschlossen, wie sie die kleineren und größeren Kreise der menschlichen Gesellschaft umschlingt. Und wenn schließlich in einem Willen das Streben nach Entfaltung und Vervollkommnung erstorben ist, dann wird er nur durch eine mildere Art von Mißbilligung aus dem Kreis derer, in denen ein solches Streben energisch wirkt, ausgeschlossen. Und nicht nur der Kreis, welcher ausschließt, sondern auch die Art und Weise der Repulsion ist in diesen drei Grundfällen eine ganz verschiedene. Sätze oder Regeln, welche aus solchen Willensvorgängen abstrahiert sind und daher nach ihrem Gefühls- oder Willensgehalt einen ganz verschiedenen Ursprung und Wert haben, können nicht in allgemeingültiger Weise zu einem moralischen Prinzip vereinigt werden, ja sie erschöpfen überhaupt nicht in allgemeingültiger und eindeutiger Weise den Gehalt der Willensvorgänge. Denn die Verbindlichkeit, welche diese Sätze oder Regeln aussprechen, hat in den angegebenen verschiedenen Fällen einen ganz verschiedenen Sinn und Wert. Sie drücken Realitäten aus, von denen jede in der moralischen Organisation des Menschen für sich steht. So ist es unmöglich, si durch bloß logische Operationen zum Ganzen eines Moralsystems zu verbinden. Das sittliche Leben selber, vom inhaltlichen Zusammenhang einer Kultur aus, verknüpft sie zu höheren Gebilden. Im sittlichen Leben entsteht dem Willen eine solche inhaltliche Einheit, in welcher seine einzelnen Regungen und die mit ihnen verknüpften Gefühle ineinander verwoben werden. Aber in dieses Gewebe tritt der konkrete Lebensgehalt einer Zeit und eines Volkes ein. Mag dann ein Dichter diese im Willen gestaltete Einheit als Lebensideal aussprechen, oder ein Philosoph als höchstes Gut, als sittliches Prinzip: sie finden nur das Wort für das, was die Geschichte geschaffen hat. Die Normen des poetischen Schaffens, welche zeitlos aus der Natur des Menschen entspringen, verknüpfen sich in der dichterischen Arbeit von Generationen zur Technik einer bestimmten poetischen Epoche. Derselbe Vorgang findet im sittlichen Leben statt, und auch was hier als Lebensideal, höchstes Gut, sittliches Prinzip entsteht, ist in Inhaltvolles, durch den ganzen Gehalt des geschichtlichen Lebens Bedingtes: es ist historisch erwachsen und historisch eingeschränkt.

Die Pädagogik ist zweitens von der Psychologie abhängig. Von ihr empfängt sie die Erkenntnis, wie die Einzelvorgänge im Seelenleben einer den anderen erwirken, und damit die Möglichkeit, in diesen Kausalzusammenhang absichtlich durch Maßregeln der Erziehung einzugreifen. Die wissenschaftliche Psychologie, welche den Kausalzusammenhang mit den Mitteln der Beobachtung und des Experiments erforscht, ist noch in der ersten Jugend. Die Psychologie der klassischen Erziehungslehre im 18. Jahrhundert war eine Vermögenslehre. Ihr war das Bewußtsein eine Bühne, auf welcher, wenn das Stichwort fällt, Witz, Verstand, Begierden auftreten: sie streiten, eine Seelenkraft unterstützt die andere, eine Seelenkraft unterwirft die andere, bald findet ein Monolog, bald ein Duo oder Trio zwischen ihnen statt, sie verschwinden wieder hinter den Kulissen und warten bis ihr Stichwort sie zurückruft. Die auf eine solche Lehre gegründete Pädagogik gelangte nur zu ganz unfruchtbaren Anweisungen: entwickle Deine Kräfte, aber keine derselben einseitig und im Übermaß: gebrauche dieselben, doch mißbrauch sie nicht. Diese ganze Theorie von den Seelenvermögen bildete nur die in der Sprache und dem gebildeten Umgang erwachsenen allgemeinen Vorstelungen durch, und so reichten auch ihre Leistungen niemals über eine edle Popularität hinaus. Dann entsprang die Reform der Psychologie durch HERBART eben im Bedürfnis der Pädagogik, die Vorstellungen als Kräfte zu behandeln und die Erscheinungen des Seelenlebens aus den gesetzlichen Beziehungen dieser Kräfte zueinander abzuleiten. Die fundamentale Hypothese dieser Psychologie ergab sich HERBART schon aus den pädagogischen Erfahrungen PESTALOZZIs. Von da an blieb die Psychologie mit der Erziehungslehre im engen Zusammenhang. Aber einige für die Pädagogik unentbehrliche Parteien, wie die Lehre von den Gefühlen und dem Willen, sind bis jetzt einer strengeren wissenschaftlichen Behandlung nicht zugänglich geworden. So kann und wird Psychologie einmal Grundlage der Pädagogik und Pädagogik einmal angewandte Psychologie sein, aber noch ist nicht abzusehen, wann die Seelenlehre so hohen Anforderungen wird entsprechen können.

Aus dieser Stellung im Zusammenhang der Wissenschaft erklärt sich das Schicksal der Pädagogik. Sie empfing ihr Ziel vom leitenden sittlichen Gedanken des 18. Jahrhunderts, daß das letztlich Wertvolle in allem Lärm der Geschichte und der Gesellschaft die Auffassung der Individuen ist. Dieses Prinzip trat als eine absolute und allgemeingültige Wahrheit auf, war aber nur der Ausdruck der Denkweise des 18. Jahrhunderts. Die Pädagogik empfing andererseits von der Methodenlehre und Anthropologie des 17. und 18. Jahrhunderts die Regel für die Erziehung des Individuums, daß der Fortgang der Entwicklung von der Anschauung zum Begriff, von Tatsachen zu Abstraktionen gehen muß. Doch ist diese Regel in ihrer Unbestimmtheit für die Auflösung der tieferen pädagogischen Fragen nicht ausreichend. So waren die pädagogischen Formeln des 18. Jahrhunderts begrenzt und von relativem Wert, als der abstrakte Ausdruck für das Lebens- und Erziehungsideal jener Tage und als die Anwendung einer nur ganz unzureichenden Psychologie. Denn das ist überhaupt die den Erfindern solcher Formeln nicht bewußte Ironie der Geschichte, die Komödie, welche sie mit ihnen aufführt: sie müssen das Leben und die Kenntnis eines begrenzten geschichtlichen Kreises aussprechen, während sie sich über Ort und Zeit zur Region des Allgemeingültigen in ihrem abstrakten Flug aufzuschwingen wähnen. Und diese Unmöglichkeit eines allgemeingültigen pädagogischen Systems, das die Erziehung zu leiten vermöchte, wird auch durch die weitere kurze Geschichte der Erziehungslehre bestätigt. TRAPP, NIEMEYER und SCHWARZ versuchten nur die Erfahrungen der großen Reformzeit von einem sittlichen Grundgedanken aus zu ordnen und durch die Vermögenslehre in Verbindung zu bringen. An der strengen Wissenschaftlichkeit der Erziehungslehre verzweifelnd, flüchteten sie sich in jene edle Popularität, die das Kennzeichen mißlingender Wissenschaftlichkeit ist, und sie banden nur in ihren Bestimmungen über das Erziehungsziel die schönsten Blumen vom Feld des sittlichen Lebens, Glückseligkeit, Vollkommenheit, ethische Persönlichkeit, Ebenbildlichkeit zu einem freundlichen Kranz zusammen. Dann hat HERBART zuerst eine wissenschaftlich begründete Pädagogik aufzustellen versucht. Die von ihm und BENEKE, von WAITZ und WILLMANN angestellten Untersuchungen über Interesse, Aufmerksamkeit, Sinnlichkeit, Gedächtnis und Denken haben für die Didaktik des 17. Jahrhunderts die feste psychologische Unterlage nachträglich aufgefunden. Für diesen didaktischen Teil der Erziehungslehre ist das Ziel der Erziehung klar und deutlich erkennbar gegeben in der Ausbildung der Intelligenz zu einem Zusammenhang, welcher der Wirklichkeit entspricht. Auch war innerhalb der Lehre von der Intelligenz zuerst die psychologische Analysis gelungen. Dagegen ist die Psychologie dieser Schule nicht imstande gewesen, die Einzelvorgänge, die in der Erziehung von Gefühl und Wille zusammenwirken, in befriedigender Weise analytisch darzustellen, und die ethischen Formeln HERBARTs befriedigen so wenig wie die von KANT oder von SCHLEIERMACHER. Dann ist in der neuesten Zeit von den Engländern und ihren deutschen Anhängern die utilitaristische Auffassung des Lebens zugrunde gelegt worden. BAIN und andere begründeten die Benutzung dieser Auffassung in der Pädagogik darauf, daß dieser niederste und mindeste Zweck des Lebens von keiner Schule geleugnet werden kann, gleichviel ob außer ihm höhere Zwecke bestehen. Aber sie verkannten, daß die Ausschließung eines Zwecks aus dem Erziehungsplan gerade so bestimmend auf die Konstitution der Erziehung wirkt als die Setzung eines solchen. Auch die Hoffnung HERBERT SPENCERs, eine Abmessung des Erziehungswertes der Lehrobjekte aus der Anwendung des utilitaristischen Prinzips auf die Bildung des Individuums zu gewinnen ist trügerisch. Denn indem SPENCER für jedes Individuum gleichförmig in utilitaristischer Atomistik diese Rechnung ansetzt, erhält er einen Zögling, der vor allem Medizin erlernen muß, um für seine Gesundheit, sein höchstes Gut, als Medizinalpfuscher zu sorgen, ferner politische Ökonomie, um seine Kapitalien rational anzulegen, und man würde sich nicht wundern, wenn er diesen von ihm erfundenen Robinson inmitten der Gesellschaft auch kochen lernen ließe. Die Erziehungswerte der Lehrobjekte können eben nur aus der Arbeitsteilung und den Bedürfnissen, wie sie in einer gegebenen Gesellschaft bestehen, abgeleitet werden. Diese aber ist immer geschichtlich bedingt und begrenzt.

Diese abstrakte und allgemeingültige pädagogische Wissenschaft, in allen ihren bisherigen Gestalten, ist die Genossin der natürlichen Theologie und des Naturrechts, der abstrakten Nationalökonomie und Staatslehre. Während die historische Schule sonst überall längst das natürliche System verdrängt und eine geschichtliche Auffassung herbeigeführt hat, ist die Pädagogik allein rückständig geblieben. So ist sie eine Anomalie in der gegenwärtigen Wissenschaft. Die Mißachtung, mit der man ihr begegnet, beruth auf dem richtigen Gefühl, daß sie eine Wissenschaft im modernen Verstand noch gar nicht ist. Sie meistert die großen geschichtlichen Gestalten des Erziehungswesens, welche aus dem Ethos der einzelnen Völker hervorgegangen sind: blind gegen den geschichtlichen Tiefsinn und das sinnvolle Gefüge dessen was ist. Doch kann diese Pädagogik auch nicht im Sinne der historischen Schule durch eine Analyse der geschichtlichen Formen des Unterrichtswesens ersetzt werden. Noch ist die Aufgabe eben erst angegriffen, das Archiv- und gedruckte -Material, Schulordnungen, Schulbücher, alsdann die gedruckten Aussagen von Privatpersonen über Ergebnisse der Erziehung, zu unserer Kenntnis des Kulturzusammenhangs in ein Verhältnis zu setzen. Aber so wertvoll rein historische Arbeit aus diesen Materialien sein wird: wir wollen doch schließlich nicht nur wissen, wie die Dinge gewesen sind; unsere zeit, wie jede andere bedarf Regeln des erziehenden Handelns. Wenn die historische Schule nur die Kunde dessen, was gewesen ist anstrebt, so kann sie das vernichtete natürliche System nicht ersetzen. So findet sich auch auf diesem Gebiet, wie auf den verwandten der Ethik, der Poetik, der politischen Ökonomie, die Wissenschaft vor der Frage: an welchem Punkt entspringt aus der Erkenntnis dessen was ist, die Regel über das, was sein soll?


II. Eigenschaften des Seelenlebens, welche ein System von Regeln der Erziehung ermöglichen.

Regeln des menschlichen Handelns können zunächst bedingt, sonach von anderen Regeln oder Zwecken abhängig sein. Solche Regeln sind die der Erziehung: denn diese ist kein Zweck für sich, sondern sie dient der Entfaltung des Seelenlebens als Mittel. Oder Regeln sind der Ausdruck einer Richtung des Willens, welche von einem nicht weiter rückwärts bedingten Zweckinhalt bestimmt ist. In solchen Regeln muß der Zweck des Lebens dargestellt werden. Nun ist bisher ein solcher letzter Zweck des Lebens aus der metaphysischen Ordnung der Welt nicht auf allgemeingültige, allgemein anerkannte Weise abgeleitet worden, und es scheint auch nach den bisherigen Erfahrungen dazu keine Aussicht in absehbarer Zeit vorhanden zu sein. Demnach kann nur im Seelenleben selber eine Teleologie aufgesucht werden, deren Ausdruck jeder allgemeingültige Satz über den Zweck des Lebens und jede solche Regel des Handelns schließlich sein muß.

Jedes empfindende, bewegliche Geschöpf sehen wir angemessen der Erhaltung, ja Steigerung der eigenen Existenz wie der Existenz seiner Gattung dahinleben. Die Handlungen, welche diesen Charakter an sich tragen, bezeichnen wir als zweckmäßig. Nun könnte man sich ein Geschöpf denken, in welchem dieser Charakter von Zweckmäßigkeit aus seiner eigenen Einsicht in den Kausalzusammenhang zwischen seinem Organismus, der Außenwelt und seinen Handlungen entspringt. Ein solches Geschöpf würde von seiner Geburt an ein Wissen von der Beschaffenheit der Luft haben, in welcher es am besten atmet und würde sich hiernach seine Luft auswählen. Es würde wissen, in welcher Temperatur es am besten gedeiht und welche Speisen ihm die gesündesten sind und sich von Kindesbeinen an nach dieser theoretischen Kenntnis sein Leben einrichten. Das aber wäre ein kleines Wunder an Intelligenz: denn die Zweckmäßigkeit seiner Handlungen würde durch die Anpassung derselben an Erkenntnisse herbeigeführt, die von Geburt an als eine Art von Allwissenheit ihm zur Verfügung steht. In Wirklichkeit wird in sehr verkürzter und zugleich in sehr unvollkommener Art durch unsere Gefühle dasselbe geleistet. Die Gefühle treten zwischen die Bilder oder Handlungen andererseits. Diese Einrichtung hat einen teleologischen Charakter. Derselbe besteht in einer Struktur unseres Seelenlebens, nach welcher unsere Vorstellungen und Gefühle die Triebe ins Spiel setzen und diese dann Handlungen erwirken, und zwar so, daß diese Gefühle den Wert des in der Vorstellung Aufgefaßten für unser psychophysisches Wesen ungefähr, wenn auch sehr unvollkommen und eingeschränkt, ausdrücken. So sind unsere Geschmacksempfindungen von Gefühlen begleitet, welche das unbedingt und unter allen Umständen der Ernährung Schädliche als widrig abstoßen. In derselben Weise lehren uns Gefühle, welche den Atmungsvorgang begleiten, schädliche Luftarten zu vermeiden. Schmerzen sind in diesem Zusammenhang vorwiegend Korrelat[Begleit- |wp]erscheinungen der einem Körper schädlichen Vorgänge und Lustgefühle entsprechen den nützlichen Vorgängen.

Auf dieser Zweckmäßigkeit im seelischen Zusammenhang beruth die Möglichkeit, daß sich die Arten erhalten, und eine Steigerung der Organisation innerhalb der Lebewesen eintritt. Ebenso enthält dieser teleologische Zusammenhang die Wurzeln aller zweckmäßigen Effekte im Menschenleben, Gesellschaft und Geschichte. Man kann also auch von einer Struktur oder einem Typus des Seelenlebens reden, der von den niedersten Stufen des tierischen Daseins aufwärts bis zum Menschen reicht, und zwar werden innerhalb dieses Typus der Glieder des Zusammenhangs zwischen Reiz und Bewegung immer mehrere und die Verbindungen zwischen ihnen werden immer mannigfaltiger. So entsteht auf dem Gipfel dieser psychischen Entwicklungsreihe der Typus des Menschen. Aus dem Milieu, in welchem er lebt, stammen Reize; sie werden in Empfindung, Wahrnehmung und Denken aufgefaßt und verarbeitet; diese Reize und die in ihnen erscheinenden Objekte haben ein Verhältnis zu Erhaltung, Entwicklung und Glück des Individuums, sowie zur Erhaltung der Art, und in Lust und Unlust, im Spiel der Gefühle wird der Mensch der so entstehenden Werte der Dinge für sein Eigenleben inne; alsdann werden von diesen Gefühlen und Affekten als von Motoren die Willensvorgänge und Bewegungen getrieben, welche unser Eigenleben den Lebensbedingungen anpassen oder wo diese Bedingungen unveränderlich sind, denselben unsere Zustände akkomodieren [anpassen - wp]. Hiernach besteht der Typus des vollkommenen Menschen in der Vollkommenheit dieser drei Arten von Vorgängen, in der richtigen Abmessung ihrer Stärke und in einem angemessenen Ineinandergreifen derselben. Das erste Glied dieses teleologischen Zusammenhangs ist uns in seiner Leistung ganz durchsichtig: Empfindung, Wahrnehmung und Denken beleuchten gleichsam die Objekte, an denen entlang wir uns bewegen. Das letzte Glied ist ebenfalls einfach verständlich; Trieb, Begehren, Wille breiten von den niederen Organismen ab ihre Fangarme der Wirklichkeit entgegen. Dagegen liegen in der Funktion unserer Gefühle die Rätsel, von deren Auflösung der Einblick in den teleologischen Zusammenhang unseres Seelenlebens einmal zu erwarten ist. Die Zergliederung findet hier Gefühle und Triebe zwar in der Form des Geschehens voneinander verschieden, doch in ihrer Inhaltlichkeit nicht trennbar.
    Satz 1: Gefühle und Triebe treten im Seelenleben als zusammengesetzte Zustände auf; es lassen sich in dieser Zusammensetzung bestimmte Arten auf Vorstellungen zu reagieren als einfachere Bestandteile unterscheiden; diese gehen dann durch die Formen von Gefühl und Trieb hindurch.
So kann das Streben, die Verletzung der eigenen Daseinssphäre zu ahnden, nicht von dem in diesem Streben ihm enthaltenden Gefühl getrennt werden. Oder wenn in unserer Personalität gegründet ist, daß wir das gegebene Wort unabhängig vom Wechsel der Zeit festhalten, so ist auch hierin Gefühl und Antrieb miteinander verbunden. Wohl ist es für die innere Form des Charakters ein entscheidender Unterschied, ob in ihm Gefühle durchgehends in Handlungen überzugehen streben, oder in Ausdruck und Aussprache verpuffen, aber es verlaufen, inhaltlich betrachtet, stets dieselben bestimmten Arten der Reaktion auf Vorstellungen zunächst in den Gefühlen, dann in den Trieben, als in verschiedenen Formen des seelischen Geschehens. Eine solche bestimmte Reaktionsweise ist es, wenn qualitative Empfindungen, denen sich das Interesse zuwendet, einen Gefühlston erhalten, wenn zwischen unseren Tonempfindungen oder Gesichtsempfindungen Kontrast oder Harmonie entsteht, sowie wenn die Auffassung der Gemütszustände anderer Personen Sympathie und Mitgefühl hervorruft.
    Satz 2: Die Reaktionsweisen, welche die Analyse so aus den zusammengesetzten Gefühlen und Willenszuständen aussondert, können als eine Mannigfaltigkeit von Gefühls- und Triebkreisen dargestellt werden.
So sind zunächst in unseren zusammengesetzten Zuständen die elementaren Gefühle enthalten, welche von den Empfindungsinhalten aus unter der Bedingung eines konzentrierten Interesses hervorgerufen werden und dieselben bilden als Mannigfaltigkeit des Gefühlstons der Empfindungen einen Gefühlskreis für sich. Ferner können Gefühle, welche durch Beziehungen von Sinnesinhalten aufeinander hervorgerufen werden, wie Harmonie und Kontrast, Symmetrie und Rhythmus, unterschieden werden und auch sie machen einen Gefühlskreis aus. Solche Regungen, Gefühle und Triebe entscheiden über die Art, wie sich der Mensch in der Welt fühlt und diese behandelt. Wir finden sie im Kind als eine Mannigfaltigkeit getrennter Modalitäten von Gefühl und Trieb; so bilden sie die Charakteranlage des Menschen. In ihnen ist das Elementarische, Widerspruchsvolle, Irrationale der Menschennatur, doch zugleich das Machtvolle und zu einer höheren Harmonie aufwärts Strebende. Durch sie vollbringt der Mensch, was er niemals im gemeinen Lauf des Glückseligkeitsstrebens vermögen würde. Hier sind die Triebkräfte für die harte Arbeit der Person und der Menschheit; hier ist die Erdnähe des Menschen und seine Erhabenheit zugleich angelegt, das Doppelantlitz der Menschennatur, das dem tiefsinnigen PASCAL den Menschen als einen entthronten König und dem scharf beobachtenden KANT zugleich als ein Sinnengeschöpf und als ein Vernunftwesen erscheinen ließ. In dieser ursprünglichen Mannigfaltigkeit sind alle unausgesprochenen Disharmonien unseres Wesens gegründet. Wir sind uns selber vermöge ihrer ein Rätsel und oftmals auch Anderen.
    Satz 3: Diese verschiedenen Reaktionsweisen des Gefühls und Triebes auf Vorstellungen sind am Anfang der seelischen Entwicklung noch nicht miteinander verbunden. Jede von ihnen wirkt, wenn auch in roher und eingeschränkter Art zweckmäßig. Aber erst die Entwicklung des Seelenlebens stellt durch beständige Anpassung zwischen ihnen die Beziehungen her, durch welche dann ein vollkommener teleologischer Zusammenhang des Seelenlebens im Individuum und in der aufsteigenden Entwicklung des Seelenreiches und der Geschichte entsteht.
Man beobachte ein Kind! Der Trieb nach Nahrung, die Reaktion auf Verletzungen, die zärtliche Hingabe treten in ihm isoliert, ohne eine Beziehung auf das Ganze seiner Bedürfnisse und ohne eine hierdurch ermöglichte Abschätzung ihres Wertes und Anspruchs auf. Wie Sonnenschein fliegt Zärtlichkeit über sein Gesicht und macht sogleich anderen Gefühlen und Antrieben Platz. Im Charakter des Naturmenschen ist das Unstete seiner Antriebe und Strebungen stets als besonders charakteristisch hervorgehoben worden. Aber jede dieser Regungen wirkt teleologisch. Man entferne aus dem Naturell des Kindes oder des Naturvolks die Regung der Rache und die Schutzwehr gegen die Unbill des Lebens wäre zu schwach.

Die bisherige Pädagogik hat den in diesen Sätzen umschriebenen teleologischen Zusammenhang des Seelenlebens und die zentrale Bedeutung der Gefühle und Triebe in diesem Zusammenhang noch nicht erkannt. Ihre wissenschaftlichen Vertreter waren durchweg intellektualistisch; aber auch Lehren wie die der Kirche von der Erbsünde und die ROUSSEAUs von der natürlichen Unschuld drücken die beiden Hälften des hier kurz beschriebenen Tatbestandes nur einseitig und summarisch aus. Es bedarf der geduldigsten psychologischen Analyse, den Tatbestand so weit darstellbar zu machen, daß der Erzieher den Zusammenhang in der Kindernatur nach seinen Bestandteilen und Gesetzen erfassen kann. Zumal alle Frauenerziehung hat gerade hier ihren Mittelpunkt; in diesen Zügen, welche das Naturell ausmachen und aus denen sich der Charakter bilden soll.

Aus diesem teleologischen Zusammenhang des Seelenlebens lassen sich nun die Merkmale ableiten, welche den unterscheidenden Charakter der geistigen Welt verglichen mit der Naturordnung ausmachen. Diese Merkmale bilden dementsprechend auch die fundamentalen Begriffe für das Verständnis der Erziehung und die Konstruktion einer wissenschaftlichen Pädagogik. An den geistigen Tatsachen treten Zweckmäßigkeit und Vollkommenheit auf. Sie sind Normen unterworfen und der Lebensverlauf, der sie im Individuum und der Menschheit umschließt, zeigt eine Entwicklung.

Die Auffassung des seelischen Zusammenhangs zeigte uns zunächst den teleologischen Charakter desselben; die mechanische Naturordnung ist auf das Kausalgesetz begründet, dessen Formel ist: causa aequat effectum [Ursache gleiche Wirkung - wp]. Hier entspricht also die Wirkung genau den Ursachen, und die Beziehung der Glieder in einem gegebenen Zusammenhang erschöpft sich im Kausalverhältnis. Im Seelenleben erfahren wir von innen ein Verhältnis der Vorgänge als einzelner Glieder in einem Zusammenhang, welcher Erhaltung, Glück und Entwicklung der Individuen, Erhaltung und Steigerung der Art und Gattung herbeiführt. Einen solchen Zusammenhang bezeichnen wir als zweckmäßig. Hieraus ergibt sich dann, daß dieser Zusammenhang und seine Glieder ihren Zweck auf mehr oder weniger vollkommene Weise verwirklichen. Diese Vollkommenheit kann dann weiter in abstrakten Formeln ausgedrückt werden, und wir können dieselben jeder Entwicklung als ihre Regeln vorschreiben. Wir können die Eigenschaften desjenigen Zusammenhangs bestimmen, der seinen Zweck auf ganz angemessene Weise erfüllt, dem also der Charakter der Vollkommenheit zukommt. Wird die Vollkommenheit eines Gliedes in diesem Zusammenhang oder die Beziehung der Glieder in demselben allgemeingültig ausgedrückt, so entsteht eine Regel oder Norm. Und zwar verwirklicht sich in jedem Gebiet des geistigen Lebens diese Vollkommenheit durch ein System von Regeln. Diese Regeln des sittlichen Lebens, des künstlerischen Schaffens sind allgemeingültig, unabhängig von den wechselnden geschichtlichen Bedingungen und beständig mitten in der Entwicklung. Endlich stellt sich der Charakter des Lebens, welches aus dieser teleologischen Natur der Sache entspringt, als Entwicklung dar. Wie die organische Natur auf Steigerung hinarbeitet, so die geschichtliche Welt auf Entfaltung und Entwicklung. Der elementare Grund dieser Entwicklung liegt in den Reaktionsweisen des Trieb- und Gefühlslebens. Die mechanische Auffassung der Entwicklung, wie MONTESQUIEU, HELVETIUS und BUCKLE sie durchgeführt haben, erklärt die Vervollkommnung des Menschengeschlechts aus dem Eintritt immer mehrerer Eindrücke aus der Außenwelt, welche das Wissen der Völker erweitern und ihr Naturell bestimmen. Die Entwicklungslehre des deutschen Idealismus, wie SCHELLING, WILHELM von HUMBOLDT und HEGEL sie durchgeführt haben, sucht die Vervollkommnung des Menschenwesens in der aufsteigenden Reihe der Ideen auf. Beide Ansichten verkennen die Bedeutung der elementaren Kräfte, die als Gefühle und Triebe die mächtige Mitte des Seelenlebens ausmachen. Jede Lage der Kultur stellt zwischen diesen elementaren Kräften wie zwischen den sinnlichen Eindrücken eine inhaltliche Verbindung her. Sie bringt das Mannigfaltige der Eindrücke und Regungen in eine Einheit. Im Ethos eines Volkes liegt eine solche Struktur, in der die elementaren Kräfte gebunden sind. So entwickelt jede Epoche einen bestimmten Typus des Menschen, und was sie erringt, wirkt in die Folge. Auf jedem Standort der Menschheit kommt doch zugleich nur eine teilweise Vereinigung zu einem vollständigen Zusammenhang des Seelenlebens zustande; elementare Kräfte, die nicht in die Verbindung der Kultur gebracht sind, machen sich geltend: schon hierdurch ist die Lebensdauer jeder Kulturstufe bestimmt.

Aus dieser Erörterung ergibt sich, in welchem Umfang eine allgemeingültige Erziehungslehre möglich ist, aus welchen Prinzipien sie folgt und welche Tragweite für die Auflösung der praktischen Erziehungsfragen ihr zukommt. Wie verschieden die Gestalten der Erziehung sein mögen: die Entwicklung jedes Kindes hat die Vollkommenheit der Vorgänge und ihrer Verbindungen herzustellen, die in einem teleologischen Zusammenhang des Seelenlebens zusammenwirken. Für jeden Teil dieses Zusammenhangs gibt es eine solche Vollkommenheit der Beschaffenheit und Leistung, und diese ist die Grundbedingung aller Tüchtigkeit des Menschen. Wir sahen, daß das inhaltliche Ziel des Lebens jederzeit geschichtlich bestimmt ist. Die Vollkommenheit des Seelenlebens in seinen einzelnen Vorgängen und seinem Zusammenhang ist die allgemeine im Menschen gelegene Bedingung, an welche die Erreichung jedes inhaltlichen Ziels gebunden ist. Diese Vollkommenheit ist also unter allen Umständen von der Erziehung anzustreben. Das Erziehungsideal einer Zeit und eines Volkes in seiner inhaltlichen Fülle und Wirklichkeit ist historisch bedingt und geartet. Dazu begegnen einander individuelle Anlage und Lebensausstattung auf der einen Seite, der entsprechende Beruf in der Gliederung der Berufsarten auf der anderen Seite, und so erst entsteht die Erziehungswirklichkeit, kraft deren ein Mensch in seiner Zeit, seinem Volk, seiner Gesellschaft sich dem ihm angemessenen Ziel seiner Leistung entgegen entwickelt. Aber für dies Alles ist die Vollkommenheit des teleologischen Zusammenhangs, den ein Seelenleben im Ineinandergreifen seiner Vorgänge bildet, die allgemeine Bedingung. Was in ihr gelegen ist, kann allgemeingültig entwickelt werden. Es ist eine Abstraktion aus der geschichtlichen Lebendigkeit des Menschen, aber eben als solche einer wissenschaftlichen Darstellung zugänglich. Entsprechend ist eine pädagogische Darstellung der Mittel, durch welche diese Vollkommenheit des psychischen Zusammenhangs herbeigeführt wird, in allgemeingültiger Strenge herzustellen. Denn das gesetzmäßige Erwirken eines Vorgangs, in welchem sich ein solcher psychischer Zusammenhang ausbildet, ist uns mehr oder weniger ausreichend bekannt, und so können die Maßregeln, welche die Erziehungskunst praktisch tastend und versuchend für die Herstellung desselben aufgefunden hat, überall psychologisch beschrieben und an vielen Punkten erklärt und ergänzt werden. Die Formel, welche der Ausbildung eines bestimmten Teils innerhalb des psychischen Zusammenhangs den Gang und seine Hilfsmittel vorschreibt, nennen wir eine pädagogische Regel. Sofern eine solche Formel ein einzelnes wirkendes Element, z. B. die unwillkürliche Aufmerksamkeit oder den Faktor der Wiederholung im Behalten nach den Bedingungen seines Wirkens darstellt, kann sie als Prinzip bezeichnet werden. Die Zahl solcher pädagogischer Prinzipien ist unbestimmt, da die Zahl der Teile unbestimmt ist, in welche der Zusammenhang pädagogischen Wirkens aufzulösen ist. So hat sich uns die Möglichkeit einer allgemeingültigen Pädagogik ergeben; in der Vollkommenheit der Vorgänge und ihrer Verbindungen, die in der Teleologie des Seelenlebens verbunden sind, hat sie eine sichere allgemeingültige Unterlage; in der Deskription der Analysis und Regelgebung vermag sie den Charakter strenger Sicherheit zu erreichen. Was hier von der Pädagogik aufgezeigt ist, gilt ebenso für die anderen Geisteswissenschaften, welche das Leben leiten sollen. SO haben wir nun die Aufgabe, die wir uns stellten, gelöst, und in dem, was ist, einen Grund für das, was sein soll, gefunden, in der Wirklichkeit einen Grund der Regel.

Aber hiermit ist nun auch das ganze Gebiet einer allgemeingültigen Pädagogik umschrieben. Es ist eng, und Sätze, welche die großen schwebenden Erziehungsfragen entscheiden, wachsen nicht auf ihm. Handelt es sich darum, wie diese pädagogischen Wirkungselemente zum Zwecksystem der Erziehung in einer gegebenen Zeit und einem bestimmten Volk sich verknüpfen, soll von der formalen Vollkommenheit der einzelnen Vorgänge zum inhaltlichen psychischen Zusammenhang in den wirklichen Seelen einer Zeit und eines Volkes fortgegangen werden: dann treten wir nunmehr erst aus dem Gebiet von allgemeingültigen Abstraktionen in das von Erziehungswirklichkeiten; und diese sind immer geschichtlich und darum immer nur von relativer Geltung. Daher können keine konkreten Erziehungsfragen durch eine allgemeingültige Wissenschaft aufgelöst werden.


III. Der so bedingte Zusammenhang der Pädagogik

Unter Erziehung verstehen wir die planmäßige Tätigkeit, durch welche die Erwachsenen das Seelenleben von Heranwachsenden bilden. Der Ausdruck wird in einem weiteren Verstand gebraucht, wenn die einem anderen Ziel zugewandte Tätigkeit Erziehung als Nebenerfolg erreicht. So erzielt der Vorgesetzte in einem Amtsverhältnis, oder der Geistliche in einem Gemeindeverhältnis, ja das Leben selber erzieht den Menschen. Derselbe Ausdruck Erziehung wird im übertragenen Sinn da gebraucht, wo sich die Bildung als Effekt eines Wirkens ergibt, zu welchem ein Subjekt und ein bewußtes Ziel von uns ergänzt wird. In diesem Dinne ist der Mensch der Zögling der Natur, die Erde das Erziehungshaus der Menschheit und die Offenbarung die Erziehung der Menschheit selber genannt worden. Hier wird überall ein Subjekt ergänzt, das die Ausbildung des Menschen in planmäßiger Tätigkeit erwirkt. Erziehung im eigentlichen Sinne ist dagegen auf das oben angebene Verhältnis eingeschränkt; und zwar bildet diese planmäßige Erziehung ein in sich geschlossenes System. So ist Pädagogik als die Erkenntnis dieses Systems zu bestimmen.

Zwar sind unter einem höchsten philosophischen Gesichtspunkt Bildung, Vollkommenheit, Entfaltung und Glück des Menschen der eigentliche Zweck aller Institutionen. Ja, die umfassendere Betrachtung, nach welcher die Natur selber auf diesen Zweck hinarbeitet, hat ihr Recht. In diesem Sinn kann WILLMANN eine Bildungslehre schreiben, in einem ähnlich LORENZ von STEIN das Bildungswesen zum Gegenstand einer umfassenden wissenschaftlichen Darstellung machen. Pädagogik in diesem Verstand ist das höchste praktische Ziel, zu welchem die Philosophie leiten kann. Aber solange die Institutionen der Gesellschaft nicht dieses Ziel als letztes und höchstes wirklich verfolgen, wird die Lehre von der Erziehung sich auf die Tätigkeit der Erwachsenen am heranwachsenden Geschlecht zum Zweck der Bildung desselben einzuschränken haben.

Als Bilden bezeichnen wir jede Tätigkeit, welche die Vollkommenheit der Vorgänge und ihrer Verbindungen im Seelenleben herzustellen strebt, und Bildung nennen wir also eine solche erreichte Vollkommenheit. Daß diese Bildung als Selbstzweck zu betrachten ist, ergibt sich aus dem dargestellten teleologischen Charakter des Seelenlebens. Ist doch jeder Begriff von Zweck und Selbstzweck nur daher entnommen, daß im befriedigten Zustand unserer Gefühle alle Vorgänge ihren Mittelpunkt haben. Die Ausdrücke: Glück, Wert, Zweck und Selbstzweck bezeichnen ja nur dieses teleologische Verhältnis. Das Individuum kann sich gar kein Lebensziel setzen, welches nicht innerhalb seiner eigenen Gefühlszuständlichkeit läge. Und wie es durch einen Schluß der Analogie oder vielmehr durch einen Vorgang, der einem solchen Schluß äquivalent ist, von der Existenz eines fremden Seelenlebens etwas weiß, so muß es mittels desselben Verfahrens auch in diesem fremden Seelenleben einen teleologischen Zusammenhang seiner eigenen Art voraussetzen. Es weiß, daß auch jedes andere Seelenleben sich als Selbstzweck fühlt. Und wie die Innerlichkeit (die immer dem Erinnern verwandt ist) mit der Zunahme von Bildern, Vorstellungen und ihren Verbindungen wächst, werden die Vorgänge zwischen Reiz und Bewegung vielfältig verlangsamt: das Zentrum des Seelenlebens, das von Einwirkungen und Bewegungen unabhängig besteht, wird mächtiger, einheitlicher und fühlt sich selber in dieser seiner einheitlichen Selbständigkeit; so wächst das Bewußtsein, Selbstzweck zu sein: Person, Würde, moralischer Wert werden nunmehr innerlich erfahren und an anderen anerkannt. Nun empfängt auch der Begriff der Bildung einen noch tieferen Gehalt. Wir sehen im Tier den Reizen elementare Reaktionen folgen, ohne daß zwischen beiden eine feste, inhaltvolle und ihrer bewußte Innerlichkeit bestände; und doch blickt uns aus den Augen des Tieres ein uns Verwandtes an, und wir fühlen das dann näher als eine Verwandtschaft der Regungen, der Triebe, der Gefühle. So entsteht ein sonderbares Verhältnis. Wir haben Mitleid mit dem leidenden Tier und sind doch zugleich gewiß, es unseren Zwecken unterwerfen zu dürfen. Indem wir das tierische Geschöpf nach unseren Zwecken gestalten, erziehen wir es nicht, sondern richten es ab.. Ebenso hat nun in der menschlichen Gesellschaft lange ein Widerspruch bestanden: das Gefühl der Überlegenheit von Rassen, Stämmen und Volksklassen höherer Stufe gegenüber den niedriger gearteten kämpfte mit dem nie ganz mangelnden Gefühl, daß alles was Menschenantlitz trägt, auf Entfaltung und Glück Anspruch hat. Auch der +Sklave, der Leibeigene ist nur abgerichtet worden, nicht erzogen. Langsam entfaltete sich im Menschengeschlecht das zentrale Gefühl, das im Wesen des Christentums liegt: liebe andere, wie dich selbst, sowie im Satz von LOCKE und KANT: "Betrachte den Menschen, und zwar wie dich selbst, so auch den anderen, als Selbstzweck". Und wie dieser Satz sich entfaltete, breitete sich die Erziehung auf alle, auch die wirtschaftlich untergeordneten Klassen aus.

Der erste Teil einer wissenschaftlichen Pädagogik hat Aufgaben zu lösen, welche bisher größtenteils noch gar nicht gesehen, allesamt aber noch nicht wissenschaftlich behandelt worden sind.

Er untersucht zunächst den Ursprung der Erziehung, des Unterrichts, der Schulen und die zunehmende Gliederung des Schulwesens in der Gesellschaft. Hier gilt es, die Mitteilungen der Reisenden über die Erziehung der Naturvölker mit den ältesten Nachrichten über Erziehung und Schule bei den Kulturnationen zu verbinden. Hierbei enthüllt sich eine merkwürdige Gesetzmäßigkeit, in welcher gewisse Formen bei Völkern, die ganz unabhängig voneinander sind, gleichmäßig auftreten. Als die primitivste Form von Erziehung tritt bei weit voneinander entlegenen Naturvölkern die Weihe auf, welche beim Eintritt der Pubertät von den Alten des Stammes den Jünglingen zuteil wird und die mit der Einführung in die Überlieferungen dieses Stammes verknüpft ist. Eine jeder Schrift voraufgehende, rohe und doch den ganzen Menschen mit einem gewissen Tiefsinn umfassende Erziehung. Eine zweite sehr allgemein, von den Naturvölkern aufwärts, verbreitete Form von Erziehung, welche noch dem Gebrauch der Schrift vorausgeht, findet in den Priester- und Sängerschulen statt. Der Lehrling wird hier in eine Genossenschaft aufgenommen und für sie gebildet. Hier werden dann auch später die Anfänge der Schrift überliefert. Mit der Verbreitung der Schrift von Volk zu Volk und einer ausgedehnteren Benutzung derselben ist dann durchgängig das Auftreten von Schulen in unserem Sinne verbunden gewesen. Zwei Formen treten hier im Zusammenhang mit Unterschieden der sozialen Gliederung auseinander. Von Sparta, Kreta und den Persern sind uns zufällig Nachrichten über eine öffentliche Erziehung in militärisch-politischen Verbänden überliefert, und es darf angenommen werden, daß auch bei anderen Völkern das Überwiegen eines solchen Verbandes aüber den Familienverband einmal stattgefunden und dieselbe Folge für die Form der Schulung gehabt hat. Wo sich dagegen die Selbständigkeit der Familie durchgesetzt hat, sind Privatschulen entstanden, welchen die Familie die Kinder übergibt, oder die kirchliche Organisation hat von der Familie die Kinder in Empfang genommen. Die fortschreitende Arbeitsteilung, die Entwicklung der wirtschaftlichen Ordnung und der Kultur steht dann in einem festen gesetzlichen Verhältnis zu einer stets zunehmenden Abzweigung der Schulen, einer wachsenden Differenzierung des Schulwesens. Heute stehen wir vor der Aufgabe, in unserem vielgestaltigen Schulwesen durch eine planvolle Unterrichtsgesetzgebung solche Beziehungen der Schulen zueinander herzustellen, daß jede individuelle Kraft ihren Weg zu einem Beruf findet, der ihr entspricht. Im Wettkampf der Völker würde unsere Nation einen wichtigen Vorsprung gewinnen, vermöchtes sich gleichsam haushälterisch in einer planvollen Ökonomie der Kräfte jede Einzelkraft zur höchsten in ihr liegenden Leistung zu bildungen in Wirkung zu setzen. Diese Aufgabe in unserem Staat zu lösen, wird es zwar nicht eines Unterrichtsgesetzes, aber doch einer einheitlichen und folgerichtigen Schulgesetzgebung bedürfen, welche wie einst die pädagogische Reformgesetzgebung von HUMBOLDT, SÜVERN und ihren Genossen nach einem vorhandenen konsequenten Plan verfährt.

Der erste Teil der Pädagogik hat alsdann weiter die Beziehungen zu untersuchen, in welchen Erziehung und Schulen zu den Zentren der äußeren Organisation der Gesellschaft: Familie, Gemeinde, Staat und Kirche stehen. Die äußere Organisation der Gesellschaft beruth durchweg auf den Verhältnissen von Herrschaft, Abhängigkeit und Gemeinschaft: in diesem Verhältnis ist auch das Erziehungsrecht über die Unmündigen begründet. Durch den Selbstzweck im Kind ist dieses Recht begrenzt. Auch in diesen seinen Beziehungen zur äußeren Organisation wird das Schulwesen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung immer komplizierter. Der Überblick über die Geschichte lehrt auch hier weise Mäßigung. Gegenüber der gegenwärtigen Neigung, die Schule ausschließlich staatlich zu gestalten, wird jeder gesellschaftliche Körper nach dem Maß, in welchem er ein Element des Erziehungszwecks in einer Zeit und in einem Volk vertritt, auch an der Regelung der Erziehung zu beteiligen sein. DIe Familie repräsentiert vor allem das Element des menschlichen Glücks; die Gemeinde erstrebt die Brauchbarkeit in ihrer Wirtschaftsgemeinschaft; der Staat fordert die Fähigkeit, leistungsfähig für das Ganze zu sein, dessen Gesetz sich unterzuordnen und es maßvoll fortzubilden. Die Kirche arbeitet am höchsten Ziel der Person, in welchem diese einsam und gleichsam jenseitig sich der Gottheit gegenüber findet. So bemerkt man, wie gerade im Gleichgewicht dieser Kräfte, welche die moderne Gesellschaft ausmachen, die Allseitigkeit der Erziehung gesichert ist. Bemächtigte sich eine dieser herrschenden Kräfte ganz der Kinderseele, so würde die Erziehung in Einseitigkeit erstarren.

Die allgemeinsten Rechtssätze, welche aus der Natur der Sache, insbesondere aus den Beziehungen des Selbstzweckes im Kind zu den Zentren der äußeren Organisation: Familie, Gemeinde, Staat und Kirche, entspringen und am Verwaltungsrecht der einzelnen Völker aufgezeigt werden können, bilden die Grundlage für das Verständnis des Verwaltungsrechts der Schule bei einem einzelnen Volk. Im preußischen Schulverwaltungsrecht, dessen festen Boden das Landrecht bildet, lassen sich dann durchgehende Rechtssätze aufzeigen, welche aus der besonderen Natur unseres Volkes und Staatslebens stammen.

Schließlich wendet sich der erste Teil der Pädagogik gleichsam nach innen. Er betrachtet, beschreibt, analysiert das schaffende Vermögen des Erziehers und das Verhältnis dieses Vermögens zu den Anlagen des Zöglings. Dieses Verhältnis ist dem verwandt zwischen dem Staatsmann und der Gesellschaft, auf die er wirkt, zwischen dem Künstler und dem Publikum, das ihn genießt. Aber die künstlerische Anlage würde auch walten und schaffen, wenn der Künstler allein auf einer einsamen Insel leben würde. So kann man bei der Betrachtung dieses Verhältnisses vom Genius des Künstlers ausgehen. Anders ist es mit dem Schaffen des Staatsmannes, mit dem Bilden des Erziehers. Das Werk des Erziehers ist bedingt durch die sich entfaltende Seele, auf die er wirkt. Sie regt in ihm die bildende Kraft an und gibt dieser das Gesetz. Mit dem Zögling also ist zu beginnen. Mit Recht stellt HERBART an den Beginn der Erziehungslehre den Begriff von der Bildsamkeit des Zöglings. Dieser Begriff drückt doch eine höchst zusammengesetzte Erfahrungstatsache aus. Das Seelenleben bildet eine Entwicklung. Die Grundlage für das Verständnis dieses Satzes haben wir oben gelegt, ausgehend vom teleologischen Charakter allen Seelenlebens. Da findet eine beständige Zunahme von Erfahrungselementen statt, eine Einübung der elementaren Prozesse, durch welche diese Elemente in Beziehung treten, die Entstehung eines Verständnisses der Wirklichkeit aus ihnen; nun aber zugleich, da wir auf diese Bilder der Objekte in Gefühlen und Trieben reagieren, die Ausbildung dieser elementaren Regungen, eine inhaltliche Verknüpfung derselben zu einer Einheit des Gemüts und Charakters und zunehmende Übung der von hier ausgehenden Willenshandlungen. Das allgemeinste Gesetz dieser Entwicklung der Menschennatur steht im Gegensatz zu demjenigen Grundgesetz, das die äußere Natur beherrscht. Dort regiert das causa aequat effectum und, hierdurch bedingt, das Gesetz von der Erhaltung der Kraft, hier aber regiert ein Grundgesetz der Steigerung. Alsdann besagt der Begriff der Bildsamkeit, daß es möglich ist, die Entwicklung des Zöglings zu befördern, deren Hemmungen zu beseitigen und das Seelenleben desselben seiner Vollkommenheit entgegenzuführen, wenn der erziehende Künstler die Gesetze des Seelenlebens kennt und zu benutzen versteht. Und hier entsteht nun die reizvollste Aufgabe, welche die Erziehungslehre kennt: sie soll den pädagogischen Genius beschreiben und analysieren, sie soll hierdurch den werdenden Erzieher mit dem Gefühl seiner Würde und mit der Begeisterung für seinen Beruf erfüllen. Auch in einem pädagogischen Genius ist etwas Ursprüngliches. Seltener vielleicht als der Dichter oder der bildende Künstler ist er in der Geschichte aufgetreten. SOKRATES, PLATO, COMENIUS, PESTALOZZI, HERBART, FRÖBEL sind unzweifelhaft von dieser Art. Sie treten neben die Dichter als Personen desselben Ranges, aber von einer ganz anderen Gemütsbeschaffenheit. Die geschichtliche Kenntnis von ihnen schöpfen wir mehr noch aus Schilderungen Anderer über sie als aus Selbstzeugnissen. Man bemerkt, daß die Anziehungskraft, die ein Mensch auf andere ausübt,, durch die implusive Macht bedingt ist, mit der er sich äußert und hingibt. Im pädagogischen Genius herrschen daher Gemüt und Anschauungskraft vor, gar nicht der Verstand. So gewahrt man dann auch im Leben häufig, daß Menschen von nicht besonders scharfem Verstand dieses pädagogische Talent besitzen. Wir verstehen und bestimmen einen Menschen nur, indem wir mit ihm fühlen und seine Regungen in uns nachleben. Wir verstehen nur durch Liebe, durch ein Mindern unserer eigenen Gefühle in das Dunkle, Unentwickelte, Kindliche, Reine. Eine ungebrochene Naivität im Grunde der Seele nähert den pädagogischen Genius dem Kind. PESTALOZZI in seiner Schulstube, FRÖBEL in den Thüringer Bergen, Kinderspiele erfindend und Kinderlieder, zeigen eine solche Gabe wie in einem Urphänomen. Wo dieselbe mit einem starken intellektuellen Vermögen verbunden ist, entsteht die ganz besonders ergreifende Gestalt des Seelenlebens, als welche PLATO den SOKRATES im Symposion dargestellt hat. Auf dem Grund naiven Verstehens entspringt dann ein Sinnen über Seelenleben, so lebendig, so voll Realitätssinn, daß es gegen die wissenschaftliche Analysis widerspenstig verbleibt. Aus solchem Sinnen sind die herrlichen Jünglingsgestalten PLATOs entstanden als ein einziges Denkmal des pädagogischen Affekts, dann PESTALOZZIs Menschenbilder im Lienhart, dem schönsten Volksroman aller Zeiten, und seine wie FRÖBELs Phantasien über die Menschenseele und die Entwicklung der Menschheit: tiefsinnig, elementar, konkret wahrhaftig, nicht nach dem Richtmaß wissenschaftlicher Analyse zu messen, ein Ding für sich in der Welt des Grübelns über die Menschennatur. Die Welt kann nicht verarmen, solange Leben, Kind und Familie so empfunden werden. Hierin hat auch der Elementarlehrer seine Kraft; Kind des Volkes, wenige Jahre nur von der Dorfschule durch das Seminar getrennt, vor sich einen hölzernen psychologischen und pädagogischen Schematismus, aber über und unter demselben leben ihm alle seine naiven Erfahrungen. Ja, auch über DIESTERWEG oder FRÖBEL mag der pädagogische Theoretiker oftmals lächeln. Wie unbehilflich, Kindern gleich, arbeiten sie mit den Werkzeugen der Analyse, aber ihr Gefühl der Kinderseele - das ist es, durch das sie uns Theoretikern allen überlegen sind. Und nun entspringt im pädagogischen Genius aus immer neuer Beschäftigung mit Menschen- und Kinderseelen eine grübelnde Erfindsamkeit mit Bezug auf die Kunstgriffe zu bilden, zu unterrichten. In der Schulstube entspringen diese Erfindungen, Kinder vor den den Augen, und das Urphänomen eines solchen Erfinders ist, wie PESTALOZZI, verwahrloste Kinder um sich, mit den einfachsten, elementarsten Aufgaben ringt und die Elementarmethode erfindet. Welch ein Kontrast: die Aufklärung der Salons in Frankreich und dort ROUSSEAU phantasierend, sein Buch auf den Tischen der Weltfrauen, seine Kinder im Findelhaus, sein Leben eine einsame Träumerei, und die Pädagogik der deutschen Aufklärung, das goldene Zeitalter genialer Erziehungsversuche, Fürsten und Minister, die helfen wollen, Familienväter, die aus ihren Kindern Menschen bilden wollen, ein Publikum, das mit Begeisterung folgt, und die Aufopferung echt pädagogischer Naturen, wie PESTALOZZI, SALZMANN, CAMPE, FRÖBEL, welche unter Kindern in einfachsten Verhältnissen ihr Leben mit dem mächtigen Gefühl des Fortschreitens der Menschenbildung als der wichtigsten Angelegenheit unseres Geschlechts erfüllen.

Der zweite Teil der Pädagogik umfaßt nun die analytische Darstellung der einzelnen Vorgänge, welche in der Erziehung ineinandergreifen, sowie die Ableitung allgemeingültiger Normen, welche die Erziehung so gut wie die Kunst, die Wissenschaft oder das sittliche Leben regeln. Wir haben den Zusammenhang entwickelt, in welchem aus der teleologischen Verfassung des Seelenlebens der Begriff von Vollkommenheit seiner Vorgänge entspringt, und aus dem sich einzelne Regeln oder Normen auslösen und darstellen lassen. Jedoch kann nur die Bildung der Intelligenz aufgrund allgemein anerkannter psychologischer Einsichten in pädagogischer Regelgebung heute bereits dargestellt werden. Auf diese muß sich unsere Probe des Verfahrens einschränken. Dagegen würde die Lehre von der Bildung des Gemüts und des Willens eine neue psychologische Grundlegung erfordern, welch an dieser Stelle, im Umfang dieser Abhandlung, nicht geleistet werden kann.

Die unterste Stufe aller Erziehung der Kinderseele liegt in den Spielen. Das Kind macht noch keinen Kraftaufwand, welcher die realen Bedürfnisse durch dazwischenliegende Akte von Arbeit in der Zukunft zu befriedigen verspricht. Es spielt. Das spielende Kind hat in der Tätigkeit selbst seine Befriedigung. Hier im Spiel wird nun zuerst der Zusammenhang ausgebildet und vertieft, welcher von Vorstellungen durch angeregte Gefühle zu Willenshandlungen und Bewegungen übergeht. So atmet sich die Seele des Kindes im Spiel zuerst aus. In ihm wird die Gesundheit der Kindernatur durch ihre freie und ganze Betätigung erhalten. So ist das oberste Prinzip der Erziehung durch Spiele: das Spiel ist für das Kindesleben eine notwendige Funktion, in welcher der Fortgang von Vorstellungen durch den Wechsel der Gefühle zu äußeren Bewegungen sich frei entfaltet. Wenn die Wahrnehmungsspiele die Bilder der Gegenstände entwickeln, wenn die Phantasiespiele das innere eigentümliche Bilden und Weben in der Kinderseele fördern, wenn die Übungsspiele Gesundheit, Stärke und Moralität ausbilden, so ist ein solcher einzelner Nutzen überall zu pflegen, aber der eigentlichen Funktion des Spiels unterzuordnen.

Auf den höheren Stufen der Erziehung handelt es sich dann zunächst darum, innerhalb des teleologischen Zusammenhangs der Seele die Vollkommenheit der Bestandteile und Vorgänge auszubilden, aus welchen das intellektuelle Leben besteht. Die oberste Regel für diesen Teil der Bildung liegt im Zweck dieser Vorgänge, eine den Bedürfnissen angepaßte Erkenntnis herbeizuführen.

Die erste Aufgabe ist hier die vollständige Ausbildung der in der menschlichen Sinnlichkeit enthaltenen Sinneselemente, sowie die Entwicklung der Unterscheidungen und Beziehungen zwischen ihnen. Diese Aufgabe löst zunächst der Anschauungsunterricht. Verstehen wir unter einem Prinzip die Formel, welche die Bedingungen eines pädagogischen Wirkungselementes verzeichnet, so läßt sich am Anschauungsunterricht deutlich verfolgen, wie solche Prinzipien geschichtlich zu Bewußtsein gelangt sind und nun nachträglich mit der fortgeschrittenen Psychologie in Übereinstimmung gebracht werden können. Hier besteht sonach dasselbe Verhältnis, das ich in der Poetik aufgezeigt habe. Das oberste Prinzip des Anschauungsunterrichts ist unter der Einwirkung BACONs von COMENIUS und seinen Nachfolgern formuliert worden. Der Unterricht muß dem Gang der Natur folgen, dieser aber geht von der Anschauung zum Begriff und zum Wort, und zwar vom Ganzen, das in der Anschauung befaßt ist, zu den Teilen. Die von diesem Prinzip aus gefundenen Methoden bilden einen Hauptteil der pädagogischen Reformtätigkeit im 17. und 18. Jahrhundert. Dann ist ein zweites Prinzip von COMENIUS gesehen, von ROUSSEAU durchgeführt worden. Der Anschauungsunterricht hat von der nächsten Umgebung des Kindes aus das Ganze der umgebenden Welt zu beschreiben. So ergänzt er das der kindlichen Erfahrung Gegebene mittels der dem Kind geläufigen Operationen in den ihm geläufigen Richtungen. Ein drittes Prinzip war ebenfalls von COMENIUS aufgestellt und ist von BASEDOW durchgeführt worden. Auffassen der Ojekte und Bezeichnung derselben ist einzuüben. Viel tiefer reicht nun aber das von PESTALOZZI aufgestellte vierte Prinzip. In aller Anschauung wiederholen sich Elemente. Daß jedes dieser Elemente in höchster Energie, Reinheit und Sicherheit hervorgebracht wird, ist die Voraussetzung, unter welcher dann die Anschauung ihre höchste Vollkommenheit erreicht. Diese Elemente treten im Anschauungskreis des Räumlichen, der Zeitbestimmungen, der sinnlichen Qualitätenkreise, der Tonreihe, der Zeitbestimmungen, der sinnlichen Qualitätenkreise, der Tonreihe und der Sprachlaute auf. Übungen, welche die vollkommene Hervorbringung dieser Elemente zum Ziel haben, sind von PESTALOZZI erfunden und von HERBART, FRÖBEL und vielen anderen durchgeführt worden. Eine Ergänzung finden diese Prinzipien darin, daß auch die Erweckung, die reine und energische Darstellung von Elementen der inneren Erfahrung mittels des Umgangs und der Poesie, der Religion und der Geschichtserzählung eine wichtige Unterlage des höheren Seelenlebens bildet.

Schon die Anschauungen bedürfen der Aufmerksamkeit zu ihrer Ausbildung. Interesse und Aufmerksamkeit müssen nun aber überhaupt als die bewegende Kraft angesehen werden, die für alle Wirkungen im Unterricht erforderlich ist. Die Aufmerksamkeit wird durch das Interesse geleitet. Unter diesem verstehen wir den Anteil der Seele an einer Vorstellung oder Vorstellungsverbindung. Können nun verschiedene Arten von Aufmerksamkeit unterschieden werden, so muß ein solcher Unterschied eine entscheidende Bedeutung für den Unterricht haben. Die unwillkürliche Aufmerksamkeit wird durch die Bilder und Vorstellungsvorgänge als solche hervorgerufen und wendet sich den Objekten ohne Anstrengung zu. Sie entsteht aus dem Interesse, das dem Objekt beiwohnt. Dieses hat die Erregung von Bewußtsein zur Folge. Festhalten im Gedächtnis, Unterscheiden der Bestandteile und die Auffassung ihrer Beziehungen, kurz: es ist der Hebel des ganzen Unterrichts. Dagegen entspringt die willkürliche Aufmerksamkeit aus einer Anstrengung des Willens, die dem Gegenstand zugewendet ist. Diese hat ein Motiv zur Unterlage, um dessen Willen die Aufmerksamkeit unterhalten wird, während sie dem Objekt nach seiner Relation zu unseren geistigen Operationen für sich nicht zukäme. Sie entsteht im Kind aus Furcht vor Strafe und Hoffnung auf Lohn, aus Ehrgeiz und Freude am Wettstreit, aus dem Bewußtsein der Nützlichkeit in der Zukunft. Das Prinzip, welches HERBART zuerst aufgestellt hat, fordert nun, daß der Unterricht überall da, wo ein Objekt Gegenstand unwillkürlicher Aufmerksamkeit sein kann, diese hervorzurufen bestrebt ist und versteht. Nur wo nach der Natur des Zöglings oder des Gegenstandes dies unmöglich ist, tritt die willkürliche Aufmerksamkeit ergänzend ein. In diesem Prinzip sind dann Einzelformeln enthalten, welche die Wirksamkeit desselben näher bestimmen. Die erste Formel entwickelt die Bedingungen der unwillkürlichen Aufmerksamkeit, eine andere hebt die Bedeutung der Übung im willkürlichen Aufmerken für die Energie der Denkprozesse und die Ausbildung des Charakters hervor. Strafreden und Ermahnungen sind bekanntlich Hausmittel hilfloser Mütter und schlechter Schulmeister für die Bildung des Charakters. Aber die willkürliche Aufmerksamkeit ist die erste Form, in welcher der Wille lernt, Vorstellungen und Triebe stetig zu beherrschen und fest zu regieren. Grammatik und Mathematik in ihrer spröden, widerstrebenden Natur disziplinieren den Geist des Knaben und befähigen ihn, später zu gehorchen und zu herrschen.

Die Analyse der Erziehungsvorgänge hat dann weiter das Gedächtnis zu betrachten. Sie sieht in ihm eine Eigenschaft der Vorstellungen selber: durch diese wird die Ausbildung eines Zusammenhangs unseres Seelenlebens hergestellt, welcher, einmal erworben, jeden bewußten Seelenvorgang beeinflußt, obwohl er selber nicht in seinen Teilen zu einem klaren und deutlichen Bewußtsein erhoben wird und welcher dann zugleich die Reproduktion jedes einzelnen Teiles dieses Zusammenhangs im Bewußtsein ermöglicht. Diese Erkenntnis ist für die moderne Pädagogik von entscheidender Bedeutung. Sie vernichtet die alte Trennung von Lernen und Denken, von Gedächtnis und Urteilskraft von Aneignung und Verarbeitung. Die Aufgabe des Unterrichts, einen die Wirklichkeit repräsentierenden Zusammenhang der Vorstellungen herzustellen, ist also durchweg von Gedächtnisoperationen getragen und abhängig. Das oberste Prinzip ist also: die Aneignung von Vorstellungen und deren Verbindungen ist durch den Unterricht in dem Maße und nach den Verhältnissen herzustellen, daß ein Zusammenhang des Seelenlebens erarbeitet wird, der die Wirklichkeit repräsentiert und die erforderlichen Einwirkungen auf sie zu üben gestattet. Dieses Prinzip stellt sich in folgenden Einzelregeln dar. Da das Gedächtnis in seiner plastischen Kraft ursprünlich eine körperliche Anlage ist und diese Anlage durch mäßiges Leben, Vermeiden der Affekte und zusammenhängende freudige Tätigkeit frisch erhalten wird, sind von Kindheit an diese Gesundheitsverhältnisse zu pflegen. Da die Reproduzierbarkeit einer Vorstellungsmasse dann im Einzelnen abhängt von der Stärke des Interesses, der Art und Energie des Zusammenhangs, der Zahl der Wiederholungen und dem Abstand der letzten Wiederholung vom gegenwärtigen Gedächtnisakt, so ist die Ökonomie des geistigen Lebens das erste Hauptmittel, die vorhandene plastische Kraft des Gedächtnisses zu benutzen: Ordnung und Zusammenhang des geistigen Lebens siegen auch über schlechte Naturanlagen.

Nunmehr analysieren wir die Einübung des logischen Denkens und die Ausbildung eines Zusammenhangs der Vorstellungen in einer Erkenntnis, welche die Wirklichkeit repräsentiert und ihre Gestaltung ermöglicht. Im Dienst dieser Aufgabe ist seit ROCHOW zunächst die katechetische Methode ausgebildet worden. Doch ist sie mit ihrer Aufführung von Merkmalen und ihrer Abgrenzung der Begriffe nur von eingeschränktem Wert, ja in gewissem Sinn ein Überbleibsel aus der Zeit vor unserer modernen Wissenschaft. Der lebendige Erkenntnistrieb ist darauf gerichtet, die inneren Bänder im Wirklichen, die einfachen Verhältnisse, durch welches dieses für den Intellekt durchsichtig wird, zu erfassen. Die Befriedigung dieses Bedürfnisses liegt darin, daß wir die konkreten Beziehungen zwischen den Erscheinungen festzustellen suchen, die sich dann schließlich alle auch als Verhältnisse der Abhängigkeit abstrakt darstellen lassen. Wir vermöchten aber nicht, solche Abhängigkeitsverhältnisse festzustellen und aus dem Zusammengeratenen das Zusammengehörige auszusondern, wäre uns nicht in der Regelmäßigkeit der Verbindung das äußere Zeichen der Abhängigkeit einer Erscheinung von der anderen gegeben. Hier liegt der Schlüssel für das Verständnis der Induktion. Dieselbe sucht das Notwendig mittels des Allgemeinen. Indem sie von Fall zu Fall fortschreitet, löst siei aus den Sequenzen oder Koexistenzen der Wirklichkeit genau, womöglich quantitativ bestimmte Vorgänge oder Bestandteile von Vorgängen aus, welche in einer festen Beziehung zueinander stehen. Diese Gleichförmigkeit wird erst genau faßbar, wo sie als Gleichheit in Zahl oder Raumgröße auftritt. Einfache Beziehungen von Größen aufeinander in regelmäßiger Wiederkehr sind das Zeichen der Gottheit mitten im verworrenen Spiel des sinnlich Veränderlichen. So wirken die Analysis und die von ihr untrennbare Induktion zusammen mit der Synthesis und der Deduktion. Die Hauptoperation unter diesen, die Feststellung der Beziehungen in einem unverstanden uns gegenübertretenden Ganzen, wird am meisten lebendig im sprachlichen Auffassen eines Satzes oder einer Satzverbindung eingeübt, zumal wenn diese Einübung von den genauen Hilfsmitteln grammatischer Kenntnis unterstützt ist. Zugleich bringt die Grammatik die konkreten Beziehungen am Wirklichen zu Bewußtsein und die Mathematik übt uns, die Beziehungen im Quantitativen aufzufassen. Will man dieses Bewußtmachen der Beziehungen am Wirklichen, und die Einübung ihrer Aufassung als "formale Bildung" bezeichnen, so ist dieselbe natürlich die Unterlage für diesen ganzen Teil der Erziehung. Aber eine falsche Übertreibung der formalen Vorbildung dehnt auf dem Gymnasium bis in das 19. oder gar 20. Jahrhundert die bloße Vorbereitung für eine weitere Vorbereitung zum schließlich so kurzen Leben aus. Aus diesem Bewußtsein im Schüler stammt die Langeweile, die sich über die höheren Schulen verbreitet, sowie die Ungeduld, sie zu verlassen. In den Jahren, in denen der Wissenstrieb erwacht, bleibt er unbefriedigt, wird vertröstet und schwindet zusammen. Dem ist das folgende Prinzip gegenüberzustellen: mitten im Bewußtmachen der Beziehungen, im Einüben der logischen Operationen, in der Erweckung der Freude am Wettstreit des logischen Denkens muß doch schon auf den höheren Vorbereitungsanstalten selbst die Wißbegier des Jünglings entfacht und zu einer inneren Befriedigung geleitet werden; das Denken des Schülers soll überall an den Erfahrungen reelle und dauernd wertvolle Operationen vornehmen, es soll sich vor allem auf die Kausalbeziehungen richten, welche zumeist mittels des Verhältnisses zwischen dem Einzelnen und Allgemeinen, also induktiv erkannt werden; es soll auch schon lernen, diese Kausalbeziehungen quantitativ zu bestimmen. So soll sich schon dem Schüler die Natur aufschließen. Er soll den Zusammenhang der geschichtlichen Wirklichkeit aufzufassen sich üben. Und hier ist ein großer Segen, daß das griechisch-römische Altertum gleichsam eine Elementarschulde für das Verständnis der geschichtlichen Welt ist: Alles ist hier noch einfach, elementar, dem Boden nahe und dem jungendlichen Geist verwandt. Der Fortgang der modernen Wissenschaften und der des Erziehungswesens arbeiten nach demselben Ziel: Vereinfachung des Zusammenhangs, der die Wirklichkeit repräsentiert, und der Begründung desselben. Die Wissenschaft hat durch die zunehmende Ausdehnung ihres Gebietes, die noch bestehende Künstlichkeit in manchen ihrer Teile, den Mangel an Zusammenhang in anderen die Schwierigkeiten herbeigeführt, welche das höhere Schulwesen belasten: sie wird dieselben durch Vereinfachung allmählich mindern.

Eine ausgeführte Didaktik hat dann schließlich die Unterrichtsfächer zu gruppieren, ihre Erziehungswerte gegeneinander abzuschätzen, ihre Aufeinanderfolge zu bestimmen und die Methoden der einzelnen Unterrichtsgegenstände festzustellen. Überall sind hier die allgemeingültigen Prinzipien unbestimmt und erhalten erst durch den Charakter eines nationalen Erziehungssystems eine genauere und dann geschichtlich eingegrenzte Fassung.

Wir sind an der Grenze der allgemeingültigen pädagogischen Theorie angelangt. Das angegebene Verfahren kann auch auf die Lehre von der Bildung des Gemüts und des Willens übertragen werden. Die leitenden Gesichtspunkte für eine solche Theorie sind in dem oben umschriebenen teleologischen Zusammenhang des Seelenlebens gegeben. Aus der zweckmäßigen Funktion der Gefühls- und Triebkreise im psychischen Zusammenhang ergibt sich, in welcher Richtung die Erziehung hier die Entwicklung zur Vollkommenheit anzustreben hat. Doch ist für diesen Teil der pädagogischen Wissenschaft erst der psychologische Unterbau im Einzelnen herzustellen, was an dieser Stelle zu weit führen würde. Mehr als hier entworfen und angedeutet ist, kann in einer allgemeingültigen Theorie nicht geleistet werden. Die gr0ßen Fragen der Erziehung, welche zur Zeit die Nation bewegen, kann nicht allgemeingültig für alle Zeiten und Völker entschieden werden, sondern sie können nur aufgrund der genaueren fachmännischen Kenntnisse von Geschichte und jetzigem Leben der Erziehung durch eine Art von künstlerischem Handeln, in dem die Gabe des Staatsmannes und des Pädagogen zusammenwirken, ihre Behandlung finden. Der Gedankenzusammenhang, in welchem das geschieht, bewegt sich durch folgende drei Untersuchungen hindurch. Zuerst entsteht die Frage: wie entspringt aus den pädagogischen Elementarvorgängen, welche wir entwickelt und in Regeln dargestellt haben, ein inhaltliches Bildungs-, Erziehungs- und Unterrichtssystem, wie es in einem bestimmten Kulturkreis regiert? Die entsprechende Frage habe ich in der Poetik behandelt und dort gezeigt wie jede Technik der Dichtung der einen Dichtungsart ihre Einheit nur aus der Inhaltlichkeit einer geschichtlichen Kultur erhalten hat. Eine allgemeingültige Technik der Tragödie oder des Epos gibt es nicht. Ebenso verhält es sich auf dem Gebiet der Erziehung. Deshalb wird eine vergleichende Betrachtung der Erziehungssysteme anzustellen sein und sie wird ergeben, daß gerade hier die Einzelformen durch die voranschreitende Entwicklung der Menschheit miteinander verbunden sind. In gewissen Grenzen wird es hierdurch möglich, die Tendenz in der Entwicklung der Erziehung zu bestimmen und so unsere wissenschaftlichen Einsichten für die Leitung des Unterrichtswesens zu benutzen. Endlich wird die Vertiefung in unser nationales Erziehungssystem, in seine Geschichte und seine Gegenwart, die Auffassung der Beziehungen dieses Systems zu unserer Kultur, auf der Unterlage der ganzen hier umschriebenen Erkenntnis, imstande sein, dem künstlerischen Wirken der Unterrichtsverwaltung die Wege zu weisen, auf denen die vorsichtige Weitergestaltung unseres nationalen Schulwesens erreicht werden kann. Denn dem historischen Sinn ist es klar, daß das geschichtliche Ethos eines Volkes, das auch sein Erziehungswesen hervorgebracht hat, nicht verletzt und aufgeflöst werden darf durch die Eingriffe einer radikalen Theorie, welche von einem allgemeingültigen System aus die Erziehung aller Völker regeln möchte.
LITERATUR: Wilhelm Dilthey, Über die Möglichkeit einer allgemeingültigen pädagogischen Wissenschaft, Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Jahrgang 1888, zweiter Halbband, Juni bis Dezember, Berlin 1888