ra-2J. C. BluntschliK. RodbertusC. Frantz    
 
JULIUS FRÖBEL
Theorie der Politik
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"Es ist mir damals schon klar gewesen, daß die Zustände der Gesellschaft, trotz der gewaltigsten Anstrengungen des revolutionären Geistes, an die langsamen Entwicklungen der Geschichte gebunden sind. nur erschien mir die Abhängigkeit des Gedankens von der Wirklichkeit damals noch in der Form eines abstrakten Gegensatzes, in welchem der Gedanke allein das Recht auf seiner Seite hatte. Zur Einsicht, daß der Wirklichkeit ebenfalls eine sittliche Bedeutung innewohnt, zur Erkenntnis, daß die Unausführbarkeit unserer Theorien ein Fehler dieser Theorien und nicht ein Fehler der Welt ist, - zu dieser Einsicht und Erkenntnis, so einfach sie zu sein scheint, gelangte ich allmählich erst später."

"Dem Prinzip tritt die einzelne Tatsache der Welt zunächst als Hindernis gegenüber. Das Prinzip fordert, daß alle Menschen frei seien, die Tatsache antwortet, daß nicht alle Menschen der Freiheit fähig sind. Das Prinzip verlangt den Besitz der Güter für alle, die Tatsache lehrt, daß viele der wertvollsten Güter aus Gründen natürlicher Unmöglichkeit nur wenigen zugänglich sind."


Vorrede

Durch die Arbeit von welcher ich hiermit den ersten Band veröffentliche, glaube ich eine doppelte Pflicht zu erfüllen.

Vor vierzehn Jahren, - unter dem Einfluß der radikalsten Gedanken der Zeit, welche damals, durch Männer verschiedener Länder vertreten, im Leben der Schweiz mit einem althistorischen Republikanismus zusammenstießen, habe ich ein Buch geschrieben welches, mit redlichem Streben nach dem Wahren und Guten, aber auch mit der ganzen Dreistigkeit des revolutionären Geistes von welchem ich damals erfüllt war, die wichtigsten sittlichen Fragen der menschlichen Gesellschaft zu behandeln unternahm. Jenes Buch hat eine nicht unbedeutende Verbreitung gefunden. Es läßt sich also vermuten, daß es gelesen worden und wohl auch nicht ohne Wirkung geblieben ist.

Für diese Wirkung, wie klein oder groß sie gewesen sein mag, bin ich mir selbst und anderen Menschen verantwortlich.

Seit jener Zeit hat mir ein an Beobachtungen und Erfahrungen reiches Leben ernste Veranlassungen zur erneuerten Prüfung früherer Ansichten gegeben. Aus den unmittelbar folgenden politischen Bewegungen in welchen ich persönlich beteiligt gewesen bin, habe ich nach bestem Vermögen die in ihnen enthaltenen Lehren zu ziehen gesucht; und als mich gegen Ende des Jahres 1849 der Gang der Dinge nach Amerika trieb, waren mir bereits viele wesentliche Schwächen meiner politischen Überzeugungen zur Einsicht gekommen. Es war mir klar geworden, daß die Lehrmeinngen der europäischen Demokratie, von ihren untersten sittlichen Grundlagen aus, einer philosophischen Prüfung und Sichtung bedürfen. In Verbindung mit dieser Erkenntnis hatte sich mir aber zugleich auf der anderen Seite das Bedürfnis einer reicheren und umfassenderen Weltkenntnis aufgedrängt, von der ich überzeugt war, daß sie zum philosophischen Urteil hinzugekommen muß, wenn für die Theorie der Politik nützliches geleistet werden soll. In Amerika glaubte ich die Studien machen zu können, deren ich bedurfte und daß in in diesem bestimmten Sinn meine transatlantischen "Erfahrungen, Reisen und Studien" antrat habe ich damals in meinem öffentlichen Abschied von dem Teil des deutschen Volkes ausgesprochen, zu welchem ich in engeren politischen Beziehungen gestanden bin.

Wenn ich so von Anfang an meinen Aufenthalt in Amerika als eine Nachschule betrachtet habe, mit dem bald bestimmteren, bald unbestimmteren Hintergedanken daß die Nachschule mir zugleich zur Vorschule für eine erneute Wirksamkeit auf dem Gebiet menschlicher Freiheitsbestrebungen werden soll, so ist mir das Schicksal in der Erreichung meiner Absicht nicht ungünstig gewesen. Ich habe die erwünschte Gelegenheit mich mit den Zuständen der neuen Welt vertraut zu machen, in der ganzen für meinen Zweck erforderlichen Ausdehnung gefunden. Ich habe mich zu diesen Zuständen nicht als bloßer äußerlicher Beobachter verhalten. Am politischen Leben und an den inneren Kämpfen der Staaten Nord- und Mittelamerikas habe ich tätigen Anteil genommen. Ich habe unter den ersten Anfängen der Bevölkerung entstehender Gemeinswesen und unter den Resten untergehender Rassen gelebt und der Kreis meines persönlichen Verkehrs reicht vom blutigen Wilden und ruchlosen Desperado bis zu den ersten Gründern sittlicher Ordnung in neuen Ansiedlungen und vom Negersklaven bis hinauf zu den obersten Lenkern einer mächtigen Nation.

In allen diesen Lebenslagen und in verschiedenen Berufsarten und gesellschaftlichen Stellungen, welche ihre eigentümlichen Gelegenhiten zur Beobachtung menschlicher Natur und gesellschaftlicher Bedürfnisse darboten, ist es meine unausgesetzte Bemühung gewesen, jene Gedanken und Überzeugungen welchen ich vor Jahren einen voreiligen Ausdruck gegeben, aber für die ich einst auch mein Leben eingesetzt hab, einer strengen und gewissenhaften Prüfung zu unterwerfen.

Das Ergebnis dieser geistigen Arbeit stand bei mir fest als ich nach achtjährigem Aufenthalt in Amerika wieder den Boden von Europa betrat. Es blieb mir nichts übrig, als hier auf die gewonnene Erkenntnis die Probe zu machen. Und auch diesem Zweck sind die Verhältnisse günstig gewesen. Wichtige Gebiete politischer Tatsachen, dir mir früher gänzlich unzugänglich gewesen waren, haben sich mir erschlossen. Ehemalige Parteigenossen und ehemalige politische Gegner habe ich wieder gesprochen und teilweise aus den Kreisen beider mir einen neuen Kreis gleichstrebender Menschen geschaffen. Zeitereignisse von tief eingreifender Bedeutung haben sich begeben: - die gewonnenen Überzeugungen aber sind stehen geblieben; jede Probe hat dazu beigetragen sie zu befestigen und sie haben sich zum geschlossenen System ausgebildet.

Im früheren Buch war mir der Gedanke eines praktischen Einwirkens auf den augenblicklichen Gang der Dinge fremd gewesen. "Die Erfolge unserer theoretischen Entwicklung liegen noch in weiter Ferne und der politische Schriftsteller hat nur die Wahl, entweder die prinzipielle Aussicht auf die Zukunft oder den praktischen Wirkungskreis der Gegenwart aufzugeben. Ich habe es vorgezogen, das letzte zu tun." So schrieb ich im Jahre 1847 in der Vorrede zur zweiten Ausgabe jenes Buches.

Ein Jahr später mochte es freilich scheinen, als hätte es mir bei dieser Äußerung nur am Glauben gefehlt, - an einem Glauben der durch eine plötzliche Wendung der Weltgeschichte nachher in mir erzeugt worden sei. Aber auch in den hitzigsten Augenblicken jener Zeit politischer Phantasiegebilde habe ich nicht vergessen, daß, wenn der Gedanke unzweifelhaft imstande ist, politische Erschütterungen hervorzubringen, diese Erschütterungen ihrerseits  nicht  imstande sind, dem Gedanken zu seiner Ausführung zu verhelfen. Es ist mir damals schon klar gewesen, daß die Zustände der Gesellschaft, trotz der gewaltigsten Anstrengungen des revolutionären Geistes, an die langsamen Entwicklungen der Geschichte gebunden sind. nur erschien mir die Abhängigkeit des Gedankens von der Wirklichkeit damals noch in der Form eines abstrakten Gegensatzes, in welchem der Gedanke allein das Recht auf seiner Seite hatte. Zur Einsicht, daß der Wirklichkeit ebenfalls eine sittliche Bedeutung innewohnt, zur Erkenntnis, daß die Unausführbarkeit unserer Theorien ein Fehler dieser Theorien und nicht ein Fehler der Welt ist, - zu dieser Einsicht und Erkenntnis, so einfach sie zu sein scheint, gelangte ich allmählich erst später.

Vielleicht hat mich dabei der langjährige Anblick des in den Kreisen politischer Emigrationen herrschenden Widersinns unterstützt, welcher bei jeder neu getäuschten Hoffnung immer strenger mit der Welt zu Gericht geht, bis am Ende MEPHISTOPHELES allein als der Gerechte übrig bleibt, -
    Denn alles was besteht
    Ist wert, daß es zu Grunde geht,
    Drum besser wär's daß nichts bestünde.
Ich meinerseits sah mich, in umgekehrter Richtung, getrieben, eine immer strengere Kritik gegen mich selbst und meine Theorien auszuüben, bis sich mir die innere Versöhnung der Realpolitik und Idealpolitik als das Ergebnis der politischen Theorie darstellte.

Ich würde, wenn die Zeit minder ungestüm vorwärts drängte, es vorgezogen haben, das Ganze meiner Arbeit, welche noch einen zweiten Band umfassen soll, auf einmal zu veröffentlichen. Wie die Dinge gerade stehen, habe ich es vorgezogen, dem Bedürfnis des Augenblicks gerecht zu werden. Der zweite Band wird den besonderen Titel führen: "Die Tatsachen der Natur und Geschichte und ihre staatsmännische Behandlung."

In einer beschaulicheren Zeit wäre es auch vielleicht richtiger gewesen, mit den Tatsachen zu beginnen und die gedankenmäßigen Forderungen folgen zu lassen. Auf eine Staatsphysik wäre dann eine Staatsethik, auf diese eine Staatstechnik gefolgt und der Staat wäre aus seinem in der Natur liegenden untersten Grund aufgebaut erschienen. Der Charakter unserer Zeit schien mir jedoch die Voranstellung der Prinzipien zu gebieten, - der Prinzipien in deren Namen die alten Ordnungen angegriffen und umgestürzt werden; - die Voranstellung, - um dem Gedanken von Anfang an auf dem eigenen Gebiet sein Recht widerfahren zu lassen.

Unzweifelhaft fehlt es auch dieser Arbeit nicht an Irrtümern. Ich werde sie immer bekennen, so wie ich sie erkenne und werde mich, so lange mir den Kraft des Denkens bleibt, immer redlich bemühen, wie jetzt, die Wahrheit an deren Stelle zu setzen. Unterdessen wird mich der Ausspruch beruhigen, welchen der Dichter der höchsten denkbaren Autorität in den Mund legt: - "Es irrt der Mensch so lang er strebt." -




Einleitung

Die Politik in ihrem Verhältnis zur natürlichen,
sittlichen und religiösen Weltansicht

Die Politik ist die Wissenschaft und Kunst des Lebens im Staat. Als Wissenschaft lehrt sie die Natur des Staates erkennen, als Kunst ist sie die Fähigkeit diese Natur kulturmäßig zu behandeln.

Der Staat ist die rechts- und machtvollkommene Gesellschaft. Für ein klares Verständnis würde es in gewissem Sinn hinreichen nur eins oder das andere dieser beiden Merkmale zu bezeichnen. Denn die beiden Eigenschaften der Staatsgesellschaft: ihre Rechtsvollkommenheit und ihre Machtvollkommenheit, sind aneinander gebunden und jede ist mit der anderen gegeben. Aber abgesehen davon, daß das Verhältnis von Macht und Recht nicht als hinreichend aufgeklärt betrachtet werden kann um seine Erkenntnis voraussetzen zu dürfen, würde zugleich der einseitige Ausdruck wenigstens scheinbar ein ungebührliches Gewicht auf die eine Seite der Sache legen und das Verhältnis gerade der Zusammengehörigkeit unbezeichnet lassen aus deren Verkennung die strittigen Lehrmeinungen der politischen Schulen und Parteien eine schädliche Nahrung ziehen.

Das Recht, kann man sagen, ist schlechthin das politische Prinzip, die Macht schlechthin die politische Tatsache. Das Verhältnis von Prinzip und Tatsache muß also der Ausgangspunkt für eine Untersuchung sein in welcher das Verhältnis von Recht und Macht von erster Wichtigkeit ist.


Erstes Kapitel
Prinzip und Tatsache

Unter Prinzip und zwar in dem Sinne in welchem der Ausdruck hier in Anwendung kommt, verstehen wir den leitenden Gedanken oder die herrschende Idee, in irgendeinem Kreis des bewußten menschlichen Lebens. Dieses aber steht unter der Herrschaft dreier Hauptformen des Bewußtseins, in denen sich das letztere zu drei Hauptmächten des menschlichen Geistes steigert, nämlich unter der Herrschaft von Ideen, Idealen und Zwecken. Im Gewebe unserer Geistestätigkeiten greifen diese Formen auf so innige Weise ineinander, daß es unmöglich sein möchte in einem einzelnen Ergebnisse den Anteil einer jeden von ihnen nachzuweisen. Aber für eine jede besteht ein Kreis menschlicher Interessen in welchem ihr die Oberherrschaft, den beiden anderen nur ein Einfluß zweiten Ranges zukommt. Es gibt ein Reich der Ideen, in welchem den Idealen und Zwecken nur eine untergeordnete Rolle zuerkannt werden kann: - das Reich der Philosophie und der unter ihren Geboten stehenden erfahrungsmäßigen Wissenschaften. Es gibt ein Reich der Ideale, in welchem die Ansprüche der Ideen und der Zwecke zurücktreten müssen: - das Reich der Religion und der durch sie geadelten Kunst. Es gibt endlich ein Reich der Zwecke, in welchem sich die Ideen und Ideale unterordnen: - das Reich der Sittlichkeit und der befreienden Hilfsmittel, welche ihr dienen, - mit anderen Worten das Reich der Ethik und Technik.

In ihrer gegenseitigen Unterordnung kann die eine dieser Formen zum Inhalt der anderen werden. Die Idee kann zum Inhalt des Zwecks, der Zweck zum Inhalt der Idee, - das Ideal zum Inhalt des Zwecks, der Zweck zum Inhalt des Ideals, - die Idee endlich zum Inhalt des Ideales, das Ideal zum Inhalt der Idee werden. Daher gibt es nicht nur philosophische Ideen, sondern auch philosophische Ideale, sondern auch religiöse Ideen und religiöse Zwecke, - nicht nur sittliche Zwecke, sondern auch sittliche Ideale und sittliche Ideen.

Die sittlichen Ideen nun, welche von sittlichen Idealen belebt werden und sich zu sittlichen Zwecken ausbilden, enthalten die Prinzipien mit denen wir es hier zu tun haben. Sie sind die allgemeinen sittlichen Forderungen welche an den Staat gestellt werden müssen. Ihr allgemeiner Inhalt ist das Recht, ihr Ziel die Gerechtigkeit und Freiheit.

Diese Forderungen lassen auf ihrem eigenen Gebiet keine Widerrede zu. In gedankenmäßiger Ablösung vom Zusammenhang der Erscheinungen und Vorgänge des Lebens, verlangen sie eine rücksichtslose Anerkennung. Aber eben so schroff stellen sich ihnen die Tatsachen der Wirklichkeit entgegen. Nicht minder unabweisbare Ansprüche machen diese letzteren an unsere Würdigung; und erst aus einer vollkommen klaren Abfindung des Prinzips mit der Tatsache und der Tatsache mit dem Prinzip kann ein klar bewußtes politisches Erkennen und Handeln entspringen.

Tatsache ist für uns alles was nicht aus dem Denkprozeß hervorgeht oder was nicht als aus ihm hervorgehend verstanden wird, - alles also was zum bloß erfahrungsmäßigen Inhalt des Bewußtseins gehört, sei die Erfahrung eine äußerlich durch die leiblichen Sinne oder eine innerlich im Geiste gemachte. Auch ein Gedanke kann sich daher als bloße Tatsache verhalten, insofern er sich im Bewußtsein vereinzelt, ohne erkennbaren Zusammenhang mit einem weiter herkommenden Gedankenlauf vorfindet. Und selbst ganze Gedankensysteme, wie innig auch ihre Glieder untereinander verbunden sein und wie umfassend sie das Leben beherrschen mögen, nehmen den untergeordneten Rang bloßer Tatsachen ein, so lange in ihnen nicht ein Glied des allgemeinen Denkprozesses erkannt ist mit welchem sich die menschliche Vernunft am Verlauf der Weltgeschichte beteiligt.

Die Gesamtheit der Tatsachen, insofern sie einfach dem sittlichen Prinzip, d. h. der Gerechtigkeit und Freiheit gegenüberstehen, ist das was wir im praktischen Sinn die  Welt  nennen. In diesem abstrakten Gegensatz ist die Welt notwendig und wesentlich eine "schlechte Welt". Ihre Tatsachen sind Schranken und Hindernisse, als solche freiheitswidrig im Allgemeinen; als Mittel unzulänglich, als Güter verächtlich. Die Welt, für den Standpunkt dieses Gegensatzes, ist nicht mehr oder minder gut, nicht mehr oder minder schlecht, - sie ist schlecht ansich, schlecht ihrem Wesen nach, - schlecht vermöge der Schlechtigkeit die der Wirklichkeit überhaupt im Gegensatz zur Idee und zum Ideal anhaftet. Denn die Form des Ideals muß der praktische Gedanke annehmen, wenn er in der Rücksichtslosigkeit seiner Forderungen sich ganz aus den Beschränkungen der Natur und Geschichte losmachen will.

Dem Prinzip tritt die einzelne Tatsache der Welt zunächst als Hindernis gegenüber. Das Prinzip fordert, daß alle Menschen frei seien, die Tatsache antwortet, daß nicht alle Menschen der Freiheit fähig sind. Das Prinzip verlangt den Besitz der Güter für alle, die Tatsache lehrt, daß viele der wertvollsten Güter aus Gründen natürlicher Unmöglichkeit nur wenigen zugänglich sind. Es ist wahr, daß innerhalb gewisser Grenzen das tatsächliche Hindernis überwunden, ja sogar die widerspenstige Tatsache dem prinzipiellen Zwecke dienstbar gemacht werden kann. Allein dies verlangt, daß das Prinzip sich auf die Interessen der Welt einläßt, welche ihm widerstreben, daß es sich auf den Standpunkt der Welt stellt, den es verurteilt. Die Forderungen des Prinzips sind unbedingte und rücksichtslose; sie wollen um den Preis  jedes  Opfers anerkannt und befriedigt sein. Die Welt aber will vor allen Dingen bestehen: - auf gerechte Weise, wenn es sein kann, - auf ungerechte, wenn es nicht anders geht. Und indem sie so den Instinkt der Selbsterhaltung über das Gebot der Gerechtigkeit stellt, wird diese von ihr überhaupt verleugnet. Die Welt also ist nicht geradezu böse; denn die einzelne Tatsache ist gut oder böse, je nachdem sie dem Prinzip entsprechend oder zuwider ist. Im Einzelnen ist in der Welt gutes und böses gemischt. Aber gerade diese Mischung ist es, was der Welt den Charakter der Schlechtigkeit gibt, weil das Wesen des Prinzips das einer ausnahmlosen Geltung ist. Es ist, den Ansprüchen abstrakter Gerechtigkeit gegenüber, die Welt nicht zu brauchen. Darum ist das "fiat justitia et pereat mundus" [Gerechtigkeit muß herrschen und wenn die Welt dabei untergeht - wp] auf der einen Seite folgerichtig, insofern der Gerechtigkeit diese schlechte Welt in der Tat geopfert werden soll: - und zugleich auf der anderen Seite vollkommen widersinnig, insofern das doch eben in der Welt geschehen soll, die keine Lust hat zum Tempel ihrer eigenen Opferung zu dienen. Es ist nur Wasser ins Meer getragen und aus dem Meer das Faß der Danaiden gefüllt, wenn von prinzipiellen Weltverbesserern Scharfsinn und Mühe aufgeboten werden, der Welt zu beweisen, daß sie schlecht ist. Die Welt weiß es, daß sie schlecht ist und wundert sich, daß es Leute gibt, die so unbillig sind, ihr Vollkommenheit zuzumuten.

Für die Politik gibt es auf dem Standpunkt des abstrakten Gegensatzes zwischen der Gerechtigkeit und der Welt keinen Raum. Es ist daher durchaus folgerichtig, daß der Staat vom rücksichtslosen Prinzip verachtet oder gehaßt wird. Die Gerechtigkeit, der die Welt geopfert werden soll, kann nicht selbst die weltliche Gerechtigkeit sein. Sie ist jene überweltliche welche der naive Glaube am Tag des Weltuntergangs und Weltgerichts erwartet. Dieser Glaube an ein Ende der Welt, -
    Weil alles was besteht
    Wert ist, daß es zu Grunde geht -
ist nichts, als eine streng logische Folge der im Gedanken vollzogenen gänzlichen Scheidung und Entgegenstellung von Prinzip und Tatsache. Es ist durchaus logisch, daß das Christentum auf einer bestimmten Stufe seiner Ausbildung - oder besser gesagt, in einer der großen Kulturrichtungen, die es in sich vereinigt hat, - die Wirklichkeit überhaupt preisgegeben; die Welt als eine Masse wertloser Tatsachen der Verachtung überlassen; Wahrheit, Schönheit und Sittlichkeit in ein überweltliches Recht der Idealität gerettet; Lüge, Häßlichkeit und Bosheit in ein unterweltliches Reich der Spottgeburten verdammt hat und zwischen beiden das physische Dasein schwankend und geteilt in der Mitte schweben läßt. Es ist folgerichtig gedacht, daß die Welt ansich zwar weder gut noch böse, sondern nur schlecht ist, daß man aber nicht Partei für sie nehmen kann ohne damit für die Ungerechtigkeit Partei zu nehmen und dem Bösen anheimzufallen. Dies alles liegt im ethischen System des naiven und noch subjektiven Christentums mit logischer Notwendigkeit eingeschlossen. Wunderlich nimmt sich nur das Zusammentreffen dieser kindlich-frommen Logik mit dem Radikalismus unserer revolutionären Anarchisten und Sozialisten aus, der die Gerechtigkeit im weltlichen Sinne verwirklichen will, indem er im Namen der Gerechtigkeit der Wirklichkeit selbst den Krieg erklärt und der im weltlichen Sinne ebenfalls von Tag zu Tag auf ein jüngstes Gericht wartet. Beide sich sonst so sehr abstoßenden Weltansichten kommen in einer gemeinsamen Verachtung des Staates und im transzendentalen Charakter ihrer Erwartungen überein, dem es keinen Eintrag tut, daß die Erwartungen des Radikalismus ganz weltlicher Natur sind. (1)

Wie sich jene weltverachtende Lebensansicht innerhalb des Christentums folgerichtig entwickelt hat, so wird durch das Christentum zugleich der höhere Standpunkt erworben, auf welchem der Welt ihre Würde zurückgegeben ist. Und von Anfang an hat, wie sich von selbst verstehen muß, der Keim zu diesem Fortschritt zum innersten Wesen des Christentums gehört. Mit dem einzigen Satz: "die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung" - ist die Welt wieder mit Geist und Schönheit begabt und der Wahn der abstrakten Gerechtigkeit überwunden. In der Liebe in diesem christlichen oder allgemein menschlichen Sinne, wird das Prinzip selbst zur mächtigsten Tatsache, die Tatsache aber zum alles beherrschenden Prinzip. Vom Christentum auf der Stufe der Weltverachtung wird das Ideal aus der Wirklichkeit herausgebildet, um von demselben Christentum auf der Stufe der Heiligung der Welt durch die Liebe und durch die aus der Liebe hervorgehende sittliche Arbeit wieder in die Wirklichkeit hineingebildet zu werden. Diese sittliche Arbeit, gesellschaftlich organisiert, ist die Politik in ihrer höchsten Bedeutung.

Wir werden im systematischen Zusammenhang der wesentlichen Teile des sittlichen Bewußtseins die wichtige Rolle weiter erkennen, welche die Liebe, als unmittelbare Anerkennung des Wesens in der Erscheinung, zu spielen berufen ist. Hier müssen wir uns darauf beschränken zu sagen, daß die Liebe allein es ist durch welche das Ideal im Realen entdeckt und in umgekehrter Richtung der Wille auf die Realisation des Ideals gelenkt wird. Indem aber damit das sittliche Bewußtsein aus der schroffen Haltung des Gedankens gegen die Wirklichkeit zum Eingehen des Willens auf die Tatsache fortgeschritten ist, stellt sich ihm die Gesamtheit des tatsächlichen Daseins in einem durchaus veränderten Licht dar. Der  Gegensatz  der Welt zum Willen wird gelöst, indem sich der Wille die Welt zum  Gegenstand  macht. Aus einer wesentlich schlechten wird nun eine zwar mangelhafte aber verbesserungsfähige Welt und ihre Verbesserung wird das Ziel der Kulturarbeit. Ihre Tatsachen, welche sich vorher nur als Schranken und Hindernisse darstellten, erhalten einen sittlichen Wert als Veranlassungen, Gelegenheiten, Belehrungen und Hilfsmittel. Die Welt ist zur Gesamtheit der Tatsachen unter dem Gesichtspunkt der Kulturaufgabe geworden.
LITERATUR: Julius Fröbel - Theorie der Politik als Ergebnis einer erneuten Prüfung demokratischer Lehrmeinungen, Wien 1861
    Anmerkungen
    1) Der fromme Glaube trägt seinen Lohn in sich selbst. Was aber dem Radikalismus seine Anstrengungen nützen können, am eigenen Zopf sich aus dem Sumpf der ungerechten Welt zu ziehen, hat die französische Revolution nun zweimal gelehrt.