ra-3F. MauthnerP. BarthS. I. HayakawaF. FerrerTolstoi    
 
WILHELM HERDING
Ein Gang durch die
Geschichte der Pädagogik


"In der Tat, die Sorge und der Aufwand unserer Väter zielt nur darauf ab, uns den Kopf mit Wissenschaft anzufüllen. Den Verstand und das Herz zu bilden, daran wird nicht gedacht. Wir fragen in der Regel: Kann er Griechisch, Latein, macht er Verse oder schreibt er in Prosa? aber nach der Hauptsache, ob er besser oder verständiger geworden ist, fragen wir nicht. Wir arbeiten nur darauf hin, das Gedächtnis vollzustopfen, aber der Verstand geht leer dabei aus."

"Bei unserem Unterricht soll mit Strenge gepaarte Sanftmut herrschen, während in den Schulen nur Furcht und Grauen in den Kindern erregt wird, anstatt ihnen Lust und Liebe zum Lernen einzuflößen. Fort mit Zwang und Gewalt! Nichts erniedrigt und verdummt meiner Meinung nach so sehr eine sonst gut geartete Natur."


Die humanistische Schule konnte so, wie sie sich im Zeitalter der Reformation herausbildete, unmöglich für die Dauer fortbestehen. Die Sprachen, deren Studium LUTHER so hoch hielt, daß er sagt:
    "Das Evangelium werden wir nicht wohl erhalten ohne die Sprachen; die Sprachen sind die Scheid, darin das Messer des Geises steckt, der Schrein, darin man das Kleinod trägt",
waren nicht, wie es die Reformatoren selbst wollten, das Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck. Lateinschreiben, Lateinsprechen war das bewußte Ziel der humanistischen Schule. Ja, man versuchte geradezu den Schulen die lateinische Sprache wie eine zweite Muttersprache aufzudrängen. So war und blieb das Bildungsideal des JOHANNES STURM, des berühmtesten Schulmannes seiner Zeit, der als Student zu den Füßen des "praeceptor Germaniae" [Lehrmeister Deutschlands = Melanchthon - wp] hatte sitzen dürfen, ciceronische Beredtsamkeit; er hätte am liebsten aus jedem Schulknaben einen Ciceronianus gebildet und in diesem Streben wurden alle lernwürdigen Gegenstände hintangesetzt und ebenso alle geistigen Gaben der Schüler mit Ausnahme der sprachlichen. Aber auch alles realistische und philosophische Wissen suchte man bei den Alten. Man lernte Philosophie bei ARISTOTELES, Mathematik bei EUKLID, Naturgeschichte bei PLINIUS, Geographie bei POMPONIUS MELA und so entstand das, was KARL von RAUMER als verbalen Realismus bezeichnet hat.

In der katholischen Kirche suchten die Jesuiten das Schulwesen zu verbessern. Deren Reform konnte jedoch unmöglich zu einer wahrhaften Besserung führen, da sie die Schule nur als Mittel zu ihren Zwecken ansahen. Die "ratio et institutio sociorum societatis Jesu" ausgegangen vom Jesuitengeneral CLAUDIUS von AQUAVIVA, 1599 publiziert, ist der älteste Lehrplan der Jesuiten, der auch noch ihrem neuesten offiziellen Lehrplan vom Jahr 1832 zugrunde gelegt wurde. Zur Förderung der Latinität unterdrückten die Jesuiten, ebenso wie die protestantischen Pädagogen, die Muttersprache, aber nicht sowohl weil sie, wie diese, eben in der lateinischen Sprache das hervorragendste Bildungsmittel erkannten, sondern aus politischen Gründen, im Dienste der römischen Hierarchie, welche mit der Herrschaft der lateinischen Sprache ihre Herrschaft über die ganze Welt ausbreiten wollte. Immerhin konnten die Jesuitenschulen glänzende Erfolge aufweisen, durch welche sich sogar Protestanten zu Lob und Anerkennung hinreißen ließen. So sagt STURM:
    "Ich freue mich, daß die Jesuiten unsere Sache fördern, indem sie die Wissenschaft kultivieren; denn ich habe gesehen, welche Schriftsteller sie erklären und welche Methode sie befolgen, die von der unsrigen so wenig abweicht, daß es scheint, als hätten sie aus unserer Quelle geschöpft",
und BACO von VERULAM ruft begeistert aus:
    "Nehmt euch an den Schulen der Jesuiten ein Beispiel, denn bessere existieren nicht."
Gegen jene einseitige Schulbildung und gegen jenen verbalen Realismus erhob zuerst ein feiner Weltmann in Frankreich seine Stimme.

MICHEL de MONTAIGNE (1533-1592), welcher der Vater der französischen Philosophie und der allgemeine Gedankenerreger der Zeit genannt worden ist, war ein Edelmann aus Perigord. Die Erziehung, die er empfing, war die seltsamste, die man sich denken kann, und frei von allen traditionellen Vorurteilen. Dieser Erziehung verdankte es MONTAIGNE zweifellos, daß er der originellste Geist des 16. Jahrhunderts wurde. Da die militärische Laufbahn keinen Reiz für ihn haben konnte, entschied er sich für die Advokatur. Bald erwarb er sich als Anwalt einen Ruf, und, noch sehr jung, wurde er zum Parlamentsrat in Bordeaux ernannt. Im Alter von 33 Jahren schloß er eine Ehe, doch, wie er uns selbst bekennt, mehr um der Sitte zu folgen als aus besonderer Neigung. Nachdem der Deutschland, Italien und die Schweiz bereist hatte, kehrte er in sein Vaterland zurück und wurde zum Bürgermeister von Bordeaux gewählt. Aber die Ruhe und die Unabhängigkeit über alles schätzend zog er sich bald auf seine Landgüter zurück, um sich hier seinen Träumereien zu überlassen. Mit dem Jahr 1572, dem Jahr der Bartolomäusnach, begann diese Zurückgezogenheit, die von da an oft durch die Bürgerkriege gestört wurde, welche erst mit der Thronbesteigung HEINRICHs IV. ihr Ende finden sollten. Sein eigenes Schloß wurde mehr als einmal angegriffen und geplündert, ja auch sein Leben schwebte in Gefahr.

Im Jahre 1588 wurde das vollständige Werk seiner "Essais" veröffentlicht, ein Werk, das wegen seines Einflusses auf den Geschmack und die Ideen Europas in der Literatur Epoche machte. Er läßt hier seinen Geist über alle möglichen Dinge der Welt schweifen; kein Wunder, daß auch die Erziehungsfragen einen ziemlich großen Raum darin einnehmen. Zwei davon befassen sich ausschließlich damit: der 25. und 26. Essay des I. Buches, wohl die wichtigsten des ganzen Werkes. Er erstere trägt die Überschrift: Die Pedanterie (1) und enthält folgende Hauptgedanken:
    "Schon  Plutarch  sagt: Grieche und Gelehrter waren bei den Römern Spottnamen: nachmals bei zunehmendem Alter habe ich gefunden, daß man sehr guten Grund dazu hatte und daß  magnis magnos clericos non sunt magis magnos sapientes [Wissenschaftler sind nicht klug und nicht bedeutend. - wp]. Wie es aber zugeht, daß eine mit den Kenntnissen so vieler Dinge ausgestattete Seele nicht lebendiger und geweckter wird, und daß einer die Gedanken und Urteile der ausgezeichnetsten Geister, welche die Welt hervorgebracht hat, in sich aufnehmen kann, ohne sich zu bessern, das begreife ich noch nicht."
Der Grund liegt seiner Meinung nach weniger darin, daß der Geist, wie die Pflanzen durch zuvieles Düngen ersticken, auch durch zuvieles Studieren der verschiedensten Materien weniger entwickelt, als vielmehr verwirrt und gelähmt wird; denn:
    "Unsere Seele erweitert sich in dem Maß in dem sie sich anfüllt, und aus den Beispielen des Altertums sieht man ganz im Gegenteil, daß die zur Führung der öffentlichen Geschäfte fähigsten Männer, die größten Feldherrn und die besten Staatsmänner, zugleich die gelehrtesten gewesen sind."
Als den eigentlichen Grund gibt er an, daß die Lehrer sich zu den Wissenschaften nicht recht stellen, und daß, bei ihrer Art zu unterrichten, es kein Wunder ist, wenn weder Schüler noch Lehrer tüchtiger werden, sondern allenfalls gelehrter.
    "In der Tat, die Sorge und der Aufwand unserer Väter zielt nur darauf ab, uns den Kopf mit Wissenschaft anzufüllen. Den Verstand und das Herz zu bilden, daran wird nicht gedacht. Wir fragen in der Regel: Kann er Griechisch, Latein, macht er Verse oder schreibt er in Prosa? aber nach der Hauptsache, ob er besser oder verständiger geworden ist, fragen wir nicht. Wir arbeiten nur darauf hin, das Gedächtnis vollzustopfen, aber der Verstand geht leer dabei aus."
Das eigene Urteil soll gebildet, das Wissen zum wirklichen Eigentum gemacht werden. Denn wenn unsere Seele durch die Wissenschaften keinen höheren Schwung erhält, wenn wir dadurch kein gesünderes Urteil erhalten, so möchte mein Zögling meinethalben seine Zeit mit dem Ballspiel zugebracht haben, es hätte dann doch wenigstens sein Körper an Kraft gewonnen. Man sehe die Knaben nur nach 15 oder 16 in der Schule zugebrachten Jahren zurückkehren, wer ist so ungeschickt als sie, zu Geschäften angestellt zu werden? Wir sehen keinen weiteren Erfolg, als daß ihr Latein und ihr Griechisch sie hochmütiger und eingebildeter gemacht haben.

Die Ursache hiervor liegt oft darin, daß die Wissenschaft meist nur als Broterwerb angesehen wird. Die lakedämonische Erziehung ist so der athenischen vorzuziehen, denn in Athen lehrte man schön zu sprechen, in Lakedämonien recht handeln.

Zuletzt greift MONTAIGNE nicht bloß die Pedanten, sondern die Wissenschaft überhaupt an, weil sie den Menschen zum Handeln im Leben unfähig macht.

Das folgende Kapitel, "Die Institution der Kindheit" ist an Madame DIANE de FOIX, Comtesse de GURSON gerichtet, welche MONTAIGNE um seinen Rat in Bezug auf die Erziehung ihres Sohnes gebeten hatte und enthält seine Ansichten über die Erziehung eines vornehmen jungen Weltmannes. Nachdem er hier vorausschickte, daß die Erziehung eine außerordentlich schwierige Sache ist, denn die natürlichen Anlagen des Kindes lassen sich nicht leicht erkennen, erklärt er sich für die Erziehung durch einen Hofmeister. Wie er selbst nur mit Widerwillen einige Zeit die öffentliche Schule in Guyenne besuchte, welche damals als die beste in Frankreich galt, so ist er überhaupt ein Gegner des öffentlichen Unterrichts. Bei der Wahl des Hofmeisters soll aber weniger auf einen Reichtum an Wissen, sondern mehr auf gesunden Verstand und gute Gesittung geachtet werden. Sein Unterricht soll so beschaffen sein, daß dem Zögling Geschmack daran abgewonnen wird. Zuweilen muß er ihm auf den Weg helfen, und zuweilen ihn allein gehen lassen. Er soll nicht allein sprechen, er soll auch seinen Schüler sprechen lassen. Er verlange nicht bloß Rechenschaft von den Worten seiner Lektion, sondern von ihrem Sinn und Inhalt. Es kommt nicht darauf an, wieviel er begriffen hat. Kein Autoritätsglaube, kein  iurare in verba magistri!  [schwören auf den Meister - wp] Man lege ihm die verschiedenen Meinungen vor: wenn er kann, wird er eine wählen, wo nicht, mag er im Zweifel bleiben. (2) Das Kind soll an selbständiges Urteilen gewöhnt, alles mechanische Auswendiglernen vermieden werden.

Zu seiner Erziehung soll auch der Umgang mit Menschen und der Besuch fremder Länder dienen. Die elterliche Erziehung stellt MONTAIGNE unter die Erziehung durch einen Hofmeister; denn die natürliche Liebe macht selbst die verständigsten Eltern zu weichherzig und nachgiebig und unfähig, Fehler zu bestrafen. Daher soll auch der Hofmeister über den Zögling unumschränkte Gewalt haben und durch die Anwesenheit der Eltern nicht in seiner Wirksamkeit gehindert werden. Im Verkehr soll der Zögling bescheiden und mehr still als vorlaut erscheinen. Nur mit einem ebenbürtigen Gegner soll er sich in einen Wortstreit einlassen, bei der Wahl seiner Gründe von einem feinen Gefühl geleitet werden und dieselben mit möglichster Kürze vorbringen. Vor allem soll man ihn dahin bringen, in jedem Fall vor der Wahrheit die Waffen zu strecken und sich vor ihr zu demütigen. Alle zänkische Rechthaberei soll in ihm unterdrückt werden. In Gesellschaft mit anderen soll er überall die Augen offen haben. Das Studium der Geschichte, vor allem PLUTARCH, wir von MONTAIGNE warm empfohlen. Die Geschichte soll aber so gelehrt werden, daß der Zögling nicht sowohl die einzelnen Ereignisse auswendig lernt, als vielmehr ein Urteil über dieselbe gewinnt.

Nachdem man dem Zögling gelehrt hat, was dazu dient, ihn weiser und besser zu machen, soll man ihn mit Logik, Musik, Geometrie, Rhetorik bekannt machen, und, welche Wissenschaft er dann auch wählt, er wird über sie Herr werden, nachdem sein Geschmack und Urteil bereits gebildet worden ist.

Der Zögling soll bald durch vertrauliche Gespräche, bald durch Bücher unterrichtet werden, zuweilen wird ihm der Lehrer Schriftsteller selbst in die Hände geben, zuweilen nur Saft und Mark derselben.

Auch die Philosophie soll dem Zögling nicht vorenthalten werden. Es sei zu bedauern, daß es dahin gekommen ist, daß selbst bei gescheiten Leuten Philosophie zu einem bedeutungsleeren Wort herabgesunken ist und keine Nutzen, keinen Wert hat.
    "Man hat groß Unrecht, sie als den Kindern unzugänglich zu schildern und mit mürrischem, grämlichem und schreckendem Gesicht. (Im Gegenteil.) Sie predigt nichts als Frohsinn und Wohlleben. Trübe und finstere Mienen eines Menschen sind ein Zeichen, daß sie nicht bei ihm wohnt."
MONTAIGNE eifert gegen orbilische Strenge [Lucius Orbilius Pupillus: Typus des kleinlichen, jähzornigen und strafenden Lehrers - wp] und gegen den pedantischen, freudlosen Fleiß der Stubenhocker.
    "Ich will nicht, daß man den Zögling in eine Schule einsperrt, ich will nicht, daß man ihn dem Zorn und der düsteren Laune eines wütenden Schulmeisters preisgibt. Ich will nicht seinen Geist verderben lassen, indem man ihn, nach der Weise der anderen, 14 bis 15 Stunden des Tages wie einen Lastträger mit der Arbeit quält und peinigt. ... Ein Zimmer, ein Garten, der Tisch und das Bett, die Einsamkeit, die Gesellschaft, der Morgen und der Abend - jeder Ort, jede Zeit wird für ihn zum Studieren geeignet sein. So werden unsere Unterrichtsstunden, die gleichsam nur gelegentlich stattfinden, ohne an Zeit und Ort gebunden zu sein, hingehen, ohne daß wir es merken. Selbst die Spiele und Leibesübungen, Laufen, Ringen, Tanzen, Jagen, Reiten und Fechten werden einen Teil des Unterrichts ausmachen. Äußerer Anstand und ein gefälliges Wesen soll zugleich mit der Seele gebildet werden."

    "Denn es ist nicht eine Seele, nicht ein Körper, den man erzieht, es ist ein Mensch, aus dem man nicht zwei machen soll. Und, wie  Plato  sagt, soll man nicht Eines ohne das Andere abrichten, sondern sie beide gleich führen und leiten wie ein Paar an eine Deichsel gespannter Pferde."

    "Bei unserem Unterricht soll mit Strenge gepaarte Sanftmut herrschen, während in den Schulen nur Furcht und Grauen in den Kindern erregt wird, anstatt ihnen Lust und Liebe zum Lernen einzuflößen. Fort mit Zwang und Gewalt! Nichts erniedrigt und verdummt meiner Meinung nach so sehr eine sonst gut geartete Natur. Wenn ihr wünscht, daß ein Zögling Schande und Strafe fürchtet, so verhärtet ihn nicht dagegen; härtet ihn ab gegen Schweiß und Kälte, gegen Wind und Sonn, nehmt ihm alles weg, was ihn verzärtelt und verweichlicht in Kleidung, im Schlafen, Essen und Trinken."
MONTAIGNE warnt vor der Wortmacherei, mit der sich keine Tatkraft verbindet.
    "Ich halte dafür, daß einer, der in seinem Geist eine lebendige, klare Idee hat, dieselbe ausdrücken, wenn auch nur durch Gebärden, falls er stumm ist."
Daran reiht er treffliche Gedanken über die wahre Beredtsamkeit, die, den Schein glänzender Worte verachtend, die Sache allein im Auge hat. Der Zögling soll ferner vor allem gehörig seine Sprache lernen, dann die seiner Nachbarn, mit denen er gewöhnlich verkehrt.

Als MONTAIGNE diese seine pädagogischen Ansichten in aphoristischer Form niederschrieb, hatte er wohl keine Ahnung von dem Einfluß, den dieselben später haben sollten. Und doch ist derselbe dadurch ein ganz gewaltiger geworden, daß vor allem ROUSSEAU durch ihn befruchtet wurde. Was ROUSSEAU in seinem  "Emile"  vorträgt, sind großenteils nur weitere Ausführungen MONTAIGNEs, Predigten über MONTAIGNE'sche Texte.

Ein Zeitgenossen MONTAIGNEs ist der englische Staatsmann FRANCIS BACON (1561 - 1626), der Sohn des Großsiegelbewahrers NICOLAUS BACON. Unter JAKOB I. stieg er schnell zu den höchsten Würden empor, er wurde Lordkanzler, Baron von Verulam und 1620 Viscount von Sankt Albans. Aber in demselben Jahr wurde er wegen Bestechlichkeit aller seiner Ämter enthoben und konnte von da an nie wieder zu Ansehen gelangen. Von seinen Werken kommt hier allein seine kleine Schrift: "de dignitate et augmentis scientiarum", die in lateinischer und englischer Sprache erschienen ist. BACON war der erste, der die einzig in den Sprachen und in den Schriften der Vergangenheit lebenden Gelehrten auf die Gegenwart hinwies und sie mahnte, statt der toten Bücher auch das lebendige Buch der Natur aufzuschlagen. Wie MONTAIGNE wandte auch er sich gegen den Mißbrauch, daß man nur Worte, nicht Sachen studiere. BACON ist der Begründer des "methodischen, realen Realismus", und als solcher ist sein Einfluß unberechenbar geworden.

Es war ein deutscher Pädagoge, der die Ideen MONTAIGNEs und BACONs praktisch zu verwerten suchte, WOLFGANG RATKE (Ratichius). Im Jahre 1571 in Holstein geboren, wandte er sich anfangs der Theologie zu, gab aber dieses Studium wegen einer Schwerfälligkeit der Zunge bald wieder auf, um sich philologischen und mathematischen Studien zu widmen. Längere Zeit verweilte er in England, und hier ist in ihm wahrscheinlich durch die Schriften BACONs der Gedanke erweckt worden, als pädagogischer Reformator in Deutschland aufzutreten. Er glaubte eine neue Lehrmethode erfunden zu haben, mit deren Hilfe die Sprachen in viel kürzerer Zeit erlernt werden könnten, und setzte für die Verbreitung derselben Himmel und Erde in Bewegung. Mehreren Fürstenhöfen, auch den Städten Basel und Straßburg bot er seine Erfindung an. Im Jahre 1612 legte er dem deutschen Reichstag zu Frankfurt am Main ein Memorial vor, in welchem er
    "mit göttlicher Hilfe zu Dienst und Wohlfahrt der ganzen Christenheit Anleitung zu geben versprach:
      1. wie die alten Sprachen leicht erlernt werden könnten;

      2. wie die Schulen zur Aneignung aller Wissenschaften und Künste neu eingerichtet werden müßten;

      3. Wie im ganzen Reich eine einträchtige Sprache, Regierung und Religion bequemlich einzuführen und friedlich zu erhalten wären."
Nach der Verlesung derselben erhielt er vom Pfalzgrafen WILHELM von NEUBURG ein Geschenk von 500 Gulden, um sich die nötigen Bücher anzukaufen, und Landgraf LUDWIG von Hessen-Darmstadt beauftragte die Giessener Professoren HELWIG und JUNG, ihm über die Lehrweise RATKEs Bericht zu erstatten. Derselbe fiel günstig aus. Zwei Jahre darauf wurde RATKE nach Augsburg berufen, um die dortigen Schulen zu reformieren. Aber der Erfolg entsprach nicht den großen Erwartungen. Vier Jahre später ließ Fürst LUDWIG von Anhalt-Köthen in Verbindung mit Herzog JOHANN ERNST von Weimar, dem Sohn der verwitweten Herzogin DOROTHEA, die RATKE für seine Sache gewonnen hatte, mit großen Opfern in Köthen eine Schule gründen, zu deren Leitung RATKE berufen wurde. Dieser nahm den Ruf an, nachdem man ihm auf sein Verlangen versprochen hatte, niemandem sein Geheimnis zu offenbaren. Aber auch in Köthen nahm die Sache ein rasches Ende. RATKE wurde auf Befehl des Fürsten, gegen den er beleidigende Worte ausgesprochen hatte, sogar gefangen gesetzt und erst nach einem dreiviertel Jahr wieder freigelassen, nachdem er einen Revers [schriftliche Verpflichtung - wp] mit beschämendem Bekenntnis ausgestellt hatte, "daß er ein mehreres gelobet und versprochen, als er verstanden und ins Werk habe richten können". Ein Versuch, den er dann in Magdeburg machte, blieb gleichfalls fruchtlos, ebenso die Unterhandlungen mit dem schwedischen Kanzler AXEL OXENSTIERNA, der das treffliche Urteil fällte, "daß  Ratke  die Gebrechen der Schule nicht übel aufdecke, allein nicht hinreichende Mittel dagegen vorschlage". Durch alle diese Mißerfolge tief verbittert, starb RATKE im Jahre 1635 zu Erfurt im Alter von 64 Jahren, nachdem ihm ein paar Jahre vorher ein Schlaganfall Zunge und Hand gelähmt hatte.

Man hat RATKE mit BASEDOW, dem späteren Begründer der philanthropischen Schule verglichen, und in der Tat bieten beide manche Berührungspunkte: Beide waren von zweifelhaftem Charakter, rast- und ruhelos, voll Eitelkeit und Einbildung, nicht frei von Scharlatanismus. Der Glaube an die pädagogische Bedeutung RATKEs ist in neuerer Zeit durch die Schrift von Hofrat KRAUSE: "Wolfgang Ratichius oder Ratke im Lichte seiner und der Zeitgenossen Briefe als Didaktikus in Köthen und Magdeburg" nicht wenig erschüttert worden. Aufgrund neuen Quellenmaterials, das bisher abseits und unbeachtet geblieben war, wird hier der Beweis erbracht, daß dem Fürsten LUDWIG und seinen Ratgebern allein das Verdienst der Schulreform zukommt, und daß RATKE daran keinen Anteil hatte.

Dagegen hat sich JOHANN CHRISTOPH GOTTLOB SCHUMANN RATKEs angenommen und will, wie schon RAUMER und andere ihm das Verdienst ungeschmälert zuerkannt wissen, den Weg für die Reformation der Didaktik bereitet zu haben, wenn er auch seine offenbaren Charakterschwächen gleichfalls zugeben muß. Er stützt sich in diesem Urteil auf eine Schrift von RHENIUS, einem Freund RATKEs, betitelt: "methodus nova quadruplex M. Joh. Rhenii, Ratichii etc." (Leipzig, 1617) Dieselbe besteht aus drei Abhandlungen, von denen die erste RATKE sich selbst zuschrieb, während die beiden andern von Mitarbeitern RATKEs (Ratichianern) verfaßt wurden. Der dritte Traktat, auf den es hier zunächst ankommt, enthält folgende "Artikel, auf welchen fürnehmlich die ratichianische Lehrkunst beruth":
    "Nichts soll auswendig gelernt werden, denn wenn ein Ding durch oft Wiederholung dem Verstand recht eingebildet wird, so folgt das Gedächtnis ohne alle Mühe von selbst nach."

    "Nichts mehr denn einerlei auf einmal, denn: es ist dem Verstand nichts hinderlicher, als wenn man vielerleit zugleich und auf einmal lernen will, ist eben, als wenn man Mus, Brei, Fleisch, Milch, Fische in einem Topf auf einmal kochen wollte."

    "Alles ohne Zwang. Man soll die Jugend nicht schlagen zum Lernen oder um des Lernens willen. Denn durch Zwang und Schläge verleidet man der Jugend die studia, daß sie dem Studieren Feind werden. Es ist auch wider die Natur. Denn darum pflegt man die Knaben zu schlagen, weil sie nicht behalten haben, was man sie gelehrt hat. Hättest du aber recht gelehrt, wie es sein sollte, so würden sie es auch behalten haben und du bedürftest der Schläge nicht."

    "Erst ein Ding an ihm selbst, hernach die Weise von dem Ding. Keine Regeln soll man geben, ehe man die Materie, den Autor und Sprache gegeben hat. ... Darum ist's ein ungereimt Ding, daß man erst die Grammatik einbläuen will und hernach erst die Sprach lehren."

    "Alles zuerst in der Muttersprach."
Die Praxis im Latein sollte folgende sein: Die Grammatik soll nicht vor dem Autor, sondern nach und im Autor gelernt werden. Mit TERENZ anfangen (3).

Dieser soll zuerst in deutscher Sprache möglichst bekannt sein. Dann beginnt der Lehrer das Lateinische  de verbo ad verbum [von Wort zu Wort - wp] zu exponieren, jedes Wort für sich in seiner eigentlichen Bedeutung, "ungeachtet wie es klingt dem  sensu  nach", jede Lektion in einer Stunde zweimal. So macht der Lehrer den ganzen TERENZ allein fertig. Dann fängt er ihn wieder von vorne an, ganz in gleicher Weise, daß, wenn er eine halbe Stunde exponiert hat, der Schülder die andere halbe Stunde nachexponiert. Wenn solchergestalt der Autor zum andern Mal zu Ende gebracht ist, so wird er zum dritten Mal von vorn angefangen, und die Knaben exponieren nun allein in der gleichen Weise, wie vorher, wobei ihn der Präzeptor nachhilft, wenn sie fehlen. Wenn sie so zum dritten Mal mit dem Autor auch fertig sind, dann wird die Grammatik begonnen, auch wieder erst deutsch, dann lateinisch; darauf wird die Grammatik auf den Autor appliziert, zuerst vom Lehrer, dann auch durch die Knaben.

Es beschleicht uns jetzt noch ein tiefes Mitleid mit den Knaben, die nach dieser Methode Latein lernen mußten. Und doch bedeutete sie einen Fortschritt. STURM, der noch 1538 verordnete, daß seine Schüler überall nur lateinische sprechen sollten, hätte am liebsten die deutsche Sprache aus den Schulen verbannt und entschloß sich nur ungern zu einigen Konzessionen.

So bleibt es eben doch ein unbestreitbares Verdienst RATKEs, daß er zuerst die Forderung aufstellt, von der Muttersprache auszugehen. "Die Knaben sollen erst recht deutsch lernen, ehe man ihnen das Lateinische oder eine andere Sprache vorgibt." Auch war es RATKE, der zuerst die sogenannte Interlinearübersetzung, die wir gegenwärtig so vielfach auch für die Erlernung moderner Sprachen mit Erfolg angewandt sehen, in die Praxis eingeführt hat. Sie wird vorzugsweise das "Geheimnis" seiner Methode ausgemacht haben. Schließlich muß noch hervorgehoben werden, daß er eine mildere Schulzucht angestrebt hat, wenn er hier auch des Guten zuviel getan haben mag, wie die Klagen beweisen, die über seine Schule in Köthen eingelaufen waren.

Unvergleichlich größer an Wissen, Bildung und Tatkraft war JOHANNES AMOS COMENIUS (Komensky), zugleich ein Mann von lauterem, fleckenlosem Charakter, in dessen didaktischen Schriften ein reicher Ideenschatz niedergelegt ist, "der zum großen Teil erst in der neuesten Zeit gehoben wurde, aber noch lange nicht die allgemeine Würdigung erfahren hat, die ihm gebührt".

Sein Unglück war, daß sein Leben in die Zeit des verheerenden 30-jährigen Krieges fiel, den er nicht bloß durchlebt, sondern auch durchlitten hat. Hätte COMENIUS später in ruhigeren, für seine idealen Bestrebungen empfänglicheren Zeiten seine pädagogischen Lehren verkünden dürfen, vielleicht wäre unser Vaterland vor der unseligen Pädagogik eines ROUSSEAU bewahrt geblieben.

Im Jahre 1592 zu Nivnitz in Mähren geboren, wurde er nach dem Tod seines Vaters, eines wohlhabenden Müllers, von seinem Vormund vernachlässigt, so daß er erst mit 16 Jahren eine lateinische Schule besuchte. Nachdem er zu Herborn im Herzogtum Nassau und zu Heidelbert seine theologischen Studien vollendet und darauf Holland und England bereist hatte, wurde er 1614 Rektor der Brüderschule zu Prerau und 4 Jahre darauf Prediger in Fulneck, wo seit 1480 der Hauptsitz der böhmischen Brüder war. Als 1621 die Stadt durch die Spanier geplündert und verbrannt wurde, verlor COMENIUS seine Bibliothek und Manuskripte, und im Jahre 1628, in welchem der Befehl erschien, daß, wer sich nicht zum Katholizismus bekennt, das Land verlassen soll, ergriff auch er den Wanderstab zugleich mit ihm 30 000 Familien, und zog mit seinen Brüdern nach Lissa in Polen, wo er Rektor des Gymnasiums wurde. Hier gab er 1631 sein erstes bedeutendes Werk, die "janua linguarum reserata" ("die geöffnete Sprachtüre") heraus, die nicht bloß in zwölf europäische Sprachen, sondern auch in die arabische, türkische, persische und in die mongolische Sprache übersetzt wurde. Ein Jahr darauf, zum Bischof der zerstreuten böhmischen und mährischen Brüdergemeinden erwählt, vollendete er sein Hauptwerk, die "Didactica magna" (große Unterrichtslehre), ein Werk "voll heller pädagogischer Einsicht, worin er der Volksschule eine Gestalt und Form verlieh, die sie in der Praxis noch lange nicht erreicht hat". Der große Ruf, den ihm diese Werke verschafften, veranlaßte 1638 die schwedischen Reichsstände, ihn zu einer Reform ihrer Schulen aufzufordern. Er nahm diesen Antrag nicht an, folgte dagegen einem ähnlichen, der vom englischen Parlament an ihn erging; aber der ausbrechende Bürgerkrieg setzte den bereits begonnenen Unterhandlungen ein rasches Ende. Nun ging er, der Einlandung eines reichen niederländischen Kaufmanns LUDWIG de GEER Folge leistend, doch noch nach Schweden. OXENSTIERNA, der, ursprünglich Theologe, auch als Staatsmann ein warmes Herz für die Schule behielt und durch den unseligen Krieg auf die Bedeutung der Schule für den Staat gewiß noch mehr hingelenkt worden war, trat sofort mit ihm in Verkehr und beauftragte ihn, ein Werk über seine Lehrmethode auszuarbeiten, das 1648 unter dem Titel "Novissima linguarum methodus" in Lissa, wohin unterdessen COMENIUS zurückgekehrt war, erschien. Im Jahre 1650 reiste er auf eine Einladung des ungarischen Fürsten RAKOCZI nach Saros-Patak, um dort das Schulwesen zu reorganisieren. Hier vollendete er sein drittes bedeutendes Werk, den "Orbis pictus" ("die gemalte Welt"), das als der erste Versuch anzusehen ist, das Bild im Unterricht methodisch zu verwerten (4).

1654 nach Lissa zurückgekehrt, verlor er zwei Jahre darauf, als die Stadt von den Polen wiedergewonnen und verbrannt wurde, sein ganzes Besitztum. Er flüchtete nach Schlesien, Brandenburg, Hamburg und fand schließlich eine bleibende Stätte in Amsterdam, wo er sich durch Privatunterricht ernährte. Hier beschloß er, der letzte Bischof der böhmischen Brüdergemeinde, 80 Jahre alt, sein vielbewegtes, reiches Leben, das nach seinen eigenen Worten "nur eine Pilgerschaft, kein Vaterland war".

Die pädagogischen Hauptgedanken des COMENIUS sind folgende: Humanität heißt an Geist weise, in Handlungen geschickt und von Herzen fromm sein. Frömmigkeit, Moralität und Kenntnisse müssen ineinander gehen, eines das andere immer einschließen. An den bestehenden Schulen werden Gottesfurcht und gute Sitten vernachlässigt, nur den Kenntnissen nachgejagt, und das auch nicht immer in angenehmer, anschaulicher und deutlicher Weise. Kaum werden irgendwo die Geister mit dem wahren Kern der Tatsachen ernährt.

Alle Menschen sind unterrichtsbedürftig, alle Kinder, reiche und arme, vornehme und geringe, müssen in Schulen unterrichtet, für einen künftigen Beruf befähigt, in allen muß Gottes Ebenbild wiederhergestellt werden.

Vier Arten von Lehranstalten werden von ihm unterschieden.
    1)  schola materna,  die Mutterschule, welche bis zum sechsten Jahr dauert. In ihr sollen vorzüglich die äußeren Sinne zum richtigen Auffassen der Dinge geübt und die Kinder zur Mäßigkeit, Reinlichkeit, zum Gehorsam, auch zum Schweigen und zum Beten gewöhnt werden.

    2)  schola vernacula,  deutsche Schule. Hier sollen die durch äußeren Sinne innerlich eingeprägten Bilder der Dinge wieder äußerlich ausgesprägt und dargestellt werden durch die Hand und die Zunge: durch Lesen, Schreiben, Malen, Singen, Zählen, Messen, Wägen. Dazu kommen Auswendiglernen geistlicher Lieder, Kenntnis des Katechismus und der Bibel, eine ganz allgemeine Geschichtskenntnis, etwas Kosmographie und eine Kenntnis der vorzüglichsten Gewerbe und Künste.

    3)  schola latina,  Gymnasium. In dieser Schule soll durch Vergleichen, Abwägen und tieferes Eingehen in die Dinge Verstand und Urteil ausgebildet werden. Sie zerfalle in sechs Klassen, die in sechs Jahren obsolviert werden. Lehrgegenstände sind:
      a) grammatica
      b) physica,
      c) mathematica,
      d) ethica,
      e) dialectica,
      f) rhetorica.
    Dialektik und Rhetorik erst nach den Realien, weil ohne Sachkenntnis keine vernünftige Rede möglich ist. Für alle diese Unterrichtszweige gilt als methodische Regel: "Stelle alles den Sinnen vor; es ist nichts im Verstand, was nicht zuvor in den Sinnen gewesen ist."

    Die Sprachen werden gelehrt als Erwerbung und Mitteilung der Bildung, und zwar wegen des häuslichen Lebens die Muttersprache, wegen des Verkehrs mit den Nachbarn die Nachbarsprachen. Das Latein ist für die Gelehrten im allgemeinen, Griechisch und Arabisch für Philosophen, Ärzte und Historiker; Griechisch, Hebräisch und Arabisch für Theologen. Jede Sprache soll besonders gelernt werden, zuerst die Muttersprache, dann eine Nachbarsprache, sodann Lateinisch, Griechisch usw., aber mehr durch den Gebrauch als durch Regeln d. h. durch Hören, Lesen, Wiederlesen, Nachahmung und Sprechübung.

    4)  academia,  Universität, deren Lehrtätigkeit auf die Bildung des Willens gerichtet sein soll und alle Wissenschaften, Künste und Sprachen umfaßt.
Als ein Nachfolger MONTAIGNEs, zumindest in einigen wichtigen Punkten, kann JOHN LOCKE betrachtet werden. Er wurde 1632 zu Wrington bei Bristol geboren als der Sohn eines Friedensgerichtsaktuars, der im Parlamentsheer als Hauptmann diente. An der Universität Oxford, zu deren vorzüglichsten Lehrern er dann später selbst zählen sollte, studierte er Medizin, ohne sie ausüben zu wollen. Dieses Studium, das er später mit der Philosophie vertauschte, ist für sein Leben wie für seine Geistesrichtung von der größten Bedeutung geworden. Als Arzt trat er in Verbindung mit dem Grafen von SHAFTESBURY, der ihm die Erziehung seines fünfzehnjährigen kränklichen Sohnes anvertraute, wobei LOCKE diese Aufgabe zur größten Zufriedenheit des Vaters löste. Aber eben wegen dieses seines Verkehrs mit dem Führer der Whigs mußte er unter JAKOB II. das Land verlassen und lebte nun als Flüchtling zu Utrecht in Holland, wo sich damals alles zusammenfand, was sich vor der politischen und religiösen Tyrannei LUDWIGs XIV. und JAKOBs II. flüchten mußte. Die Revolution von 1688 eröffnete auch LOCKE den Rückweg in die Heimat. Sein Ansehen wurde unter den Engländern so groß, daß eine der englischen Kolonien in Nordamerika sich an ihn wandte, um sich von ihm eine Verfassung entwerfen zu lassen. Er starb am 28. Oktober 1704 als anerkanntes Haupt aller philosophisch gebildeten Männer in England. Als Philosoph erklärte er die sinnliche Wahrnehmung der Außenwelt für die höchste Quelle aller Erkenntnis. Durch seine kleine Schrift: "Some thoughts concerning education" 1693 ist er der Begründer der medizinischen Pädagogik geworden. Ihr wesentlicher Inhalt ist folgender:

Mens sana in corpore sano [ein gesunder Geist in einem gesunden Körper - wp] bedeutet die höchste Glückseligkeit in dieser Welt. Zur Erhaltung und Förderung der leiblichen Gesundheit dienen folgende Vorschriften: Die Kinder sollen nicht zu warm gekleidet werden; Tag und Nacht, bei Wind und Wetter sollen sie barhäuptig gehen; die Füße sollen täglich in kaltem Wasser gewaschen und die Schuhe so dünn gemacht werden, daß sie rinnen und Wasser einlassen, sobald der Knabe demselben zu nahe kommt. Alle Knaben sollen schwimmen lernen, was bei den alten Deutschen Sitte war, wie bei den Römern, die von einem fehlerhaft erzogenen und zu nichts brauchbaren Menschen zu sagen pflegten:  nec literas didicit nec natare. [Er hat weder zu lesen, noch zu schwimmen gelernt. - wp]

Keinen Wein oder gar Liköre! Das Lager sei hart, auf Matratzen, nicht auf Federbetten. Man gebe den Kindern möglichst wenig Arznei und schicke nicht wegen jeder Kleinigkeit nach dem Arzt.

Auf diese Weise soll der Körper stark gemacht werden, um dem Geist zu dienen. Und um diesen in die rechte Verfassung zu bringen, sollen früh Selbstüberwindung und Selbstverleugnung geübt werden. Dagegen verleitet man die Kinder gewöhnlich zum Schlagen, zur Putzsucht, zu lügenhaften Ausreden, zur Leckerei, ohne zu bedenken, daß Kindesfehler zu Mannesfehlern wachsen. Sie sind zwar an unbedingten Gehorsam, dann, mit den Jahren, an Freiheit zu gewöhnen, so daß sie aus gehorsamen Kindern Freunde werden.

Wie schon MONTAIGNE, ist auch LOCKE ein Gegner der Rute. Was beim Unterricht eingebläut wird, erregt eben deshalb dem Kind Widerwillen, zudem wird es durch Schläge feige und sklavisch. Schläge verdienen sie nur wegen Hartnäckigkeit oder Widersetzlichkeit, und auch dann mögen Schande und Scham mehr wirken als der Schmerz. In keinem Fall sollen Schläge auf frischer Tat gegeben werden, weil sich sonst leicht Leidenschaftlichkeit einmischt. Aber ebensowenig soll man sie durch einen sinnlichen Köder, durch Leckerei zum Guten bewegen, noch durch Geld, Putz usw. belohnen. Das große Geheimnis der Erziehung besteht darin: Den Kindern ein Streben nach gutem Ruf einflößen und ihnen eine Idee von Schande und Scham beibringen. Sie müssen lernen, wie sie als brave Kinder bei aller Welt beliebt, im entgegengesetzten Fall aber verachtet und gering geschätzt werden: so wird in ihnen das Verlangen entstehen, sich Beifall zu erwerben und das zu vermeiden, was sie verächtlich macht. Das Streben nach Beifall muß bei den Kindern der Beweggrund sein, bis sie in reiferem Alter durch die Erkenntnis ihrer Pflicht und innere Zufriedenheit, welche der Gehorsam gegen den Schöpfer gewährt, bestimmt werden.

Lobsprüche erteile man in Gegenwart anderer: das verdoppelt die Belohnung; dagegen ihre Fehler mache man nicht bekannt: Das macht stumpf.

Man gebe den Kindern nicht zu viele Vorschriften, welche sie nicht alle zu beachten imstande sind. Man verhüte die Ziererei, welche entsteht, wenn die äußeren Handlungen der Kinder nicht mit der inneren Stimmung harmonieren. Die einfache und ungekünstelte, sich selbst überlassene Natur ist viel besser als eine künstliche Manierlichkeit.

Die sogenannten Manieren, um derentwillen die Kinder so oft gequält werden, sollen mehr durch das Beispiel als durch Regeln belehrt werden. Nichts verleiht den Kindern so sehr eine gefällige Sicherheit und Anstand als das Tanzen, das so früh wie möglich gelernt werden soll. Denn obgleich das Tanzen nur in der äußerlichen Anmut der Bewegung besteht, gibt es doch auf eigene Weise mehr als irgendetwas anderes den Kindern eine Männlichkeit der Gedanken und des Auftretens.

Die häusliche Erziehung unter einem Hofmeister führt am besten zur Tugend, während bei der Erziehung außerhaus, wenn sie auch geschickt macht mit anderen umzugehen und den Wetteifer beim Lernen weckt, für ein bißchen Griechisch und Latein die Unschuld des Knaben aufs Spiel gesetzt wird.

Früh nähre man die Wißbegierde der Kinder und gehe auf ihre Fragen ein, wenn auch Kinderfragen oft sogar Männern zu schaffen machen. Zu dem was sie lernen sollen erwecke man ihre Neigung und halte sie in der Regel nur zum Arbeiten an, wenn sie dazu aufgelegt sind. Sobald das Kind sprechen kan, lerne es lesen, wobei Spielsachen zum Lesenlernen dienen sollen.

Von den fremden Sprachen lerne es zuerst Französisch, da dies auf die einzig richtige Weise, durch Sprechen gelehrt wird. Ebenso soll Latein durch Sprechen gelernt werden. Als belehrenden Stoff zu diesen lateinischen Konversationen wähle man Geographie, Astronomie, Chronologie und Geschichte. Ist kein guter Lateinsprecher zu haben, so nehme man seine Zuflucht zum möglichst wörtlichen Interlinearübersetzungen [Wort-für-Wort Übersetzungen - wp], die alle Tage gelesen und wiedergelesen werden sollen, bis der Knabe das Latein völlig versteht. Auch schreibe er die lateinischen Stücke ab und lerne dabei die Deklination und Konjugation; die Grammatik im allgemeinen soll, wenn sie überhaupt einmal gelehrt werden soll, nur denjenigen gelehrt werden, welche die Sprache schon sprechen können. Mit lateinischen Aufsätzen zu quälen, oder gar damit, lateinische Verse zu machen, ist unvernünftig. Überhaupt sind poetische Neigungen im Knaben- und Jünglingsalter zu unterdrücken und zu ersticken und nicht zu nähren und zu stärken. Denn man sieht sehr selten, daß einer Gold- und Silberminen auf dem Parnass entdeckt. Die Luft ist dort lieblich, aber der Boden unfruchtbar, und es gibt wenige Beispiele, daß einer sein Erbgut gemehrt hat mit etwas, das er dort erntete. Es ist die herkömmliche Methode der Lateinschulen zu beklagen, große Bruchstücke der lateinischen Schriftsteller auswendig lernen zu lassen, womit nur Zeit und Mühe vergeudet wird.

Das Griechische muß nur der Gelehrte verstehen, für andere ist es entbehrlich. Der Musik weist LOCKE unter allen Künsten und Fertigkeiten die letzte Stelle an. Denn die Gewinnung einer bloß mäßigen Gewandtheit darin erfordert viel Zeit, und er habe wegen ausgezeichneter musikalischer Leistungen unter Männern von Begabung und praktischer Tüchtigkeit nur selten jemanden loben hören. Man solle lieber die kurze Lebenszeit auf die nützlichsten und wichtigsten Dinge verwenden. Das Reiten ist für einen Edelmann im Krieg und Frieden von Nutzen, und das Fechten ist eine gute Übung für die Gesundheit. Zur Erholung lerne er auch ein Handwerk, etwa das des Zimmermannes, Tischlers, Drechslers oder Gartenbau und Landwirtschaft, aber vor Karten- und Würfelspiel ist zu warnen. Kaufmännische Buchführung soll jeder verstehen, nicht um Vermögen zu erwerben, sondern um es zu erhalten. Das letzte Kapitel handelt vom Reisen. LOCKE gibt zu, daß das Reisen in fremde Länder großen Nutzen hat und rät, entweder in jüngeren Jahren unter der Leitung eines Lehrers oder in späteren Jahren auch ohne Beaufsichtigung dieselben unternehmen zu lassen.

Aber höher als alle Kenntnisse stehen Tugend und Weisheit. Vier Dinge wird ein Vater seinem Sohn außer dem Vermögen wünschen: Tugend, Weisheit, Lebensart, Kenntnisse. Von diesen Stücken ist die Tugend die erste und notwendigste Gabe, um die Achtung und Liebe anderer und die Zufriedenheit mit sich selbst zu erwerben. Den Grund dazu legt ein richtiger Begriff von Gott, der uns liebt und den wir wieder lieben und verehren sollen; morgens und abends lasse man ein einfaches und kurzes Gebet sprechen.

LOCKE ist recht eigentlich der Pädagoge der Engländer geworden; er hat der englischen Erziehung die Bahn vorgezeichnet, in der sie sich noch heute bewegt, sie ist noch heute auf das Nützliche und Brauchbare gerichtet und betont mehr die Bildung des Charakters als die des Verstandes und Geistes.

RATKEs Haupttätigkeit währte bis zum Ausbruch des 30-jährigen Krieges, COMENIUS hat die Leiden und Schrecken desselben in vollem Maß durchkosten müssen. Als der entsetzliche Krieg, der die Länder verwüstet, die Menschen verwildert, die Schulen verödet hatte, zu Ende ging, was es ein deutscher Fürst, der die Reform des Volksschulwesens in die Hand nahm, Herzog ERNST von GOTHA, der Fromme genannt, regierte von 1638 - 1675. Sein Schulmann war der Rektor des Gothaer Gymnasiums, Arnold Reyher, der, ein Anhänger des COMENIUS, unter Mitwirkung des Herzogs seine Reformgedanken in dem später mit seinen Zusätzen "Schulmethodus" genannten Erlaß niedergelegt hat unter dem Titel: "Spezial- und sonderbarer Bericht, wie nächst göttlicher Verleihung die Knaben und Mägdlein, auf den Dörfern und in den Städten die untersten Klassen der Schuljugend im Fürstentum Gotha kurz und nützlich unterrichtet werden können und sollen." Derselbe enthält in 13 Kapiteln eine vollständige Organisation der Volksschule und setzte den Schulzwang vom fünften Lebensjahr an fest, Winters und Sommers, in Dörfern wie in Städten. Unterrichtet wurde in drei Klassen täglich sechs Stunden, Mittwochs und Sonnabends drei Stunden. Zwei Kapitel handeln: "Von der Art und Weise, den Verstand des Katechismi zu treiben" und "Von der An- und Unterweisung, wie die Predigten gemerkt und examiniert werden sollen." Außer Religion wurde Lesen, Schreiben und Rechnen gelehrt, aber auch Naturkunde, Geometrie und über Obrigkeit, Gesetz, Rechte, Steuern sollte Belehrung erteilt werden. Die Kinder wurden zum Fleiß, zur Reinlichkeit, Stille, Bescheidenheit, Höflichkeit angehalten, und ebenso Lehrer und Eltern eingehend auf ihre Pflichten aufmerksam gemacht. So wurde zur Förderung der Volksschule ein mächtiger Anstoß gegeben, der von dem kleinen Fürstentum aus sich fühlbar machen sollte, aber auf den Gymnasien und Lateinschulen blieb es im Ganzen wie bisher. Doch wurde auf die Muttersprache mehr Wert gelegt; es wurden die lateinischen Grammatiken deutsch geschrieben, und der erste, welcher anfing, seine Vorlesungen deutsch zu halten, war der Rechtsgelehrte CHRISTIAN THOMASIUS, der sich die Entwicklung einer nationalen Literatur in Frankreich und England als Muster vor Augen hielt und Lehrbücher der Philosophie und verschiedene Abhandlungen in deutscher Sprache schrieb. Auch in den Schulen versuchte man vereinzelt wieder das Deutsche zu Ehren zu bringen. So sagt der Görlitzer Rektor BAUMEISTER:
    "Es ist ein schändliches Vorurteil, wenn man glaubt, man müsse sich auch Schulen bloß um die lateinische, griechische und hebräische Sprache bekümmern, die deutsche Sprache gehöre nicht unter die gelehrten Sprachen. Wollte man hierin doch nur an die Römer denken, die ihre Muttersprache nicht so verunehrten!"
Und ein anderer Schulmann:
    "Es ist billig, daßß man seine Muttersprache recht lerne und die Jugend in der Schule dazu anleite. Hätte man das in der früheren Zeit recht beachtet, so würde man nicht mit Betrübnis sehen, wie zuweilen die gelehrtesten Männer oft darin solche Schnitzer machen, die sie an einem Lehrling der lateinischen Sprache mit Schärfe ahnden würden."
Aber diese Stimmen, die umso wärmere Anerkennung verdienen, als sie in der Zeit des tiefsten Verfalls unserer Sprache sich vernehmen ließen, verhallten wirkungslos, und es sollte noch geraume Zeit vergehen, bis der deutschen Sprache in den Schulen ihr Recht zuteil wird. Sind ja doch manche Männer der gegenwärtigen Zeit der Meinung, daß in den Gymnasien und Lateinschulen deutsche Sprache und Literatur noch zu wenig gepflegt wird. Und wenn auch allmählich die Position der lateinischen Sprache erschüttert wurde, so erstand bald der deutschen Sprache - eine Folge des  siécle de  LOUIS XIV. und seiner Literatur - ein neuer, noch gefährlicherer Feind, dessen Macht sich heute noch über Gebühr geltend macht, in der französischen Sprache. Das Französische schuf sich immer breiteren Boden: es wurde die Sprache der Diplomaten, die Umgangssprache unter den höheren Ständen, ja manche waren undeutsch genug, zu hoffen, daß es auch Lehrsprache auf unseren Universitäten werden könnte. Aber auch der französische Servilismus jener Zeit verpflanzte sich nach Deutschland und in seine Schulen: die Adeligen nahmen eine bevorzugte Stellung in den Schulen ein, für adelige Schüler wurden besondere Lektionsverzeichnisse angefertigt, und die Adeligen wurden vom Griechischen zugunsten des Französischen dispensiert.

Als eine Konzession gegen diese Zeitströmung ist es wohl anzusehen, wenn die von AUGUST HERMANN FRANCKE (1663-1727) begründete Pietistenschule in Halle die französische Sprache unter ihre Lehrfächer aufnahm. Das Waisenhaus in Halle, das FRANCKE mit einem Kapital von wenigen Gulden gründete und von den kleinsten Anfängen aus zu einer großen Erziehungs- und Unterrichtsanstalt mit eigener Buchdruckerei erweiterte, die Herausgabe und Verbreitung einer wohlfeilen Bibel, die er mit Hilfe des Barons von CANSTEIN zustande brachte, sind die Proben seines Unternehmungsgeistes und die ersten Anfänge der Erziehungs- und Bildungsanstalten, welche der Pietismus von da an in steigender Ausdehnung hervorgebracht hat. Die FRANCKE'sche Schule erklärte vor allem dem sprachlichen Formelwesen den Krieg, betrachtete den Unterricht nur als einen Zweig des Erziehungswesens und postulierte die Religion als den Mittelpunkt der Erziehung, wie dem Pietismus überhaupt, was man auch sagen mag, der Ruhm verbleibt, die Religion wieder zur Herzenssache gemacht zu haben. FRANCKE war auch der erste, der die deutsche Sprache unter dem freilich schüchternen Titel: "Deutsche oratoria" dem Lektionsplan einfügte. Indessen besteht die pädagogische Bedeutung der Haller Pietisten hauptsächlich darin, daß sie den vorher bloß von einzelnen Männern proklamierten Realismus zum ersten Mal in der Praxis zur Ausübung brachten. FRANCKE trieb in seinen Anstalten Geschichte, Geographie, Physik, Botanik, die Anfangsgründe der Anatomie, Mathematik, Astronomie, vierstimmigen Gesang; an Einrichtungen für Realien fanden sich ein botanischer Garten, ein physikalischer Apparat, ein chemisches Laboratorium, Drechslerbänke, Mühlen zum Glasschleifen usw. Vom Pietismus ging später die jetzt allgemein durchgeführte Scheidung zwischen den humanistischen und Realschulen aus. Der Prediger CHRISTOPH SEMLER in Halle hat, durch FRANCKE angeregt, 1709 zum ersten Mal den Namen Realschule für eine von ihm errichtete Lehranstalt gebraucht, und die Stifter der ersten Realschule von wirklicher Bedeutung, der Berliner Realschule 1747, JOHANN JULIUS HECKER und JOHANN ELIAS SILBERSCHLAG waren Schüler von FRANCKE. So verdanken unsere Realschulen ihren historischen Ursprung den so verrufenen Pietisten. Aber auch die pietistischen Schulen konnten keine nachhaltige Wirkung ausüben, da ihnen die Unterlage eines im christlichen Geist erneuerten Volkslebens fehlte. Das traurigste Bild jener Zeit bot der Volksunterricht, der in nichts anderem bestand als in einem mechanischen Einüben der notwendigsten Schulfertigkeiten, des Lesens, Schreibens, Rechnens und in einem Auswendiglernen des Katechismus und nicht verstandener Bibelsprüche. Um die "lateinischen Schulen" stand es nicht besser. Hier herrschte bloße Gedächtniskultur, lebloser, geisttötender Wortkram, die Sprachkenntnisse wurden ganz mechanisch angeeignet, die Realien mehr als stiefmütterlich behandelt. Diese gelehrte Pedanterie der damaligen Zeit wird vom Satiriker RABENER mit folgenden Worten gegeißelt, die er einem jungen Studenten in den Mund legt:
    "Lateinisch, Griechisch, Hebräisch, die Redekunst und die Logik, das sind Wissenschaften, worauf ich mich mit unersättlichem Fleiß und mit Ausschließung aller anderen verlegt habe. Ist es nicht kläglich, daß man die Jugend zur Erlernung der Geschichte anhält? Dies vermehrt ihre leichtsinnige Neugierde, wozu sie ohnehin mehr als zu geneigt ist. Wozu die Geographie und die dazu gehörigen Wissenschaften nützen, das kann ich nicht einsehen. Ich habe den Weg von der Schule nach meiner Heimat gewußt, und ich will ihn auch ohne Geographie nach Leipzig finden. Deutsch zu lernen klingt gar lächerlich. Unser Torwächter konnte gutes Deutsch reden, ohne daß er in die Lehrstunden kam, und meine Mutter verstand mich allemal, wenn ich um Geld schrieb."
Fast noch trostloser sah es im Hinblick auf Bildung und Erziehung bei den Kindern der höheren Stände aus, welche die Erziehung ihrer Kinder als eine ihrer Aufmerksamkeit unwürdige Beschäftigung ansahen und sie Hofmeistern überließen, die nur gar selten die erforderlichen Eigenschaften eines Erziehers besaßen. Ein Spiegelbild davon zeigt uns wieder RABENER, der diese dunkle Seite des damaligen Adels und wohlhabenden Bürgerstandes in folgendem "Schreiben eines von Adel an einen Professor" mit feiner Ironie beleuchtet.
    "Hochzuverehrender Herr Professor! Meine Jungen wachsen heran, und es ist nun Zeit, daß ich ihnen einen gescheiten Hofmeister halte. Bisher habe ich den Schulmeister zu ihnen gehen lassen, aber er kann sie nicht mehr bändigen. Ich weiß, in welchem Ansehen Sie in Leipzig stehen und daß Ihr Vorzimmer beständig von solch krummgebückten Kreaturen voll ist, welche Hofmeisterstellen und Informationes suchen. Suchen Sie mir einen hübschen gesunden Kerl aus! Sie wissen es selbst, daß bei mir weder Mensch noch Vieh Not leiden.  Fritz  der älteste, ist ein durchtriebener Schelm. Er hat einen offenen Kopf und ich darf es dem Buben nicht merken lassen, daß ich ihn lieb habe - der leichtfertige Schelm! Er ist noch nicht vierzehn Jahre alt und hat  in humaniori  gar feine  principia. Ferdinand  ist meiner Frau ihr Junge. Er ist immer kränklich, und das geringste Ärgernis kann ihm schaden. Das gute Kind will mit lauter Liebe gezogen sein, und meine Frau hat schon zwei Bedienstete weggejagt, die ihm unfreundlich begegnet sind. Das älteste Mädchen ist zwölf Jahre. Sie soll noch ein bißchen Katechissen lernen und hernach will ich dem kleinen Nickel einen Mann geben, der mag sehen, wie er mit ihr zurecht kommt. Mit dem kleinen Mädchen hat der Hofmeister gar nichts zu tun, die behält die Mamsel bei sich. Sehen Sie, das ist die Arbeit alle. Ich werden Ihnen sehr verbunden sein, wenn Sie einen hübschen Menschen vorschlagen. Ich verlange weiter nichts von ihm, als daß er gut Latein versteht, sich in Wäsche und Kleidung reinlich und sauber hält, Französisch und Italienisch sprechen kann, eine schöne Handschrift schreibt, die Mathematik versteht, Verse macht soviel man fürs Haus braucht, tanzen, fechten und reiten kann und womöglich ein wenig zeichnet. In der Historie muß er auch gut beschlagen sein, vor allen Dingen aber in der Wappenkunst. Ist er schon auf Reisen gewesen, umso besser. Aber er muß sich gefallen lassen, bei mir auf meinem Gut zu bleiben und sich wenigstens auf sechs Jahre bei mir zu vermieten. Dafür soll er bei meinen Kindern auf der Stube freie Wohnung haben, mit dem Kammerdiener essen und jährlich fünfzig Gulden bekommen. Zum heiligen Christ und zur Messe gebe ich nichts, dergleichen Betteleien kann ich nicht leiden. Sind die sechs Jahre um, so kann er in Gottes Namen hingehen wohin er will. Ich will ihn sodann an seinem Glück nicht hindern. Mich dünkt, die Vorschläge sind ganz billig. Hat der Mensch Lust zur Wirtschaft, so kann er meinem Verwalter an die Hand gehen. Es wird sein Schaden nicht sein, denn er weiß doch nicht, wozu ers einmal brauchen kann. Ich werde für Ihr Bemühen erkenntlich sein und bin, hochzuverehrender Herr Professor, Ihr dienstbereitwilligster ..."
Jene Mangelhaftigkeit der öffentlichen Unterrichtsanstalten, die RABENER mit jenen Worten des Studenten so drastisch schildert, mußte notwendig zuletzt einen Widerwillen gegen dieselben erregen, und in diesem Widerwillen lag einer der ersten Keime des Philanthropismus. Aber ohne Sinn für die bildende Kraft der alten Sprachen begnügte sich derselbe nicht damit, den bestehenden Mißbrauch anzugreifen und eine wirkliche Reform zu versuchen, sondern ging zum anderen Extrem einer Herabwürdigung und Geringschätzung der alten Sprachen über. Der Vorläufer dieser pädagogischen Schule war ROUSSEAU.
LITERATUR - Wilhelm Herding, Ein Gang durch die Geschichte der Pädagogik, Erlangen 1890
    Anmerkungen
    1) Ich zitiere nach der Ausgabe von H. MOTHEAU und D. JOUAUST, welche den ältesten, ursprünglichen Text enthält ohne die Zusätze der späteren (Paris 1873).
    2) Der Wahlspruch MONTAIGNEs selbst lautete: "Que sais-je?" [Was weiß ich schon! - wp]
    3) Vgl. GERVINUS, Geschichte der poetischen Nationalliteratur 3, 76: "Man konnte gar nicht satt werden  Terenz  zu übersetzen." Von 1620 bis 1627 erschienen nicht weniger als 5 Übersetzungen des TERENZ.
    4) Das Buch ließ er bei MICHAEL ENDTER in Nürnberg erscheinen, da es in Ungarn an einem geschickten Kupferstecher fehlte.