ra-3H. DietzelM. LadenW. OstermannL. NelsonHerbart     
 
AUGUST WALSEMANN
Das Interesse
[Sein Wesen und seine Bedeutung für den Unterricht]

"Es stände schlimm um den Erzieher, wenn ihm die Vorbedingungen jenes höchsten und letzten Zieles des Unterrichts nicht bekannt wären; wenn er die Pforte nicht kennt, durch welche der Unterricht zur Tugend hindurchzudringen vermag; wenn es ihm an einem zuverlässigen Maßstab fehlt, um bei jedem Zögling schon während dessen Schulzeit abschätzen zu können, ob und wie weit sich derselbe dereinst dem höchsten und letzten Ziel der menschlichen Entwicklung annähern wird.  Diesen  untrüglichen Maßstab bietet ihm  das kindliche Interesse.  Nicht etwa ist derselbe zu suchen im Wissen oder Können, das sich der Schüler im Unterricht erwirbt."

"Die willkürliche Aufmerksamkeit steht unter der Herrschaft des Willens. Sie wird von der auffassenden Intelligenz gleichsam erzwungen. Ohne Ausübung dieses  Zwangs  würde die Aufmerksamkeit unstreitig andere Wege einschlagen. Wohin würde sie sich wenden? Ohne Zweifel nach dahin, von woher ihr die reichlichste Nahrung zufließt, d. h. sie würde sich entweder auf diejenigen Gegenstände lenken, von denen die meisten und stärksten sinnlichen Eindrücke ausgehen."

"Das Interesse hat seinen Grund und Ursprung in demjenigen, was ein Mensch weiß und gelernt hat. Aber es entspringt keineswegs aus einem geringfügigen und ungeordneten Wissen oder aus Einzelheiten des Wissens, sondern es geht nur hervor aus der Verbindung und Gesamtwirkung einer größeren Menge zusammengehöriger Vorstellungen. Wenn das Interesse sich irgendwelchen Dingen zuwendet, so geschieht es deshalb, weil diese Dinge im Zusammenhang stehen mit denjenigen Vorstellungen, die im Bewußtsein das Übergewicht besitzen." Interessen, Interessen der Ehre etc."


Vorwort zur ersten Auflage

Eine Abhandlung über das Interesse wird namentlich die Aufmerksamkeit derer wachrufen, in denen sich der Wunsch regt, mit der HERBART-ZILLERschen  Pädagogik  vertraut zu werden. Denn das  gleichschwebend vielseitige Interesse  ist nach HERBART  nächster  und  unmittelbarer  Zweck des Unterrichts. Selbstverständlich aber ist in jedem pädagogischen System der Unterrichtszweck maßgebend ebensowohl für die  Theorie des Lehrplans  als auch für diejenige des  Lehrverfahrens.  Wem also daran gelegen ist, einen klaren Einblick zu gewinnen in die Kernpunkte der Reformen, die in den pädagogischen Werken HERBART an die deutschen Schultüren klopfen, der darf vor allem nicht unterlassen, sich zuvor vollkommene Klarheit zu verschaffen über den Begriff  *Interesse. 

Daß nun in vorliegender Arbeit etwas ganz Neues über das Interesse vorgebracht sei, soll keineswegs behauptet werden. Im Grunde genommen ist vielmehr nur das, was sich in ZILLERs  Grundlegung zur Lehre vom erziehenden Unterricht  über diesen hochwichtigen Gegenstand zerstreut vorfindet, gesammelt und übersichtlich geordnet. Dabei ist ZILLERs Ausdrucksweise möglichst beibehalten. Wo man aber findet, daß mit ZILLERs Worten gesprochen ist, da wird man hoffentlich auch nicht umhin können zu gestehen, daß ZILLERs Gedanken nicht dahinter zurückstehen.



"Dem erziehenden Unterricht liegt alles
an der  geistigen Tätigkeit,  die er ver-
anlaßt. Diese soll er  vermehren,  nicht
 vermindern;  veredeln, nicht  verschlechtern." 
- Herbart


Einleitung

Die Aufgabe aller derjenigen Schulen, deren Zöglinge die Wohltat der Erziehung noch nicht genossen haben, besteht unzweifelhaft darin, die Kinder der sittlich-religiösen Bestimmung des Menschen entgegenzuführen und ihnen zugleich denjenigen Grad allgemeiner Bildung zueigen zu machen, welchen die bürgerliche Gesellschaft, der die Schüler später angehören werden und die kirchliche Gemeinschaft, der sie durch die Taufe bereits einverleibt worden sind, bei jedem ihrer Mitglieder voraussetzen. Das Hauptmittel zur Lösung dieser Aufgabe ist der  Unterricht  (siehe 1). Derselbst ist also in erster Linie als Vehikel der Charakterbildung zu betrachten. Kenntnisse dürfen ihm im allgemeinen nur insofern etwas gelten, als aus ihnen das Wollen hervorgeht, an dem der Wert des Menschen haftet.

Wenn man aber dem erziehenden Unterricht die Bildung eines sittlichen Charakters zur Aufgabe macht, so darf das nicht so verstanden werden, als habe der Unterricht die Charakterbildung gänzlich zum Abschluß zu bringen. Das steht durchaus nicht in seiner Macht. Alles, was er vermag, beschränkt sich darauf,  den geistigen Prozeß im Zögling zu veranlssen, der zur Begründung, Entwicklung, Festigung und Ausgestaltung des Charakters hinführt.  Er kann nur den Grund legen zur Charakterbildung, kann nur im Geist des Zöglings ein Gedankensystem entwerfen, von dem er hoffte, daß aus demselben Gesinnung und Charakter ihren wesentlichsten Bestandteilen nach hervorwachsen werden. Ob dies wirklich geschieht; oder der Zögling in der Tat eine charaktervolle Persönlichkeit wird, das zeigt sich erst, nachdem die Schultür sich hinter demselben längst geschlossen hat.  Mithin ist dem Unterricht in der Charakterbildung ein zu weites Ziel gesteckt. 

Es stände nun schlimm um den Erzieher, wenn ihm die Vorbedingungen jenes höchsten und letzten Zieles des Unterrichts nicht bekannt wären; wenn er die Pforte nicht kennt, durch welche der Unterricht zur Tugend hindurchzudringen vermag; wenn es ihm an einem zuverlässigen Maßstab fehlt, um bei jedem Zögling schon während dessen Schulzeit abschätzen zu können, ob und wie weit sich derselbe dereinst dem höchsten und letzten Ziel der menschlichen Entwicklung annähern wird.  Diesen untrüglichen Maßstab bietet ihm das kindliche Interesse.  Nicht etwa ist derselbe zu suchen im Wissen oder Können, das sich der Schüler im Unterricht erwirbt.

Zu der Hoffnung, auf dem Weg zur sittlich-religiösen Bestimmung des Menschen bis ans Ziel vorzudringen, berechtigt nur der Zögling, in dem der Unterricht ein vielseitiges, gleichschwebendes Interesse begründet hat. Indem der Unterricht auf dasjenige, was dieser Ausdruck bezeichnet, losfeuert, verfolgt er ein Ziel, das zum Endziel aller Erziehung in innigster Beziehung steht, die Vorstufe zu ihm bildet; ein Ziel, das während der Schulzeit voll und ganz erreicht werden  kann,  voll und ganz aber auch erreicht werden  muß,  wenn man mit einiger Gewißheit darauf rechnen will, daß sich der Zögling dereinst auf die Höhe jenes letzten Ziels erheben wird.


A.
Das Interesse als psychischer Vorgang

1. Das Wesen des Interesse

DRBAL definiert das Interesse als  eine anhaltende Aufmerksamkeit, die sich dem Gegenstand nicht bloß zuwendet, sondern dauernd von demselben gefesselt und okkupiert wird. 

Die Aufmerksamkeit ist eine  Tätigkeit der Seele  und zwar bezeichnet man mit diesem Ausdruck diejenige Tätigkeit der Seele,  welche es den Vorstellungen ermöglicht, sich über das Niveau des dunklen Bewußtseins zu erheben. 

Damit Vorstellungen der Außendinge in der Seele erzeugt werden, ist zunächst erforderlich, daß äußere Reize auf die Sinnesorgane einwirken. Geschieht dies, so erhält die Seele in der Regel auch Kunde davon; sie wird, indem sich der Erregungszustand der Nerven auf das Gehirn überträgt, in einen Zustand versetzt, den man  Empfindung  nennt. Nur solchen Erregungszuständen, welche von ganz schwachen äußeren Reizen herrühren, kann es begegnen, daß sie in der Menge der Erregungszustände, die gleichzeitig dem Gehirn zustreben, gänzlich untergehen, ohne die Seele zu erreichen. Einem ähnlichen Schicksal können unter Umständen freilich auch stärkere Eindrücke verfallen. Wenn wir mit unseren Gedanken ganz und gar in eine Arbeit vertieft sind, so hören wir nicht das Wagengerassel auf der Straße, riechen wir nicht den Qualm, den die Lampe verbreitet und dgl. Die objektiven Bedingungen der Wahrnehmung fehlen hier nicht. Der Anschlag des äußeren Reizes auf das Sinnesorgan ist hinlänglich stark. Ohne Zweifel werden auch gewisse dunkle Empfindungen in der Seele vorhanden sein. Allein wir werden uns des Inhalts dieser Empfindungen nicht bewußt. Grund:  Die Seele wendet ihnen nicht die geringste Aufmerksamkeit zu.  Sie ist dazu auch nicht imstande; denn sie wird voll und ganz in Anspruch genommen von anderen, stärkeren Vorstellungen, die zu jenen im Gegensatz stehen und denselben infolgedessen den Eintritt ins klare Bewußtsein streitig machen.

Wiederum aber können sich selbst die leisesten Eindrücke den Weg in unser Bewußtsein bahnen, wenn wir unsere ganze Aufmerksamkeit auf sie konzentrieren, d. h. wenn wir alles ins dunkle Bewußtsein zurückdrängen, was etwa geeignet wäre, jenem Schwachen das Emporsteigen zur Klarheit des Vorstellens zu erschweren.

Überhaupt vermag eine Vorstellung sich nur dann über die Schwelle des Bewußtseins zu erheben, wenn die Seele ihr in der Form der Aufmerksamkeit entgegenkommt, ihr gleichsam die Pforten des klaren Bewußtseins auftut, sie willkommen heißt.  Die Aufmerksamkeit ist die subjektive Bedingung der Klarheit der Vorstellungen. 

Zugleich befähigt sie uns, Eindrücke längere Zeit hindurch festzuhalten, den Vorstellungen Dauer und Beharrlichkeit zu verleihen, sie dem allgemeinen Schicksal aller seelischen Gebilde, im Wechsel der psychischen Zustände unterzusinken, auf längere Zeit zu entziehen. Vorstellungen dagegen, die ohne Mitwirkung der Aufmerksamkeit entstanden sind, tragen von vornherein das Gepräge der Dunkelheit an sich, gehören dem Reich des Vergessenen, des "Unbewußten" an. Nur mit Hilfe der Aufmerksamkeit sind wir imstande, in unserem Gedankenkreis diejenige Ordnung herzustellen, welche nötig ist, um uns in demselben leicht und frei nach allen Seiten hin bewegen zu können, ohne sie keine klaren, deutlichen Einzelvorstellungen und Anschauungen; ohne sie am allerwenigsten scharf ausgeprägte Begriffe.

Die ersten Keime der Aufmerksamkeit zeigen sich bereits im Säuglingsalter. Geweckt und gelenkt wird sie anfang nur durch physische Reize. Unwillkürlich folgt sie der Richtung der stärksten sinnlichen Eindrücke und dem Reiz der Neuheit. Man nennt sie  sinnliche oder primitive Aufmerksamkeit.  Diese verläßt den Menschen erst dann, wenn die Sinne ihren Dienst versagen. Ihr gesellt sich jedoch bald eine höhere Art der Aufmerksamkeit bei, welche uns allmählich von der Herrschaft der Sinnlichkeit befreit und die Möglichkeit gewährt, uns im Reich der Gedanken, des Idealen anzubauen und einzuleben.

Nennt der Mensch nämlich erst eine genügende Anzahl wirklich reifer Vorstellungen und Anschauungen sein eigen und hat er dieselben zu wohlgefügten Reihen miteinander verknüpft, so ist seine Aufmerksamkeit nicht mehr unbedingt an die Stärke der Eindrücke gebunden; unwillkürlich kehrt sich dieselbe dann auch den unbedeutendsten Dingen zu, falls diese an den im Bewußtsein auftauchenden Vorstellungen nur kräftige Hilfen finden.  Diese Aufmerksamkeit, welche sich einstellt infolge früher erworbener, jetzt freisteigender Vorstellungen,  nennt man die  geistige  oder die  apperzipierende Dieselbe ist von höchster Wichtigkeit. Zunächst gewährt sie da, wo es gilt, mit Hilfe der Sinne neue Vorstellungen zu gewinnen, eine bedeutende Stütze. Die freisteigenden Vorstellungen zu gewinnen, eine bedeutende Stütze. Die freisteigenden Vorstellungen säubern das Bewußtsein von hemmenden Gegensätzen, ziehen die neu eintretenden Vorstellungen an sich und führen sie in den Gedankenkreis über. Durch das Licht, welches die älteren, apperzipierenden Vorstellungsmassen dabei auf die jüngeren, apperzipierten werfen, erhalten diese einen Zuwachs an Klarheit. Durch die Verschmelzung mit der der Apperzeptionsakt schließlich endet, erhalten die neuen Vorstellungen kräftige Hilfen, die sie im Kampf gegen konträre Vorstellungen wirksam unterstützen, die eine gänzliche Verdunklung derselben unmöglich machen und deren Reproduktion erheblich erleichtern. Durch die geistige Aufmerksamkeit werden wir namentlich befähigt, uns auch solcher Reize bewußt zu werden, deren Stärke sonst unter dem Schwellenwert der Empfindung liegt. Sodann gewährt das apperzipierende Merken auch die Möglichkeit, uns von solchen Gegenständen und Ereignissen annähernd richtige Vorstellungen zu machen, die räumlich und zeitlich weit von uns entfernt sind. Schließlich werden wir durch sie instandgesetzt, unser Vorstellungsmaterial denkend zu verarbeiten. Natürlich wird die geistige Aufmerksamkeit umso lebhafter und schärfer sein, je größer die Zahl unserer appzerzipierenden Vorstellungsmassen ist, und je leichter es denselben wird, sich zu entfalten.

Die höchste Stufe, zu der sich die Aufmerksamkeit überhaupt zu erheben vermag, ist diejenige der  willkürliche Aufmerksamkeit.  Diese empfängt Antrieb und Richtung vom Willen, folgt also nicht den Bahnen, welche die Objekte unserer Wahrnehmung naturgemäß vorzeichnen, sondern schlägt die Wege ein, die ihr das vorstellende Subjekt bestimmt.

Es ist bekannt, daß der gebildete Mensch seine Aufmerksamkeit bald auf diesen, bald auf jenen Gegenstand zu konzentrieren, seinen Gedanken bald diese, bald jene Richtung zu geben vermag, durch Willkür sogar eigentümliche Gefühle und Stimmungen herbeiführen kann. Das Kind vermag dies noch nicht. Im jugendlichen Alter vollziehen sich die Begehrungen meistens noch in völlig objektiver Weise, d. h. lediglich nach den Gesetzen des psychologischen Mechanismus, ohne daß sich beim Ablauf der Begehrungen das Selbstbewußtsein oder das eigentliche Ich beteiligte. Man findet hier in der Regel nur einen Drang, das Vorgestellte zu erreichen, ein passives Sichgehenlassen, ein bloßes Sichhingeben an die kommenden Antriebe und an die Gunst oder Ungunst der Verhältnisse; nicht aber die Voraussetzung, das Begehrte erreichen zu können, kein tätiges Eingreifen in das innere und äußere Getriebe, kein Vergleichen und Anordnen, Vorziehen und Verwerfen der einzelnen Gedanken und Begehrungen als Mitteln zum Zweck. Vom eigentlichen Wollen kann hier also noch nicht die Rede sein, folglich auch nicht von derjenigen psychologischen Freiheit, welche die Voraussetzung der willkürlichen Aufmerksamkeit ist.

Die willkürliche Aufmerksamkeit steht unter der Herrschaft des Willens. Sie wird von der auffassenden Intelligenz gleichsam erzwungen. Ohne Ausübung dieses * Zwangs  würde die Aufmerksamkeit unstreitig andere Wege einschlagen. Wohin würde sie sich wenden? Ohne Zweifel nach dahin, von woher ihr die reichlichste Nahrung zufließt, d. h. sie würde sich entweder auf diejenigen Gegenstände lenken, von denen die meisten und stärksten sinnlichen Eindrücke ausgehen; oder aber sie würde an denjenigen Dingen haften, für welche wir die kräftigsten Apperzeptionshilfen vorrätig haben, die also für uns nicht mehr gänzlich fremd sind, sondern durch welche mannigfache Anklänge in uns geweckt werden. Bei ausschließlicher Herrschaft der Reproduktionsgesetze ist die Aufmerksamkeit eben entweder eine  sinnliche  oder aber eine  geistige. 

In Bezug auf erstere ist jedoch festzuhalten, daß sie in ihrer reinen Gestalt nur in der frühesten Kindheit auftritt. Solche Fälle, da Vorstellungen entstehen, die dem Inhalt nach wirklich ganz neu sind, dürften sich im vorgerückteren Alter höchst selten ereignen. Nur da könnte von ihnen die Rede sein, wo es beispielsweise gelänge, einen Blindgeborenen zu heilen. Die Erzeugung neuer Vorstellungsmassen jenseits der ersten Jugend ist gewöhnlich weiter nichts als eine Verbindung und Gruppierung schon vorhandener Elementarvorstellungen. Die Vorstellungsmassen, welche sich in den ersten Lebensjahren angesammelt haben, werden verstärkt und berichtigt, ergänzt und erweitert: sie werden miteinander verglichen, in reihenförmige Verbindungen gebracht und von Verstand und Phantasie zu neuen Gebilden umgeformt. Zwar wird dieser Ausbau des Gedankenkreises ohne Zuhilfenahme sinnlicher Demonstrationen unmöglich zu bewerkstelligen sein. Dennoch aber betätigt sich an demselben weit mehr die geistige als die sinnliche Aufmerksamkeit. Denn es handelt sich dabei nicht um die Gewinnung neuer Vorstellungselemente, sondern darum, vorhandene Elemente zu neuen Gebilden zu verbinden, also nicht um eine Bereicherung des Vorstellungsschatzes mittels  Perzeption,  sondern um eine solche mittels  Apperzeption.  Diese aber beruth auf einem Zuströmen von Hilfen, kann also nur unter Mitwirkung der geistigen Aufmerksamkeit zustandekommen.

Mit Hilfe der geistigen Aufmerksamkeit kann aus einer verhältnismäßig kleinen Anzahl sinnlicher Wahrnehmungen im Geiste ein Gedankensystem eingeführt werden, in dem kein wesentliches Stück des unermeßlichen Gebietes menschlicher Erkenntnis vermißt wird. Sie versetzt uns eben in die glückliches Lage, uns auch von solchen Dingen ein klares Bild entwerfen zu können, die wir mit den Sinnen nie wahrgenommen haben, uns auch in solche Zustände und Verhältnisse hineinzudenken, in denen wir in Wirklichkeit nie gewesen sind. Freilich leistet sie uns diese Dienste nur dann, wenn wir uns in dem, was unsere eigentliche Heimat ist, allseitig und gründlich orientiert haben, wenn wir mit denjenigen Gegenständen der Erkenntnis und Teilnahme, die Erfahrung und Umgang darbieten, durchaus auf vertrautem Fuße leben. Es kommt eben darauf an, unserem Bewußtsein auf dem Weg unmittelbarer Anschauung eine solche Verfassung zu geben, daß alles, was aus der Fremde an uns herantritt, uns nicht als  völlig  fremd erscheint, daß wir stets etwas haben, mit dem wir das Unbekannte vergleichen könenn; mit einem Wort:  daß wir für alles, was sich unserer sinnlichen Wahrnehmung entzieht, kräftige apperzipierende Vorstellungsmassen besitzen.  Solche Vorstellungen, die nicht als gänzliche Fremdlinge die Schwelle unseres Bewußtseins überschreiten, sind allemal unserer Aufmerksamkeit gewiß, und je mehr Hände sich ihnen zur Bewillkommnung entgegenstrecken, desto williger werden sie aufgenommen. Ohne Bild: Je mehr ältere Vorstellungen durch das Neue reproduziert werden, desto leichter gelangt dasselbe zur Klarheit, Stärke und Sicherheit; desto eher vermag es sich gegen seine Gegensätze im Bewußtsein siegreich zu behaupten. Solche Gegenstände nun, die zu den Hauptteilen unseres Gedankenkreises, zu den Knotenpunkten unseres Vorstellungsgewebes in inniger Beziehung stehen, üben auf unsere Aufmerksamkeit stets die stärkste Anziehungskraft aus. Denn diese Knotenpunkte bilden die Zentralstellen und Sammelplätze für das Vorstellen. Bei ihnen verweilen wir mit unseren Gedanken besonders gern; zu ihnen kehren wir denkend und sinnend immer wieder zurück. In ihnen sitzen unsere Lieblingsvorstellungen, Neigungen und Leidenschaften. Was wunder also, daß wir allem, was zu ihnen in Beziehung steht, die größte Aufmerksamkeit zuwenden,  eine Aufmerksamkeit, die sich ihrem Gegenstand ganz und voll hingibt  und dauern von demselben gefesselt und beschäftigt wird. Eine Aufmerksamkeit nun, die mit einem solchen Grad von Stärke und Lebhaftigkeit auftritt, bezeichnet man eben mit dem Ausdruck  Interesse.  Dasselbe tritt uns also zunächst entgegen als  eine Aufmerksamkeit, die ihre Wurzeln und Nährquellen in den hervorragendsten Komplexen unseres Gedankenkreises hat, die Antrieb und Richtung von umfangreichen, weitverzweigten Apperzeptionsmassen empfängt. 

Aber nicht nur diejenigen Vorstellungen nehmen im Bewußtsein eine hervorragende Stellung ein, die sehr oft und mit sehr vielen Vorstellungen zugleich in demselben gewesen sind, denen infolgedessen ein ausgedehnter Kreis mannigfacher Reproduktionshilfen zu Gebote steht; besonderes Gewicht legt jeder Mensch unwillkürlich auch auf diejenigen Gegenstände, die für die er von Natur besonders veranlagt ist. Die Beschäftigung mit denselben fällt ihm leicht und bereitet ihm lebhafte Lustgefühle. Das Interesse wird demnach nicht ausschließlich abhängen von der Art und Weise der Vergesellschaften (Assoziation) der Vorstellungen, sondern es wird wesentlich auch bedingt werden von der  Naturanlage, der Individualität

Die Naturanlage ist sie insofern, als das Nervensystem eines jeden Menschen von demjenigen aller anderen formell verschieden ist, so daß infolgedessen der Grad von Stärke (Lebhaftigkeit, Intensität), mit dem die Seelenzuständ auftreten, und der Geschwindigkeit, mit der sie verlaufen, bei jedem Individuum ein eigentümlicher ist.  Häusliche Mitgift  ist sie insofern, als in der frühesten Jugend von selbst, ohne absichtliche, planmäßige Einwirkung anderer, Vorstellungsmassen erzeugt werden, die vor allen übrigen Vorstellungen mit großem Übergewicht hervortreten, dem kindlichen Geist individuelle Züge verleihen.

So verschieden wie die angeborenen Talente, so verschieden sind auch die in frühester Jugend unwillkürlich erworbenen Anlagen. Es ist dies zum Teil eben eine Folge der Verschiedenheit des Angeborenen, zum Teil wird es bewirkt durch den Umstand, daß, genau genommen, jeder Mensch auch seine ersten Lebensjahre in besonderer Umgebung, unter anderen Umständen, anderen Verhältnissen verlebt. So erklärt es sich dann, daß zu dem Zeitpunkt, da die eigentliche Erziehung beginnen soll, die Vorstellungsmassen mehrerer Kinder, untereinander verglichen, bereits große Ungleichheiten aufweisen, sowohl hinsichtlich der  Art  der Vorstellungen, als auch der  Menge, Stärke  und  Gruppierung  derselben. Die in frühester Kindheit erworbene Eigentümlichkeit rechnet man nun nach demselben Sprachgebrauch zur Natur, nach welchem auch die Gewohnheit als die andere Natur bezeichnet wird.

Die in der Naturanlage begründete Form des Geisteslebens ist im allgemeinen nach ihren beiden Seiten hin unveränderlich.
    "Noch niemals war es möglich, aus einem langsamen Kopf dauernd einen raschen, aus einem schwachen Geist einen kräftigen zu machen, oder die quantitativen Verhältnisse unter den in frühester Kindheit unabsichtlich erworbenen Vorstellungsmassen so umzugestalten, daß eine bleibende Veränderung in der ursprünglichen Geistesrichtung daraus hervorgegangen wäre."
Diejenigen Richtungen der geistigen Tätigkeit nun, für welche der Mensch vermöge seiner Naturanlage besonders befähigt ist, werden ihm verhältnismäßig leicht fallen. Was er nach diesen Seiten hin unternimmt, wird selten ohne Erfolg sein. Erfolgreiche Arbeit aber stimmt das Menschenherz fröhlich. Weil somit die Naturanlage das Gelingen und das freudige Gefühl gelingender Tätigkeit sichert, so wird sich jeder Mensch mit solchen Dingen, die seiner Naturanlage entsprechen, gern beschäftigen. Ihnen wird er die gespannteste Aufmerksamkeit entgegenbringen,  eine Aufmerksamkeit, die sich ihrem Gegenstand so ausschließlich hingibt,  daß es berechtigt ist, ihr gleichfalls die Bezeichnung  Interesse  beizulegen.

Blicken wir auf das Gesagte zurück, so können wir das Wesen des Interesses noch etwas näher bezeichnen, als es am Anfang unserer Auseinandersetzungen geschehen ist. Wir können nunmehr etwa folgendermaßen definieren:  Das Interesse ist diejenige geistige Tätigkeit, welche Gegenstände, die zu den Hauptteilen unseres Gedankenkreises in Beziehung stehen, oder die innerhalb der Grenzen unserer Individualität liegen, zur Ungehemmtheit des Vorstellens zu bringen sucht. 


2. Eigentümlichkeiten des Interesses

Aus vorstehender Begriffserklären ergibt sich zunächst, daß das Interesse ein  unwillkürliche  Geistestätigkeit ist. Wern von Interesse beseelt ist, verarbeitet das Neue, das an ihn herantritt, mit freier Aktivität und ordnet es dem bei ihm vorhandenen Gedankenkreis ein. Dieses geschieht ohne Einmischung irgendeiner Willenstätigkeit, lediglich aufgrund der Gesetze des psychologischen Mechanismus; das Interesse ist  freie Selbsttätigkeit  und unwillkürliche innere Regsamkeit.

Aus dem Wesen des Interesses ergeben sich jedoch auch noch andere Eigentümlichkeiten des letzteren. Was zuerst in die Augen fällt, ist, daß sich im Interesse die beiden Zustände der  Ruhe  und  Reizbarkeit  vereinigen.

Das Interesse hat seinen Grund und Ursprung in demjenigen, was ein Mensch weiß und gelernt hat. Aber es entspringt keineswegs aus einem geringfügigen und ungeordneten Wissen oder aus Einzelheiten des Wissens, sondern es geht nur hervor aus der Verbindung und Gesamtwirkung einer größeren Menge zusammengehöriger Vorstellungen. Wenn das Interesse sich irgendwelchen Dingen zuwendet, so geschieht es deshalb, weil diese Dinge im Zusammenhang stehen mit denjenigen Vorstellungen, die im Bewußtsein das Übergewicht besitzen. Derjenige aber, bei dem das Interesse erwacht ist, empfindet auf seinem Standpunkt immer schon ein Wohlgefühl, wenn auch dieser Standpunkt im Vergleich mit der möglichen Ausdehnung des Wissens und Könnens noch sehr unvollkommen ist. Über die allgemeinsten Umrisse der Kenntnisse und Fertigkeiten eines bestimmten Gebietes verfügt er bereits,  dieselben sind sein selbsterworbenes, ureigenes geistiges Besitztum; an ihnen findet er darum seine höchste Freude, seine volle Befriedigung.  In dem, was den Kenntnissen und Fertigkeiten noch daran fehlt, daß die Umrisse ausgefüllt sind, liegt nur zwar der  Sporn  zum  Weiterstreben;  die Veranlassung, auf das, was zum geistigen Besitz hinzukommen soll und kann, vorzuschauen. Aber dieser Sporn treibt nicht zu rastloser Eile, nicht zu wildem, gewaltsamen Vordringen. Stets bleibt das Interesse  ruhig  und  geduldig.  Es stürmt nicht mit ungestümem Drang vor bis zu dem Punkt, daß sein Gegenstand vollendet in der Mitte des Bewußtseins steht, sondern  die Freude am Bekannten, am bereits Erworbenen läßt die Ruhe sicher bewahren.  Die Vorstellungen von dem, wofür wir uns interessieren, ragen vor den übrigen Vorstellungen zwar gebietend hervor, drängen sie zurück und verdunkeln sie. Immer aber entwickelt sich das Interesse erst im  Anschauen des Vorliegenden.  Es strebt nicht nach einem vollen Besitzergreifen des Künftigen, sondern es haftet am  Gegenwärtigen.  Bei aller Regsamkeit kann es die ihm eigentümliche Genügsamkeit nicht verlieren. Wie stark es auch sein mag, kann es sich doch niemals zu einem peinigenden, sich selbst aufreibenden Verlangen steigern. Sein Streben kommt im erworbenen Wissen, dem vollbrachten Tun stets zur Ruhe. Ruhe und Reizbarkeit sind mithin im Interesse auf das Innigste miteinander verknüpft.

Nachdem sich das Interesse vollständig ausgebildet hat, vereinigen sich in ihm sodann auch  Bedürfnis, Lust  und  Leichtigkeit. 

Wie bereits gesagt, liegt im Interesse der Antrieb zum Weiterstreben. Wer in irgendeinem Zweig der Wissenschaft die grundlegenden Elemente weiß und kann, der fühlt sich von innen heraus geradezu aufgefordert, seine Bildung in der Richtung dieser Elemente zu vervollständigen, seine angefangenen Kenntnisse und Geschicklichkeiten zu erweitern.
    "Es ist hier, wie bei aller Neugier und jedem Gegenstand, der zum Teil bekannt und befreundet ist: das geheime Dunkel, wozu der Eingang offen steht, übt einen Reiz und verlockt gleichsam dazu, hineinzutreten und noch weiter zu forschen, um noch mehr zu versuchen, um zu sehen, wie sich das in seinen Anfängen Bekannte und Geläufige fortsetzen wird."
Der Trieb zur Fortsetzung und Erweiterung der bereits erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten kommt bei demjenigen, den das Interesse zum Weiterstreben reizt, aus dem eigenen Inneren; die Anstrengungen und Leistungen fließen hervor aus freiem Entschluß; nicht äußeren Zwangs oder äußerer Vorteile wegen wird gelernt und gearbeitet.  Demjenigen, den das reine Interesse beseelt, ist sein Tund und Denken inneres Bedürfnis Er kann sich von seinem Wirken und Handeln nicht trennen, dauernd wird er dabei festgehalten.

Dieses innere Bedürfnis wird sich umso entschiedener einstellen, als demjenigen, der durch das Interesse an seine Arbeit gefesselt wird, sein Tun  leicht  fällt, und als es ihm zugleich ein fortgesetztes  Lustgefühl  bereitet.

Wer über die Elemente des Wissens und Könnens bereits verfügt, der weiß und kann von jedem, worin dieselben wieder vorkommen, immer schon etwas. In ihnen hat er nun ein vorzügliches Hilfsmittel für die Erweiterung seines Wissens und Könnens. Denn durch den Besitz des Elementaren und Grundlegenden wird die Gewinnung des Neuen bedeutend erleichtert. Das Neue tritt uns dann nicht entgegen als etwas absolut Neues, sondern als ein solches, das nur zum Teil unbekannt, zum Teil bereits bekannt ist. Die Aufnahme und Aneignung desselben braucht deshalb nicht auf dem Weg der Perzeption zu geschehen, sondern sie kann bewerkstelligt werden auf demjenigen der Apperzeption. Diese führt deshalb leichter zum Ziel als jene, weil durch die frei steigenden Vorstellungen das Bewußtsein gesäubert wird von denjenigen Gebilden, von deren Seite dem Neuen Hemmung droht, und weil durch die Dazwischenkunft der älteren Vorstellungen die Einverleibung des Neuen in den übrigen Gedankenkris beschleunigt wird.

Durch jeden Apperzeptionsakt wird sodann die apperzipierende Vorstellungsmasse gekräftigt, weil sie die apperzipierten Vorstellungen als neue Hilfen in sich aufnimmt. Je mehr sich der zugrunde liegende Umriß der Kenntnisse und Fertigkeiten ausfüllt, je leichter wird der Fortschritt, je eher gelingt es, Schwierigkeiten und Hindernisse zu überwinden. Dies wird umso mehr der Fall sein, als die Triebfeder des Arbeitens, das Interesse, trotz aller Mühen und Anstrengungen ein fortgesetztes  Lustgefühl  verbürgt.

Wer arbeitet, hat sich im Geist eine Reihe von Vorstellungen konstruiert, welche die einzelnen Momente der Arbeit vorbilden und deren Endglied die Vorstellung des herbeizuführenden Erfolges ist. Decken sich nun die einzelnen Stadien der wirklich vor sich gehenden Tätigkeit mit den einzelnen Gliedern jener Vorstellungsreihe, so hat man die Freude des Gelingens. Wo nun das Interesse Motiv der Arbeit ist, da sind bereits Erfolge erreicht, da ist das Lustgefühl gelingender Tätigkeit schon wiederholt empfunden. Je mehr sich nun das Vorstellungsgewebe, in dem das Interesse seinen Sitz hat, ausbreitet und innerlich vervollkommnet, desto häufiger haben wir die Freude des Gelingens; desto fester wird die Zuversicht des Könnens; desto weniger läßt man sich durch Hindernisse und Schwierigkeiten zurückschreckn. An diesen fehlt es zwar tatsächlich auch da nicht, wo Anstrengungen und Leistungen aus reinem Interesse hervorgehen. Aber das Interesse kennt nicht das peinliche Gefühl mühevoller Tätigkeit.
    "Es ist hier mit den Anstrengungen und Mühseligkeiten, wie mit den Mühen und Beschwerden einer Vergnügungsreise, die gar leicht ertragen werden; das Interesse wird von ihnen nicht merklich gedrückt; Kraft und Lust bleiben ihm stets gesichert. Die Empfindung des Mißbehagens kann bei kein bedeutends Gewicht erlangen;  die Gefühle der Leichtigkeit und Lust behalten zuverlässig die Oberhand, vollends wenn das Interesse in ein inneres Bedürfnis übergegangen ist." 

3. Arten und Richtungen des Interesses

Das Interesse hat seinen Ursprung teils in einem individuellen Gedankenkreis, teils in Vorstellungsmassen, welche auf einem Gebiet liegen, dem sich die Individualität von selbst nicht würde zugewendet haben, welche vielmehr durch die absichtliche, planmäßige Einwirkung anderer in der Seele haben erzeugt werden müssen. Von Natur neigt jeder Mensch zur Einseitigkeit. Bei jedem ragt durchweg eine Eigenschaft und Richtung, oder es ragen höchstens einige wenige Eigenschaften und Richtungen hervor, während die übrigen zurücktreten. Der individuelle Geist zeigt große Ungleichheiten hinsichtlich der Stärke und Lebhaftigkeit der verschiedenen Geistesrichtungen. Für jedes Individuum gibt es ein Gebiet, auf dem es vermöge seiner Naturanlage verhältnismäßig leicht arbeitet, auf dem deshalb die Schwerpunkte seines Denkens, Fühlens und Tuns liegen; dagegen andere, gegen welche es sich ursprünglich ganz gleichgültig verhält, von denen es sich nicht reizen läßt, in die es sich nur mühsam und ungern vertieft. Weil nun die Anlagen der Menschen erfahrungsmäßig sehr verschieden sind; weil bei jedem Menschen  besondere  Richtungen mit hervorragender Stärke auftreten, und weil in der Individualität ein ursprüngliches Interesse liegt, so  müssen  mehrere Richtungen und Arten des Interesses unterschieden werden können. So mannigfaltig wie die Naturanlagen sind, so mannigfaltig müssen auch die Richtungen und Arten des Interesses sein.

Spricht man von  Arten  der Geistestätigkeit, so schwebt einem der Gedanke an die verschiedenartigen Zustände der Seele vor, der Gedanke daran, ob die Seele anschaut, denkt, fült oder will; spricht man von  Richtungen  der Geistestätigkeit, so denkt man an das Feld, auf dem der Geist tätig ist, an die Gegenstände, mit denen er sich beschäftigt. Hierbei hat man sich jedoch daran zu erinnern, daß es keine  angeborenen  Seelenzustände gibt, sondern daß die Seele ursprünglich nur die einzige Fähigkeit besitzt, mit der Außenwelt, mit den Trägern der zeitlich-räumlichen Zustände, in Wechselwirkung zu treten; daß sich das Seelenleben erst in einem reichen, vielfach abgestuften Prozeß  entwickelt;  daß das Wollen das Endresultat dieses Entwicklungsprozesses bildet; daß es von einem Erzieher also nicht angesehen werden darf als ein Gegebenes, beim Zögling bereits Vorhandenes, sondern daß er dasselbe betrachten muß als ein zu Erzeugendes und zu Bildendes.

Daß die Seele, obwohl sie ein einfaches Wesen ist, einer Vielheit verschiedener Zustände fähig ist, lehrt die Erfahrung zur Genüge. Das erste und nächste Produkt der Wechselwirkung zwischen seele und Außenwelt sind die  sinnlichen Empfindungen.  Was von der Empfindung in der Seele zurückbleibt, nachdem der äußere Reiz, durch den sie hervorgerufen ist, aufgehört hat zu wirken, nennt man  Vorstellung  (im engeren Sinne). Wird diese bezogen auf das durch sie zum Bewußtsein gelangenden Objekt, so heißt sie  Wahrnehmung Indem man alle Wahrnehmungen, die überhaupt an einem Ding gemacht werden können, in eine Gesamtvorstellung zusammengefaßt, erhält man eine  Anschauung  vom Ding. Empfindungen, Vorstellungen, Wahrnehmungen und Anschauungen sind mehr oder weniger  ursprüngliche  Seelenzustände, d. h. sie können nicht aus anderen Seelenzuständen abgeleitet werden.

Aus ihnen entwickeln sich die höheren Vorstellungsgebilde,  Begriffe, Ideen  und Gedanken (Erscheinungen der Intelligenz). Aus dem Zusammenwirken der Vorstellungen überhaupt,  der Vorstellungen im weiteren Sinne  (Empfindungen, Vorstellungen im engeren Sinne, Wahrnehmungen, Anschauungen, Begriffe, Gedanken, Ideen) entstehen aber weitere abgeleitete Zustände, welche den Charakter von Vorstellungen nicht mehr an sich tragen,  die verschiedenen Gemütslagen,  die  Gefühle  und  Strebungen. 

Gefühle sind das Innewerden der Hemmungen und Förderungen des Vorstellens.  Sie können ihren Sitz in großen, meist unbestimmten Vorstellungskreisen haben; sie können aber auch in bestimmten, genau abgegrenzten Vorstellungsmassen wurzeln. Gefühle stehen in engster Beziehung zum  Begehren.  Die Spannung der Vorstellungen, welche die Ursache der Unlustgefühle ist, ist nicht ohne eine Bewegung der Vorstellungen denkbar. Sobald die der Hemmung unterworfene Vorstellungsmasse einen gewissen Klarheitsgrad erreicht hat, und sobald sie sich stark genug fühlt, den Kampf gegen ihre Gegensätze aufzunehmen, geht sie in den Zustand des Strebens über. Kennt man den Gegenstand der Beunruhigung und des Schmerzes, so ist es natürlich, daß man seine Beseitigung erstrebt, daß man sich bemüht, den gegenwärtigen Zustand des Bewußtseins zu durchbrechen, um in eine andere, erträglicher Lage überzugehen. Hieraus ergibt sich zugleich, daß sich auch solche Vorstellungen, welche Träger lebhafter Lustgefühle sind, leicht in Begierden umwandeln. Auf Gegenstände, von denen man weiß, daß sie erfreuen und beglücken, richtet sich das Begehren naturgemäß am leichtesten und häufigsten.

Weil nun Gefühle und Willensregungen so nahe miteinander verwandt sind; weil die Vorstellungen, wenn sie in der Seele fortdauern und ins Wollen übergehen sollen, zumindest gleichsam eingetaucht werden müssen in Empfindung, so spielen die Gefühle bei der Erziehung eine sehr wichtige Rolle.

Von großer Wichtigkeit sind zunächst diejenigen Gefühlsregungen, welche in den Vorstellungen des  Wahren, Schönen  und  Guten  ihren Grund haben, die  intellektuellen, ästhetischen  und  moralischen  Gefühle. Sodann aber sind auch diejenigen Empfindungen von hoher Bedeutung, welche an den Vorstellungen von einem  "Du",  dem  "Wir"  und von  "Gott"  haften, die  allgemein menschlichen,  die  patriotischen  und die  religiösen Gefühle.  Diese drei haben das miteinander gemeinsam, daß sie verknüpft sind mit Vorstellungen, die sich auf  beseelte Wesen  beziehen. Mit den drei zuerst genannten ist das nicht der Fall. Das intellektuelle Gefühl begleitet das klare Bewußtsein der  Wahrheit das ästhetische stellt sic hein bei unbefangener Auffassung  schöner Gegenstände;  das moralische schließlich quillt hervor aus der Wahrnehmung der Harmonie oder der Disharmonie des  Wollens mit den sittlichen Ideen.  Stattdessen hat das religiöse Gefühl seinen Ursprung in den Vorstellungen von  Gott,  das Mitgefühl in denjenigen vom  einzelnen Menschen,  das gesellschaftliche Selbstgefühl in denjenigen von der  beseelten Gesellschaft.  Diese drei Gefühle kann man darum mit einem Wort auch als  Empfinden der Teilnahme  bezeichnen.

Die Empfindungen der Teilnahme bilden die Grundlage aller  Gesinnungen.  Die Gotteserkenntnis kann hinführen zu den Gefühlen der Furcht, der Liebe, des Vertrauens, der Dankbarkeit usw. Sind diese Gefühle wirklich erwacht, so begründen sie das Streben, stets nur das Gute zu tun, das Wollen mit der sittlichen Einsicht beständig in Übereinstimmung zu erhalten, in allen Mißgeschicken und Widerwärtigkeiten des Lebens mutig auszuharren, für Gottes Sache zu arbeiten usw. - Sind wir zu der Erkenntnis durchgedrungen, daß auch andere Wesen vorstellen und empfinden, daß es Wesen gibt, die uns gleich sind, so können wir, wenn wir ein fremdes Gefühl wahrnehmen, nicht leicht gleichgültig bleiben. Wir versetzen uns in das fremde Ich hinein und indem wir die Vorstellungen, auf denen seine Gefühle beruhen, in uns aufnehmen, machen wir diese Gefühle zu den unsrigen, d. h. wir fühlen mit, wir sympathisieren. Die allgemein menschlichen Gefühle werden uns gleichfalls die Impulse mannigfacher Willensäußerungen. Sie legen den Grund zum  Wohlwollen  und zur  Billigkeit  und treiben an zur Unterdrückung des Neides, der Mißgunst und der Schadenfreude. - Erweitert sich das individuelle Bewußtsein zum gesellschaftlichen, betrachtet sich der Mensch als Glied einer Gemeinschaft gleichberechtigter Wesen, so führt das abermals zu mancherlei Gefühlen. Ist das gesellschaftliche Selbstbewußtsein erwacht, und erhält man von den im Umkreis der Gesellschaft liegenden Bestrebungen und Angelegenheiten Kenntnis, so kann man dabei gleichfalls nicht kalt und teilnahmslos bleiben. Die Wahrnehmung, daß das allgemeine Wohl wächst und zunimmt, stimmt fröhlich; während Zerrüttung der bürgerlichen Verhältnisse, Herabminderung der nationalen Kraft und des nationalen Ansehens mit Mißmut und Unlust erfüllt. Außerdem fühlt sich der Mensch durch Abstreifung der Beschränktheit und Unvollkommenheit des Individuums und durch Teilnahme an der Machtvollkommenheit und Größe des gesellschaftlichen Ganzen innerlich gehoben. Wie nun das religiöse und sympathische Gefühl, so gibt auch das gesellschaftliche Selbstgefühl, das man auch das patriotische nennen kann, Anlaß zu mannigfachen Willensregungen. Es läßt den Entschluß entstehen, der Gesellschaft zu dienen, willig die Opfer zu bringen, welche die Erfülung der gesellschaftlichen Zwecke erfordert, die gesellschaftlichen Ordnungen, Sitten und Rechtsbestimmungen zu achten und zu befolgen und dgl.

Weil somit die Empfindungen der Teilnahme für das Verhalten des Menschen so überaus wichtig sind, so bedürfen sie bei der Erziehung der gewissenhaftesten Pflege. Die Sorgfalt, welche ihnen zugewendet wird, darf nicht geringer sein als diejenige, welcher sich die Erkenntnis zu erfreuen hat.

Erkenntnis  und  Teilnahme  sind die beiden Hauptarten der geistigen Tätigkeit des Kindes. Auf Empfindungen der Teilnahme aber ist nur dann zu rechnen, wenn die Vorstellungen, in denen sie im allgemeinen ihren Sitz haben, mit der  Lebhaftigkeit des Interesses  aufgefaßt werden.  Interesse  ist schon dann erforderlich, wenn es zu einem gründlichen Wissen kommen soll; es ist die subjektive Bedingung der Erkenntnis; während die  Lebhaftigkeit  des Interesses die Voraussetzung des Fühlens und Wollens ist.

Suchen wir nunmehr die mannigfaltigen Seelenzustände, von denen soeben die Rede gewesen ist, übersichtlich zu ordnen, um so zugleich die verschiedenen Arten des Interesses namhaft machen zu können.

Die beiden Hauptarten der hier in Frage kommenden Seelenzustände bezeichnen die Ausdrück  Erkenntnis  und  Teilnahme.  Die Erkenntnis kann nun wieder eine doppelte sein, eine  theoretische  und eine  ästhetische.  Bei ersterer handelt es sich um  Sein  und  Nichtsein  von etwas, um Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit des Einen zum Andern; bei letzterer dagen vornehmlich um eine  Wertschätzung,  darum ob etwas schön oder häßlich, gut oder böse ist. Bei der theoretischen Erkenntnis macht sich jedoch abermals eine Zweiteilung geltend, indem es bei derselben entweder ankommen kann auf die Erkenntnis des Einzelnen, des Gegebenen,  der erfahrungsmäßigen Tatsachen der Natur und Geschichte oder aber auf die Erfassung des  Abstrakten darauf, wie die einzelnen Teile miteinander zusammenhängen, in welchem Kausalzusammenhang ein Ding mit dem andern steht, wie die Dinge aufeinander einwirken, welchen Gesetzen die Erscheinungen in der Natur und die Vorgänge im Menschenleben unterworfen sind, usw.

Teilnehmen kann der Mensch an den Schicksalen und Erlebnissen des  Individuums teilnehmen kann er ferner an den Wünschen, Anliegen und Bestrebungen der  Gesellschaft teilnehmen kann er schließlich auch an den Aufgaben und Arbeiten des  Gottesreiches. 

Somit lassen sich sämtliche Seelenzustände in sechs Gruppen bringen. Die Geistestätigkeit besteht nach HERBARTs Ausdrucksweise entweder in  Empirie  oder in  Spekulation,  oder im  Geschmack;  in  Mitgefühl,  oder in  Patriotismus,  oder in  Frömmigkeit. 

Jede dieser verschiedenen Arten der Geistestätigkeit setzt, wenn sie zu einiger Vollkommenheit ausgebildet werden soll, ein besonderes Interesse voraus. Folglich lassen sich in Bezug auf die Art der Geistestätigkeit zweimal drei Arten des Interesses unterscheiden. HERBART bezeichnet dieselben folgendermaßen:
    - auf Seiten der  Erkenntnis  stehen das  empirische,  das  spekulative  und das  ästhetisch; 

    - auf Seiten der  Teilnahme  das  4sympathische,  das  gesellschaftliche  und das  religiöse  Interesse.
Zu diesen verschiedenen Arten des geistigen Lebens kann jeder geistig Gesunde befähigt werden. Es ist jedoch festzuhalten, daß die genannten Geistestätigkeiten größtenteils anzusehen sind als  abgeleitete  Seelenzustände, daß sie sich nur an bestimmten  Vorstellungen  entzünden, daß sie also nicht anzusehen sind als besondere Seelenvermögen, die wie geistige Muskeln durch eine geistige Gymnastik in fortwährende Tätigkeit gesetzt werden könnten. Die Verschiedenartigkeit der Geistestätigkeit ist stattdessen abzuleiten aus der Verschiedenartigkeit der Vorstellungen. Da nun das, was zur Ausbildung für eine bestimmte Vorstellungsmasse angemessen ist, es darum nicht auch für eine andere, ihr ungleichartige ist, so folgt, daß der Unterricht, wenn er die mannigfaltige Verschiedenheit der geistigen Tätigkeit erreichen soll, gleichfalls mannigfaltig sein muß. Er muß so viele Arten von Gegenständen darbieten, daß mit Sicherheit angenommen werden kann, es werde keiner Art der Geistestätigkeit an Nahrung mangeln.

Nun gibt es zwar einzelne Unterrichtsfächer, welche den Geist vielseitig in Anspruch nehmen, welche mehrere Arten des Interesses zu wecken und zu beleben geeignet sind.  Aber es gibt kein Fach, durch welches alle Arten desselben gleichmäßig ausgebildet werden könnten.  Wäre dies wirklich der Fall, so würde es genügen, in den Lehrplan nur dieses eine Fach aufzunehmen. Aber die Verschiedenartigkeit der Vorstellungen, aus welcher der Erklärungsgrund für die verschiedenen Arten der geistigen Zustände und Tätigkeiten herzunehmen ist, setzt grundverschiedene Gegenstände voraus, Gegenstände, die unmöglich zu einer einzigen Wissenschaft zusammengefaßt werden können, sondern welche durch ihre Verschiedenartigkeit eben eine Mehrheit von Wissenschaften notwendig machen.

Um nun die  Gegenstände,  die  Lehrfächer,  namhaft machen zu können, welche notwendig sind, um die einzelnen Arten des Interesses zu gleicher Stärke zu entwickeln, den Geist  vielseitig zu bilden,  hat man sich daran zu erinnern, daß die geistige Tätigkeit ursprünglich entweder in Erkenntnis oder in Teilnahme besteht. Die ersten Keime dieser beiden Grundrichtungen des Geisteslebens zeigen sich bereits in frühester Kindheit. Schon vor Beginn des eigentlichen Unterrichts sind bei jedem Kind Vorstellungsmassen vorhanden. Dieselben entspringen immer aus zwei Hauptquellen, aus  Erfahrung  und  Umgang.  Sie sind zusammengesetzt aus zwei Grundstoffen, aus dem was die Erfahrung, und aus dem was der Umgang in den menschen ansetzt und niederlegt. Aus der einen Hauptquelle des Vorstellungssystems, aus der Erfahrung kommen  Kenntnisse der Natur;  aus der anderen, dem Umgang, kommen  Gesinnungen gegen beseelte Wesen,  Empfindungen der Teilnahme, ins Innere des Menschen.

Soll nun durch den Unterricht ein unmittelbares Interesse erzeugt werden, wünscht man also, daß dem Neuen, das der Unterricht darbietet, aus dem Bewußtsein frei steigende Vorstellungen entgegenströmen, mit anderen Worten: daß es leicht aufgefaßt, vollkommen verstanden und tief empfunden wird, so muß natürlich der individuelle Vorstellungskreis als Ausgangs- und Anknüpfungspunkt dienen.

Demgemäß muß der Unterricht zunächst zwei Hauptrichtungen haben, die  naturwissenschaftliche  und die  historische,  von denen jene an die vorhandenen Resultat der Erfahrung, diese an die vorhandenen Resultate des Umgangs anknüpft, um sie zu erweitern und zu berichtigen, um sie fortzusetzen und zu ergänzen, um sie zu verdeutlichen und zu ordnen.

Mithin hat man in Rücksicht auf die Gegenstände, auf welche sich das Interesse lenken kann, zunächst zwei Seiten desselben zu unterscheiden, das Interesse für Naturwissenschaften und dasjenige für Geschichte. Die Geschicht aber will hier in einem sehr weiten Sinn, als Inbegriff der Gesinnungsverhältnisse beseelter Wesen überhaupt, verstanden sein.

Wie bereits gesagt, sind die Gesinnungen eine Frucht des Umgangs. Umgang kann der Mensch nun pflegen entweder mit  Seinesgleichen  oder mit seinem  Gott.  Die Stoffe, aus denen die Gesinnungen hervorwachsen, können also entweder auf dem Gebiet des Menschenlebens oder auf demjenigen der  Religon  liegen.

Das Menschenleben kann nun betrachtet werden entweder im Hinblick auf seine  Vergangenheit  oder aber im Hinblick auf seine  Gegenwart.  Wie das Menschenleben in den vergangenen Zeiten gestaltet gewesen ist, wie es sich allmählich entwickelt hat, zeigt die  Geschichte im engeren Sinne;  über die gegenwärtigen menschlichen Verhältnisse und Zustände geben die  humanistischen Wissenschaften, die Volkswirtschaftslehre, die Gesellschaftskunde, die Staatslehre, die politische Geographie  usw. Aufschluß. Von den religiösen Dingen handeln die  biblische Geschichte, die Kirchengeschichte, der Katechismus und das Kirchenlied. 

Alle diese Einzelfächer sind gleichsam die Zweige eines einzigen umfangreichen Stammes, in ihrer Gesamtheit ergeben sie dasjenige, was wir unter Geschichte im erweiterten Sinn zu verstehen haben.

Dem allergrößten Teil nach aber wird der Inhalt dieser mannigfaltigen Wissensgebiete überliefert durch das Medium der  Sprache Die Sprache ist gleichsam die Leiter, an deren Sprossen wir uns halten müssen, um uns schnell und sicher in den Gipfel jenes Baumes hinaufschwingen zu können. Was sich in den Erzeugnissen der bildenden Künste, in Denkmälern, Ruinen, alten Münzen, Geräten usw. an Geschichte niedergelegt findt, ist nur ein verschwindend kleiner Teil derselben. Ohne die Begleitung der Sprache sind sie nur stumme Zeugen vom vergangenen Leben. Gründliche Einsicht in die Geschichte läßt sich nur gewinnen durch das Studium literarischer Dokumente. Da nun die Sprache den Schlüssel zu denselben liefert, so muß zur Geschichte die  Sprachkunde  als ihre hauptsächlichste Hilfswissenschaft hinzukommen.

Die zweite Hauptrichtung der geistigen Tätigkeit, das  naturwissenschaftliche Interesse,  läßt gleichfalls vielfache Verzweigungen zu. Es kann sich zeigen als Interesse für  Tiere, Pflanzen  und  Mineralien;  als Interesse für  Bodenverhältnisse  und  Himmelserscheinungen;  als Interesse für Erscheinungen auf dem Gebiet der  Physik  und  Chemie.  Wie aber die Sprachkunde an die Geschichte, so muß sich an die Naturkunde die  Mathematik  anschließen. Denn ohne Zählen, Messen, Wägen und ohne eine scharfe, genaue Bestimmung der Form ist eine gründliche Kenntnis der Natur nicht zu erlangen. Zwar kann der Naturforsher auch ohne Sprache nicht auskommen; aber es stände schlimm um ihn, wenn er als die Hauptquelle seiner Studien und Forschungen nicht die Natur selbst, sondern geschriebene Werke betrachten wollte. Statt seine Kenntnisse vorwiegend aus Büchern zu schöpfen; statt sklavisches Nachbeten und Nachtreten irgendwelcher Autoren zu versinken, hat er selbst zu betrachten, selbst zu experimentieren, zu erforschen, zu untersuchen. Um aber zu zuverlässigen zu gelangen, darf es ihm an gründlicher mathematischer Bildung nicht fehlen.

Aus Vorstehendem ergibt sich, daß sowohl hinsichtlich der  Art der geistigen Fähigkeit  als auch der  Richtung  derselben ein  mannigfaltiges, vielseitiges Interesse  zu unterscheiden ist.



LITERATUR - August Walsemann, Das Interesse, Hannover 1884