F. MauthnerP. BarthS. I. HayakawaF. FerrerTolstoi | ||||
Das unwahre Prinzip unserer Erziehung (1)
Ohne unser Zutun bringt die Zeit das rechte Wort nicht zutage; wir müssen alle daran mitarbeiten. Wenn aber auf uns dabei so viel ankommt, so fragen wir billig, was man aus uns gemacht hat und zu machen gedenkt, wir fragen nach der Erziehung, durch die man uns zu befähigen sucht, die Schöpfer jenes Wortes zu werden. Bildet man unsere Anlage, Schöpfer zu werden, gewissenhaft aus, oder behandelt man uns nur als Geschöpfe, deren Natur bloß eine Dressur zuläßt? Die Frage ist so wichtig, wie es eine unserer sozialen nur irgendwie sein kann, ja sie ist die wichtigste, weil jene auf dieser letzten Basis ruhen. Seid etwas Tüchtiges, so werdet ihr auch etwas Tüchtiges wirken; sei "Jeder vollendet in sich", so wird eure Gemeinschaft, euer soziales Leben, auch vollendet sein. Darum kümmern wir uns vor allem darum, was man aus uns macht in der Zeit unserer Bildsamkeit; die Schulfrage ist eine Lebensfrage. Das springt auch jetzt genugsam in die Augen, und seit Jahren wird auf diesem Feld mit einer Hitze und Offenheit gefochten, die jene auf dem Gebiet der Politik darum weit übertrifft, weil sie nicht auf die Hemmnisse eigenmächtiger Gewalt stößt. Ein ehrwürdiger Veteran, der Professor THEODOR HEINSIUS, der wie der verstorbene Professor KRUG sich Kraft und Strebsamkeit bis in sein hohes Alter bewahrt hat, sucht neuerdings wieder durch eine kleine Schrift das Interesse für diese Sache anzufachen. Er nennt sie ein "Konkordat zwischen Schule und Leben oder Vermittlung des Humanismus und Realismus, aus nationalem Standpunkt betrachtet" (Berlin 1842). Zwei Parteien kämpfen um den Sieg, und wollen jede ihr Erziehungsprinzip unserem Bedürfnis als das beste und wahrhafte empfehlen: die Humanisten und Realisten. Ohne es mit den einen oder andern verderben zu wollen, redet HEINSIUS in seinem Büchlein mit jener Milde und Versöhnlichkeit, die beiden ihr Recht widerfahren zu lassen meint und dabei der Sache selbst das größte Unrecht tut, weil diser nur mit schneidender Entschiedenheit gedient ist. Es bleibt nun einmal diese Sünde wider den Geist der Sache das unablösbare Erbteil aller weichmütigen Vermittler. "Konkordate" bieten nur ein feiges Auskunftsmittel:
Und die Parole: Sklave oder frei! Selbst Götter stiegen vom Olymp hernieder Und kämpfen auf der Zinne der Partei. Bis im 18. Jahrhundert die Aufklärung ihr Licht zu verbreiten anfing, lag die sogenannte höhere Bildung ohne Einspruch in den Händen der Humanisten und beruhte fast allein auf dem Verständnis der alten Klassiker. Daneben ging eine andere Bildung einher, welche ihr Muster gleichfalls im Altertum suchte und der Hauptsache nach auf eine erkleckliche Kenntnis der Bibel hinauslief. Daß man in beiden Fällen die beste Bildung der antiken Welt zu seinem einzigen Stoff auserwählte, beweist genugsam, wie wenig das eigene Leben noch etwas Würdiges darbot, und wie weit wir noch davon entfernt waren, aus eigener Originalität die Formen der Schönheit, aus eigener Vernunft den Inhalt der Wahrheit erschaffen zu können. Wir hatten Form und Inhalt erst zu lernen, wir waren Lehrlinge. Und wie die antike Welt durch Plastiker und Bibel als Herrin über uns gebot, so war - was sich historisch beweisen läßt - das Herr- und Dienersein überhaupt das Wesen unseres gesamten Treibens, und lediglich aus dieser Natur des Zeitalters erklärt es sich, warum man so unbefangen nach einer "höheren Bildung" trachtete und vor dem gemeinen Volk sich durch sie auszuzeichnen beflissen war. Mit der Bildung wurde ihr Besitzer ein Herr der Ungebildeten. Eine volkstümliche Bildung würde dem entgegen gewesen sein, weil das Volk den gelehrten Herrn gegenüber im Laienstand verharren und die fremde Herrlichkeit nur anstaunen und verehren sollte. So setzte sich der Romanismus in der Gelehrsamkeit fort, und seine Stützen sind Latein und Griechisch. Ferner konnte es nicht fehlen, daß diese Bildung durchgehends eine formelle blieb, sowohl deshalb, weil vom verstorbenen längst begrabenen Altertum ja nur die Formen, gleichsam die Schemen der Literatur und Kunst, sich zu erhalten imstande waren, als besonders deshalb, weil die Herrschaft über Menschen gerade durch ein formelles Übergewicht erworben und behauptet wird: es bedarf nur eines gewissen Grades von geistiger Gewandtheit zur Überlegenheit über die Ungewandten. Die sogenannte höhere Bildung war daher eine elegante Bildung, ein sensus omnis elegantiae, eine Bildung des Geschmacks und Formensinns, die zuletzt gänzlich zu einer grammatischen herabzusinken drohte, und die deutsche Sprache selbst so sehr mit dem Geruch des Latiums parfümierte, daß man heute noch z. B. in der soeben erschienenen "Geschichte des brandenburgisch-preußischen Staates. Ein Buch für Jedermann" von ZIMMERMANN die schönsten lateinischen Satzbildungen zu bewundern Gelegenheit hat. Indessen richtete sich allgemach aus der Aufklärung ein Geist des Widerspruchs gegen diesen Formalismus auf, und zur Anerkennung unverherbarer [unkaputtbarer - wp] und allgemeiner Menschenrechte gesellte sich die Forderung einer alle umfassenden, einer menschlichen Bildung. Der Mangel einer reellen und in das Leben eingreifenden Belehrung war an der bisherigen Verfahrensweise der Humanisten einleuchtend und erzeugte die Forderung einer praktischen Ausbildung. Fortan sollte alles Wissen Leben, das Wissen gelebt werden; denn erst die Realität des Wissens ist seine Vollendung. Gelang es, den Stoff des Lebens in die Schule einzuführen, durch ihn etwas allen Brauchbares zu bieten, und eben darum alle für diese Vorbereitung aufs Leben zu gewinnen und der Schule zuzuwenden, so beneidete man die gelehrten Herren nicht mehr um ihr absonderliches Wissen, und das Volk beendete seinen Laienstand. Den Priesterstand der Gelehrten und den Laienstand des Volkes aufzuheben, ist das Streben des Realismus, und darum muß es den Humanismus überflügeln. Die Aneignung der klassischen Formen des Altertums begann zurückgedrängt zu werden, und mit ihr verlor die Autoritäts-Herrschaft ihren Nimbus. Die Zeit sträubte sich gegen den althergebrachten Respekt vor der Gelehrsamkeit, wie sie sich auch überhaupt gegen jeden Respekt auflehnt. Der wesentliche Vorzug der Gelehrten, die allgemeine Bildung sollte allen zugute kommen. Was ist aber, fragte man, allgemeine Bildung anders, als die Befähigung, trivial ausgedrückt, "über alles mitreden zu können", ernster gesprochen, die Befähigung, jedes Stoffes Herr zu werden? Man sah, die Schule war hinter dem Leben zurückgeblieben, indem sie sich nicht nur dem Volk entzog, sondern auch bei ihren Zöglingen über der exklusiven Bildung die universelle versäumte, und sie anzuhalten unterließ, eine Menge Stoff, der uns vom Leben aufgedrungen wird, schon auf der Schule zu bemeistern. Hat ja doch die Schule, dachte man, die Grundlinien unserer Versöhnung mit allem, was das Leben darbietet, zu ziehen und dafür zu sorgen, daß keiner der Gegenstände, mit welchen wir uns dereinst befassen müssen, uns völlig fremd und außerhalb des Bereichs unserer Bewältigung ist. Daher wurde auf das eifrigste eine Vertrautheit mit den Dingen und Verhältnissen der Gegenwart gesucht und eine Pädagogik in Aufnahme gebracht, welche auf alle Anwendung finden mußte, weil sie das allen gemeinsame Bedürfnis, sich in ihre Welt und Zeit zu finden, befriedigte. Die Grundsätze der Menschenrechte gewannen in dieser Weise auf dem pädagogischen Gebiet Leben und Realität: die Gleichheit, weil jene Bildung alle umfaßte, und die Freiheit, da man in dem, was man brauchte, bewandert, mithin unabhängig und selbständig wurde. Jedoch das Vergangene zu fassen, wie der Humanismus lehrt, und das Gegenwärtige zu ergreifen, worauf es der Realismus absieht, führt beides nur zur Macht über das Zeitliche. Ewig ist nur der Geist, welcher sich erfaßt. Deshalb empfingen Gleichheit und Freiheit auch nur ein untergeordnetes Dasein. Man konnte wohl Anderen gleich und von ihrer Autorität emanzipiert werden; von der Gleichheit mit sich selbst, von der Ausgleichung und Versöhnung unseres zeitlichen und ewigen Menschen, von der Verklärung unserer Natürlichkeit zur Geistigkeit, kurz von der Einheit und der Allmacht unseres Ichs, das sich selbst genügt, weil es außer ihm nichts Fremdes stehen läßt -: davon ließ sich in jenem Prinzip kaum eine Ahnung erkennen. Nur die Freiheit erschien wohl als Unabhängigkeit von Autoritäten, war aber noch leer an Selbstbestimmung und lieferte noch keine Taten eines in sich freien Menschen, Selbstoffenbarungen eines rücksichtslosen, d. h. eines aus dem Fluktuieren der Reflexion erretteten Geistes. Der formell Gebildete sollte freilich nicht mehr über den Meeresspiegel der allgemeinen Bildung hervorragen und verwandelte sich aus einem "höher Gebildeten" in einen "einseitig Gebildeten" (als welcher er natürlich seinen unbestrittenen Wert behält, da alle allgemeine Bildung bestimmt ist, in die verschiedensten Einseitigen spezieller Bildung auszustrahlen); allein der im Sinne des Realismus Gebildete war auch nicht über die Gleichheit mit Anderen und die Freiheit von Anderen, nicht über den sogenannten "praktischen Menschen" hinausgekommen. Zwar konnte die leere Eleganz des Humanisten, des Dandy, der Niederlage nicht entgehen; allein der Sieger gleißte vom Grünspan der Materialität und war nichts Höheres,als ein geschmackloser Industrieller. Dandismus und Industrialismus streiten um die Beute lieblicher Knaben und Mädchen und tauschen oft verführerisch ihre Rüstungen, indem der Dandy im ungeschliffenen Zynismus und der Industrielle mit weißer Wäsche erscheint. Allerdings wird das lebendige Holz industrieller Streitkolben die trockenen Stecken dandistischer Entmarkung zerbrechen; lebendig aber oder tot, Holz bleibt Holz, und soll die Flamme des Geistes leuchten, so muß das Holz im Feuer aufgehen. Warum muß inzwischen auch der Realismus, wenn er, wozu ihm doch die Fähigkeit nicht abzusprechen ist, das Gute des Humanismus in sich aufnimmt, gleichwohl zugrunde gehen? Gewiß kann er das Unveräußerliche und Wahre des Humanismus, die formelle Bildung, in sich aufnehmen, was ihm mehr und mehr durch die möglich gewordene Wissenschaftlichkeit und vernünftige Behandlung aller Lehrobjekte leicht gemacht wird (ich erinnere nur beispielsweis an BECKERs Leistungen für die deutsche Grammatik), und durch diese Veredelung seinen Gegner aus der festen Position verdrängen. Da der Realismus so gut wie der Humanismus davon ausgeht, daß es die Bestimmung aller Erziehung ist, dem Menschen Gewandtheit zu verschaffen, und beide z. B. darin übereinkommen, daß man sprachlich an alle Wendungen des Ausdrucks gewöhnen, mathematisch die Wendungen der Beweise einschärfen muß usw., daß man also auf Meisterschaft in der Handhabung des Stoffs, auf die Bemeisterung desselben hinzuarbeiten habe: so wird es gewiß nicht ausbleiben, daß auch der Realismus schließlich als letztes Ziel die Geschmacksbildung anerkennt und die formierende Tätigkeit obenan stellt, wie das schon jetzt zum Teil der Fall ist. Denn in der Erziehung hat ja doch aller gegebene Stoff nur darin seinen Wert, daß die Kinder lernen, etwas damit anzufangen, ihn zu gebrauchen. Wohl darf nur Nützliches und Brauchbares, wie die Realisten wollen, eingeprägt werden; allein der Nutzen wird doch einzig im Formieren zu suchen sein, im Verallgemeinern, im Darstellen, und man wird diese humanistische Forderung nicht abweisen können. Die Humanisten haben darin Recht, daß es vornehmlich auf die formelle Bildung ankommt - darin Unrecht, daß sie diese nicht in der Bewältigung jedes Stoffs finden; die Realisten verlangen das Richtige darin, daß jeder Stoff in der Schule angefangen werden muß, das Unrichtige aber, wenn sie nicht die formelle Bildung als hauptsächlichen Zweck ansehen wollen. Der Realismus kann, wenn er die rechte Selbstverleugnung übt und sich nicht in den materialistischen Verführungen hingib, zu dieser Überwindung seines Widersachers und zugleich zur Versöhnung mit ihm kommen. Warum feinden wir ihn aber dennoch an? Wirft er denn wirklich die Schale des alten Prinzip von sich und steht auf der Höhe der Zeit? Danach ist ja doch alles zu beurteilen, ob es sich zu der Idee bekennt, welche die Zeit als ihr Teuerstes errungen hat, oder ob es hinter ihr einen stationären Platz einnimmt. - Es muß jene unvertilgbare Furcht auffallen, mit der die Realisten vor der Abstraktion und Spekulation zurückschaudern, und ich will deshalb ein paar Stellen aus HEINSIUS hierhersetzen, der in diesem Punkt den steifen Realisten nicht nachgibt und mir Anführungen aus diesen erspart, die leicht zu geben wären. Seite 9 heißt es:
Wollen wir etwa die Pädagogik den Philosophen in die Hände spielen? Nichts weniger als das! sie würden sich ungeschickt genug benehmen. Denen allein soll sie anvertraut werden, die mehr sind, als Philosophen, darum aber auch unendlich mehr, als Humanisten oder Realisten. Die letzteren haben den richtigen Geruch, daß auch die Philosophen untergehen müssen, aber keine Ahnung davon, daß ihrem Untergang eine Auferstehung folgt: sie abstrahieren von der Philosophie, um ohne sie in den Himmel ihrer Zwecke zu gelangen, sie überspringen sie und - fallen in den Abgrund eigener Leerheit, sie sind, gleich dem ewigen Juden, unsterblich, nicht ewig. Nur die Philosophen können sterben und finden im Tod ihr eigentliches Selbst; mit ihnen stirbt die Reformationsperiode, das Zeitalter des Wissens. Ja, so ist es, das Wissen selbst muß sterben, um im Tod wieder aufzublühen als Wille; die Denk-, Glaubens- und Gewissensfreiheit, diese herrlichen Blumen dreier Jahrhunderte, werden in den Mutterschoß der Erde zurücksinken, damit eine neue Freiheit, die des Willens, von ihren edelsten Säften sich nährt. Das Wissen und seine Freiheit war das Ideal jener Zeit, das auf der Höhe der Philosophie schließlich erreicht worden ist: hier wird der Heros sich selbst den Scheiterhaufen erbauen und sein ewiges Teil in den Olymp retten. Mit der Philosophie schließt unsere Vergangenheit ab, und die Philosophen sind die Raphaele der Denk-Periode, an welchem sich das alte Prinzip in leuchtender Farbenpracht vollendet und durch Verjüngung aus einem zeitlichen ein ewiges wird. Wer hinfort das Wissen bewahren will, der wird es verlieren; wer es aber aufgibt, der wird es gewinnen. Die Philosophen allein sind berufen zu diesen Aufgaben und diesem Gewinn: sie stehen vor dem flammenden Feuer und müssen, wie der sterbende Heros, ihre irdische Hülle verbrennen, wenn der unvergängliche Geist frei werden soll. So viel wie möglich muß verständlicher gesprochen werden. Darin liegt nämlich noch immer der Fehler unserer Tage, daß das Wissen nicht vollendet und zur Durchsichtigkeit gebracht wird, daß es ein materielles und formelles, ein positives bleibt, ohne sich zum absoluten zu steigern, daß es uns befrachtet als eine Bürde. Ähnlich jenem Alten muß man Vergeßlichkeit wünschen, muß aus von der beseligenden Lethe trinken: sonst kommt man nicht zu sich. Alles Große muß zu sterben wissen und durch seinen Hintritt sich verklären; nur das Klägliche sammelt, gleich dem starrgliedrigen Reichskammergericht, Akten auf Akten und spielt Jahrtausende in zierlichen Porzellanfiguren, wie die unvergängliche Kinderei der Chinesen. Das rechte Wissen vollendet sich, indem es aufhört, Wissen zu sein, und wieder ein einfacher, menschlicher Trieb wird, - der Wille. So wird z. B. der, welcher Jahre lang über seinen "Beruf als Mensch" nachgedacht hat, alle Sorgen und Pilgerschaften des Suchens in demselben Augenblick in die Lethe eines einfachen Gefühles, eines von Stund an allmählich leitenden Triebes versenken, in welchem er jenen gefunden hat. Der "Beruf des Menschen", dem dieser auf tausend Pfaden und Stegen der Forschung nachspürte, schlägt, sobald er erkannt wurde, in die Flamme des sittlichen Wissens aus und durchglüht die Brust des nicht mehr im Suchen zerstreuten, sondern wieder frisch und naiv gewordenen Menschen.
Die irdische Brust im Morgenrot. Ist es der Drang unserer Zeit, nachdem die Denkfreiheit errungen, diese bis zu jener Vollendung zu verfolgen, durch welche sie in die Willensfreiheit umschlägt, um die letztere als das Prinzip einer neuen Epoche zu verwirklichen, so kann auch das letzte Ziel der Erziehung nicht mehr das Wissen sein, sondern das aus dem Wissen geborene Wollen, und der sprechende Ausdruck dessen, was sie zu erstreben hat, ist: der persönliche oder freie Mensch. Die Wahrheit selbst besteht in nichts anderem, als im Offenbaren seiner selbst und dazu gehört das Auffinden seiner selbst, die Befreiung von allem Fremden, die äußerste Abstraktion oder Entledigung von aller Autorität, die wiedergewonnene Naivität. Solche durchaus wahre Menschen liefert die Schule nicht; wenn sie dennoch da sind, so sind sie es trotz der Schule. Diese macht uns wohl zu Herrn über die Dinge, allenfalls auch zu Hern über unsere Natur; zu freien Naturen macht sie uns nicht. Kein noch so gründliches und ausgebreitetes Wissen, kein Witz und Scharfsinn, keine dialektische Feinheit bewahrt uns vor der Gemeinheit des Denkens und Wollens. Es ist wahrlich nicht das Verdienst der Schule, wenn wir nicht die Selbstsucht aus ihr mitbringen. Jede Art entsprechender Eitelkeit und jede Art der Gewinnsucht, Ämtergier, mechanischer und serviler Dienstbeflissenheit, Achselträgere usw. verbindet sich sowohl mit dem ausgebreiteten Wissen, wie auch mit der eleganten, klassischen Bildung, und da dieser ganze Unterricht keinerlei Einfluß auf unser sittliches Handeln ausübt, so verfällt er häufig dem Los, so weit vergessen zu werden, wie er nicht gebraucht wird: man schüttelt den Schulstand ab. Und dies alles darum, weil die Bildung nur im Formellen oder im Materiellen, höchstens in beiden gesucht wird, nicht in der Wahrheit, in der Erziehung des wahren Menschen. Die Realisten machen zwar einen Fortschritt, indem sie verlangen, der Schüler solle das finden und verstehen, was er lernt: DIESTERWEG z. B. weiß viel vom "Erlebensprinzip" zu reden; allein das Objekt ist auch hier nicht die Wahrheit, sondern irgendein Positives (wohin auch die Religion zu rechnen ist), das der Schüler mit der Summe des übrigen positiven Wissens in Übereinstimmung und Zusammenhang zu bringen abgeleitet wird, ohne irgendeine Erhebung über die Vierschrötigkeit des Erlebens und Anschauens, und ohne allen Anreiz mit dem Geist, welchen er durch Anschauung gewonnen hat, weiter zu arbeiten und aus ihm zu produzieren, d. h. spekulativ zu sein, was praktisch so viel sagen will, wie zu sein und sittlich zu handeln. Im Gegenteil, verständige Leute zu erziehen, das soll genügen; auf vernünftige Menschen ist es nicht eigentlich abgesehen; Dinge und Gegebenes zu verstehen, dabei hat es sein Bewenden, - sich selbst zu vernehmen, scheint nicht Jedermanns Sache zu sein. So fördert man den Sinn für das Positive, sei es nach seiner formellen oder zugleich nach seiner materiellen Seite, und lehrt: sich in das Positive zu schicken. Wie in gewissen anderen Sphären, so läßt man auch in der pädagogischen die Freiheit nicht zum Durchbruch, die Kraft der Opposition nicht zu Wort kommen: man will Unterwürfigkeit. Nur ein formelles und materielles Abrichten wird bezweckt, und nur Gelehrte gehen aus den Menagerien der Humanisten, nur "brauchbare Bürger" aus denen der Realisten hervor, die doch beide nichts als unterwürfige Menschen sind. Unser guter Fond von Ungezogenheiten wird gewaltsam erstickt und mit ihm die Entwicklung des Wissens zum freien Willen. Resultat des Schullebens ist dann das Philistertum. Wie wir uns in der Kindheit in alles zu finden gewöhnten, was uns aufgegeben wurde, so finden und schicken wir uns später ins positive Leben, schicken uns in die Zeit, werden ihre Knechte und sogenannte gute Bürger. Wo wird denn anstelle der bisher genährten Unterwürfigkeit ein Oppositionsgeist gestärkt, wo wird statt des lernenden Menschen ein schaffender erzogen, wo verwandelt sich der Lehrer in den Mitarbeiter, wo erkennt er das Wissen als umschlagend in das Wollen, wo gilt der freie Mensch als Ziel und nicht bloß der gebildete? Leider nur erst an wenigen Orten. Die Einsicht muß aber allgemeiner werden, daß nicht die Bildung, die Zivilisation, die höchste Aufgabe des Menschen ausmacht, sondern die Selbstbetätigung. Wird darum die Bildung vernachlässigt werden? Gerade so wenig, wie wir die Denkfreiheit einzubüssen gesonnen sind, indem wir sie in die Willensfreiheit eingehen und sich verklären lassen. Wenn der Mensch erst seine Ehre daran setzt, sich selbst zu fühlen, zu kennen und zu betätigen, also in Selbstgefühl, Selbstbewußtsein und Freiheit, so strebt er von selbst, die Unwissenheit, die ihm ja den fremden, undurchdrungenen Ggenstand zu einer Schranke und Hemmung seiner Selbsterkenntnis macht, zu verbannen. Weckt man in den Menschen die Idee der Freiheit, so werden die Freien sich auch unablässig immer wieder selbst befreien; macht man sie hingegen nur gebildet, so werden sie sich auf höchst gebildete und freine Weise allezeit den Umständen anpassen und zu unterwürfigen Bedientenseelen ausarten. Was sind unsere geistreichen und gebildeten Subjekte größtenteils? Hohnlächelnde Sklavenbesitzer und selber - Sklaven. Die Realisten dürfen sich des Vorzugs rühmen, daß sie nicht bloße Gelehrte erziehen, sondern verständige und brauchbare Bürger; ja ihr Grundsatz: "man lehre alles mit Beziehung auf das praktische Leben" könnte sogar als das Motto unserer Zeit gelten, wenn sie die wahre Praxis nur nicht im gemeinen Sinn auffassen würden. Die wahre Praxis ist aber nicht die, sich durchs Leben durchzuarbeiten und das Wissen ist mehr wert, als daß man es verbrauchen dürfte, um damit seine praktischen Zwecke zu erjagen. Vielmehr ist die höchste Praxis die, daß ein freier Mensch sich selbst offenbart und das Wissen, das zu sterben weiß, ist die Freiheit, welche Leben gibt. "Das praktische Leben!" Damit glaubt man sehr viel gesagt zu haben, und doch führen selbst die Tiere ein durchaus praktisches Leben, sobald die Mutter sie ihrer theoretischen Säuglingsschaft entwöhnt hat und suchen entweder nach Lust in Feld und Wald ihr Futter oder werden ins Joch eines - Geschäftes eingespannt. Der tierseelenkundige SCHEITLIN würde den Vergleich noch viel weiter führen, bis in die Religion hinein, wie aus seiner "Tierseelenkunde" zu ersehen ist, einem gerade darum sehr belehrenden Buch, weil es das Tier dem zivilisierten Menschen und den zivilisierten Menschen dem Tier so nahe rückt. Jene Intention, "fürs praktische Leben zu erziehen", bringt nur Leute von Grundsätzen hervor, die nach Maximen handeln und denken, keine prinzipiellen Menschen; legale Geister, nicht freie. Etwas ganz anderes aber sind Menschen, in denen die Totalität ihres Denkens und Handelns in steter Bewegung und Verjüngung wogt und etwas anderes solche, die ihren Überzeugungen treu sind: die Überzeugungen selbst bleiben unerschüttert, pulsieren nicht als stets erneuertes Arterienblut durch das Herz, erstarren gleichsam als feste Körper und sine, wenn auch erworben und nicht eingelernt, doch etwas Positives und gelten noch obendrein als etwas Heiliges. So mag die realistische Erziehung wohl feste, tüchtige, gesunde Charaktere erzielen, unerschütterliche Menschen, treue Herzen, und das ist für unser schleppenträgerisches Geschlecht ein unschätzbarer Gewinn; allein die ewigen Charaktere, in welchen die Festigkeit nur in einem unablässigen Fluten ihrer stündlichen Selbstschöpfung besteht, und die darum ewig sind, weil sie sich in jedem Augenblick selbst machen, weil sie die Zeitlichkeit ihrer jedesmaligen Erscheinung aus der nie welkenden und alternden Frische und Schöpfungstätigkeit ihres ewigen Geistes setzen - die gehen nicht aus jener Erziehung hervor. Der sogenannte gesunde Charakter ist auch im besten Fall nur ein starrer; soll er ein vollendeter sein, so muß er zugleich ein leidender werden, zuckend und schaudernd in der seligen Passion einer unaufhörlichen Verjüngung und Neugeburt. So laufen also die Radien aller Erziehungen in dem einen Mittelpunkt zusammen, welcher Persönlichkeit heißt. Das Wissen, so gelehrt und tief oder so breit und faßlich es auch ist, bleibt so lange doch nur ein Besitz und Eigentum, als es nicht in einem unsichtbaren Punkt des Ichs zusammengeschwunden ist, um von da als Wille, als übersinnlicher und unfaßlicher Geist allgewaltig hervorzubrechen. Das Wissen erfährt diese Umwandlung dann, wenn es aufhört, nur an Objekten zu haften, wenn es ein Wissen von sich selbst, oder, falls dies deutlicher scheint, ein Wissen der Idee, ein Selbstbewußtsein des Geistes geworden ist. Dann verkehrt es sich, sozusagen, in den Trieb, den Instinkt des Geistes, in ein bewußtloses Wissen, von dem sich jeder zumindest eine Vorstellung zu machen vermag, wenn er es damit vergleicht, wie so viele und umfassende Erfahrungen bei ihm selbst in das einfache Gefühl sublimiert wurden, das man Takt nennt: alles aus jenen Erfahrungen gezogene weitläufige Wissen ist in ein augenblickliches Wissen konzentriert, wodurch er im Nu sein Handeln bestimmt. Dahin aber, zu dieser Immaterialität, muß das Wissen durchdringen, indem es seine sterblichen Teile opfert und als Unsterbliches - Wille wird. In diesem Umstand liegt großenteils die Not unserer seitherigen Erziehung, daß sich das Wissen nicht zum Willen, zur Betätigung seiner selbst, zur reinen Praxis läutert. Die Realisten fühlten den Mangel, halfen ihm jedoch auf eine elende Weise dadurch ab, daß sie ideenlose und unfreie "Praktiker" ausbildeten. Die meisten Seminaristen sind ein lebendiger Beleg dieser traurigen Wendung. Zugestutzt auf das Trefflichste stutzen sie wieder zu, dressiert dressieren sie wieder. Persönlich aber muß jede Erziehung werden, und vom Wissen ausgehend doch stets das Wesen desselben im Auge behalten, dies nämlich, - daß es nie ein Besitz, sondern das Ich selbst sein soll. Mit einem Wort, nicht das Wissen soll angebildet werden, sondern die Person soll zur Entfaltung ihrer selbst kommen; nicht vom Zivilisieren darf die Pädagogik ferner ausgehen, sondern von der Ausbildung freier Personen, souveräner Charaktere; und darum darf der Wille, der bisher so gewalttätig unterdrückte, nicht länger geschwächt werden. Schwächt man ja doch auch den Wissenstrieb nicht, warum dann den Willenstrieb? Pflegt man jenen, so pflegt man auch diesen. Die kindliche Eigenwilligkeit und Ungezogenheit hat so nicht weniger gutes Recht als die kindliche Wißbegierde. Die letztee regt man geflissentlich an; so ruft man auch die natürliche Kraft des Willens hervor, die Opposition. Wenn das Kind sich nicht fühlen lernt, so lernt es gerade die Hauptsache nicht. Man erdrücke seinen Stolz nicht, seinen Freimut. Gegen seinen Übermut bleibt meine eigene Freiheit immer gesichert. Dann artet der Stolz in Trost aus, so will das Kind mir Gewalt antun; das brauche ich mir, der ich ja selbst so gut wie das Kind ein Freier bin, nicht gefallen zu lassen. Muß ich mich aber durch die bequeme Schutzwehr der Autorität dagegen verteidigen? Nein, ich halte die Härte meiner eigenen Freiheit entgegen, so wird der Trotz der Kleinen von selbst zerspringen. Wer ein ganzer Mensch ist, braucht keine - Autorität zu sein. Und bricht der Freimut als Frechheit aus, so verliert diese ihre Kraft an der sanften Gewalt eines echten Weibes, an ihrer Mütterlichkeit oder an der Festigkeit des Mannes; man ist sehr schwach, wenn man die Autorität zu Hilfe rufen muß, und sündigt, wenn man glaubt, den Frechen zu bessern, sobald man aus ihm einen Furchtsamen macht. Furcht und Respekt fordern, das sind Dinge, die mit der heimgegangenen Periode dem Rokoko-Stil angehören. Worüber klagen wir also, wenn wir die Mängel unserer heutigen Schulbildung ins Auge fassen? Darüber, daß unsere Schulen noch im alten Prinzip stehen, in dem des willenlosen Wissens. Das junge Prinzip ist das des Willens, nicht das der Verklärung des Wissens. Darum kein "Konkordat zwischen Schule und Leben", sondern die Schule soll Leben sein, und dort, wie außerhalb von ihr, sei die Selbstoffenbarung der Person die Aufgabe. Die universelle Bildung der Schule soll Bildung zur Freiheit sein, nicht zur Unterwürfigkeit: Freisein, das ist das wahre Leben. Die Einsicht in die Leblosigkeit des Humanismus hätte den Realismus zu dieser Einsicht treiben sollen. Stattdessen gewahrte man an der humanistischen Bildung nur den Mangel aller Befähigung zum sogenannten praktischen (bürgerlichen - nicht persönlichen) Leben, und wendete sich, im Gegensatz zu jener bloß formalen Bildung, einer materiellen Bildung in der Meinung zu, daß man durch die Mitteilung des im Verkehr brauchbaren Stoffes, nicht nur den Formalismus überwinden, sondern auch das höchste Bedürfnis befriedigen wird. Allein auch die praktische Bildung steht noch weit zurück hinter der persönlichen und freien, und gibt jene die Geschicklichkeit, sich durchs Leben zu schlagen, so verschafft diese die Kraft, den Feuerfunken des Lebens aus sich herauszuschlagen; bereitet jene darauf vor, sich in einer gegebenen Welt zuhause zu finden, so lehrt diese, bei sich zuhause zu sein. Wir sind noch nicht alles, wenn wir uns als Glieder der Gesellschaft bewegen; wir vermögen vielmehr selbst dies erst dann vollkommen, wenn wir freie Menschen, selbstschöpferische (uns selbst schaffende) Personen sind. Ist nun die Idee und der Trieb der neuen Zeit die Willensfreiheit, so muß der Pädagogik als Anfang und Ziel die Ausbildung der freien Persönlichkeit vorschweben. Humanisten wie Realisten beschränken sich noch aufs Wissen, und wenns hoch kommt, so sorgen sie für das freie Denken und machen uns durch eine theoretische Befreiung zu freien Denkern. Durch das Wissen werden wir jedoch nur innerlich frei (eine Freiheit übrigens, die nie wieder aufgegeben werden soll), äußerlich können wir bei aller Gewissens- und Denkfreiheit Sklaven und in Untertänigkeit bleiben. Und doch ist gerade jene für das Wissen äußere Freiheit für den Willen die innere und wahre, die sittliche Freiheit. In dieser darum universellen Bildung, weil in ihr der Niedrigste mit dem Höchsten zusammentrifft, begegnen wir erst der wahren Gleichheit aller, der Gleichheit freier Personen: nur die Freiheit ist Gleichheit. Man kann, wenn man einen Namen will, über die Humanisten und Realisten die Sittlichen (ein deutsches Wort) stellen, da ihr Endzweck die sittliche Bildung ist. Doch kommt dann freilich gleich der Einwand, daß uns diese wieder für positive Sittlichkeitsgesetze werden ausbilden wollen, und daß das im Grunde schon bisher immer geschehen ist. Weil es aber bisher geschehen ist, so meine ich das auch nicht, und daß ich die Kraft der Opposition geweckt habe, den Eigenwillen nicht gebrochen, sondern verklärt wissen will, das könnte den Unterschied hinreichend verdeutlichen. Um jedoch die hier gestellte Forderung selbst noch von den besten Bestrebungen der Realisten, wie eine solche z. B. in dem eben erschienenen Programm DIESTERWEGs, Seite 36, so ausgedrückt wird: "Im Mangel an Charakterbildung liegt die Schwäche unserer Schulen, wie die Schwäche unserer Erziehung überhaupt. Wir bilden keine Gesinnung." - zu unterscheiden, sage ich lieber, wir brauchen fortan eine persönliche Erziehung (nicht die Einprägung einer Gesinnung). Will man diejenigen, welche diesem Prinzip folgen, wieder -isten nennen, so nenne man sie meinetwegen Personalisten. Daher wird, um noch einmal an HEINSIUS zu erinnern, der "lebhafte Wunsch der Nation, daß die Schule dem Leben näher gerückt werden möchte," nur dann erfüllt, wenn man in der vollen Persönlichkeit, Selbständigkeit und Freiheit das eigentliche Leben findet, da, wer nach diesem Ziel strebt, nichts des Guten, weder aus dem Humanismus noch aus dem Realismus aufgibt, wohl aber beides unendlich höher rückt und veredelt. Auch kann der nationale Standpunkt, welchen HEINSIUS einnimmt, noch nicht als der richtige gepriesen werden, da dies vielmehr erst der persönliche ist. Erst der freie und persönliche Mensch ist ein guter Bürger (Realisten), und selbst bei einem Mangel spezieller (gelehrer, künstlerischer usw.) Kultur ein geschmackvoller Beurteiler (Humanisten). Soll daher am Schluß mit kurzen Worten ausgedrückt werden, nach welchem Ziel unsere Zeit zu steuern hat, so ließe sich der notwendige Untergang der willenlosen Wissenschaft und der Aufgang des selbstbewußten Willens, welcher sich im Sonnenglanz der freien Person vollendet, etwa folgendermaßen fassen: das Wissen muß sterben, um als Wille wiederaufzuerstehen und als freie Person sich täglich neu zu schaffen.
1) Dieser mit "Stirner" unterzeichnete Aufsatz erschien in den Beiblättern zu den Nummern 100, 102, 104 und 109 der alten "Rheinischen Zeitung für Politik, Handel und Gewerbe", herausgegeben in Köln von Dr. KARL MARX, am 10., 12., 14., und 19. April 1842 und stellt zweifellos das Tiefste und Erschöpfendste dar, was bisher über den Gegenstand gesagt wurde. - JOHN HENRY MACKAY |