p4-2Empfindung und WahrnehmungWirklichkeitsstandpunkt ...    
 
OSWALD KÜLPE
Ein Beitrag zur Gefühlslehre

"Die Vergegenwärtigung einer Lust oder Unlust geschah bei allen Versuchspersonen in der Regel so, daß entweder das Gefühl selbst wieder erlebt wurde, oder daß ein bloßes Denken daran, ein unanschauliches Wissen davon stattfand. Bemerkenswert ist, daß dieses Wissen einen sehr bestimmten, ausgeprägten Charakter haben konnte, so daß sich eine Versuchsperson von einem halluzinatorischen Meinen, eine andere von einem gefühlsmäßigen Wissen zu reden veranlaßt sah. Diese Tatsachen weisen darauf hin, daß es nicht angeht, mit der herkömmlichen Auffassung das Denken und Wissen als eine leere, leblose, abstrakte Form den anschaulichen Inhalten gegenüberzustellen."

Abgesehen von kleineren Differenzen, die z. B. über die Zuordnung und Deutung der Ausdruckssymptome oder über Existenz und Lage eines Indifferenzpunktes bestehen, finden wir in der modernen Gefühlslehre namentlich  zwei fundamentale Gegensätze  in Herrschaft. Der eine betrifft die Ausdehnung des Gefühlsbegriffs, die Frage, ob er auf Zustände wie Erregung und Spannung ebenso anwendbar ist, wie auf Lust und Unlust. Der andere Gegensatz macht sich in der Bestimmung der Anzahl unterscheidbarer Gefühlsqualitäten geltend: von der einen Seite wird behauptet, daß Lust und Unlust eine große Mannigfaltigkeit von qualitativen Nuancen aufweisen, von der anderen Seite dagegen, daß sie nur der Stärke nach variabel sind und somit beide Ausdrücke nur je eine Gefühlsqualität bezeichnen. Die erste Frage kann nur aufgrund eines Kriteriums der Gefühle entschieden werden. Was bisher in dieser Richtung angegeben worden ist, hat keine einhellige Annahme gefunden und zur Schlichtung des Streites nicht beigetragen. So konnte noch neuerdings STUMPF die Gefühle von Lust und Unlust dem allgemeinen Empfindungsbegriff subsumieren.

Die nachfolgende Mitteilung ist dazu bestimmt, die  Unterscheidung der Gefühle von den Empfindungen  aufgrund einer experimentellen Untersuchung zu erleichtern. Seit Jahren war ich zu der Ansicht gekommen, daß wenn die Gefühle als eine Klasse von Empfindungen sollten angesehen werden können, es bei ihnen, wie bei allen anderen Empfindungen möglich sein müßte, Vorstellungen im Sinne von reproduzierten Bildern früherer primärer Erlebnisse zu haben. Mir ist keine einzige Gruppe von Empfindungen bekannt, für die eine Entstehung von Vorstellungen nicht nachweisbar wäre. Diese sogenannten Gedächtnisbilder mögen zwar in der Lebhaftigkeit, Vollständigkeit und in der Leichtigkeit der Reproduktion große Unterschiede darbieten, aber keine Empfindungsklasse scheint mir Vorstellung überhaupt nicht bilden zu lassen. Ganz anders verhielt es sich nach meiner Erfahrung mit Lust und Unlust. So oft ich auch versuchte, solche Zustände zu reproduzieren, Bilder von ihnen zu erzeugen, so ist mir das doch niemals gelungen. Auch anderen Forschern scheint es so zu ergehen, ich nenne aus neuester Zeit nur MEUMANN, MAX MEYER, HEINRICH und TITCHENER. Bei der Wichtigkeit, die dieses Phänomen als mögliches Kriterium der Gefühle haben könnte, hielt ich eine spezielle Untersuchung darüber für wünschenswert. Zwar hat bereits RIBOT das Problem des Gefühlsgedächtnisses in Angriff genommen. Aber eine gewisse schon von TITCHENER hervorgehobene Unklarheit seiner Fragestellung erlaubt es leider nicht seinem Bericht eine präzise Antwort zu entnehmen.

Meine Untersuchung umfaßte  vier Reihen  und wurde an sieben Versuchspersonen ausgeführt, wobei zwischen Versuchen der verschiedenen Reihen während einer Versuchsstunde häufig gewechselt wurde. Das Verfahren war ein durchaus unwissentliches, indem keine von den Versuchspersonen über den Zweck und die Tendenz der an ihnen vorgenommenen Experimente aufgeklärt wurde. Alle mußten sich zunächst mit mir über die Wahl der von ihnen anzuwendenden psychologischen Termini genau verständigen. Anhand von Beispielen wurde festgestellt, in welchem Sinne von Empfindungen und Vorstellungen, von unanschaulichem Wissen, von Gefühlen und Bewußtseinslagen bzw. Bewußtheiten geredet werden sollte. Auch während der einzelnen Versuche wurde wiederholt Gelegenheit genommen, die zu Anfang festgesetzten Begriffe mit den zugehörigen Namen einzuprägen. Dabei überzeugte ich mich zugleich vom allgemeinen Vorkommen der Vorstellungen auf den verschiedenen Empfindungsgebieten und der hier beobachtete Unterschied zwischen den durch sogenannte Sinnesreize hervorgerufenen Empfindungen und den auf zentraler Erregung beruhenden Vorstellungen diente als die wichtigste Grundlage für die Beurteilung der Existenz oder Nichtexistenz von Gefühlsvorstellungen.

Die  erste  Versuchsreihe bestand in der  Erweckung gefühlsbetonter Empfindungen  durch adäquate Reize, wozu Farben und Gerüche neben schmerzhaften Stichen benutzt wurden. Nachdem die Empfindungen vollständig abgeklungen waren, wurden die Versuchspersonen aufgefordert, ihnen entsprechende Vorstellungen zu reproduzieren. Wenn möglich sollte dabei auch jederzeit die Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit, die Lust oder die Unlust vorgestellt werden. In jedem Fall wurden die irgendwie aufgetretenen Gefühle daraufhin untersucht, ob sie einen Empfindungs- oder Vorstellungscharakter trugen.

Die  zweite  Versuchsreihe enthielt die Aufforderung zur  Vergegenwärtigung ausgesprochen angenehmer und unangenehmer Situationen,  die teils früher einmal wirklich erlebt waren, teils von der Zukunft als wahrscheinlich bevorstehend erwartet werden konnten. Die dabei auftretenden Bewußtseinsinhalte wurden dann genau daraufhin analysiert, wie Lust und Unlust in ihnen präsentiert war. Der farblose Ausdruck "Vergegenwärtigung" wurde absichtlich angewandt, um eine suggestive Beeinflussung nach der einen oder anderen Richtung zu vermeiden.

In einer  dritten  Versuchsreihe wurden die Versuchspersonen veranlaßt, sich  komplexere Gemütszustände,  wie Zorn, Freude, Trauer, Bewunderung, gespannte Erwartung, Aufregung  lebhaft zu vergegenwärtigen.  was das gelungen, dann schloß sich daran wiederum eine eingehendere Analyse der in diesen Zuständen enthaltenen Faktoren mit besonderer Berücksichtigung auf die Beschaffenheit solcher Inhalte wie Lust und Unlust, Spannung und Erregung.

Die  vierte  Versuchsreihe endlich bestand aus  Einfühlungen in den Ausdruck bildlich dargestellter Personen.  Dazu waren eine Anzahl weniger bekannter durch stärkeren Gefühlsausdruck ausgezeichneten Bilder aus der Sammlung "Das Museum" gewählt worden. Die eingefühlten Gemütszustände wurden dabei abermals nach der Art ihres Gegebenseins im Bewußtsein einer genaueren Prüfung unterworfen. Die wünschenswerte Ergänzung dieser vierten Versuchsreihe durch entsprechende Fälle von musikalischer Einfühlung habe ich noch nicht vornehmen können.

Die Methode, welche in allen diesen Reihen und den in ihnen enthaltenen über 240 Einzelversuchen verwirklicht worden ist, kann man als eine  Methode der günstigen Gelegenheiten  bezeichnen. Die Fälle sind so gewählt, daß, wenn es überhaupt Gefühlsvorstellungen gab, sie Gelegenheit hatten, hier hervorzutreten. Natürlich leidet diese für die Aufsuchung qualitativ zu bestimmender Inhalte unentbehrliche Methode am prinzipiellen Mangel, die Möglichkeit nicht ausschließen zu können, daß bei der Einführung anderer Gelegenheiten und bei anderen Versuchspersonen das gesuchte Phänomen aufgetreten wäre oder auftreten würde. Außer ihr aber stehen uns noch theoretische Erwägungen darüber zur Verfügung, ob die für die Vorstellungen sonst geltenden Begriffe der Assoziation, der Reproduktionstendenz usw. auch in der Gefühlspsychologie eine Bedeutung haben und anwendbar sind. Diese hier nicht weiter zu verfolgenden Überlegungen können auch ihrerseits zu Versuchen führen. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß eine Ergänzung unserer Beobachtungen und Analysen durch die hier angedeuteten Betrachtungen und Untersuchungen eine abschließende Lösung des Problems der Gefühlsvorstellungen ermöglichen würden.

Die  Ergebnisse  unserer Reihen, die auch abgesehen von unserem speziellen Problem manches Interessante darbieten, lassen sich, soweit sie für die Frage der Vorstellbarkeit von Gefühlen verwertbar sind, folgendermaßen zusammenfassen:
    1. Bei vier Versuchspersonen wurde ein vollständiger Mangel an Vorstellungen von Lust und Unlust beobachtet. Spannung und Erregung dagegen konnten sie sehr wohl reproduzieren. Den Aussagen dieser Versuchspersonen kann ich mich, der ich alle diese Versuche innerlich mitgemacht habe, nur anschließen.

    2. Ein VP kam über einen gewissen Zweifel in einzelnen schwierigeren Fällen nicht hinaus. Sie konnte hier zu keiner klaren Entscheidung darüber gelangen, ob sie eine Gefühlsvorstellung oder ein aktuelles Gefühl der Lust oder Unlust erlebt habe, neigte jedoch im allgemeinen ebenfalls zu einer Ablehnung der Vorstellbarkeit dieser Inhalte. Auch diese VP konnte sich Spannung und Erregung vorstellen. Es wurde ihr schwer kinästhetische [unbewußte Kontrolle - wp] Empfindungen und Vorstellungen voneinander zu unterscheiden, da sie bei der Vorstellung einer Bewegung nur allzuleicht in einen Anfangszustand derselben hineingeriet.

    3. Nur bei zwei Versuchspersonen schienen in ein paar Fällen Gefühlsvorstellungen aufzutreten. Die eine von ihnen konnte einmal, wenn auch mit besonderer Anstrengung, den Gefühlston eines Geruchs in Verbindung mit diesem vorstellen. Hierbei erschien das vorgestellte Gefühl durchaus peripherisch, als wenn es außerhalb der Versuchsperson gegeben wäre und als viel flüchtiger und labiler gegenüber der sie begleitenden Geruchsvorstellung. Später wurde von dieser VP auch einmal in der Schmerzvorstellung eine Unlust gefunden, deren Inhalt gar nicht auszusprechen sei und ihr sehr leer vorkomme. Endlich trat bei ihr eine Gefühlsvorstellung auch bei den Einfühlungsversuchen auf. Eine hier beobachtete Lustvorstellung gab der VP freilich die Veranlassung zu erklären, sie sei so verschieden von allen sonstigen Vorstellungen, daß dafür ein besonderes Wort erfunden werden müßte und ihren Inhalt möchte sie gar nicht mehr ein Gefühl nennen, sondern es sei etwas anderes an seine Stelle getreten. Demnach dürfte wohl etwas von den gewöhnlichen Vorstellungen Verschiedenes vorliegen. - Die andere VP, welche Gefühlsvorstellungen zu erleben behauptete, fand es sehr schwer, zwischen einer aktuellen und einer reproduzierten Lust zu unterscheiden, aber glaubte doch gelegentlich eine schwache Vorstellung von einer Lust zu erleben. Merkwürdigerweise kam bei ihr niemals eine Unlustvorstellung zustande. Das für die Bestimmung der Lustvorstellung angewandte Kriterium bestand darin, daß sie auf einen vergangenen Zustand bezogen wurde und die VP selbst keine Lust empfand. Sie war übrigens geradezu überrascht davon, daß ein Bild von einer Gemütserregung möglich sei. Sie hatte in ihrem bisherigen Leben nichts davon bemerkt. Leider konnte ich mit dieser Vp nicht alle Versuche durchführen. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß eine weitere fortgesetzte Analyse auch hier die angebliche Gefühlsvorstellung auf etwas anderes reduziert hätte. - Beide Versuchspersonen konnten sich die Spannung leicht vorstellen. Von der Erregung behauptete die zweite, daß es wohl noch einen Erregungszustand gebe, der in der Vorstellung nicht mitenthalten sei, während die erste sich die Erregung ohne Vorbehalt vorzustellen vermochte.

    4. Alle Versuchspersonen konnten sich den körperlichen Schmerz vorstellen und ihn auch von der Unlust unterscheiden.

    5. Wiederholt wurde von verschiedenen Versuchspersonen beobachtet, daß eine an der Vorstellung eines Sinneseindrucks haftende Lust oder Unlust dieselbe Intensität habe, wie das der früheren Empfindung zugeschriebene Gefühl.

    6. Die Vergegenwärtigung einer Lust oder Unlust geschah bei allen Versuchspersonen in der Regel so, daß entweder das Gefühl selbst wieder erlebt wurde, oder daß ein bloßes Denken daran, ein unanschauliches Wissen davon stattfand. Bemerkenswert ist, daß dieses Wissen einen sehr bestimmten, ausgeprägten Charakter haben konnte, so daß eine VP von einem halluzinatorischen Meinen, eine andere von einem gefühlsmäßigen Wissen zu reden sich veranlaßt sah. Diese Tatsachen weisen darauf hin, daß es nicht angeht, mit der herkömmlichen Auffassung das Denken und Wissen als eine leere, leblose, abstrakte Form den anschaulichen Inhalten gegenüberzustellen. Auch ohne eine "Erfüllung" oder Verwirklichung in einer etwa korrespondierenden Anschauung zu finden, kann das Denken oder Wissen eine sehr bestimmte Richtung, eine volle Klarheit und Sicherheit besitzen. Die Versuchspersonen gebrauchten oft in der vierten Versuchsreihe bei einer lebhaften unanschaulichen Vergegenwärtigung des eingefühlten Zustandes den Ausdruck "sehen". Sie sahen Wut, den Schmerz, das Glück, die Heiterkeit und meinten damit nichts anderes als eine deutliche Form des Wissens von diesen Gemütszuständen. Es dürfte an der Zeit sein, auf aufgrund solcher Tatsachen die alte sensualistische Ansicht vom Wesen des Denkens aufzugeben.
Aus diesen Resultaten lassen sich, wie es scheint, folgende  Schlüsse  für die Gefühlslehre ziehen. Es ist unzulässig,  Lust und Unlust als Empfindungen  zu bezeichnen, da ihnen (von einigen zweifelhaften Fällen abgesehen) die für die Empfindungen allgemein geltende Vorstellbarkeit fehlt. Nennen wir diesen Mangel der Lust und Unlust ihre  Aktualität,  so können wir dieses Merkmal als ein Kriterium für die Anwendung des Gefühlsbegriffs aufstellen. Es ist sodann ebenso unzulässig  Erregung und Spannung als Gefühle  zu bezeichnen, da ihnen die für diese charakteristische Aktualität abgeht und sie ebenso wie die Empfindungen vorgestellt werden können. Die Totalität, die ihrer Subsumtion unter den Empfindungsbegriff zu widerstehen scheint, d. h. die Tatsache, daß man ganz von Spannung oder Erregung erfüllt sein kann, ohne bestimmte Organe dafür ausschließlich verantwortlich machen zu können, dürfte sich, wie hier nicht weiter ausgeführt werden soll, ganz gut im Zusammenhang mit ihrer Empfindungsnatur erklären lassen.

Zum Schluß möchte ich mit einigen Worten auf die  allgemeinere Bedeutung des gefundenen Tatbestandes  hinweisen. Die Vorstellungen haben im Haushalt unseres Lebens die wichtige Funktion Empfindungen zu vertreten. Wenn die Sinneseindrücke keine Spuren hinterließen und nicht reproduzierbar wären, so würden wir aus früheren Erfahrungen keine Lehren ziehen und uns nicht auf die Zukunft vorbereiten können. Wir wären abhängig von der jeweiligen Reizung unserer Sinnesorgane und hätten keine Möglichkeit Vergangenes nachzugestalten und Kommendes antizipieren [vorwegzunehmen - wp]. Dabei ist und bleibt es von größter Bedeutung, daß man das Nacherleben und Vorausnehmen von sinnlichen Erfahrungen nicht mit diesen selbst verwechsle, daß also die Vorstellungen und die Empfindungen sich im allgemeinen leicht und sicher unterscheiden lassen. Wäre das nicht der Fall, so würden wir das, was gegenwärtig auf unsere Sinne wirkt, mit vorgestellten Erlebnissen früherer Zeiten zusammenwerfen und den Maßstab für die Anforderungen der Wirklichkeit und unserer jeweiligen Umgebung verlieren. Und nicht nur für die Praxis des Lebens, sondern auch für die Erkenntnis der Außenwelt ist der uns geläufige Unterschied zwischen Empfindungen und Vorstellungen von erheblichem Wert.

Aber auch der Aktualität der Gefühle wird eine teleologische Betrachtung große Bedeutung zuzuschreiben haben. Für unser Wollen und Handeln ist eine weitgehende Unabhängigkeit von den Reizen und Eindrücken der Gegenwart äußerst nützlich. Bestände auf diesem Gebiet der gleiche deutliche Unterschied zwischen Gefühlsempfindungen und -vorstellungen, so würde die bloß vorgestellte Lust oder Unlust wahrscheinlich im Streit mit empfundenen Zuständen dieser Art stets unterliegen und unser Wirken und Schaffen damit in eine sehr unerfreuliche Abhängigkeit von der jeweiligen Situation und Konstellation geraten. Dadurch daß Lust und Unlust durch Vorstellungen ebenso aktuell erregt werden können, wie durch Empfindungen, daß fernste Ideale eine gleiche oder größere Kraft für unser Gemüt erlangen können, als momentane Genüsse, werden wir in den Stand gesetzt, über sinnliche Verlockungen zu triumphieren und in charaktervoller Selbständigkeit unsere Lebensbahn durch Zufälle unbeirrt zu verfolgen. Die Begeisterung für eine später Zukunft braucht der satten Freude am jeweils Erreichten nicht nachzustehen.

So hat der Realismus des Erkennens eine psychologische Wurzel in der Fertigkeit Empfindungen und Vorstellungen voneinander zu trennen. So bildet andererseits die Aktualität der Gefühle eine psychologische Grundlage für den Idealismus des Wollens und Handelns.


DISKUSSION

EBBINGHAUS (1) ist der Meinung, daß der Unterschied zwischen der vom Herrn Vortragenden vertretenen und der ihm entgegenstehenden Meinung geringer sei, als es zunächst scheine. Die mit  vorgestellten  Erlebnissen verknüpften Gefühle sind jedenfalls  im allgemeinen  (z. B. bei Zahnschmerz, dem Anblick einer schönen Gegend) weniger lebhaft als die mit den entsprechenden sinnlichen Erlebnissen verbundenen. Andererseits bestehen auch bei Vorstellungen sehr bedeutende Verschiedenheiten des Lebhaftigkeitsgrades, der Sinnfälligkeit, von der Greifbarkeit der Tiefenanschauung etwa bis zur Blässe eines kaum noch vorstellbaren Tausendecks. So wird sich vielfach schwer entscheiden lassen, ob die mit reproduzierten Erlebnissen verbundenen Gefühle gleichfalls Reproduktionen aktueller Gefühle oder selbst schwache aktuelle Gefühle seien, womit eben auch die Entscheidung zwischen einer das eine und einer das andere vertretenden Theorie an Schärfe verliert. Daß es sich in zahlreichen Fällen tatsächlich nicht um reproduzierte, sondern um neu geweckte, bisweilen sogar sehr lebhafte aktuelle Gefühle handelt, ist damit natürlich nicht geleugnet.

Dr. GEIGER: Es ist dreierlei (auch bei den Empfindungen) zu unterscheiden: Einmal das aktuelle Erleben, wie es in der Empfindung vorliegt. Ferner die anschauliche Vorstellung und endlich das bloße Wissen. Bei den Gefühlen scheinen den Versuchen nach nur das Erste und Dritte zu existieren und es wäre immerhin denkbar, daß sich mit Hilfe des wissensmäßigen Fühlens die von Prof. EBBINGHAUS angeführten Beispiele deuten ließen angeführten Beispiel deuten ließen. Nicht aber ist auf diese Weise das Beispiel der Einfühlung im Gemälde zu erklären. Das bloße Wissen, daß ein Gefühl dargestellt ist, ist etwas prinzipiell anderes, als das "Sehen einer Trauer", wie es beim wirklichen ästhetischen Erleben vorliegt. Hier scheint auch bei den Gefühlen ein Drittes neben Erleben und gefühlsmäßigen Wissen anzunehmen zu sein.

Prof. REINHOLD GEIJER lenkte die Aufmerksamkeit darauf, daß es eine sehr umstrittene Frage sei, ob es überhaupt irgendeinen primären und  prinzipiellen  Unterschied gebe zwischen Empfindung und Vorstellung, welche Frage z. B. von WUNDT unbedingt in verneinender Richtung beantwortet wird. Und noch weniger herrscht Einigkeit darüber, worin der betreffende Unterschied, falls er nun existierte, eigentlich bestehe. Solange aber  diese  Streitfragen nicht erledigt sind, bleibt das von Prof. KÜLPE erörterte Problem, ob nämlich irgendein mit diesem an sich selbst problematischen Unterschied zwischen Empfindung und Vorstellung analoges Verhältnis auch innerhalb des Gefühlslebens existiere oder nicht existiere, seiner Bedeutung und Tragweite nach immerhin etwas dunkel.

Dr. HELLPACH weist darauf hin, daß das bloße "begriffliche" Wissen von einem früheren Gefühl und das echte Wiedererleben, "charakterologische" Eigenschaften sind, daß es Gesichtstypen gibt, ähnlich wie Auffassungs- und Gedächtnistypen; er erläutert das an drei Typenbeispielen und erblickt darin eine besondere Schwierigkeit richtiger Deutung der experimentellen Untersuchungen solcher Art, wie der Vortragende sie ausgeführt.

Dr. LINKE, Privatdozent, Jena: Es darf das Problem des Meinens nicht übersehen werden: "vorgestellte" Gefühle bestehen  nicht,  das kann nur heißen: die Tatsache des  Meinens  besteht nicht für sie, der Unterschied zwischen dem aktuell in mir vorhandenen Inhalt oder Bild, in dem oder durch das der "Gegenstand" gemeint wird, fehlt. Dann nämlich sieht man sofort, daß es keinen Einwand gegen die KÜLPEsche Anschauung bildet, wenn (wie von EBBINGHAUS) auf die wesentlich geringere Intensität der Gefühlsvorstellungen hingewiesen wird. Auch das  schwächste  aktuelle Gefühl ist noch keine  Vorstellung.  Um eine solche zu werden, dazu müßte die Beziehung auf den Gegenstand (d. h. in unserem Fall das frühere aktuelle Gefühl) hinzukommen. Daß sie  nicht  hinzukommt, das war wohl KÜLPEs Meinung vom Ergebnis seiner Versuche.

F. E. OTTO SCHULTZE: Die vorgetragenen Versuche stellen sich die Aufgabe nachzuweisen, daß keine Gedächtnisspuren von Gefühlen gebildet werden. Sicher wird eine willkürliche Reproduktion der Gefühle individuell verschieden schwer sein. Wenn sie in diesen Versuchen nicht eintritt, so ist doch das Vorhandensein von Gedächtnisspuren nicht ausgeschlossen. Von besonderer Bedeutung scheint mir das gelegentliche Auftreten von  sehr komplexen Gefühlserlebnissen bei Reaktionsversuchen  zu sein; es ist, soweit ich sehe, nicht stets möglich, daß man deren Struktur anders als durch das Vorhandensein von Gedächtnisspuren früher erlebter Gefühle beweisen kann. Insbesondere läßt sich bisweilen die aus der  augenblicklichen Einstellung  sich ergebende Gefühlsreaktion scheiden von demjenigen Anteil, der durch  Reproduktion  von Gedächtnisspuren ausgelöst ist.

Prof. KÜLPE (Schlußwort) erwidert 1. daß er den Unterschied zwischen Empfindung und Vorstellung nur habe aufweisen, nicht begrifflich exakt ausdrücken wollen und verweist auf die Schilderung von JEAN PHILIPPE; 2. daß der Unterschied zwischen Gefühlen, die Empfindungen und solchen, die Vorstellungen begleiten, mehrfach in den von ihm berichteten Versuchen nicht als ein selbstverständlicher Intensitätsunterschied aufgetreten ist und daß auch populäre Tatsachen, wie die Bedeutung der Vorfreude, zeigten, daß die an Vorstellungen geknüpften Gefühle nicht immer den an Empfindungen geknüpften an Intensität nachstehen, sowie daß die Frage von größerem theoretischen Interesse sei, wenn sich ein gültiges Kriterium der Gefühle daraus ergebe; 3. daß auch bei Gemälden ein unanschauliches Wissen von Gemütszuständen beobachtet worden sei, wenn von einem Sehen derselben geredet wurde; 4. daß freilich das Ergebnis der Versuche provisorisch sei, weil sowohl andere Versuchspersonen als auch andere Gelegenheiten die hier nicht aufgetretenen Gefühlsvorstellungen ergeben könnten; 5. daß der Unterschied zwischen dem Bild und seiner Bedeutung auch in seinen Versuchen viel beachtet wurde, daß es sich aber nicht darum, sondern nur um die Existenz oder Nichtexistenz von Gefühlsbildern gehandelt habe; 6. endlich daß theoretische Erörterungen über die Geltung der für die Vorstellungen nachgewiesenen Gesetz und Tatsachen der Reproduktionstendenz, Assoziation, Perseverationstendenz [Verhaftungstendenz - wp] auch für Lust und Unlust imstande seien, die Ergebnisse der Versuche zu stützen, zu ergänzen und zu höherer allgemeiner Bedeutung zu erheben.
LITERATUR - Oswald Külpe, Ein Beitrag zur Gefühlslehre, Bericht über den III. Internationalen Kongress für Philosophie, hg. von Theodor Elsenhans, Heidelberg 1909
    Anmerkungen
    1) Diese Korrektur war eine der letzten des am Kongreß mit gewohnter Frische und Sachkenntnis teilnehmenden hervorragenden Psychologen, dessen Tod den Mitgliedern desselben eine schmerzlich Überraschung sein wird.