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JACK GOODY
Die Logik der Schrift
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Wahrheit erhielt eine andere Bedeutung, denn es gab einen neuen Maßstab: das geschriebene Wort.


Das Wort Gottes

Im Anfang, so wird uns beigebracht, im Anfang war das Wort. Und es war natürlich das Wort Gottes, des Gottes, der die Welt erschuf, bzw. das seiner Propheten, außerdem das Wort seines Sohnes, der die Welt erlöste. Das Wort wurde nicht nur mündlich geäußert, sondern in einem Buch niedergeschrieben, in der Heiligen Schrift, der Bibel, dem Alten und dem Neuen Testament. Welcher Unterschied ergibt sich, wenn - wie im Judentum, Islam oder Christentum - das Wort vornehmlich in einem Buch (oder einer Reihe von Büchern) niedergelegt wird und nicht lediglich das Werk des Mundes, das Produkt einer gesprochenen Sprache ist?

Gibt es allgemeine Kriterien, nach denen sich orale und literale Kulturen in ihren religiösen Überzeugungen und Praktiken tendenziell unterscheiden? Inwieweit schließlich hängen Traditionen intellektueller Betätigungen davon ab, daß es bereits zu einem frühen Zeitpunkt eine Buchreligion gegeben hat?

Literale Religionen besitzen eine Art autonomer Grenze. Ihre Anhänger sind auf eine einzige Grenze festgelegt und können durch ihre Bindung an ein heiliges Buch und durch ihre Anerkennung eines Glaubensbekenntnisses definiert werden wie auch durch die Verrichtung bestimmter Rituale, Gebete und Formen des Sühneopfers. Ich behaupte nicht, es sei immer leicht feststellbar, wer ein Moslem, eine Jude, ein Christ, ein Buddhist oder ein Hindu ist; die Grenze ist oftmals alles andere als eindeutig. Aber bei ihnen allen existiert eine Auffassung, die der  dharmashastra,  des "richtigen Weges" (in MAX WEBERs Übersetzung) oder des "geistigen Gesetzes" (HEINRICH ZIMMER), entspricht. Folglich befinden sich einige Menschen innerhalb, andere außerhalb der Grenzen - und das nicht in einem rein räumlichen oder territorialen Sinn, obwohl Nähe oftmals ein bedeutsamer Faktor ist.

Man vergleiche damit die Situation in schriftlosen Gesellschaften. Nur der kann die Ashanti-Religion praktizieren, der selbst ein Ashanti ist; und das, was heute Ashanti-Religion heißt, unterscheidet sich vielleicht sehr deutlich von dem, was vor hundert Jahren Ashanti- Religion hieß. Literale Religionen dagegen, zumindest die alphabetisch-literalen, sind im großen und ganzen missionierende Religionen und nicht einfach Religionen, in die man hineingeboren wird. Man kann Menschen von ihnen überzeugen oder sie zwingen, einen Kreis von Vorstellungen und Praktiken aufzugeben und einen anderen anzunehmen, der den Namen einer bestimmten Sekte oder Kirche trägt.

Das geschriebene Wort, der Gebrauch einer neuen Methode der Kommunikation, kann manchmal sogar selbst einen Anreiz zur Konversion liefern, und zwar unabhängig vom spezifischen Inhalt des heiligen Buches. Denn diese Religionen werden nicht nur deshalb für "höher" gehalten, weil ihre Priester des Lesens und Schreibens kundig sind und das Wort Gottes ebensogut zu lesen wie zu hören vermögen, sondern weil sie ihrer Gemeinde die Möglichkeit verschaffen können, selbst lese- und schreibkundig zu werden. Ich behaupte hier also, daß nur literale Religionen im strengen Sinne missionierende Religionen sein können, wobei Missionieren etwas anderes meint als die Übernahme eines neuen Cargo-Kults, Medizinheiligtums oder einer Anti-Hexerei- Bewegung.

Trotz dieses Gegensatzes erweisen sich der Tendenz nach lokale Glaubenslehren und Praktiken (das gilt für ihre Akteure wie für ihre Beobachter) in einem gewissen Sinne als Alternativen zu den ihre Grenzen wahrenden religiösen Systemen wie Islam oder Christentum. Am Distriktgericht von Lawra im nördlichen Ghana wurden in den fünfziger Jahren alle, die vor dem Kolonialkommissar erschienen, vor die Alternative gestellt, die Wahrheit ihrer Aussagen auf die Bibel, den Koran oder auf ein lokales Heiligtum (allgemein als "Fetisch" bezeichnet) zu beschwören. Dergestalt wurde im Gerichtssaal ein lokaler Kult der Lodagaa auf zweideutige Weise mit den Weltrellgionen gleichgestellt und nahm durch den Kontrast allein schon deshalb zwangsläufig Schaden, weil bei seinen Schwurformeln Stäbe und Steine Verwendung fanden - ein Idol also statt einer symbolischen Darstellung oder des geschriebenen Wortes. In diesem Kontext zumindest wurde - wiederum ganz allgemein - das geschriebene Wort Gottes gesehen. Wegen der offensichtlichen performativen Macht des schriftlichen Kommunikationskanals und der hierarchischen Stellung derer, die sich ihn zunutze machten, wurde das geschriebene Wort für wirkungsvoller gehalten als das lediglich gesprochene Wort oder gar das sichtbare Heiligtum oder die anschaulich gemachte Idee.

Sobald Grenzen vorhanden sind, Grenzmarkierungen von der Art, wie sie Buchrellgionen mit sich bringen, gibt es nicht nur Sekten, die abfallen, sondern auch abfallende Einzelne, Individuen, die Apostaten bzw. Konvertiten sind. Bekehrung ist eine Funktion der Grenzen, die das geschriebene Wort hervorbringt oder vielmehr definiert.

Als Beispiel wähle ich das Erscheinen des Ordens der Weißen Väter im Nordwesten der Nordterritorlen der Goldküste (heute Ghana) in den frühen 1930er Jahren. Die Versorgung der Kranken in Verbindung mit Gebeten für die Ernte, die glücklicherweise rasch viel Regen erhielt - zwei der Wohltaten, die sonst die Lokalgottheiten und ihre Heiligtümer erwiesen - führte dazu, daß erst eine Minderheit, dann Massen zur katholischen Kirche übertraten. Eine solch rasche Bindung an ein erfolgreiches neues Heiligtum lag durchaus innerhalb des Horizonts der lokalen Praxis, und neue Heiligtümer brachten, wie sich zeigte, oft neue Tabus mit sich.

Aber im vorliegenden Fall waren die Auswirkungen dramatischer und zugleich unvorhersehbar. Denn auf längere Sicht bedeutet die Annahme christlicher Überzeugungen und Praktiken nicht einfach, daß - im Sinne einer Ergänzung begrenzte Modifikationen am vorhandenen religiösen System angebracht, sondern daß alle anderen Praktiken und Überzeugungen verworfen wurden. Sie bedeutete Bekehrung, eine Grenzüberschreitung, das Auswechseln einer Gesamtheit von Praktiken und Überzeugungen gegen eine andere von einem andersgearteten, literalen Typus. Eklektizismus war nicht länger an der Tagesordnung. Die Orthodoxie übernahm das Kommando. "Wahrheit" erhielt eine andere Bedeutung, denn es gab einen neuen Maßstab: das geschriebene Wort.


Das Wort des Mammon

In diesem Kapitel möchte ich mich zunächst mit der Rolle befassen, die ökonomische Aktivitäten bei der Entstehung der ersten vollständigen Schriftsysteme spielten, also jenen Systemen, die im Alten Nahen Osten auftraten. Die neuere Forschung hält beharrlich an zwei Aspekten fest: an der frühen Rolle der Schrift beim Tausch (beim tatsächlichen Handel) und an der Rolle der Schrift bei der Organisation der ökonomischen Angelegenheiten des Tempels und des Palastes. Einmal eingeführt, beeinflußte sie jedoch auch andere Bereiche der Wirtschaft.

Die Eigenart dieses Bereichs ist von Wirtschaftsethnologen unter vier Rubriken untersucht worden (NASH 1968): erstens Technologie und Arbeitsteilung, zweitens Struktur produzierender Einheiten, drittens System und Medien des Tauschs und viertens Kontrolle von Besitz und Kapital. Dies ist nicht der Ort, den Einfluß der Schrift auf die technologische Entwicklung und deren Anwendung zu erörtern, da dies zu einer Untersuchung jener Erfindungen führen würde, die nicht nur durch den Gebrauch graphischer Darstellungen, sondern durch die gesamte literale Tradition gefördert wurden. Natürlich hatte Literalität einen Einfluß auf Erfindungen und auf die sich aus ihren Anwendungen ergebende Teilung der Arbeit. Aber auch die Schrift selbst stellt eine wichtige Technik dar, die eine Gruppe hoch geschulter Spezialisten erforderlich machte, welche auf Kosten der Gemeinschaft unterhalten werden mußte. Einige dieser Spezialisten waren Priester, andere Verwalter, die die Schrift zur Leitung des Tempels bzw. des Palastes benutzten. Da der Tempel nicht nur für die Schriftkultur, sondern auch für die Wirtschaft eine bedeutsame Rolle spielte, will ich vordringlich die Auswirkungen der Schrift auf die Tempelwirtschaft behandeln.

Das Hauptproblem des Beitrags der Schrift zur Ökonomie hängt mit deren Rolle bei der "Entwicklung" im weitesten Wortsinn zusammen, nämlich bei der Förderung neuer Technologien (und der damit verbundenen Arbeitsteilung), bei der Ausweitung der Möglichkeiten des Managements einerseits und des Handels und der Produktion andererseits, bei der Umgestaltung von Methoden der Kapitalakkumulation und schließlich bei der Veränderung der Form individueller ökonomischer Transaktionen. Dieses Problem ist auf zwei verschiedene Weisen behandelt worden. Betrachtet man sich einmal die neueren Maßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft in den Ländern der Dritten Welt, wird für einen radikalen Wandel oft ein gewisser Grad an Literalität als notwendig erachtet, teils von dem beschränkten Standpunkt aus, daß es jemanden geben muß, der die Informationen auf den Saatgutpackungen zu lesen vermag, teils wegen der größeren Autonomie, die (selbst im Hinblick auf die Saatgutpackung) der Autodidakt besitzt, teils durch eine verstärkte Teilhabe am umfassenderen politisch- sozialen System.

Eine weitere Argumentationsrichtung akzentuiert die Notwendigkeit des Zugangs zu einer vorhandenen schriftlichen Tradition. Dadurch wird der einzelne in die Lage versetzt, nicht nur auf dem ökonomischen Sektor, sondern auch in jenen anderen Bereichen politischer, juristischer und religiöser Aktivität, die nach innen wie nach außen durch die Schrift gefördert werden, sich einzubringen und Anpassungsleistungen zu vollziehen wie auch diese Bereiche zu akzeptieren und durch Nachahmung sich anzueignen.

Es gilt, noch eine weitere, grundlegendere Ebene zu berücksichtigen, die für die frühe Entwicklung der Schrift allem Anschein nach besonders wichtig gewesen ist. Am besten läßt sich dies bei ihrem Gebrauch für verschiedene Formen der Buchhaltung zeigen. Auf sie werde ich zurückkommen. Aber es gibt außerdem die damit verknüpfte Frage der Verbindung zwischen unterschiedlichen Zirkulationssystemen, nämlich dem System des Geldes auf der einen und dem des geschriebenen Wortes auf der anderen Seite. Viele vorgefaßte Ansichten über die Unterschiede zwischen Gesellschaften oder, dynamischer formuliert, viele Meinungen über den Übergang von einer Gesellschaftsform zu einer anderen offenbaren eine bestimmte Sicht des soziokulturellen Kontextes von Geld und verschiedener Formen des Tausches auf dem Markt, der freien Lohnarbeit und des Produktionsprozesses, mit dem sie verbunden ist. Das Nachdenken über die Rolle der Schrift könnte uns dazu bringen, auf die Bildung radikaler Gegensätze, die hinter vielen Diskussionen über den "Aufstieg des Westens" und über die antike Wirtschaft stehen, zwar nicht zu verzichten, aber doch einige von ihnen wenigstens zu modifizieren.

Betrachtet man die Auswirkungen der Schrift auf das soziale Leben, wäre es vernünftiger gewesen, ich hätte mit der Wirtschaft begonnen und nicht mit der Religion. Der Grund besteht nicht in irgendwelchen Annahmen über einen universellen ökonomischen Determinismus, sondern darin, daß so viele Erforscher der Alten Welt behauptet haben, dieser Bereich sei derjenige gewesen, in dem sich die Schrift zuerst herausgebildet habe. Doch gibt es nur wenige oder gar keine Beweise für die Annahme, die Wirtschaft habe auf sehr direkte Weise mit jenen protoschriftlichen Systemen in Verbindung gestanden, die in anderen Teilen der Welt entwickelt wurden. Nord- und Zentralamerika sind die besten Beispiele für Regionen, in denen die Schrift überwiegend zu mnemotechnischen Zwecken und mit dem Ziel, Kalender zu konstruieren, entwickelt wurde, obwohl in den zentralisierten Staaten graphische Darstellungen für eine Vielzahl von Zwecken, hauptsächlich für königliche Denkmäler, gebraucht wurden. Bei den Vollschriftsystemen des Nahen Ostens verhält sich dies jedoch anders.

Behauptet wurde sogar, die mesopotamische Keilschrift sei "keine bewußte Erfindung gewesen, sondern zufälliges Nebenprodukt eines starken Sinnes für das Privateigentum". In dieser Form muß man diese Behauptung nicht allzu ernst nehmen, weil die Zuweisung individueller Eigentumsrechte keine Erfindung der Bronzezeit ist und viele einfachere Wirtschaften energisch an solchen Rechten festhalten. In einigen schriftlosen Gesellschaften weisen graphische Besitzerzeichen auf Gefäßen und Vieh auf solche Rechte hin, woraus nach Ansicht einiger Autoren semiotische Codes von begrenztem Umfang entstanden. Sicherlich sind dies Embryonalformen der Schrift, die oft einen Bezug zu bestimmten Besitzansprüchen haben. Siegel, die eine ziemlich ähnliche Rolle spielen, sind schon seit langem in ihrer Wichtigkeit für die Entwicklung der Schrift anerkannt.

Fast unser gesamtes Wissen über die Harappa-Schrift Nordindiens und Pakistans aus dem dritten vorchristlichen Jahrtausend stammt von diesen Siegeln und Stempelzeichen, die zuweilen auf Gefäßen im Industal und in Mesopotamien - zwischen beiden Regionen bestanden wichtige Handelsbeziehungen gefunden wurden. Diese Zeichen und Siegel scheinen hauptsächlich zur Identifizierung von Eigentum beim Tausch gedient zu haben, obwohl man von dieser Erfindung auch noch einen anderen Gebrauch gemacht haben muß.

Markierungen identifizierender Art waren in den frühen Städten des antiken Nahen Ostens weit verbreitet. Dem zirkulierenden Silber, das in der Wirtschaft Mesopotamiens eine zentrale Rolle spielte, wurde ein Feingehaltsstempel aufgeprägt, um seine Qualität (gin, "normal", lautet der Stempel) zu garantieren - sowohl als Zeichen von Genauigkeit als auch von Legitimität. Die Qualitätskontrolle und die Standardisierung der Gewichte und Maße, die beim Tausch verwendet wurden, war damals wie heute ein wichtiger Aspekt von Autorität. Vor allem aber waren diese Kontrollfunktionen Sache der Tempel, die bemüht waren, das Elend der Armen zu mildern, und außerdem den Zinssatz zu kontrollieren versuchten. Doch erforderte diese begrenzte Verwendung graphischer Zeichen kein Vollschriftsystem und hatte in dieser Beziehung eine starke Ähnlichkeit mit den weitverbreiteten Formen von Besitzerzeichen auf Vieh und Gefäßen, wobei die Zeichen auf den Gefäßen zuweilen dazu dienten - wie die Signatur auf einem Gemälde -, sowohl deren Schöpfer als auch deren Eigentümer zu bezeichnen.

Das nämliche trifft auch auf die aus Ton modellierten Zählsteine (calculi) unterschiedlicher Form zu, die um 8500 v. Chr. in weiten Gebieten des Nahen Ostens auftauchten. Diese Zählsteine sind natürlich keine graphischen Zeichen, obwohl einige von ihnen eingeritzte oder eingedrückte Markierungen tragen. Sie scheinen als Belege für Transaktionen gedient zu haben, die entweder von Händlern oder von den zentralisierten Palast- und Tempelwirtschaften durchgeführt wurden, wahrscheinlich sogar von beiden. Welche Rolle sie aber auch ursprünglich gespielt haben mögen, später standen sie in Zusammenhang mit wirtschaftlichen Aktivitäten, die dann in die Schrift selbst einbezogen wurden - das heißt in die Repräsentation von Sprache durch graphische Zeichen.
LITERATUR - Jack Goody, Die Logik der Schrift, Ffm 1990