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HERMANN LÜDEMANN
Die Verwendung der Werturteile
in der Philosophie

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"Riehl trägt gar kein Bedenken, aus seinem Begriff der Autonomie so weitgehende Konsequenzen zu ziehen, daß er mit demselben zu einem Begriff der Freiheit und Persönlichkeit gelangt, der nur vollziehbar ist, wenn es sich nicht mehr um den Menschen, sondern - eben metaphysisch um das Bewußtsein überhaupt, d. h. um Gott handelt; freilich um einen Gott, der sich im Menschen oder den der Mensch in sich hervorbringen soll."


Alois Riehl

Während wir hier die von WINDELBAND selbst konstatierte philosophische "Timidität" sich bis zu ihrer letzten Konsequenz auswachsen sehen, erscheint wieder der von RIEHL vertretene Standpunkt dem von WINDELBAND ähnlich, sofern bei ihm wegen voller Anerkennung der Unentbehrlichkeit und Unausweichlichkeit von Normerkenntnis ein unwillkürliches Eintreten auf metaphysische Gedankengänge neben einer beständigen Warnung vor Metaphysik und einer Unmöglicherklärung derselben hergeht.

RIEHL vertritt in seinem großen Werk über den "philosophischen Kritizismus" (zweite Auflage 1908f) wie in seiner populären "Einführung in die Philosophie der Gegenwart" (zweite Auflage 1904) (1) heute mit am schärfsten jenen Dualismus in der wissenschaftstheoretischen Organisation der Philosophie, welcher die durch KANT erkenntnistheoretisch fundierte Naturforschung einschließlich der Psychologie strikt von der Erkenntnis "der Welt geistiger Werte" trennt, aber ihr gegenseitiges Verhältnis  in suspenso  [in der Schwebe - wp] lassen will.

Immerhin gelangt er bezüglich der Frage nach dem Verhältnis des Physischen und Psychischen innerhalb der Welt, welche Gegenstand der exakten Wissenschaft ist, mit klarer Entschiedenheit zu der Anschauung von einem doppelten Phänomenalismus, der auf der einen, physischen Seite die volle Stetigkeit eines kausalen Zusammenhangs rein quantitativer Erscheinungen zeigt, während auf der anderen, psychischen Seite eine sprunghafte Unstetigkeit von Bewußtseinserlebnissen jenen stetigen Ablauf eines physisch erscheinenden Geschehens begleitet; womit sich also kein eigentlich durchzuführender Parallelismus ergibt, sondern - um nicht mehr zu behaupten, als was erfahrbar ist - auf jeder Seite eine besondere Eigenartigkeit des Verlaufs. Das ist die für das menschliche Subjekt gegebene zweifache Erscheinungsweise einer identischen Realität, die wir jedoch nur voraussetzen, nicht aber ergründen können.
    "Es ist dieselbe Wirklichkeit, aus der unsere Sinne stammen und die Dinge, die auf unsere Sinne wirken. Die nämliche schaffende Macht, die schon in den einfachsten Dingen am Werk ist, setzt ihr Werk in uns fort. Sie ist die gemeinsame Quelle von Natur und Verstand. Sie hat den Dingen ihre begreifliche Form gegeben und uns das Vermögen zu begreifen. So stiftete sie zwischen den Natur- und Denkgesetzen jene Harmonie, welche im einzelnen zu vernehmen und Ziel und Lohn aller Forschung ist. Aber nur bis zur Voraussetzung dieser Einheit dringt unser Denken. Sie selbst in ihrem Wesen bleibt transzendent. Das Geheimnis des Daseins ist durch das Denken nicht zu ergründen; das Prinzip des Daseins geht dem Denken voran: erst Sein, dann Denken."
Dies ist nach RIEHL der Standpunkt des "philosophischen Monismus".

Es würde uns hier zu weit führen, wollten wir nachweisen, wie weit selbst dieser resignierte metaphysische Entwurf - denn etwas anderes ist es ja nicht - schon über das hinausgreift, was KANT uns zu behaupten gestattet, und auf welch fragwürdigen, weil empiristischen  Ergänzungen  von KANTs Theorie der Erfahrung es beruth, wenn RIEHL dennoch gerade aus KANTs Kritizismus das Recht dieser Positionen herleiten zu können glaubt. Nur dies konstatieren wir, daß RIEHL zu denjenigen Interpreten KANTs gehört, für welche der von diesem erwiesene Apriorismus der Anschauungsformen und Kategorien uns das Wesen der Dinge nicht etwa verschleiert, sondern uns eine - wenn auch nur relative - Erkenntnis der Dinge vielmehr gerade  "ermöglicht". 
    "Unsere Erkenntnis ist eine mittelbare Erkenntnis  der Dinge selbst durch  die Erscheinungen der Dinge für unsere Sinne."
Dagegen glauben wir darauf hinweisen zu müssen, daß, während  wir  über KANT hinaus zu einer indirekten Erkenntnis der Dinge durchdringen zu können meinen, wenn uns gestattet ist, den Umweg über unser Selbsterleben der psychischen Daseinsweise einzuschlagen, RIEHL diesen einzigen Zugang zur wahren Wirklichkeit abschneidet, indem er auch diese psychische Daseinsweise mit KANT zur bloßen Erscheinung erklärt. Damit wird das Subjekt, dem die raumzeitliche Erscheinung des Physischen wie die zeitliche Erscheinung des Psychischen zuteil wird, selbst zur Erscheinung gemacht. Wir haben es dann lediglich mit Erscheinungen innerhalb einer Erscheinung zu tun, umd dieses Erscheinen wäre nicht etwa ein realer psychischer Vorgang in einem realen psychischen Subjekt, sondern nur die Erscheinung eines Erscheinens in einem Erscheinenden, und diese Erscheinung ebenso usw.  in infinitum.  Ein solcher doppelter Phänomenalismus führt also ins Bodenlose und widerspricht nicht nur der Logik, welche für "Erscheinungen" ein Subjekt fordert, das sie aufnimmt, sondern auch unserer inneren Erfahrung, welche uns irgendeinen Zweifel an der Realität unseres psychischen Eigenlebens nicht gestattet, sondern uns zwingt, uns selbst als das reale  Ens  [Sein - wp] anzuerkennen, in dessen Bewußtsein der Vorgang des Erscheinens sich realiter abspielt.

Der Standpunkt RIEHLs zeichnet sich aber eben vermöge dieser Fassung der Phänomenalität durch eine Doppelseitigkeit aus, welche es gestattet, einerseits gerade aufgrund der physischen und psychischen "Erscheinung" sehr positive Aussagen über das in ihr sich  offenbarende  konkrete Wesen der Dinge zu wagen, und so der exakten Forschung einen sehr wesentlichen Anteil an der Erkenntnis der letzten Wirklichkeit einzuräumen; sich aber andererseits doch immer wieder auf einen prinzipiellen Agnostizismus zurückzuziehen und zu betonen, daß wir es nie mit der Wirklichkeit selbst, sondern nur mit ihren Erscheinungen zu tun haben. Eben diese Versatilität [Wandelbarkeit - wp] kommt nun auch in der Behandlung der "Werte" zu voller Verwendung und erzeugt das merkwürdige Hin und Her zwischen emphatischer Parrhesie [leidenschaftliche Ungezwungenheit - wp] bei der Geltendmachung unserer Wertungen für eine ideale Weltauffassung einerseits und der Resignation bezüglich ihrer Herleitung und Rechtfertigung aus einer Erkenntnis vom Wesen des Seins andererseits.

Nach RIEHL "umfaßt unser Bewußtsein außer allgemeinen Erkenntnisbegriffen noch andere Inhalte von allgemeingültiger Bedeutung". Er will sie zur Unterscheidung von den Begriffen "Ideen" nennen.  "Werte  nennen wir sie, sofern sie Objekte der Beurteilung durch Gefühl und Willen sind, und zu  Zwecken  werden sie, sobald sich unser Schaffen und Handeln auf sie richtet."

Diese Einführung des Wertbegriffs kann meines Erachtens dem Klarheitsbedürfnis des Lesers kaum genügen. Es soll sich um "Inhalte" unseres Bewußtseins von  allgemeingültiger  Bedeutung handeln, und "Werte" heißen sie, sofern sie Objekte der Beurteilung durch Gefühl und Willen sind. Nach dem gleich folgenden "entspringen Werte", wenn das Wirkliche auch mit dem Gemüt erlebt,  durch  das Gefühl geschätzt, vom Willen erstrebt wird; es ist uns gar nicht möglich, etwas unter den Gesichtspunkt eines Wertes zu bringen, "ohne es dadurch auch schon bewertet zu haben"; das Urteil "ein Gegenstand sei ein Wert, er habe Wert, ist niemals und kann niemals ein rein theoretisches Urteil sein".

Nach diesen Äußerungen handelt es sich also um das Wesen des  Werturteils;  seine Gegenstände sind Bewußtseinsinhalte von allgemeingültiger Bedeutung, und es entsteht, wenn über diese das Subjekt nicht mit dem Verstand allein, sondern von seinem Gefühl und Willen aus urteilt, d. h., wie weiterhin sofort deutlich wird, nach  Maßstäben,  welche in seinem Gefühl und Willen liegen. Sehr natürlich erscheint es, wenn der Verfaser das zunächst am ästhetischen Werturteil erläutert: es erklärt für wertvoll, "was unser Gefühl an sich gezogen hat." Aber auch das sittliche Urteil soll lediglich aussagen, "was unserem Willen gemäß ist."

Vergebens fragt man angesichts dieser Bestimmungen, was bei solchen rein subjektiven Maßstäben des Werturteils aus der "Allgemeingültigkeit" der so beurteilten Bewußtseinsinhalt wird; ob dieselbe einfach auf die Seite gestellt wird, und es sich, wenn ihnen vom Subjekt ein "Wert beigelegt wird, bloß um eine subjektive Betrachtungsweise handelt, sodaß die ihnen zuerteilte Wertqualität lediglich für das Subjekt besteht, der "entspringende Wert" also nur ein subjektiver Wert ist - oder ob sich die Allgemeingültigkeit jener Bewußtseinsinhalte auch in ihrer Bewertung erhält, und der durch das Werturteil festgestellte "Wert" den Gegenstand bezeichnen soll, sofern ihm eine allgemeine anzuerkennende Wertqualität zukommt, die eben deshalb aber auch in der ihm ansich eigenen Beschaffenheit beruhen müßte. Dann könnte sich selbstverständlich immer auch ergeben, daß er dem Gefühl und Willen des Subjekts zusagt. Aber der  Maßstab  des Werturteils könnte in diesen subjektiven Regungen des Subjekts nicht liegen. Er müßte vielmehr über ihnen liegen, und ihr Hinzutreten müßte sich als ein bloßes Reagieren des Subjekts auf die anderweitig von ihm erkannte Wertqualität des Objekts herausstellen. Sehr deutlich wird diese Lage beim sittlichen Werturteil, dessen Ergebnis vielfach keineswegs ist, "daß etwas unserem Willen gemäß ist", sondern vielmehr, daß etwas unserem Willen als wertvoll gegenübertritt, dem  er  gemäß sein  soll,  während er es keineswegs schon ist. - Was aber der Verfasser von all dem nun selber meint, bleibt dunkel. Denn er vernachlässigt durchweg die Unterscheidung von Werturteilen nach  Normen  und Werturteilen nach  Bedürnissen Wahrscheinlich bleibt nur, daß er, wie viele andere Werttheoretiker auch, mit den Ausdrücken  Gefühl  und  Willen  umschreiben will, was der Begriff "Bedürfnis" enthält, ohne jedoch diesen Begriff zu finden. Wenn sich aber so aus seiner Erörterung nichts anderes als der Begriff "allgemeingültiges Bedürfnis-Werturteil" herausschält, so muß dieser Begriff solange als eine  contradiction in adjecto  [Widerspruch in sich - wp] gelten, wie es der Verfasser unterläßt, die hier wertende Vereinigung von "Gefühl und Willen" des Subjekts an einem höheren Maßstab als  berechtigt  und so als befähigt zu erweisen, allgemeingültige Werturteile zu fällen.

Dieselbe Unterlassung macht nicht nur die gleich folgende Behauptung äußerst fragwürdig, daß "alle Werte geistige Werte" sind, sofern es offenbar auch sinnliche Bedürfnisse gibt, die sogar Tiere zu sehr entschiedenen Werturteilen führen, sondern sie belastet auch die ganze Ausführung bis Seite 187, welche immer allgemeingültige Werte als Ergebnisse subjektiver Wertung behandelt, mit fatalster Unklarheit, - und verschuldet schließlich, daß RIEHL nicht, wie WINDELBAND und RICKERT, der wertfreien Forschung eine Wert wissenschaft  zur Seite stellt, sondern den Ehrennamen "Wissenschaft" jener allein vindizierend [zusprechend - wp], neben ihr nur den verschwommenen Begriff einer "Lebensanschauung" gewinnt, deren "Probleme Wertprobleme" sein sollen. (Seite 184)

Alles das hindert nun aber den aufmerksamen Leser nicht, zu gewahren, daß der Verfasser im folgenden (Seite 187-189) tatsächlich die Norm-Erkenntnis, das Hindurchdringen des Subjekts zu objektiv-gültigen Wertmaßstäben als dasjenige schildert, was dem von ihm gemeinten Werturteil vorausgehen muß und es allein erst möglich macht; daß namentlich seine schöne anziehende Darstellung des SOKRATES, welche er einflicht, nichts anderes illustriert, als den von uns oben erkannten, für die menschliche Geistesgeschichte so höchst bedeutungsvolln und denkwürdigen Vorgang, daß bezüglich der Wertbeurteilung das bloße Bedürfnis als Wertmaßstab  von  der Norm verdrängt wird,  wobei  der menschliche Geist, um die in Tradition, Sitte, Routine kristallisierten inferioren [höheren - wp] Werturteile durchgreifend zu kritisieren und zu überwinden, ins sich selbst, "in das tiefste Bewußtsein des Menschen" zurückgreift:
    "Daß es feste  Normen,  allgemeingültige Begriffe für die sittlichen Urteile gibt, ist seine (des  Sokrates)  unerschütterliche Überzeugung und  sein Suchen nach ihnen  von der Gewißheit beseelt, daß sie zu finden sein müssen. Sie zu finden, wendet er sich an das tiefste Bewußtsein des Menschen, er erforscht sich selbst und andere, und ein Leben ohne Selbsterforschung scheint ihm gar nicht zu verdienen, gelebt zu werden."
Diese Darlegung würde uns nichts zu wünschen übrig lassen, wäre nicht wieder von Seite 187 an bezüglich des Verhältnisses von subjektivem Norm-Bedürfnis,  das zur Norm-Forschung drängt, und  Norm-Wissenschaft  eine Unklarheit bemerkbar, welche der letzteren ihre volle Würdigung in ihrer Qualität als theoretische Forschung vorenthält, sie vielmehr unter dem Einfluß subjektiver Strebungen und Willensziele bleiben läßt; wie dann auch RIEHL (Seite 205: "Auch haben wir uns überzeugt, daß  reine  Wissenschaft nicht ausreichen kann, unser Leben zu erfüllen") der Wahrheit nicht hinreichend eingedenk zu bleiben scheint, daß dem Leben nur diejenige Wissenschaft dienen kann, welche sich zunächst ganz rein und selbständig auf ihr eigenes inneres Gesetz gründet, ohne nach ihrer praktischen Verwendbarkeit zu fragen. Zugleich verleitet ihn diese Betrachtungsweise wie seine Begeisterung für die Person und Denkweise des SOKRATES, eine Lanze zu brechen für die sokratische Identifizierung von Wissen und Wollen, Erkenntnis und Tugend, und den schon von ARISTOTELES eingelegten Protes gegen diese psychologische Paradoxie abzuweisen. Meines Erachtens hat diese Diversion [Ablenkung - wp] ihren Grund einerseits darin, daß RIEHL nicht genügend scharf zwischen der Erkenntnis des Wesens und der des Wertes der Normen unterscheidet, die letztere nicht klar als ein Ergebnis der ersteren erkennt, welches auf das Subjekt zurückgewendet, dieses zu einem klaren subjektiven Werturteil über die Norm erst  sollizitiert  [anregt - wp], wobei es sich nicht etwa als "autonom" geriert, sondern, weil ihm der erkannte objektive Wert  in ihm selbst  gebietend gegenübertritt, nur als  durch ihn  selbständig gegenüber aller  menschlichen  Heteronomie. Andererseits aber übersieht RIEHL wohl,  in welcher Art  jene Identifizierung von Wissen und Wollen bei SOKRATES durch das affektvolle Moment des "Eros" vermittelt war, eine Beteiligung des Gefühls wie sie nach psychologischer Erfahrung allerdings nicht ausbleiben darf, wenn die Arbeit des Intellekts fruchtbar werden soll für die Bestimmung des Willens. Die Reinheit dieses Eros erweist sich aber gerade darin, daß er, wie sehr er die Energie der gemeinsamen Norm-Forschung beflügeln mag, doch  die Gewinnung ihres Resultats sachlich nicht beeinflußt,  vielmehr erst das in lauterer Dialektik erzielte Resultat der Erkenntnis auch als gemeinsames Ziel des Wollens betrachten läßt.

Das sich Einmischen von Gefühl und Willen mit ihren subjektiven Werturteilen in die theoretische Erforschung der Normen hält nun aber RIEHL eben für das tatsächlich Vorliegende und Normale, wie sich aus zahlreichen Stellen seiner folgenden Ausführungen ergibt. Beiläufig bemerkt führt diese Anschauungsweise nicht nur auch hier zur Behandlung der Begriffe "Norm" und "Wert" als Wechselbegriffe, wobei jedoch der Ausdruck "Wert" die bei weitem häufigere und oft genug logisch nicht eben klare Verwendung findet: interessant ist auch wie sie die Kritik anderer Philosophen, wie SCHOPENHAUER und NIETZSCHE bei RIEHL beeinflußt: nämlich einerseits erleichternd, andererseits erschwerend: erleichternd, sofern sie den Kritiker von vornherein darauf vigilieren [achten - wp] läßt, welche subjektiven Stimmungen und durch sie motivierten Werturteile bei beiden Philosophen ihre Norm-Forschung abgelenkt und auf Irrwege geführt haben; erschwerend, weil er durch seine eigene Ansicht von der Rechtmäßigkeit einer subjektiven Beeinflussung der Normforschung verhindert wird, beide Philosophen in der wirksamsten Weise zu kritisieren, d. h. sie als warnende Beispiele vorzuführen, wohin eine solche Verunreinigung intellektueller Arbeit durch vorzeitiges Einmischen subjektiver Stimmungen, Launen, Wünsche und Anmaßungen führen kann. Es ist nun freilich wohl selbstverständlich, daß weder SCHOPENHAUER noch NIETZSCHE eine solche Kritik ihrer Darlegungen würden anerkannt haben. Wie aber könnten sie sie abwehren? Wohl nur, indem sie sich auf unseren Standpunkt stellen, daß die Norm-Forschung nicht subjektiv beeinflußt werden darf, und dann nachweisen, daß dies bei ihnen auch keineswegs geschieht, daß vielmehr ihre abschätzigen Urteile über den Lauf der Weltentwicklung Werturteile sind, die sich ihnen mit Notwendigkeit ergeben, sobald sie den Maßstab der von ihnen gefundenen Normen an die empirische Wirklichkeit anlegen. SCHOPENHAUER würde entschieden bestreiten, daß, wie RIEHL sagt, sein  a priori  der Pessimismus gewesen ist; dieser sei vielmehr ein unvermeidliches Ergebnis, als sein  a priori  aber, aus dem heraus er ihn gewinnt, würde er vielmehr sein "besseres Bewußtsein", "die Idee der Dinge", "den reinen anschaulichen Gehalt der Dinge" gelten machen (vgl.  Riehl,  Seite 227f, 231). NIETZSCHE freilich würde eine solche Verteidigung schwerer werden, da er seine Ideale gar zu oft gewechselt hat und der Ursprung seiner Werturteile in regellos wandelbaren Stimmungen allzusehr zutage liegt. Aber RIEHL selbst läßt ihm die Gerechtigkeit widerfahren, daß er rastlos nach neuen Idealen gesucht und geforscht hat. Doch bleibt dem Kritiker nun freilich bei seinem eigenen Standpunkt nur der Nachweis übrig, daß sich in diesen Fällen sachlich  unberechtigte  subjektive Stimmungen an der Normforschung beteiligt haben, daher auch er, was sich von letzterer bei beiden Philosophen erkennen läßt, nicht gelten lassen kann. Bei SCHOPENHAUER bezeichnet er es als "Mystizismus", als "Epiphilosophie", bei NIETZSCHE als "Argonautenfahrt nach neuen Idealen". Das mag sachlich durchaus zutreffen; speziell motiviert ist es aber meines Erachtens bei RIEHL durch seine eigene Nichtanerkennung einer rein wissenschaftlichen Normforschung überhaupt.

Gleichwohl kann er nun doch selbst einer solchen nicht entraten. Schon die Beurteilung der ablenkenden Stimmungen bei SCHOPENHAUER und NIETZSCHE als  unberechtigter  ist ja gar nicht möglich, ohne daß der Kritiker über einen Norm-Maßstab verfügt, und die Art, wie er ihn aufsucht und feststellt, trägt so sehr das Gepräge metaphysisch gemeinter Erwägungen, daß man die trotzdem regelmäßig wiederkehrenden Verwerfungsurteile über metaphysische Bemühungen oft geradezu als Rückfälle empfindet.

Wenn die "Lebensweisheit, welche nicht Wissenschaft ist, sondern Kunst" "aus der Natur des Menschen hervorgeht", wenn ihr "Glaube" ist, "daß die menschliche Natur plastisch ist, und sie darum am Bild des Menschen weitergestaltet", sind denn diese Anschauungen von der  Natur  des Menschen nichts weiter als willkürliche Annahmen und Voraussetzungen? Und worauf beruth denn die Behauptung, "daß der Mensch frei wird in dem Maß wie er nach der Idee handelt?" Die ganze hier begegnende Erörterung über das Wesen der praktischen Vernunft, ihr Konstituiertwerden durch die Ideen ist entweder bloße Behauptung, oder sie hat eine bestimmte, wissenschaftlich gewonnene Theorie vom Wesen der Ideen zur Voraussetzung; und wenn sie sich dabei ganz auf den Standpunkt des im Werden begriffenen Menschen stellt, so involviert doch schon dies, daß überhaupt der Prozeß eines Werdens als Wirklichkeit erfaßt werden kann, die Erkenntnis der Idee als eines unveränderlich über dem werdenden Subjekt stehenden Ziels, d. h. eine transzendentalen Tatsache, die einen regulativen Einfluß auf die menschliche Entwicklung gar nicht ausüben könnte, wenn sie der Erkenntnis nicht zugänglich wäre. Wenn "Ideen Aufgaben sind, die ins Unendliche greifen und eben dadurch das Leben des Geistes ausmachen", so ist das entweder eine ernst gemeinte metaphysische Aussage oder es ist eine bloße Phrase. Sehr richtig führt RIEHL auch aus, daß KANTs  Formulierung  des kategorischen Imperativs mehr auf das Prinzip einer darauf zu erbauenden sozialen Moral führt, als auf das durchaus transzendental geartete Prinzip seiner Ethik; wenn dieses aber "aus dem Wesen des menschlichen Bewußtseins, ja des vernünftigen Bewußtseins überhaupt geschöpft" ist, so führt eben seine Eruierung direkt hinein in die Metaphysik. Ja, bei KANT wäre dies in der Tat sogar in einem Maß der Fall, daß selbst  wir  ihm die Gefolgschaft verweigern würden, wenn wir nicht wüßten, daß er darauf verzichtet, seine Ethik metaphysisch zu verankern. RIEHL dagegen trägt gar kein Bedenken, aus seinem "Begriff der Autonomie so weitgehende Konsequenzen zu ziehen, daß er mit demselben zu einem Begriff der Freiheit und Persönlichkeit gelangt, der nur vollziehbar ist, wenn es sich nicht mehr um den Menschen, sondern - eben metaphysisch um "das Bewußtsein überhaupt", d. h. um Gott handelt; freilich um einen Gott, der sich im Menschen oder den der Mensch in sich hervorbringen "soll". Und daß RIEHL damit wirklich KANT zu interpretieren meint, erhellt sich aus seinen Worten Seite 208:
    "Wenn also  Kant  bei seiner Begründung der Ethik von allem nur Anthropologischen absieht, wenn er in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten geradezu fordert, den Grund der Verbindlichkeit für die Sittengesetze  nicht in der Natur des Menschen oder in den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist  zu suchen,  so verstehen wir ihn recht,  wenn wir ihn so verstehen: nicht der Mensch, sofern er Mensch, sondern sofern er ein Vernunftwesen ist, ist das Subjekt und zugleich die Quelle des ethischen Handelns. Hier erst sehen wir die Höhe, zu der sich die kantische Betrachtung erhebt. Das Sittengesetz, das Freiheitsgesetz ist das universelle Gesetz aller vernünftigen Naturen. Es hat kosmische Tragweite."
Wenn wir aber den Verächter aller Metaphysik mit Verwunderung so hoch sich versteigen sehen, so müssen wir uns eben den KANT-Interpreten erinnern, welcher den doppelten Phänomenalismus seines Autors als einen solchen auffaßt, der die Erkenntnis "der Dinge selbst" nicht etwa hindert, sondern vielmehr ermöglicht. So wird dann auch hier sofort Berufung eingelegt auf die Parallele "der Wissenschaft", welche zeige "daß die Natur begreiflich, daß sie unserem Verstand zugänglich und offen ist", und uns die Ordnung der dinge als eine solche erkennen läßt, die uns nicht fremd, der wir uns vielmehr innerlich zugehörig fühlen, und dem tritt dann einfach an die Seite, daß wir uns "wie durch den Verstand mit der Sinnenwelt, so durch die Vernunft mit einer geistigen Welt verbunden fühlen, nachdem wir eingesehen haben, daß es nur  ein  Prinzip des Wollens für alle vernünftigen Wesen geben kann, daß die ethischen Werte nicht rein menschliche, sondern allgemein geistige Werte sind. Die Teilnahme an allem Sein, die kosmische Empfindung, wird dadurch zu einer  doppelseitigen".  Damit tritt dann freilich auch die Ernüchterung ein. Denn entweder müßte es hiernach eine zweifache Wirklichkeit geben, oder die "doppelseitige" Teilnahme an allem Sein ist noch nicht das Erleben der letzten wahren Wirklichkeit, sondern nur einer zweifachen Strahlenbrechung derselben in der Erscheinung. Und so votiert dann auch, wie wir sehen werden, der Philosoph endgültig.

Inzwischen aber ist es wieder nicht uninteressant zu beobachten, wie ihm als dem Kritiker SCHOPENHAUERs das seinem Standpunkt, auch bei der Betrachtung des Geisteslebens, eigentümliche Schweben zwischen Realismus und Phänomenalismus willkommene Dienste leistet. Nach der hohen Erhebung zum  "einen  Prinzip des Wollens für alle vernünftigen Wesen" berührt es äußerst ernüchternd, wenn es Seite 218 gegen SCHOPENHAUER heißt:
    "Nicht der Wille ist uns gegeben, unseres Wollens und von jedem dieser Akte erfahren wir, daß er von einer Vorstellung abhängt, die wir als sein Motiv bezeichnen."
Aber schon Seite 219 wird SCHOPENHAUER getadelt (und selbstverständlich mit Reht), daß er "Wille" nannte, "den bloßen Instinkt oder Trieb, den Drang der Begierde, den Affekt der Leidenschaft - all das also in unserem Bewußtsein und gerade das, von dessen unmittelbarer Wirksamkeit wir uns durch das Wollen befreien, worauf und öfters selbst wogegen  der wahre und echte Wille wirkt,  worüber er Herr wird" ...
    "Wir sagen vielmehr gegen  Schopenhauer,  daß eben hier (in der Raserei eines Tobenden usw.) der Wille fehlt, und nennen den, welcher seiner Triebe nicht mächtig ist, den geistig Gestörten, willenlos."
Hiernach scheint der Kritiker den Willen doch recht gut zu kennen, und zwar nicht etwa als bloße Erscheinung eines unbekannten  Ansich sondern als Realität: "Ein Wille ohne Erkenntnis ist nicht der Wille,  den  wir allein kennen und betätigen" (Seite 219). Gleichwohl versetzt uns schon Seite 220 wieder in den vollen Dualismus des doppelten Phänomenalismus zurück, indem zwar wiederum sehr mit Recht gegen SCHOPENHAUERs abgeschmackte Art polemisiert wird, die quantitativ meßbaren physischen Erscheinungen als Äußerungen geistiger Kräfte und Regungen zu deuten (z. B. die Gravitation als Äußerung der Sehnsucht der  Körper  zu einander); und mit Recht nennt RIEHL diese Art "Gemüt und dessen innere Regungen in das gleichsam Innere  der Dinge um ihn her  (wohlgemerkt der empirischen "Gegenstände", um mit KANT zu reden - Anm. HL) hineinzutragen, sich in die Dinge einzufühlen: Vermenschlichung der Natur und die Quelle ihrer  mythischen  Auffassung." Aber es ist doch wohl zu rasch geurteilt, wenn RIEHL Seite 221 an diese zutreffende Kritik die Bemerkung knüpft, SCHOPENHAUERs Philosophie sei nur  einer  der Versuche, das Unerforschliche zu erforschen, eines der Systeme, die es erforscht zu haben glauben, wenn sie die Welt  nach einer ihrer Erscheinungen auslegen."  Sollten hierdurch, was nicht unmittelbar klar ist, auch die gleich erwähnten "alle Philosophen, die ein geistiges Prinzip im Wesen der Dinge annehmen", mitgetroffen sein, so würde wieder das geistige Prinzip, Verstand oder Vernunft, zur bloßen Erscheinung herabgesetzt sein. Doch wird hier zunächst allerdings nur SCHOPENHAUERs Willensmonismus so kritisiert. Geben wir diesen preis, so bliebe doch immer noch das Recht bestehen, dieses als die in uns selbst uns erschlossene letzte Realität zu betrachten, außerdem aber ein Erscheinen allen geistigen Seins in quantitativen Formen - also nur einseitigen Phänomenalismus - anzunehmen. Und RIEHL verführt den Leser immer aufs Neue dazu, dies auch als  seine  Anschauungsweise zu betrachten, d. h. unserer inneren Selbstanschauung bei ihm mehr als bloß phänomenalen Charakter beigelegt zu sehen. So soll der SCHOPENHAUERschen Behauptung, "das Wohlsein sei bloß negativ" - "die unmittelbarste innere Erfahrung widersprechen" - "Niemand hat je im Ernst bezweifelt, daß die Beseligung im Betrachten ... ein  Zustand  hohen positiven Glücks ist." Seite 230 wird selbst bei SCHOPENHAUER einmal ein "wirklicher Wille" gefunden: die Herrschaft über die Triebe - und zumindest als ein Anfang "allen echten Wollens" anerkannt. Aber selbst wo unser Philosoph, in berechtigter Abwehr eines moralistischen Anthropomorphismus bei der Betrachtung des höchsten Seins, sich erstaunlich metaphysisch orientiert zeigt und sogar unter Berufung auf den Erzmetaphysiker SPINOZA positiv versichert "die eine wirkende Macht, die alles ist und begründet ... muß selber erhaben über gut und böse sein", selbst da geraten wir doch augenscheinlich, ob auch durch ihn selbst, nur in eine Region, in der er nicht zu verweilen gedenkt.

Denn seine "Einführung in die Philosophie der Gegenwart" mündet schließlich aus in zwei Erörterungen, von denen die eine deutlich seinen Realität-offenarenden Apriorismus und folglich auch doppelten Phänomenalismus, die andere seinen hinter diesem stehenden metaphysischen Agnostizismus darlegt. An jener Stelle wird "den großen Naturforschern unserer Zeit" als "unseren Philosophen" ein Ehrenkranz gewunden. "Die Philosophie lebt gegenwärtig in den Werken von ROBERT MAYER, von HELMHOLTZ, von HEINRICH HERTZ." Warum? Weil "Philosophie" zunächst Erkenntnistheorie ist. Und aus ROBERT MAYERs Schrift "lassen sich die Aufgabe und das ganze Verfahren  des Naturerkennens  entwickeln, und zugleich die Grenzen dieses Erkennen bestimmen"; HELMHOLTZ hat bis in seine letzte Zeit den erkenntnistheoretischen Fragen seine Aufmerksamkeit zugewandt; besonders aber ist HEINRICH HERTZ unter die Philosophen zu zählen. In seinen "Prinzipien der Mechanik" hat er zunächst "ganz im Sinne  Kants  und unter ausdrücklicher Berufung auf diesen alle zur Darstellung der Tatsachen, hier der Bewegungserscheinungen, erforderlichen Begriffe entwickelt, welche, wie er sagt,  schon durch innere Anschauung gegeben werden  oder, wie KANT es ausdrückt, aus reiner Anschauung hervorgehen. Aus diesen Begriffen entsteht ein in sich geschlossenes, rein logisch-mathematisches Lehrgebäude,  an dessen Sicherheit und absoluter Festigkeit ein Zweifel nicht möglich ist."  Aber da, wie RIEHL sagt, "die Philosophie die Wissenschaft nicht entbehren kann, soll sie sich nicht entweder in leere Spekulationen verlieren oder auf eine rein formale Erkenntnistheorie beschränkt sehen, die den Kern des Wissens, die in der Erfahrung gegebenen Tatsachen nicht zu ergreifen vermag" (die durch innere Anschauung gegebenen Begriffe, das logisch-mathematishe Lehrgebäude, an dessen Sicherheit kein Zweifel möglich ist, gehören zu solchen Tatsachen also nicht?) - so hat HERTZ in seinem zweiten Teil "eine Hypothese eingeführt, welche etwas über den  Inhalt  der Erfahrung aussagen soll - daß nämlich jedes freie System in seinem Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen Bewegung in einer geraden Bahn beharrt"; dieses Grundgesetz dann mit den zuvor definierten kinematischen Begriffen in Verbindung gebracht, und so eine "Erklärung" gegeben, welche wir mit Recht so nennen, weil sie "die einfachste und vollständige Beschreibung der Tatsachen" ist, welche "zugleich die Einsicht mit sich bringt, da der notwendige Zusammenhang der Elemente, deren sie sich bedient,  evident,  d. h.  von anschaulicher Gewißheit ist." - Wieviele unter den Hörern von RIEHLs Vorträgen werden sich bei diesen vielverheißenden Ausdrücken wohl zugleich daran erinnert haben, daß der Vortragende sich mit KANT rückhaltlos zur "Idealität von Raum und Zeit" bekennt, woraus von selber folgt, daß all diese naturwissenschaftliche Evidenz und anschauliche Gewißheit sich nur auf zeiträumliche Phänomene, nicht aber auf das Wesen der Dinge selbst bezieht? Aber RIEHL setzt den Unterschied zwischen der zweifellosen innerlich-geistigen Realität unserer Formen des Anschauens und Formen des Denkens, und der Phänomenalität der Erfahrung die "in diesen Formen des Anschauens empfangen und nach diesen Formen des Denkens entwickelt ist", selbst allzusehr aus den Augen, wenn er meint, "daß die den Sinneseindrücken selbst eigenen Verhältnisse, in denen die "Tatsachen der Wahrnehmung" gegeben werden, um erkannt zu werden, vom Denken  nachgeschaffen  werden müssen". "Nachgeschaffen"? das ist eine sehr weitgehende, geradezu erkenntnistheoretisch-dogmatische Behauptung, in einer deutlichen Parallele zur metaphysischen von einer "durch die schaffende Macht gestifteten Harmonie zwischen den Natur- und Denkgesetzen"; und die ansich so wertvolle Verteidigung des Apriorismus gegenüber dem "Positivismus" und einer "Kritik der reinen Erfahrung", d. h. gegenüber dem bloßen "Impressionismus", schießt über das Ziel hinaus, wenn sie so positive Aufschlüsse über den "Inhalt der Erfahrung" durch jenen Apriorismus, zu dem Raum und Zeit mitzurechnen sind, für möglich hält. Nach KANT sollen, so meinen wir, die Begriffe des Denkens nicht "auf die Dinge selbst", sondern auf ihre Erscheinung in Raum und Zeit bezogen werden, und so eine wissenschaftliche Erfahrung von dieser  Erscheinung  ermöglichen.

Aber diese Kautelen [Vorbehalte - wp] und Reservationen sind doch unserem Philosophen gegenüber ganz überflüssig. Denn nach diesem Preis der Wissenschaft, "welche die Natur abspiegelt", der "Wissenschaft, die, was sie einmal ermittelt hat, für immer ermittelt hat, so daß es zu einem unveränderlichen Bestandteil der Wahrheit geworden ist, welche selbst unveränderlich ist", der Wissenschaft "deren Wissen von diesen Wahrheiten Einsicht ist in ihre Notwendigkeit, über der es eine höhere Stufe der Gewißheit nicht geben kann, so daß hier, nach GALILEI, die menschliche Erkenntnis der göttlichen gleichkommt und unser Begreifen hierin vollkommen und so unbedingt gewiß ist, wie es nur die Natur selbst sein kann" - nach all dem überrascht uns ganz unvermittelt gleich darauf der Ausspruch: "das künftige System des Wissens erwächst aus Kritik und Forschung zugleich; es sucht daher die Wahrheit nicht in einem inneren Wesen der Welt, es findet sie in den beharrlichen Verhältnissen der Dinge, den Gesetzen ihrer  Erscheinung."  Und nebem diesem System des Wissens von der Erscheinung, welches die Werte  ausschließt,  gibt es dann eine "andere Philosophie", welche jenes Wissen zwar zur Basis nimmt, aber auf der Persönlichkeit des Philosophen, seiner Gesinnng, seiner Charaktergröße beruth und "Geistesführung" ist; und mit der Versicherung schließend "daß die Menschheit stetig fortschreiten muß in der Selbsterkenntnis der Vernunft und der Erkenntnis der Welt, im Streben nach einer auf dieser  doppelten  Erkenntnis beruhenden Weisheit", läßt uns der Philosoph der Gegenwart in diesem unversöhnten Dualismus stehen, auf eine dahinterliegende Einheit dem Einheitstrachten der Vernunft die Aussicht verhängend. Nur ihre zweifache Erscheinung ist uns gegeben, nur an sie können wir uns halten.
LITERATUR - Hermann Lüdemann, Das Erkennen und die Werturteile, Leipzig 1910
    Anmerkungen
    1) Da das erstere Werk sich eben jetzt in Umarbeitung befindet, so halten wir uns hier an das letztere, und zwar nach der zitierten 2. Auflage, da die dritte (1908) von derselben sachlich nicht differiert.