E. DürrH. Cohnvon Ehrenfelsvon FerberE. Stern | |||
Die Verwendung der Werturteile in der Philosophie [ 3 / 3 ]
Alois Riehl Während wir hier die von WINDELBAND selbst konstatierte philosophische "Timidität" sich bis zu ihrer letzten Konsequenz auswachsen sehen, erscheint wieder der von RIEHL vertretene Standpunkt dem von WINDELBAND ähnlich, sofern bei ihm wegen voller Anerkennung der Unentbehrlichkeit und Unausweichlichkeit von Normerkenntnis ein unwillkürliches Eintreten auf metaphysische Gedankengänge neben einer beständigen Warnung vor Metaphysik und einer Unmöglicherklärung derselben hergeht. RIEHL vertritt in seinem großen Werk über den "philosophischen Kritizismus" (zweite Auflage 1908f) wie in seiner populären "Einführung in die Philosophie der Gegenwart" (zweite Auflage 1904) (1) heute mit am schärfsten jenen Dualismus in der wissenschaftstheoretischen Organisation der Philosophie, welcher die durch KANT erkenntnistheoretisch fundierte Naturforschung einschließlich der Psychologie strikt von der Erkenntnis "der Welt geistiger Werte" trennt, aber ihr gegenseitiges Verhältnis in suspenso [in der Schwebe - wp] lassen will. Immerhin gelangt er bezüglich der Frage nach dem Verhältnis des Physischen und Psychischen innerhalb der Welt, welche Gegenstand der exakten Wissenschaft ist, mit klarer Entschiedenheit zu der Anschauung von einem doppelten Phänomenalismus, der auf der einen, physischen Seite die volle Stetigkeit eines kausalen Zusammenhangs rein quantitativer Erscheinungen zeigt, während auf der anderen, psychischen Seite eine sprunghafte Unstetigkeit von Bewußtseinserlebnissen jenen stetigen Ablauf eines physisch erscheinenden Geschehens begleitet; womit sich also kein eigentlich durchzuführender Parallelismus ergibt, sondern - um nicht mehr zu behaupten, als was erfahrbar ist - auf jeder Seite eine besondere Eigenartigkeit des Verlaufs. Das ist die für das menschliche Subjekt gegebene zweifache Erscheinungsweise einer identischen Realität, die wir jedoch nur voraussetzen, nicht aber ergründen können.
Es würde uns hier zu weit führen, wollten wir nachweisen, wie weit selbst dieser resignierte metaphysische Entwurf - denn etwas anderes ist es ja nicht - schon über das hinausgreift, was KANT uns zu behaupten gestattet, und auf welch fragwürdigen, weil empiristischen Ergänzungen von KANTs Theorie der Erfahrung es beruth, wenn RIEHL dennoch gerade aus KANTs Kritizismus das Recht dieser Positionen herleiten zu können glaubt. Nur dies konstatieren wir, daß RIEHL zu denjenigen Interpreten KANTs gehört, für welche der von diesem erwiesene Apriorismus der Anschauungsformen und Kategorien uns das Wesen der Dinge nicht etwa verschleiert, sondern uns eine - wenn auch nur relative - Erkenntnis der Dinge vielmehr gerade "ermöglicht".
Der Standpunkt RIEHLs zeichnet sich aber eben vermöge dieser Fassung der Phänomenalität durch eine Doppelseitigkeit aus, welche es gestattet, einerseits gerade aufgrund der physischen und psychischen "Erscheinung" sehr positive Aussagen über das in ihr sich offenbarende konkrete Wesen der Dinge zu wagen, und so der exakten Forschung einen sehr wesentlichen Anteil an der Erkenntnis der letzten Wirklichkeit einzuräumen; sich aber andererseits doch immer wieder auf einen prinzipiellen Agnostizismus zurückzuziehen und zu betonen, daß wir es nie mit der Wirklichkeit selbst, sondern nur mit ihren Erscheinungen zu tun haben. Eben diese Versatilität [Wandelbarkeit - wp] kommt nun auch in der Behandlung der "Werte" zu voller Verwendung und erzeugt das merkwürdige Hin und Her zwischen emphatischer Parrhesie [leidenschaftliche Ungezwungenheit - wp] bei der Geltendmachung unserer Wertungen für eine ideale Weltauffassung einerseits und der Resignation bezüglich ihrer Herleitung und Rechtfertigung aus einer Erkenntnis vom Wesen des Seins andererseits. Nach RIEHL "umfaßt unser Bewußtsein außer allgemeinen Erkenntnisbegriffen noch andere Inhalte von allgemeingültiger Bedeutung". Er will sie zur Unterscheidung von den Begriffen "Ideen" nennen. "Werte nennen wir sie, sofern sie Objekte der Beurteilung durch Gefühl und Willen sind, und zu Zwecken werden sie, sobald sich unser Schaffen und Handeln auf sie richtet." Diese Einführung des Wertbegriffs kann meines Erachtens dem Klarheitsbedürfnis des Lesers kaum genügen. Es soll sich um "Inhalte" unseres Bewußtseins von allgemeingültiger Bedeutung handeln, und "Werte" heißen sie, sofern sie Objekte der Beurteilung durch Gefühl und Willen sind. Nach dem gleich folgenden "entspringen Werte", wenn das Wirkliche auch mit dem Gemüt erlebt, durch das Gefühl geschätzt, vom Willen erstrebt wird; es ist uns gar nicht möglich, etwas unter den Gesichtspunkt eines Wertes zu bringen, "ohne es dadurch auch schon bewertet zu haben"; das Urteil "ein Gegenstand sei ein Wert, er habe Wert, ist niemals und kann niemals ein rein theoretisches Urteil sein". Nach diesen Äußerungen handelt es sich also um das Wesen des Werturteils; seine Gegenstände sind Bewußtseinsinhalte von allgemeingültiger Bedeutung, und es entsteht, wenn über diese das Subjekt nicht mit dem Verstand allein, sondern von seinem Gefühl und Willen aus urteilt, d. h., wie weiterhin sofort deutlich wird, nach Maßstäben, welche in seinem Gefühl und Willen liegen. Sehr natürlich erscheint es, wenn der Verfaser das zunächst am ästhetischen Werturteil erläutert: es erklärt für wertvoll, "was unser Gefühl an sich gezogen hat." Aber auch das sittliche Urteil soll lediglich aussagen, "was unserem Willen gemäß ist." Vergebens fragt man angesichts dieser Bestimmungen, was bei solchen rein subjektiven Maßstäben des Werturteils aus der "Allgemeingültigkeit" der so beurteilten Bewußtseinsinhalt wird; ob dieselbe einfach auf die Seite gestellt wird, und es sich, wenn ihnen vom Subjekt ein "Wert beigelegt wird, bloß um eine subjektive Betrachtungsweise handelt, sodaß die ihnen zuerteilte Wertqualität lediglich für das Subjekt besteht, der "entspringende Wert" also nur ein subjektiver Wert ist - oder ob sich die Allgemeingültigkeit jener Bewußtseinsinhalte auch in ihrer Bewertung erhält, und der durch das Werturteil festgestellte "Wert" den Gegenstand bezeichnen soll, sofern ihm eine allgemeine anzuerkennende Wertqualität zukommt, die eben deshalb aber auch in der ihm ansich eigenen Beschaffenheit beruhen müßte. Dann könnte sich selbstverständlich immer auch ergeben, daß er dem Gefühl und Willen des Subjekts zusagt. Aber der Maßstab des Werturteils könnte in diesen subjektiven Regungen des Subjekts nicht liegen. Er müßte vielmehr über ihnen liegen, und ihr Hinzutreten müßte sich als ein bloßes Reagieren des Subjekts auf die anderweitig von ihm erkannte Wertqualität des Objekts herausstellen. Sehr deutlich wird diese Lage beim sittlichen Werturteil, dessen Ergebnis vielfach keineswegs ist, "daß etwas unserem Willen gemäß ist", sondern vielmehr, daß etwas unserem Willen als wertvoll gegenübertritt, dem er gemäß sein soll, während er es keineswegs schon ist. - Was aber der Verfasser von all dem nun selber meint, bleibt dunkel. Denn er vernachlässigt durchweg die Unterscheidung von Werturteilen nach Normen und Werturteilen nach Bedürnissen. Wahrscheinlich bleibt nur, daß er, wie viele andere Werttheoretiker auch, mit den Ausdrücken Gefühl und Willen umschreiben will, was der Begriff "Bedürfnis" enthält, ohne jedoch diesen Begriff zu finden. Wenn sich aber so aus seiner Erörterung nichts anderes als der Begriff "allgemeingültiges Bedürfnis-Werturteil" herausschält, so muß dieser Begriff solange als eine contradiction in adjecto [Widerspruch in sich - wp] gelten, wie es der Verfasser unterläßt, die hier wertende Vereinigung von "Gefühl und Willen" des Subjekts an einem höheren Maßstab als berechtigt und so als befähigt zu erweisen, allgemeingültige Werturteile zu fällen. Dieselbe Unterlassung macht nicht nur die gleich folgende Behauptung äußerst fragwürdig, daß "alle Werte geistige Werte" sind, sofern es offenbar auch sinnliche Bedürfnisse gibt, die sogar Tiere zu sehr entschiedenen Werturteilen führen, sondern sie belastet auch die ganze Ausführung bis Seite 187, welche immer allgemeingültige Werte als Ergebnisse subjektiver Wertung behandelt, mit fatalster Unklarheit, - und verschuldet schließlich, daß RIEHL nicht, wie WINDELBAND und RICKERT, der wertfreien Forschung eine Wert wissenschaft zur Seite stellt, sondern den Ehrennamen "Wissenschaft" jener allein vindizierend [zusprechend - wp], neben ihr nur den verschwommenen Begriff einer "Lebensanschauung" gewinnt, deren "Probleme Wertprobleme" sein sollen. (Seite 184) Alles das hindert nun aber den aufmerksamen Leser nicht, zu gewahren, daß der Verfasser im folgenden (Seite 187-189) tatsächlich die Norm-Erkenntnis, das Hindurchdringen des Subjekts zu objektiv-gültigen Wertmaßstäben als dasjenige schildert, was dem von ihm gemeinten Werturteil vorausgehen muß und es allein erst möglich macht; daß namentlich seine schöne anziehende Darstellung des SOKRATES, welche er einflicht, nichts anderes illustriert, als den von uns oben erkannten, für die menschliche Geistesgeschichte so höchst bedeutungsvolln und denkwürdigen Vorgang, daß bezüglich der Wertbeurteilung das bloße Bedürfnis als Wertmaßstab von der Norm verdrängt wird, wobei der menschliche Geist, um die in Tradition, Sitte, Routine kristallisierten inferioren [höheren - wp] Werturteile durchgreifend zu kritisieren und zu überwinden, ins sich selbst, "in das tiefste Bewußtsein des Menschen" zurückgreift:
Das sich Einmischen von Gefühl und Willen mit ihren subjektiven Werturteilen in die theoretische Erforschung der Normen hält nun aber RIEHL eben für das tatsächlich Vorliegende und Normale, wie sich aus zahlreichen Stellen seiner folgenden Ausführungen ergibt. Beiläufig bemerkt führt diese Anschauungsweise nicht nur auch hier zur Behandlung der Begriffe "Norm" und "Wert" als Wechselbegriffe, wobei jedoch der Ausdruck "Wert" die bei weitem häufigere und oft genug logisch nicht eben klare Verwendung findet: interessant ist auch wie sie die Kritik anderer Philosophen, wie SCHOPENHAUER und NIETZSCHE bei RIEHL beeinflußt: nämlich einerseits erleichternd, andererseits erschwerend: erleichternd, sofern sie den Kritiker von vornherein darauf vigilieren [achten - wp] läßt, welche subjektiven Stimmungen und durch sie motivierten Werturteile bei beiden Philosophen ihre Norm-Forschung abgelenkt und auf Irrwege geführt haben; erschwerend, weil er durch seine eigene Ansicht von der Rechtmäßigkeit einer subjektiven Beeinflussung der Normforschung verhindert wird, beide Philosophen in der wirksamsten Weise zu kritisieren, d. h. sie als warnende Beispiele vorzuführen, wohin eine solche Verunreinigung intellektueller Arbeit durch vorzeitiges Einmischen subjektiver Stimmungen, Launen, Wünsche und Anmaßungen führen kann. Es ist nun freilich wohl selbstverständlich, daß weder SCHOPENHAUER noch NIETZSCHE eine solche Kritik ihrer Darlegungen würden anerkannt haben. Wie aber könnten sie sie abwehren? Wohl nur, indem sie sich auf unseren Standpunkt stellen, daß die Norm-Forschung nicht subjektiv beeinflußt werden darf, und dann nachweisen, daß dies bei ihnen auch keineswegs geschieht, daß vielmehr ihre abschätzigen Urteile über den Lauf der Weltentwicklung Werturteile sind, die sich ihnen mit Notwendigkeit ergeben, sobald sie den Maßstab der von ihnen gefundenen Normen an die empirische Wirklichkeit anlegen. SCHOPENHAUER würde entschieden bestreiten, daß, wie RIEHL sagt, sein a priori der Pessimismus gewesen ist; dieser sei vielmehr ein unvermeidliches Ergebnis, als sein a priori aber, aus dem heraus er ihn gewinnt, würde er vielmehr sein "besseres Bewußtsein", "die Idee der Dinge", "den reinen anschaulichen Gehalt der Dinge" gelten machen (vgl. Riehl, Seite 227f, 231). NIETZSCHE freilich würde eine solche Verteidigung schwerer werden, da er seine Ideale gar zu oft gewechselt hat und der Ursprung seiner Werturteile in regellos wandelbaren Stimmungen allzusehr zutage liegt. Aber RIEHL selbst läßt ihm die Gerechtigkeit widerfahren, daß er rastlos nach neuen Idealen gesucht und geforscht hat. Doch bleibt dem Kritiker nun freilich bei seinem eigenen Standpunkt nur der Nachweis übrig, daß sich in diesen Fällen sachlich unberechtigte subjektive Stimmungen an der Normforschung beteiligt haben, daher auch er, was sich von letzterer bei beiden Philosophen erkennen läßt, nicht gelten lassen kann. Bei SCHOPENHAUER bezeichnet er es als "Mystizismus", als "Epiphilosophie", bei NIETZSCHE als "Argonautenfahrt nach neuen Idealen". Das mag sachlich durchaus zutreffen; speziell motiviert ist es aber meines Erachtens bei RIEHL durch seine eigene Nichtanerkennung einer rein wissenschaftlichen Normforschung überhaupt. Gleichwohl kann er nun doch selbst einer solchen nicht entraten. Schon die Beurteilung der ablenkenden Stimmungen bei SCHOPENHAUER und NIETZSCHE als unberechtigter ist ja gar nicht möglich, ohne daß der Kritiker über einen Norm-Maßstab verfügt, und die Art, wie er ihn aufsucht und feststellt, trägt so sehr das Gepräge metaphysisch gemeinter Erwägungen, daß man die trotzdem regelmäßig wiederkehrenden Verwerfungsurteile über metaphysische Bemühungen oft geradezu als Rückfälle empfindet. Wenn die "Lebensweisheit, welche nicht Wissenschaft ist, sondern Kunst" "aus der Natur des Menschen hervorgeht", wenn ihr "Glaube" ist, "daß die menschliche Natur plastisch ist, und sie darum am Bild des Menschen weitergestaltet", sind denn diese Anschauungen von der Natur des Menschen nichts weiter als willkürliche Annahmen und Voraussetzungen? Und worauf beruth denn die Behauptung, "daß der Mensch frei wird in dem Maß wie er nach der Idee handelt?" Die ganze hier begegnende Erörterung über das Wesen der praktischen Vernunft, ihr Konstituiertwerden durch die Ideen ist entweder bloße Behauptung, oder sie hat eine bestimmte, wissenschaftlich gewonnene Theorie vom Wesen der Ideen zur Voraussetzung; und wenn sie sich dabei ganz auf den Standpunkt des im Werden begriffenen Menschen stellt, so involviert doch schon dies, daß überhaupt der Prozeß eines Werdens als Wirklichkeit erfaßt werden kann, die Erkenntnis der Idee als eines unveränderlich über dem werdenden Subjekt stehenden Ziels, d. h. eine transzendentalen Tatsache, die einen regulativen Einfluß auf die menschliche Entwicklung gar nicht ausüben könnte, wenn sie der Erkenntnis nicht zugänglich wäre. Wenn "Ideen Aufgaben sind, die ins Unendliche greifen und eben dadurch das Leben des Geistes ausmachen", so ist das entweder eine ernst gemeinte metaphysische Aussage oder es ist eine bloße Phrase. Sehr richtig führt RIEHL auch aus, daß KANTs Formulierung des kategorischen Imperativs mehr auf das Prinzip einer darauf zu erbauenden sozialen Moral führt, als auf das durchaus transzendental geartete Prinzip seiner Ethik; wenn dieses aber "aus dem Wesen des menschlichen Bewußtseins, ja des vernünftigen Bewußtseins überhaupt geschöpft" ist, so führt eben seine Eruierung direkt hinein in die Metaphysik. Ja, bei KANT wäre dies in der Tat sogar in einem Maß der Fall, daß selbst wir ihm die Gefolgschaft verweigern würden, wenn wir nicht wüßten, daß er darauf verzichtet, seine Ethik metaphysisch zu verankern. RIEHL dagegen trägt gar kein Bedenken, aus seinem "Begriff der Autonomie so weitgehende Konsequenzen zu ziehen, daß er mit demselben zu einem Begriff der Freiheit und Persönlichkeit gelangt, der nur vollziehbar ist, wenn es sich nicht mehr um den Menschen, sondern - eben metaphysisch um "das Bewußtsein überhaupt", d. h. um Gott handelt; freilich um einen Gott, der sich im Menschen oder den der Mensch in sich hervorbringen "soll". Und daß RIEHL damit wirklich KANT zu interpretieren meint, erhellt sich aus seinen Worten Seite 208:
Inzwischen aber ist es wieder nicht uninteressant zu beobachten, wie ihm als dem Kritiker SCHOPENHAUERs das seinem Standpunkt, auch bei der Betrachtung des Geisteslebens, eigentümliche Schweben zwischen Realismus und Phänomenalismus willkommene Dienste leistet. Nach der hohen Erhebung zum "einen Prinzip des Wollens für alle vernünftigen Wesen" berührt es äußerst ernüchternd, wenn es Seite 218 gegen SCHOPENHAUER heißt:
Denn seine "Einführung in die Philosophie der Gegenwart" mündet schließlich aus in zwei Erörterungen, von denen die eine deutlich seinen Realität-offenarenden Apriorismus und folglich auch doppelten Phänomenalismus, die andere seinen hinter diesem stehenden metaphysischen Agnostizismus darlegt. An jener Stelle wird "den großen Naturforschern unserer Zeit" als "unseren Philosophen" ein Ehrenkranz gewunden. "Die Philosophie lebt gegenwärtig in den Werken von ROBERT MAYER, von HELMHOLTZ, von HEINRICH HERTZ." Warum? Weil "Philosophie" zunächst Erkenntnistheorie ist. Und aus ROBERT MAYERs Schrift "lassen sich die Aufgabe und das ganze Verfahren des Naturerkennens entwickeln, und zugleich die Grenzen dieses Erkennen bestimmen"; HELMHOLTZ hat bis in seine letzte Zeit den erkenntnistheoretischen Fragen seine Aufmerksamkeit zugewandt; besonders aber ist HEINRICH HERTZ unter die Philosophen zu zählen. In seinen "Prinzipien der Mechanik" hat er zunächst "ganz im Sinne Kants und unter ausdrücklicher Berufung auf diesen alle zur Darstellung der Tatsachen, hier der Bewegungserscheinungen, erforderlichen Begriffe entwickelt, welche, wie er sagt, schon durch innere Anschauung gegeben werden oder, wie KANT es ausdrückt, aus reiner Anschauung hervorgehen. Aus diesen Begriffen entsteht ein in sich geschlossenes, rein logisch-mathematisches Lehrgebäude, an dessen Sicherheit und absoluter Festigkeit ein Zweifel nicht möglich ist." Aber da, wie RIEHL sagt, "die Philosophie die Wissenschaft nicht entbehren kann, soll sie sich nicht entweder in leere Spekulationen verlieren oder auf eine rein formale Erkenntnistheorie beschränkt sehen, die den Kern des Wissens, die in der Erfahrung gegebenen Tatsachen nicht zu ergreifen vermag" (die durch innere Anschauung gegebenen Begriffe, das logisch-mathematishe Lehrgebäude, an dessen Sicherheit kein Zweifel möglich ist, gehören zu solchen Tatsachen also nicht?) - so hat HERTZ in seinem zweiten Teil "eine Hypothese eingeführt, welche etwas über den Inhalt der Erfahrung aussagen soll - daß nämlich jedes freie System in seinem Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen Bewegung in einer geraden Bahn beharrt"; dieses Grundgesetz dann mit den zuvor definierten kinematischen Begriffen in Verbindung gebracht, und so eine "Erklärung" gegeben, welche wir mit Recht so nennen, weil sie "die einfachste und vollständige Beschreibung der Tatsachen" ist, welche "zugleich die Einsicht mit sich bringt, da der notwendige Zusammenhang der Elemente, deren sie sich bedient, evident, d. h. von anschaulicher Gewißheit ist." - Wieviele unter den Hörern von RIEHLs Vorträgen werden sich bei diesen vielverheißenden Ausdrücken wohl zugleich daran erinnert haben, daß der Vortragende sich mit KANT rückhaltlos zur "Idealität von Raum und Zeit" bekennt, woraus von selber folgt, daß all diese naturwissenschaftliche Evidenz und anschauliche Gewißheit sich nur auf zeiträumliche Phänomene, nicht aber auf das Wesen der Dinge selbst bezieht? Aber RIEHL setzt den Unterschied zwischen der zweifellosen innerlich-geistigen Realität unserer Formen des Anschauens und Formen des Denkens, und der Phänomenalität der Erfahrung die "in diesen Formen des Anschauens empfangen und nach diesen Formen des Denkens entwickelt ist", selbst allzusehr aus den Augen, wenn er meint, "daß die den Sinneseindrücken selbst eigenen Verhältnisse, in denen die "Tatsachen der Wahrnehmung" gegeben werden, um erkannt zu werden, vom Denken nachgeschaffen werden müssen". "Nachgeschaffen"? das ist eine sehr weitgehende, geradezu erkenntnistheoretisch-dogmatische Behauptung, in einer deutlichen Parallele zur metaphysischen von einer "durch die schaffende Macht gestifteten Harmonie zwischen den Natur- und Denkgesetzen"; und die ansich so wertvolle Verteidigung des Apriorismus gegenüber dem "Positivismus" und einer "Kritik der reinen Erfahrung", d. h. gegenüber dem bloßen "Impressionismus", schießt über das Ziel hinaus, wenn sie so positive Aufschlüsse über den "Inhalt der Erfahrung" durch jenen Apriorismus, zu dem Raum und Zeit mitzurechnen sind, für möglich hält. Nach KANT sollen, so meinen wir, die Begriffe des Denkens nicht "auf die Dinge selbst", sondern auf ihre Erscheinung in Raum und Zeit bezogen werden, und so eine wissenschaftliche Erfahrung von dieser Erscheinung ermöglichen. Aber diese Kautelen [Vorbehalte - wp] und Reservationen sind doch unserem Philosophen gegenüber ganz überflüssig. Denn nach diesem Preis der Wissenschaft, "welche die Natur abspiegelt", der "Wissenschaft, die, was sie einmal ermittelt hat, für immer ermittelt hat, so daß es zu einem unveränderlichen Bestandteil der Wahrheit geworden ist, welche selbst unveränderlich ist", der Wissenschaft "deren Wissen von diesen Wahrheiten Einsicht ist in ihre Notwendigkeit, über der es eine höhere Stufe der Gewißheit nicht geben kann, so daß hier, nach GALILEI, die menschliche Erkenntnis der göttlichen gleichkommt und unser Begreifen hierin vollkommen und so unbedingt gewiß ist, wie es nur die Natur selbst sein kann" - nach all dem überrascht uns ganz unvermittelt gleich darauf der Ausspruch: "das künftige System des Wissens erwächst aus Kritik und Forschung zugleich; es sucht daher die Wahrheit nicht in einem inneren Wesen der Welt, es findet sie in den beharrlichen Verhältnissen der Dinge, den Gesetzen ihrer Erscheinung." Und nebem diesem System des Wissens von der Erscheinung, welches die Werte ausschließt, gibt es dann eine "andere Philosophie", welche jenes Wissen zwar zur Basis nimmt, aber auf der Persönlichkeit des Philosophen, seiner Gesinnng, seiner Charaktergröße beruth und "Geistesführung" ist; und mit der Versicherung schließend "daß die Menschheit stetig fortschreiten muß in der Selbsterkenntnis der Vernunft und der Erkenntnis der Welt, im Streben nach einer auf dieser doppelten Erkenntnis beruhenden Weisheit", läßt uns der Philosoph der Gegenwart in diesem unversöhnten Dualismus stehen, auf eine dahinterliegende Einheit dem Einheitstrachten der Vernunft die Aussicht verhängend. Nur ihre zweifache Erscheinung ist uns gegeben, nur an sie können wir uns halten.
1) Da das erstere Werk sich eben jetzt in Umarbeitung befindet, so halten wir uns hier an das letztere, und zwar nach der zitierten 2. Auflage, da die dritte (1908) von derselben sachlich nicht differiert. |