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[mit NS-Vergangenheit] Zum gegenwärtigen Stand der Erkenntnistheorie [zugleich Versuch einer Einteilung der Erkenntnistheorien] [ 2 / 3 ]
Zur Rechtfertigung dieser Bezeichnung sei Folgendes bemerkt: Auch der Begriff des "Positivismus" ist infolge der oft gerügten Nachlässigkeit unserer Terminologie und des Mangels klarer Unterscheidungen äußerst schwankend. Ich zähle über ein halbes Dutzend inhaltsverschiedene Definitionen. COMTEs ursprüngliche Definition des Positivismus lautete (30):
Ich fasse also die gesamte Erörterung des Kritizismus, soweit er als antizipierende Erkenntnistheorie in Betracht kommt, dahin zusammen, daß unter den kritizistischen Lehren nur das positivistische Prinzip der Immanenz im Gegebenen aufrechzuerhalten ist, oder vielmehr, daß jene Lehren im Sinne dieses Prinzips umgestaltet werden müssen. Erst jetzt, nachdem die Erkenntnistheorie die antizipierenden Theorien des Skeptizismus, Dogmatismus, Kritizismus und Positivismus teils zurückgewiesen, teils sich zu eigen gemacht hat, kann sie mit ihren beginnen. Sie steht gewissermaßen ratlos der enormen Mannigfaltigkeit des Gegebenen gegenüber. Die erste Aufgabe, die sie daher nun zu lösen hat, ist die Ordnung und Klassifikation dieses Mannigfaltigen. Und schon bei dieser ersten Aufgabe, der stehen sich mehrere Anschauungen feindlich gegenüber. Vor allem gelangt der naive Mensch, wie dies AVENARIUS ausgezeichnet geschildert hat (38), fast instinktiv zu einer Zweiteilung der Gignomene in Außenwelt und Ich. Unter letzterem versteht er seinen Leib, unter ersterem alles Andere. Zum "Ich-Bezeichneten" rechnet er dann noch seine Erinnerungen und Gedanken und Gefühle und Strebungen, die er im Sinn der sogenannten Introjektion in seinen Leib, in früheren Zeiten in sein Herz und sein Blut, jetzt gewöhnlich in seinen Kopf und speziell in sein Gehirn verlegt. Zuweilen wird ihm weiterhin wohl klar, daß eigentlich sein Leib ihm ganz ähnlich wie seine Außenwelt und ganz anders wie seine Erinnerungen, Gedanken, Gefühle und Strebungen gegeben ist. Daraufhin ändert er oft seine Hauptklassifikation etwas und schlägt den Leib zur Außenwelt und beschränkt das Ich auf die Erinnerungen, Gedanken usw. Schließlich geht er mitunter noch einen Schritt weiter. Er glaubt aus vielen Tatsachen schließen zu können, daß die Außenwelt auch existiert, wenn er keine Empfindungen von ihr hat. Dies gibt ihm die Veranlassung, die Außenwelt, die ihm anfangs mit seinen Empfindungserlebnissen ganz identisch war, von diesen Empfindungserlebnissen zu trennen. Er verdoppelt die Empfindungserlebnisse (die Empfindungsgignomene) gewissermaßen, indem er sie in die Außenwelt sensu stricto [im engeren Sinne - wp] und seine Empfindungen spaltet. Erstere bezeichnet er dann auch als "Dinge" oder "Sachen", letztere schlägt er zum "Ich-Bezeichneten". Damit ist die definitive naive Klassifikation der Gignomene erreicht. Letztere zerfallen nach dieser Einteilung also in die Körper und das Ich, in dem jetzt alle Empfindungen, Erinnerungen, Gedanken, Gefühle und Strebungen zusammengefaßt werden. Der wissenschaftliche Erkenntnistheoretiker kann eine solche Klassifikation auf keiner ihrer 3 Stufen akezeptieren, weil sie zwischen den beiden Hauptgruppen keine klaren, entweder logisch definierten oder - bei der Unmöglichkeit logischer Definitionen - durch einen Hinweis auf unser übereinstimmendes Erleben eindeutig bestimmten Unterscheidungsmerkmale angibt und sich überdies bei ihrer letzten Umbildung auf sehr prüfungsbedürftige Schlußfolgerungen aus willkürlich gedeuteten Tatsachen stützt. Von einer wissenschaftlichen Klassifikation müssen wir verlangen, daß sie erstens vollständig ist, d. h. alle Gignomene (alles Gegebene) umfaßt, daß sie sich zweitens auf klare Unterscheidungsmerkmale gründet und daß sie drittens keine hypothetischen, transzendenten oder erst durch prüfungsbedürftige Überlegungen vielleicht nachträglich zu beglaubigenden Begriffe einführt. Damit scheiden schon Einteilungen, wie solche in Subjekt (Subjekte) und Objekt (Objekte), Ich und Objekte (Welt), Seele (Seelen) und Materie, Psychisches und Materielles für unsere erste Hauptklassifikation, beim ersten Schritt der Erkenntnistheorie, vorläufig aus. Wir müssen allerdings offen lassen, daß wir vielleicht im weiteren Verlauf der erkenntnistheoretischen Arbeit die erste Hauptklassifikation modifizieren und damit auch etwa zu einer der eben angeführten Einteilungen gelangen könnten. Mit diesem Vorbehalt suchen wir also weiter nach einer ersten Hauptklassifikation, die den angegebenen Bedingungen genügt, und fragen, ob irgendeine andere Wissenschaft uns hierbei helfen könnte. Die formale Logik kann uns eine solche Hilfe offenbar nicht gewähren, da sie von jedem Inhalt abstrahiert und es sich gerade um eine inhaltliche Einteilung handelt. Auch Einteilungen wie Rotes - Nicht-Rotes, Gefühl - Nicht-Gefühl, Vorstellung - Nicht-Vorstellung sind offenbar unzweckmäßig: sie sind zwar richtig und logisch vollständig und klar, vereinigen aber im negativen Glied ganz heterogene Gignomene die nicht in einem positiv angebbaren Merkmal übereinstimmen. Ebenso vermag uns die Naturwissenschaft bei unserer allgemeinsten Einteilung nicht zu helfen, da ihre Gegenstände nicht allen Gignomenen, sondern nur einem bestimmten Teil derselben entsprechen, einem Teil, dessen Abgrenzung zu prüfen erst eine spätere Aufgabe der Erkenntnistheorie ist. Eher könnte aus Gründen, die uns erst später ganz verständlich werden können, die Psychologie behilflich sein. Wir wollen jedoch auch von dieser Hilfe absehen und ganz unabhängig von den Untersuchungen der Psychologie eine Einteilung suchen. Als solche bietet sich die Einteilung der Gignomene in Empfindungsgignomene und Vorstellungsgignomene an. Ich brauche dabei wie sie alsbald sehen werden, das Wort "Vorstellung" in einem engeren Sinn, wonach es die Empfindungen nicht mitumfaßt. Zur Begründung dieser Wahl ist Folgendes anzuführen: Zunächst: ist die gewählte Einteilung vollständig? Darüber kann nur die Erfahrung entscheiden. Beginne ich z. B. jetzt mit der fortlaufenden Beobachtung meiner Gignomene, des mir Gegebenen, so kann ich tatsächlich konstatieren, daß nur Empfindungen und Vorstellungen aufeinander folgen. Ich muß nur hinzufügen, daß diese wie jene oft von eigentümlichen Gefühlen begleitet sind und daß sie untereinander in mannigfacher Weise verbunden sind. Diese Verknüpfungen bezeichne ich zum Teil als Urteile, zum Teil als Wollen. Dabei ist vorläufig noch ganz gleichgültig, wie weit den Urteils- und Willensvorgängen eine selbständige Stellung zukommt. Jedenfalls spielen sich diese Urteils- und Willensvorgänge niemals ohne Vorstellungen ab, und es soll ausdrücklich festgesetzt werden, daß bei Einteilung in Empfindungs- und Vorstellungsgignomene unter den letzteren stets auch die Urteils- und Willensvorgänge mitverstanden werden sollen. Ebenso soll einer etwaigen Selbständigkeit der Gefühle, Stimmungen, Affekte keineswegs vorgegriffen werden. Es genügt die Tatsache, daß auch sie niemals ganz ohne Empfindungen und Vorstellungen vorkommen, und die Festsetzung, daß unter Empfindungs- bzw. Vorstellungsgignomenen stets die etwa begleitenden Gefühle mitinbegriffen werden sollen. Ist die Einteilung ferner klar? Wie bekannt, läßt sich der Unterschied zwischen Empfindungen und Vorstellungen nicht logisch definieren, wohl aber können wir ihn jederzeit in unserem Erleben verifizieren. Durch den Terminus "sinnliche Lebhaftigkeit" bezeichnen wir das charakteristische, spezifische, jederzeit erlebbare Unterscheidungsmerkmal der Empfindung gegenüber der Vorstellung. Dabei brauchen wir keineswegs zu bestreiten, daß in den Gignomenen sich zuweilen Empfindungen und Vorstellungen eng verbinden. Nicht einmal die Existenz von Übergängen ist durch unsere Einteilung absolut ausgeschlossen. Die Einteilung braucht nicht scharf zu sein - denn es ist sehr wohl möglich, daß die Gignomene tatsächlich nicht in zwei scharf getrennte Gruppen zerfallen -, sie soll nur klar, d. h. jedem verständlich und jederzeit anwendbar sein, und diese Klarheit kommt ihr in der Tat zu. Setzt endlich unsere Einteilung irgendwelche willkürliche Hypothesen voraus? Sicher nicht. Es sollen ausdrücklich alle Nebenbedeutungen, die man etwa mit den Worten "Empfindung" und "Vorstellung", "Empfindungsgignomene" und "Vorstellungsgignomene" verbinden könnte, ausgeschaltet werden und ausgeschaltet bleiben. Der Unterschied soll rein phänomenologisch nach dem Merkmal der sinnlichen Lebhaftigkeit fixiert sein. Wenn somit die Haupteinteilung der Gignomene in Empfindungsgignomene und Vorstellungsgignomene die oben gestellten Bedingungen erfüllt und sonach zulässig ist, so ist sie zugleich hier besonders zweckmäßig (39), insofern sie erstens, wie sich weiterhin ergibt, zu den wichtigsten erkenntnistheoretischen Sätzen auf dem kürzesten Weg hinleitet, und zweitens, wie ebenfalls die Probe erweist, uns eine besonders übersichtliche Darstellung der heutigen Erkenntnistheorien gestattet. Dabei wird ohne Weiteres zugegeben, daß manche andere Einteilungen, z. B. in individuelle und allgemeine Gignomene (40), ebenfalls die gestellten Bedingungen zur Not befriedigen und daher gleichfalls zulässig sind. Sie werden nur deshalb von mir nicht gewählt, weil sie nur auf Umwegen und ohne freie Übersicht zu den Hauptproblemen der Erkenntnistheorie führen. An unsere Haupteinteilung schließt sich nämlich sofort die weitere Frage nach dem an. Ist dieser in den Empfindungs- oder in den Vorstellungsgignomenen gegeben? Gebührt diesen oder jenen die Priorität? Unter Priorität soll nicht etwa ein Wert- oder Rangunterschied verstanden werden, sondern lediglich die zeitliche Priorität. Die Beobachtung lehrt uns darüber Folgendes: Die Vorstellungen stehen ausnahmslos zu Empfindungen in Beziehung und folgen diesen Empfindungen, ihren "Grundempfindungen", stets nach. Am unmittelbarsten leuchtet dies für diejenigen Vorstellungen ein, die wir als Erinnerungsbilder bezeichnen, es gilt aber auch für die allgemeinsten, abgeleitetsten Vorstellungen. Diejenigen Erkenntnistheorien, welche diesen Satz von der Priorität der Empfindungen lehren, also in den Empfindungen den "Fundamentalbestand" der Gignomene anerkennen, kann man "proästhetische" nennen. Sie könnten auch als "gemilderter Sensualismus" bezeichnet werden. Sie haben heute einen fast unbestrittenen Sieg über die "protonoetischen" Theorien (41) davongetragen, welche den Vorstellungen und zwar dann meistens den Allgemeinvorstellungen durchweg oder zumindest zum Teil die Priorität zuschreiben. Ebenso sind auch die Theorien, welche für die Empfindungs- und die Vorstellungsgignomene die gleiche Priorität behaupten, mehr und mehr zurückgetreten. Im Altertum hat namentlich PLATO in seiner Ideenlehre den protonoetischen Standpunkt vertreten, insofern er annahm, daß wir in einem früheren Dasein die Ideen selbst geschaut haben und uns jetzt ihrer nur wiedererinnern. Schon unter den Scholastikern drang der proästhetische Standpunkt durch. ANSELM von CANTERBURY scheint ihn bereits zumindest zum Teil eingenommen zu haben. THOMAS von AQUIN (42) sprach ihn ganz direkt aus: wenn wir nicht empfunden hätten, hätten wir nie gedacht. Noch klarer tritt er in einem Satz GASSENDIs (43) hervor: "omnis idea ortum ducit a sensibus." [Jede Idee hat ihren Ursprung in den Sinnen. - wp] Dabei läßt der protästhetische Standpunkt noch ganz unentschieden, ob die Vorstellungen und Urteile ihre Grundempfindungen nur einfach ohne ihre sinnliche Lebhaftigkeit wiederholen oder ob sie zu ihnen noch irgendetwas hinzufügen. Damit spalten sich die protästhetischen Erkenntnistheorien in zwei Hauptrichtungen, diejenige des extremen Sensualismus und diejenige eines Transformismus (44). Der extreme Sensualismus ist systematisch und konsequent seltsamerweise zum erstenmal (45) von einem Bischof PETER BROWN in der anonymen Schrift "The procedure, extent and limits of human understandig" (46) in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vertreten worden. In dem Satz "nihil est in intellectu, quod non ante fuerit in sensu" [Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war. - wp] wird hier das "nihil" im vollen Sinn des Wortes behauptet. Eine etwas anschaulichere, aber oberflächlichere Darstellung derselben Lehre hat dann CONDILLAC gegeben. Er erklärt ausdrücklich: "Die Fähigkeiten der Seele werden nacheinander aus der Empfindung geboren. Die Seele besteht nur aus verwandelten Empfindungen." Diese Transformation selbst wird nun aber meistens von ihm als quantité négligeable [zu vernachlässigende Größe - wp] behandelt. Er erweist sich ganz unfähig, die extrem sensualistische Lehre wirklich konsequenz durchzuführen, da er selbst, durch die Tatsachen gezwungen, eine "opération de l'entendement" [Operation des Verstehens - wp] nach der anderen zugeben muß und nicht einmal versucht, auch diese Operationen ausschließlich auf die Empfindungen selbst zurückzuführen (47). Leider ist gerade bei naturwissenschaftlich denkenden Menschen der extreme Sensualismus oder wenigstens die Tendenz zu demselben noch sehr oft vertreten. Wenn man auch nicht ausdrücklich leugnet, daß die Vorstellungsprozesse mancherlei zu den Empfindungen hinzufügen, so ignoriert man doch diese Hinzufügungen, als ob sie gar nicht existierten. Schon COMTE hatte infolge dieser Tendenz, wie wir oben gesehen haben, das ansich richtige positivistische Prinzip in ganz falsche Bahnen gelenkt. Der modernen Naturwissenschaft sind dank derselben Tendenz schier unlösbare Schwierigkeiten in der Deutung der räumlichen und zeitlichen Eigenschaften der Dinge und der Empfindungen entstanden. Die Einseitigkeit des Weltbildes, welches HAECKEL entwirft, erklärt sich in letzter Linie aus seinem extremen Sensualismus. Demgegenüber behauptet der Transformismus sicher mit Recht, daß unsere Vorstellungsprozesse, zu denen nach unserer anfänglichen Feststellung auch alle unsere erkenntnistheoretischen Vorstellungen selbst gehören, nicht nur abgeschwächte Empfindungen oder irgendwelche andere einfache Kopien der Empfindungen sind, sondern zu den Empfindungen noch irgendetwas hinzutun. Dieses Hinzutun ist selbstverständlich nicht im Sinne einer Addition, sondern im Sinn einer Umgestaltung ("Transformation") zu verstehen. Schon PLATO hat das transformistische Prinzip sehr klar ausgesprochen, indem er bestritt, daß die episteme, das Wissen oder Erkennen, mit der aisthesis, der Empfindung identisch ist (48). Unübertrefflich setzt er auseinander, daß z. B. die Vorstellung der Ähnlichkeit und Unähnlichkeit (49), die Bildung von Allgemeinvorstellungen und Urteilen (50) usw. weit über das Gegebene der Empfindungsgignomene hinausgeht. Trotz mancher Rückfälle in den extremen Sensualismus hat daher der Transformismus schließlich doch immer wieder den Kampfplatz siegreich behauptet. Es lohnt sich, bevor wir zu weiteren erkenntnistheoretischen Schritten übergehen, das Verhältnis des Transformismus zur Annahme apriorischer Funktionen, also zum Apriorismus kurz etwas näher zu beleuchten. Beide stimmen darin überein, daß sie die totale Abhängigkeit der Vorstellungsprozesse von den Empfindungsprozessen bestreiten oder, wie wir es auch ausdrücken können, von den Empfindungen unabhängige Vorstellungsfunktionen (51) annehmen. Während aber der Transformismus sich hierauf beschränkt und Vorstellungen ohne Grundempfindungen nicht anerkennt, behauptet der Apriorismus eine viel weitergehende Unabhängigkeit von den Empfindungen und hält es daher für möglich, daß wir einzelne sehr allgemeine Begriff und Urteile auch ohne jede Sinneserfahrung bilden. Letztere ist gewissermaßen nur der Agent provocateur, der Auslöser für diese "reinen", "apriorischen" Begriffe und Sätze (52). Er deutet daher auch gern die in Rede stehenden Vorstellungsfunktionen nicht wie der Transformismus als mitwirkende Faktoren bei der Entstehung der Vorstellungen und Urteile aus den Empfindungen, sondern als logische mehr oder weniger metaphysische und metapsychische Vorbedingungen. So gelangt er dann bei KANT weiter dazu, die Vorstellungsfunktionen als "Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung" hinzustellen. Anstelle der einfachen Mitwirkung tritt so, dank einer Tendenz, die uns später noch als Logizismus begegnen wird, eine logische Beziehung. Der Apriorismus wird zum "Transzendentalismus". Zuweilen hat dann KANT sogar dank des Doppelsinns des Wortes "a priori" abgesehen von dieser logischen Verschiebung der Apriorität auch ein zeitliches Vorausgehen jener Vorstellungsfunktionen angenommen (53). Mit allen diesen hypothetischen Weiterbildungen hat der Transformismus als solcher nichts zu tun. Gerade, um eine Verwechslung mit denselben zu verhüten, mußten wir die neue Bezeichnung "Transformismus" einführen. Wir gehen nunmehr einen Schritt weiter und fragen, auf dem Standpunkt des Transformismus stehend, nach dem zweckmäßigsten erkenntnistheoretischen Untersuchung, untersuchen also, ob wir zweckmäßiger von den Empfindungsgignomenen oder von den Vorstellungsgignomenen ausgehen. Ausdrücklich muß hervorgehoben werden, daß es sich hierbei lediglich um eine Frage der zweckmäßigen Methodik handelt. Beide Wege müssen, sofern sie überhaupt Resultate ergeben, zu denselben Resultaten führen. Auch ist jedenfalls, wenn man zunächst von den Empfindungen ausgeht, allenthalben bereits auf eine etwaige Mitbeteiligung der Vorstellungen Rücksicht zu nehmen und eine zweite ebenso gründliche Untersuchung hinterher den Vorstellungen zu widmen, und ebenso umgekehrt. Die Erkenntnistheorie hat bisher bald diesen, bald jenen Weg eingeschlagen und schlägt auch heute noch beide Wege ein. Man kann die erste Richtung, welche von den Empfindungsgignomenen ausgeht, auch kurz als die genetische, die zweite als die rekonstruierende bezeichnen, insofern jene der Entwicklung der Vorstellungen aus den Empfindungen entsprechend dem protästhetischen Prinzip (siehe oben) treu bleibt (54), diese aus den Vorstellungen und Urteilen die Empfindungswelt gewissermaßen rekonstruiert. Schon die alte Philosophie zeigt uns den Gegensatz der beiden Richtungen. PLATO bevorzugt - wie dies bei seinem protonoetischen Standpunkt nicht anders zu erwarten ist - die rekonstruierende Methode. Umgekehrt ist bei ARISTOTELES ein gelegentliches Hinneigen zur genetischen Methode nicht zu verkennen. Schon äußerlich verrät sich dies in der stärkeren Berücksichtigung der Sinnesphysiologie. Noch ausgeprägter tritt die genetische Tendenz bei manchen Aristotelikern (55), z. B. ALEXANDER APHRODISIAS und namentlich bei EPIKUR hervor. In der neuen Philosophie ist, namentlich seit KANT, die rekonstruierende Methode allmählich zur Vorherrschaft gelangt. Nur LOCKE und HUME können unter den großen neueren Philosophen als Vertreter der genetischen Richtung genannt werden. Man bezeichnet die genetische Richtung nicht selten auch als Emprisimus. Es ist auch gegen diese Bezeichnung kaum etwas einzuwenden, wenn man sich gegenwärtig hält, daß dabei das Wort "Erfahrung" (= Empirie) im engeren Sinn für die Sinneserfahrung (= Empfindungsgignomene) gebraucht wird (56). Für die Empiristen ist in der Tat das Ausgehen von der Empirie in diesem Sinne charakteristisch. Von den anderen Bedeutungen des Wortes "Erfahrung", welche ihm bis heute oft genug untergelegt worden sind, muß dann ganz abgesehen werden. Es wird z. B. oft die Gesamtheit alles Gegebenen als "Erfahrung" bezeichnet (57). Würde man diese Bedeutung des Wortes zugrunde legen, so würde der Empirismus mit dem Positivismus, wie wir ihn oben bestimmt haben, ungefähr zusammenfallen. Andererseits hat KANT unter Erfahrung sehr oft die vom Verstand verarbeiteten Empfindungsgignomene (also inklusive dieser Verarbeitung verstanden und sie dem "rohen Stoff" der sinnlichen Eindrücke, d. h. den Empfindungsgignomenen gegenübergestellt (58). Bei dieser Definition des Erfahrungsbegriffs würde der Empirismus dem Wortsinn nach geradezu die entgegengesetzte Bedeutung bekommen und mit der rekonstruierenden Erkenntnistheorie fast zusammenfallen. Die übliche Bezeichnung von LOCKE und vielen anderen Empiristen würde dann unzulässig werden. In Anbetracht all dieser terminologischen Widersprüche scheint es mir vorsichtiger, den Terminus "Empirismus" ganz zu streichen oder zumindest, wenn man darunter die genetische Erkenntnistheorie verstehen will, von "genetischem Empirismus" zu sprechen. Die Wahl zwischen den beiden Methoden, der genetischen und der rekonstruierenden, muß jedem Forscher freigestellt bleiben. Die Vorbildung und die Individualität des Einzelnen wird dabei eine wesentliche Rolle spielen. Auch muß es geradezu als ein Vorteil bezeichnet werden, wenn beide Wege beschritten werden. Die gegenseitige Kontrolle der Einzel- und vor allem der Endergebnisse wird dadurch ganz besonders wertvoll. Immerhin scheinen mir einige wesentliche Gründe für die vorzugsweise Wahl des genetischen Weges zu sprechen. Wer von den Vorstellungsprozessen ausgeht, nimmt mit diesen schon viele hypothetische, prüfungsbedürftige, darunter manche falsche, ganz willkürliche Vorstellungsbildung in Kauf. Er muß durch eine oft sehr schwierige und mühsame Kritik die Vorstellungsprozesse erst sichten und rektifizieren [entzerren - wp] und muß dabei doch wieder auf die Empfindungsgignomene rekurrieren [zurückkommen - wp]. Die Gefahr, daß er schließlich doch den einen oder anderen unzulässigen Vorstellungsprozeß, eine oder die andere unzulässige Vorstellung bestehen läßt und seiner Erkenntnistheorie zugrunde legt, ist außerordentlich groß. Die Geschichte der modernen Philosophie bis zum heutigen Tag ist ein Kirchhof von Systemen, die an einer solchen Gefahr zugrunde gegangen sind. Wir dürfen nie vergessen, daß unsere ganze Erkenntnistheorie selbst zu den Vorstellungsprozessen gehört und daß alle unsere Vorstellungsprozesse von mehr oder weniger naiven erkenntnistheoretischen Vorstellungen durchwirkt sind. Ist es bei dieser Situation klug, der Erkenntnistheorie, welche die allgemeinsten Vorstellungen der Gignomene bilden soll, gerade die gewissermaßen schon mannigfach präjudizierten Vorstellungsprozesse zugrunde zu legen? Im Bereich der Empfindungsgignomene gibt es kein "wahr" und "falsch". Sie "sind" einfach. Auch Doppelbilder, Brechungen, Halluzinationen usw. sind nicht falsch, die Falschheit liegt nur in den Deutungen, d. h. in den angeknüpften Vorstellungen. Die Prädikate "wahr" und "falsch" haben nur im Bereich der Vorstellungsprozesse Sinn. Jede Empfindung muß bei der Bildung unserer Vorstellungen verwertet und gedeutet werden. Unter den Vorstellungen müssen wir, da nicht wenige falsch gebildet sind, eine Auslese halten. Durch Ausgehen von den Empfindungen erspart sich die Erkenntnistheorie diese schwierige und irrtumgsgefährliche Auslese. Dazu kommt noch ein weiterer Vorteil des genetischen Verfahrens. Dank der gemeinschaftlichen Tätigkeit der Naturwissenschaften und der Psychologie sind uns die Empfindungsgignomene und ihre Veränderungen sehr gut bekannt. Wir können uns also, wenn wir genetisch vorgehen, allenthalben an zahlreiche sichere Tatsachen anlehnen und müssen nur die Vorsicht gebrauchen, lediglich das Tatsächliche zu verwerten und mißtrauisch alle Deutungen der Naturwissenschaft und Psychologie von unserem Fundament auszuschließen. Demgegenüber sind unsere Kenntnisse der Vorstellungsgignomene (Vorstellungen, Urteile) noch äußerst dürftig. Trotz mancher anerkennenswerter Bemühungen sind wir über die sogenannten Assoziationsgesetze noch kaum hinausgekommen. Die Vorstellungen sind infolge ihrer Zerfließlichkeit und Flüchtigkeit der experimentellen Untersuchung eben viel schwerer zugänglich. Jedenfalls sind wir auf dem rekonstruierenden Weg nur auf eine sehr bescheidene Zahl sicher gestellter Tatsachen angewiesen. Es bedarf keiner weiteren Erörterung, daß damit wiederum für die rekonstruierende Erkenntnistheorie zahlreiche Gefahren gegeben sind. Vor allem ist die Gefahr eines Sturzes in spekulative Abgründe kaum zu vermeiden, und tatsächlich sind ihr fast alle rekonstruierenden Erkenntnistheorien zum Opfer gefallen. Sie fangen zum Teil einwandfrei an, dann aber erfolgt an einem bestimmten Punkt - ich kann oft die Seite des Buches angeben - mangels tatsächlicher Unterlagen der Sprung ins Spekulative. Aus all diesen Gründen werde ich der weiteren Darstellung der Verzweigungen der Erkenntnistheorie den genetischen Standpunkt zugrunde legen, aber allenthalben doch auch dem rekonstruierenden Standpunkt Rechnung tragen. Ganz abweisen müssen wir dabei jedoch alle Versuche, den letzteren Standpunkt in der Weise durchzuführen, daß die Empfindungsgignomene aus der Erkenntnistheorie als nebensächlich mehr oder weniger ausgeschaltet werden. Zwei Richtungen der Erkenntnistheorie sind es namentlich, die in diesem Sinn den rekonstruierenden Standpunkt von der Empfindungswelt ganz oder fast ganz loslösen, eine ältere, die man gewöhnlich als Rationalismus bezeichnet, und eine neuere, die jener nahe verwandt ist, aber doch in der übertriebenen Hervorhebung des logischen Standpunktes von ihr abweicht und im Hinblick auf diese Eigentümlichkeit als Logizismus bezeichnet werden kann. (59) Beide sind den Gefahren, welche den rekonstruierenden Standpunkt, wie wir sahen, bedrohen, unterlegen. Der Rationalismus behauptet ganz allgemein, daß die Vorstellungsprozesse oder Vorstellungsfunktionen genügen, um die Erkenntnistheorie zu entwickeln. Auf die Mitwirkung der Empfindungsgignomene wird im Prinzip ganz verzichtet. Höchstens wird letzteren ganz im Allgemeinen ein bescheidener Nebeneinfluß zugestanden. Es wird ignoriert, daß die Vorstellungsprozesse ihren Inhalt vollständig oder größtenteils aus den Empfindungsgignomenen entnommen haben und daß die Aufgabe der Erkenntnistheorie die Zusammenfassung aller, d. h. doch wenigstens auch der Empfindungsgignomene, in Allgemeinvorstellungen ist. Die Rationalisten bauen ihr System auf den von den Empfindungsgignomenen losgelösten und vom Empfindungsinhalt befreiten Vorstellungsgignomenen auf und werfen höchstens nachträglich - und selbst dies versäumen viele - einen Blick auf die Empfindungswelt, um zu konstatieren, daß sie - dank vielen Vergewaltigungen und Mißdeutungen - mit ihrem System übereinstimmt. Der Rationalismus entspricht daher fast ganz dem, was wir als Metaphysik bezeichnen (60). Wie unsere weiterhin folgende Erörterung der Begriffe des Physischen und des Psychischen ergeben wird, ist das rationalistische Ignorieren oder wesentliche Unterschätzen der Sinneserfahrung in der Hauptsache mit der Mißachtung der Bedeutung des Physischen identisch und insofern "meta-physisch". Übrigens ergibt eine sorgfältige Prüfung der rationalistischen Systeme, daß sie sich sämtlich nicht treu bleiben und versteckt, sich selbst unbewußt, doch allenthalben die Sinneserfahrung oder vielmehr Bruchstücke derselben ganz naiv bei ihrem Aufbau verwerten. Bei der Inhaltsarmut, die den Vorstellungsprozessen und Vorstellungsfunktioinen anhaftet, sobald man rationalistisch von ihrem Empfindungsinhalt absieht, sind die Rationalisten zu solchen ihrem eigenen Prinzip widersprechenden verstohlenen Entlehnungen geradezu gezwungen. Ohne diese brächten sie ihre Systeme überhaupt nicht zustande. Nur allzu verständlich ist es auch, daß der Rationalist sehr oft rückfällig wird und in eine der früher schon abgewiesenen, auch von ihm selbst verworfenen oder zumindest verleugneten Erkenntnistheorien einmündet. Namentlich die dogmatischen und protonoetischen Erkenntnistheorien (siehe oben) üben auf ihn eine unwiderstehlich Anziehungskraft aus. Es gibt daher wenig rationalistische Systeme, die nicht hie und da dogmatische und protonoetische Elemente enthalten. Viele stellen geradezu eine unklare Verbindung von Rationalismus, Dogmatismus und Protonoetik dar. Insbesondere ist die Verknüpfung des Rationalismus mit der Protoneotik so eng, daß man letztere oft zu ersterem gerechnet hat und rechnet. Die Beziehung zum Dogmatismus ist vielleicht sachlich nicht so eng, dafür ist die Versuchung zu einem dogmatischen Rückfall umso größer, als ohne Zuhilfenahme eines dogmatischen Satzes der Aufbau des Systems bald stocken müßte. Das Immanenzprinzip, das ansich mit dem methodologischen Standpunkt einer rekonstruierenden Erkenntnistheorie sehr wohl verträglich ist (61), wird daher vom Rationalismus meistens preisgegeben. So tritt der Rationalismus auch in einen Gegensatz zum Positivismus, wie wir ihn oben bestimmt haben. Der Rationalismus ist uralt. Die Eleaten sind seine ältesten konsequenten Vertreter. Das "Denkende" (d. h. eben die Vorstellungsgignomene) ist für sie mit dem "Seienden" identisch (62). Die Empfindungen müssen "aus der Wahrheit hinausgeworfen werden". (63) PLATO zeigt uns sehr ausgeprägt die Vermischung der Protonoetik mit dem Rationalismus. ARISTOTELES ist trotz seines Hinneigens zur genetischen Methode in seiner Erkenntnistheorie überwiegend rationalistisch und mit ihm die ganze Scholastik. Ein besonderes Seelenvermögen - zuweilen sogar ein überseelisches Vermögen -, das balda als logos, bald als nous, bald als ratio bezeichnet wird, wurde speziell mit diesem vom Sinnlichen unabhängigen Denken betraut. Die neuere Philosophie hat, wenn man von den oben erwähnten sogenannten Empiristen (LOCKE u. a.) absieht, am rationalistischen Prinzip zunächst durchaus festgehalten. In besonders bedeutsamer, folgenschwerer Weise wurde es dann von KANT umgestaltet. Während der vorkantische Rationalismus sich keinerlei Grenzen im Aufbau seiner Systeme aus bloßen Vorstellungen steckte und daher in seiner Loslösung von den Empfindungsgignomenen immer weiter ging und daher auch mehr und mehr, wie oben geschildert, vom rekonstruierenden Standpunkt zum Dogmatismus und zur Protonoetik überging, schränkte KANT durch seine Vernunftkritik den Rationalismus auf das Gebiet "möglicher Erfahrung" ein. (64) Damit war zwar dem alten Rationalismus für einige Zeit ein Ende gemacht, aber KANT selbst hielt doch dem Rationalismus ein bestimmtes, nicht kleines Territorium offen. Es gibt nach KANT reine, apriorische, von aller Sinneserfahrung unabhängige "Verstandesbegriffe", die Kategorien, und ebenso reine apriorische, von aller Sinneserfahrung unabhängige "Grundsätzes" des Verstandes. Wenn er auch immer und immer wieder erklärt (65), daß diese reinen Verstandesbegriffe und Verstandesgrundsätze "jederzeit nur von empirischem Gebrauch sein" können und dürfen, so bleibt doch der rationalistische Charakter jener Begriffe und Grundsätze selbst bestehen. Der Grundsatz also z. B.: "alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetz der Verknüpfung von Ursache und Wirkung" (66) würde nach KANT in dieser Allgemeinheit ein Satz sein, dessen wir uns zwar erst in der Erfahrung bewußt werden, der aber von dieser Erfahrung, speziell von der Sinneserfahrung unabhängig ist. Wir haben es also gar nicht nötig, seine Richtigkeit in den Empfindungsgignomenen nachzuweisen. Wir können - ganz im Sinne des Rationalismus - diese Begriffe und Sätze auch ganz losgelöst von den Empfindungsgignomenen als richtig erweisen. Ich erinnere Sie dabei an meine Ausführungen über den kantischen Apriorismus. Da der Apriorismus, wie wir gesehen haben, behauptet, daß nicht alle Vorstellungen aus Empfindungen hervorgehen, sondern einzelne ganz unabhängig von der Sinneserfahrung sind, sich also in ihr, aber nicht aus ihr entwickeln, so hängt er fast untrennbar mit dem eingeschränkten Rationalismus, wie wir ihn bei KANT finden, zusammen. Wenn es apriorische Vorstellungen gibt, so ist nicht abzusehen, weshalb die Erkenntnistheorie nicht versuchen sollte, in einem rationalistischen Sinn ein System lediglich auf diesen Vorstellungen aufzubauen. KANTs System (67) der Begriffe und der Grundsätze des reinen Verstandes ist nichts anderes als ein solcher Versuch. Wir haben wir uns nun zu diesem eingeschränkten oder gemilderten Rationalismus KANTs, den man auch als kritischen oder aprioristischen Rationalismus bezeichnen kann, zu verhalten? Der Streit zwischen ihm und der transformistisch-genetischen Erkenntnistheorie ist heute noch nicht entschieden. Die transformistisch-rekonstruierende Erkenntnistheorie ist, wie wir bereits gesehen haben, den Gefahren ihrer Methode fast stets erlegen und ist entweder beim extremen oder bei einem abgeschwächten Rationalismus gelandet. Sie spielt daher zur Zeit in dem jetzt in Frage stehenden Kampf kaum eine Rolle. Wir wollen der Entscheidung nicht vorgreifen. Ich selbst bin - allerdings wohl mit einer Minderzahl - überzeugt, daß auch dieser kritische Rationalismus ein Irrtum ist. Auch jene Begriffe und Grundsätze, für welche derselbe eine von der Sinneserfahrung unabhängige Herleitung bzw. Herleitbarkeit behauptet, sind mit Hilfe unserer Vorstellungsfunktionen aus der Sinneserfahrung und nur aus dieser geschöpft. Nicht nur an und in, sondern auch aus ihr. Die Vorstellungsfunktionen selbst, auf sich gestellt, bringen keinen einzigen Begriff, geschweige denn irgendeinen "Grundsatz" zustande. Wählen wir als Beispiel das für KANT günstigste, den Kausalitätsbegriff und den Kausalitätssatz (68)! KANT glaubt ihn a priori herleiten zu können. Zweimal hat er eine solche "Deduktion" versucht. Beide sind trotz vieler Ausbesserungsversuche, wie mir scheint, gescheitert (69). Es ist KANT zunächst schon nicht gelungen, die Apriorität einzelner allgemeiner Begriffe und Grundsätze und speziell des Kausalitätsbegriffs und -satzes darzulegen. Aus der Übereinstimmung der allgemeinen Dingbegriffe mit bestimmten logischen Funktionen (Grund - Folge) (70) folgt für die Apriorität gar nichts; denn es bleibt offfen, ob die in Betracht kommenden "logischen Funktionen" (Grund - Folge) nicht selbst erst aus den Tatsachen der Sinneserfahrung entlehnt worden sind. Ebenso muß durchaus bestritten werden, daß die Tatsache "reiner" Begriffe analytisch, durch eine Zergliederung der Vorstellung eines Gegenstandes zu erkennen ist, daß nach Abstraktion von allem Sinnlichen in der Vorstellung die Begriffe Substanz, Kausalität, Subjekt, Grund usw. übrig bleiben und diese Begriffe folglich nicht aus dem sinnlichen Bestandteil der Vorstellung stammen können (71). Ich wende ein, erstens, daß diese Begriffe mit der "Abstraktion von allem Sinnlichen" gleichfalls verschwinden, und bitte mir eine Analyse vorzumachen, bei welcher sie übrig bleiben, und wende zweitens ein, daß manche dieser Begriffe sich bei einer solchen Analyse nur als unklare und falsch gebildete Vorstellungen einzelner Köpfe erweisen. Ebensowenig wie der Nachweis der Apriorität gelingt derjenige der "objektiven Gültigkeit", der Allgemeinheit und Notwendigkeit. Er stützt sich im Wesentlichen auf die "Einheitsform des Denkens" (72), die "Einheit des Bewußtseins". Aber diese selbst ist erstens doch höchstens aus der Erfahrung zu erkennen und dann also von jeder absoluten Allgemeingültigkeit weit entfernt und zweitens höchst zweifelhaft. Ich muß mit KANT wieder einen noch zweifelhafteren inneren Sinn und dgl. zu Hilfe nehmen, um diese Einheit zu erweisen. Aus der bloßen Analyse des Begriffs "Ding", "Gegenstand", "Ich", "Bewußtsein" kann doch nicht die Tatsächlichkeit einer solchen Einheit gefolgert werden. Mit einer solchen Beweisführung wären wir wieder beim schönsten Ontologismus (73) angelangt, wie er früher in den Beweisen für das Dasein Gottes, der Seele usw. üblich war und wie er gerade von KANT widerlegt worden ist. Die objektive Gültigkeit all dieser Begriffe geht genau so weit, als ich diese Begriffe bis jetzt zu den Empfindungsgignomenen hinzugedacht, bzw. in sie hineingedacht habe. Die umgedachte Sinneserfahrung, die Erfahrung in der bei KANT überwiegenden Bedeutung, muß diese Begriffe natürlich stets enthalten, sonst wäre sie nicht umgedacht. Ebenso ist selbstverständlich im Sinn eines Transformismus zuzugeben, daß bei diesem Umdenken wie bei allen Vorstellungsprozessen Vorstellungsfunktionen beteiligt sind, die nicht einfach eine Wiederholung der Empfindungsgignomene bedeuten. Dagegen bin ich erstens gar nicht gezwungen, diese Begriffe und Sätze in die Empfindungswelt hineinzudenken, und zweitens sind diese Begriffe und Sätze, da sich ihre Apriorität nicht erweisen läßt, nicht von denjenigen Vorstellungen, Urteilen etc., welche uns sonst allenthalben begegnen, wesensverschieden, sondern durch dieselben Vorstellungsfunktionen mit den Verhältnissen der Empfindungsgignomene erklärt sich daraus, daß jene sich phylogenetisch durch Anpassung an die Empfindungsgignome entwickelt haben. Die inhaltliche Übereinstimmung der allgemeinen Kausalvorstellungen mit den Empfindungsgignomenen ist, wenn jene aus diesen entstanden sind, ohne weiteres verständlich. Mancher Anhänger KANTs wird dann schließlich noch einwenden, daß diese Allgemeinheit und Notwendigkeit welche wir dem Kausalgesetz zuschreiben, bei unserer Auffassung nicht verständlich wird. Dagegen ist jedoch zu bemerken ((74), daß die Allgemeinheit und Notwendigkeit in diesem unumschränkten Sinn gar nicht zugegeben werden kann. Wir können hier nur alles wiederholen, was wir über die Berechtigung des relativen Skeptizismus auseinandergesetzt haben. Das Kausalgesetz ist nicht denknotwendig, seine Allgemeingültigkeit ist nur wahrscheinlich, nicht absolut sicher. Wir sind im Sinne des Immanenzprinzips an unsere bisherige Erfahrung gebunden und können über künftige Erfahrungen, als über die Allgemeingültigkeit nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit urteilen. Von einem Denkenmüssen eines mystischen notwendigen Zusammenhangs - man mag ihm einen subjektiven oder objektiven Ursprung zuschreiben - kann erst recht nicht die Rede sein. Wie wenig ein solcher Denkzwang besteht, beweist nicht nur die unbefangene Beobachtung von Kindern und Ungebildeten, sondern auch die Geschichte der Philosophie und der Physik selbst. Die Skeptiker haben doch nicht etwa nur aus Eigensinn und Unverstand die Erkennbarkeit allgemeiner und notwendiger Sätze bestritten. Die moderne Physik ist sogar dazu gelangt, hin und wieder Zweifel an der Eindeutigkeit und der Konstanz der Naturgesetze zu erheben (75). Wenn ich auch überzeugt bin, daß die Gründe, welche jetzt gegen diese Eindeutigkeit und Konstanz geführt worden sind, nicht stichhaltig sind, so geht doch aus der Tatsache, daß man solche Gründe geltend machen und solche Zweifel erheben konnte, zumindest soviel mit Sicherheit hervor, daß das Kausalgesetz keinen Anspruch auf Allgemeinheit und Notwendigkeit im Sinne KANTs hat. Wir können nur bescheiden sagen: "es hat sich bis jetzt bewährt" und bescheiden erwarten, daß es sich auch noch weiterhin bewährt. Wir brauchen bei diesem Standpunkt nicht einmal zu behaupten - wie die Gegner uns zuschieben -, daß das Kausalgesetz das Geschehen nur mit Wahrscheinlichkeit bestimmt, wir können sogar die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit zugeben, daß es das Geschehen mit absoluter, konstanter, eindeutiger Gesetzmäßigkeit bestimmt, wir bestreiten nur, daß wir für diese absolute konstante eindeutige Gesetzmäßigkeit einen zureichenden objektiven oder subjektiven Beweis führen können und behaupten, daß wir für eine solche absolute Gesetzmäßigkeit nur Wahrscheinlichkeitsgründe anführen können. (76) Was vom Kausalitätsbegriff und Kausalitätsgesetz soeben gesagt wurde, gilt in noch viel höherem Maß von den anderen apriorischen Grundbegriffen (Kategorien) und Grundsätzen (Axiomen, Antizipationen, Analogien, Postulaten) (77) des eingeschränkten Rationalismus. Teils sind sie sogar falsch gebildet, für alle aber ist weder Apriorität noch Allgemeinheit noch Notwendigkeit nachweisbar. Selbst innerhalb der engeren Grenzen, die KANT dem Rationalismus gesteckt hat, vermag er ohne Hilfe der Empfindungsgignomene zu keinem einzigen brauchbaren Begriff oder Satz zu gelangen. Ich habe Ihnen vorhin gesagt, daß der Kampf zwischen der transformatorisch-genetischen Erkenntnistheorie und dem eingeschränkten Rationalismus noch nicht entschieden ist. Jetzt habe ich Ihnen all die Argumente angeführt, welche zugunsten der ersteren und gegen den letzteren sprechen. Für mich sind dieselben entscheidend. Ich überlasse es Ihnen, ob Sie sich dieser Entscheidung anschließen wollen. Zu einem ausführlichen Eingehen auf den kritischen Rationalismus an dieser Stelle war ich genötigt; denn noch heute ist die Lehre KANTs - mit einigen Abänderungen in untergeordneten Punkten (78) - nicht nur diejenige unter den Gegnerinnen der genetischen Erkenntnistheorie, welche von den klügsten Köpfen vertreten wird, sondern auch diejenige, welche von vielen Naturforschern mit einem ganz unberechtigten Hochmut ignoriert wird. Auch jede naturwissenschaftliche Erkenntnistheorie muß sich noch heute vor allem mit KANT und speziell mit seinem eingeschränkten Rationalismus auseinandersetzen. Sehr viel kürzer kann ich mich bezüglich einer anderen Richtung fassen, die ebenfalls der genetischen Erkenntnistheorie gegenübertritt. Ich meine den oben bereits erwähnten Logizismus. Schon KANTs Rationalismus kehrte den logischen Standpunkt, wie wir gesehen haben, zu stark heraus. Er leitete seine "reinen Verstandesbegriffe" aus den Urteilsformen ab. In seiner metaphysischen Deduktion der ersteren spielt die Übereinstimmung der Erkenntnisbegriffe mit den logischen Funktionen die entscheidende Rolle. Die transzendentale Deduktion ist in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft mehr und mehr in einem logischen Sinn umgestaltet. Aus dem Begriff des Bewußtseins versucht KANT hier mit Nebenansetzung aller psychologischen Erläuterungen die objektive Gültigkeit seiner Kategorien nachzuweisen. KANTs Anhänger haben, namentlich seit der Wiedergeburt des Kantianismus vor 40 Jahren, zu einem großen Teil diese logische Seite der Lehre KANTs noch mehr in den Vordergrund gedrängt (79). Der moderne Logizismus hat den logischen Standpunkt bis in sein Extrem nachgebildet. Für den Logizisten sind die logischen Begriffe und Urteile nicht ein kleiner Teil des Gegebenen, dem nur die Bedeutung der Zusammenfassung von anderem Gegebenen zukommt, wie von der genetischen Erkenntnistheorie gelehrt wird, sondern sie haben - zumindest zum Teil - eine Stellung außerhalb des Gegebenen und über dem Gegebenen. Die wissenschaftliche Erkenntnis, die für den Positivisten lediglich die Feststellung von Gleichheiten und Ähnlichkeiten im Bereich der Gignomene ist, soll "Erkenntnis aus dem Grunde" sein (80) und den "Grund von etwas erkennen" soll bedeuten "die Notwendigkeit davon, daß es sich so und so verhält, einsehen". "Die Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft überhaupt" sind für den Logizisten nicht etwa nur die Gignomene und unsere Vorstellungsfunktionen (81), sondern es existieren auch rein-logische Bedingungen, die "rein im Inhalt der Erkenntnis gründen" sollen (82), "nur das Denken selbst kann erzeugen, was als Sein gelten darf" (83). Diese apriorischen rein-logischen Erkenntnisbedingungen sollen nun, abgesondert "von aller Beziehung zum denkenden Subjekt und zur Idee der Subjektivität überhaupt", vor allem ganz unabhängig von ihrer psychologischen Entstehung und Bedeutung erforscht werden können. Offenbar kommt daher alles auf den Nachweis an, daß solche "ideale" Bedingungen neben den im Gegebenen liegenden realen Bedingungen und den psychologischen unserer Vorstellungsfunktionen wirklich existieren. Diesen Nachweis vermisse ich vollständig. Die mathematische Mannigfaltigkeitslehre, die von den Logizisten gern als Beispiel einer "rein-logischen" Leistung angeführt wird, ist durchaus keine reine Logik. Soweit sie mehr ist als bloße Zeichenlehre und formale Logik, soweit sie also nicht lediglich gewisse Worte und Zeichen im Interesse eines eindeutigen und konstanten Gebrauchs definiert und die sich aus diesen Definitionen ergebenden formal-logischen Konsequenzen zieht, ist sie nichts anderes als Mathematik und wie diese auf Erfahrung gegründet (84). Der Wert sowohl jener formalen Regeln wie dieser allgemein-mathematischen Sätze soll gar nicht bestritten werden, aber sie verhelfen uns zu keinem einzigen erkenntnistheoretischen Satz, und insbesondere sind auch die allgemein-mathematischen Sätze nicht als apriorisch zu erweisen. Ohne Berücksichtigung der Gignomene und speziell der Empfindungsgignomene könnten alle diese Sätze, soweit sie richtig sind, niemals aufgestellt werden. Mannigfaltigkeit, Verknüpfung usw. sind Begriffe, die nur aus der Sinneserfahrung entlehnt werden können. Die Logizisten werfen ihren Gegnern gern "Psychologismus" vor. Wenn man unter Psychologismus die Meinung versteht, daß die Bedeutung der Allgemeinbegriffe lediglich in ihrer psychologischen Entstehung gegeben ist, so ist er allerdings absolut verfehlt. Wo existiert aber ein solches Unding des Psychologismus? Ich behaupte vielmehr, daß die Allgemeinbegriffe die in den Gignomenen und zwar speziell die in den Empfindungsgignomenen vorhandenen Gleichheiten und Ähnlichkeiten durch unsere Vorstellungsfunktionen ausdrücken. Die Bedeutung der Allgemeinbegriffe ist also vor allem in den tatsächlichen Gleichheiten und Ähnlichkeiten der Gignomene gegeben. Richtig ist an der logizistischen Lehre nur, daß wir die individuellen Besonderheiten, welche dem Allgemeinbegriff des einzelnen Menschen infolge der Zufälligkeit der verwerteten Sinneserfahrungen anhaften, bis zu einem gewissen Grad ausgleichen können, indem wir die vollständige Erfahrung vieler Menschen zugrunde legen und durch Abstraktion von den individuellen Verschiedenheiten einen für alle Menschen verwertbaren Durchschnitts- bzw. Normalbegriff, gewißermaßen den Allgemeinbegriff eines Allgemeinbegriffs darstellen. Damit werden die Allgemeinbegriffe aber doch nur von den individuellen Schwankungen der Empfindungsgignomene und in keiner Weise von den Empfindungsgignomenen selbst unabhängig. Der Logizist glaubt fälschlich, unabhängig von den Gignomenen, speziell unabhängig von den Empfindungsgignomenen, also rein-rationalistische eine Wissenschaft konstruieren zu können und unterscheidet sich vom extremen Rationalismus nur dadurch, daß er sich auf eine vermeintliche Logik zu stützen versucht. Das ganze Ziel der Erkenntnistheorie verschiebt sich daher auch für den Logizisten. Er behauptet z. B., daß die Erkenntnistheorie "nach den logischen Voraussetzungen der Wirklichkeitserkenntnis frägt" (85). Ausdrücklich wird der Erkenntnistheorie das Recht zugesprochen, Begriffe zu bilden, "die nicht Begriffe von Wirklichkeiten sind", "denen keine Wirklichkeit entspricht", weder eine transzendente, noch eine immanente. Die Gefilde dieses Reservat-Territoriums sind natürlich sehr ergiebig, da die Kontrolle durch die Gignomene so gut wie ausgeschaltet ist. So kommt dann z. B. ein erkenntnistheoretisches unpersönliches Subjekt "mit der Transzendenz des Sollens", eine "logische Priorität des Sollens vor dem Sein" und dgl. mehr zum Vorscheint (86). Wir sind wieder mitten in der Zeit FICHTEs und HEGELs. Die Verwandtschaft mit ersterem wird sogar ausdrücklich hervorgehoben (87). VOLKELT (88) hat bei der Besprechung einer logizistischen Schrift von "Spinneweben und Seifenblasen" gesprochen. Der Ausdruck ist zu hart, aber sachlich ist die Kritik VOLKELTs vollkommen berechtigt. Man fühlt sich in der Tat bei der Lektüre mancher logizistischer Arbeiten wieder in die Begriffsmetaphysik des scholastischen Mittelalters zurückversetzt. Wir kehre jetzt nach unserer langen Abschweifung vom Rationalismus und Logizismus zur Erkenntnistheorie zurück, die wir vor der schweren Entscheidung zwischen einem genetischen und einem rekonstruierenden Verfahren verlassen hatten. Wir hatten dem ersteren den Vorzug gegeben und wollen es auch der weiteren Verfolgung der erkenntnistheoretischen Theorien zugrunde legen, ohne das letztere aus den Augen zu verlieren. Die Hauptfrage, welche sich für die Erkenntnistheorie auf dem jetzt erreichten Standpunkt ergibt, ist die weitere Klassifikation der Empfindungsgignomene. Die Erkenntnistheorie ist nämlich mit ihrer Arbeit noch nicht zu Ende. Sie hat ihre Aufgabe erst erfüllt, wenn sie die Gegensätze zwischen Psychischem und Physischem, Subjekt und Objekt, Außenwelt (Umwelt) und Ich, die nicht nur im naiven Denken die größte Rolle spielen, sondern auch der Haupteinteilung der Wissenschaften sensu stricto, Naturwissenschaften und Psychologie zugrunde liegen und in den Ergebnissen derselben zu den anfangs geschilderten Widersprüchen und Rätseln geführt haben, durch eine Berichtigung der Einteilung aufgeklärt hat. Gerade das Hauptproblem der Erkenntnistheorie liegt hier. Alle seither behandelten Fragen sind demgegenüber mehr prinzipiellen und methodologischen Charakters. Wir erheben jetzt also die zentrale Frage der ganzen Erkenntnistheorie: lassen unsere Empfindungsgignomene irgendeine Gesamteinteilung zu und welche? und knüpfen daran immer auch die Frage, wie sich die Vorstellungsgignomene zu dieser Einteilung verhalten. In der Geschichte der Philosophie sind 5 Hauptantworten auf diese Frage gegeben worden, die ich als psychophysischen Dualismus, Idealismus, Egotismus, Phänomenalismus und Binomismus bezeichnen will, wobei wir uns eine Erklärung, Rechtfertigung und Spezialisierung dieser Namen für die spätere Erörterung vorbehalten. Alle fünf Lehren werden im Folgenden einzeln besprochen werden. Ich beginne mit dem Dieser lehrt, daß sich aus der Untersuchung des Gegebenen zwei wesensverschiedene Gruppen oder Arten des Seienden ergeben, die er als Materielles oder Physisches und als Psychisches bezeichnet. Beide sollen ebenso wirklich sein wie die Gignomene selbst. Man kann daher auch sagen, daß der psychphysische Dualismus das Wirkliche in ein materielles Wirkliches und ein psychisches Wirkliches einteilt, und ihn auch als psychophysischen Realismus (89) bezeichnen. Namentlich im Hinblick auf den später zu besprechenden Idealismus erscheint diese Bezeichnung als ebenso zweckmäßig. Wie schon aus der gewählten Fassung der Definition hervorgeht, werden nicht nur die Empfindungsgignomene, sondern auch die Vorstellungsgignomene im weitesten Sinn (also einschließlich der Urteile, Schlüsse usw.) in diese Klassifikation einbezogen. Sehr oft geht dann der psychophysische Dualismus noch etwas weiter und legt dem mannigfaltigen Psychischen noch eine als einfach und Einheit gedachte Seele oder ein Ich oder auch mehrere Seelen oder Ichs irgendwie zugrunde (90). Wir wollen von dieser "egotistischen" Variante vorläufig absehen und uns zunächst nur mit der Gegenüberstellung "psychisch-physisch" beschäftigen. Vor allem frage ich den psychophysische Dualisten, durch welches Merkmal er das Psychische und das Physische unterscheiden will. Der Hinweis auf das naive Erleben des Einzelnen genügt nicht. Was ich Augenblick für Augenblick erlebe, d. h. die fortlaufende Kette der mir gegebenen Gignomene, gehört für den psychophysischen Dualismus zum Psychischen. Wenn er nun behauptet, daß außerdem ein vom Psychischen wesensverschiedenes Physisches existiert, so ist er verpflichtet, uns vor allem ein Merkmal für dieses neue Wirkliche anzugeben, welches er - zum Teil in Übereinstimmung mit dem naiven Denken - außer dem gegebenen Psychischen annimmt. Gibt er ein solches Merkmal nicht an, so verliert es jeden Sinn, überhaupt von Psychischem und Physischem zu sprechen, das Gegebene zu ersterem zu rechnen und letzteres als ein zweites Wirkliches ihm gegenüberzustellen. In der Tat haben tieferdenkende psychophysische Dualisten diese Notwendigkeit gefühlt und allerhand Unterscheidungsmerkmale angegeben. BRENTANO zählt nicht weniger als fünf auf (91). Schon diese Menge ist etwas verdächtig. BRENTANO selbst betrachtet sie auch durchaus nicht als gleichwertig. Wir können uns hier bezüglich all dieser Merkmale kurz fassen. Soweit sie sich auf eine hypothetische innere Wahrnehmung oder auf eine ebenso hypothetische Zerlegung in ein erkennendes Subjekt, ein erkanntes Objekt und einen "Akt" des Erkennens stützen, sind sie in dieser Phase unserer erkenntnistheoretischen Entwicklung ganz unbrauchbar, da sie sehr zweifelhafte Hilfsannahmen voraussetzen (92). Nur ein Merkmal scheint von solchen unzulänglichen Hypothesen frei zu sein: man definiert das Psychische als das Unräumliche, das Materiell als das Räumliche oder Ausgedehnte (93). Die Räumlichkeit (Lage, Gestalt, Größe) ist zwar nicht definierbar, aber uns durch Erleben so wohl bekannt, daß eine Definition überflüssig erscheint und der Hinweis auf unser alltägliches Erleben genügt. Genügt aber dieses Merkmal wirklich zur Unterscheidung des Psychischen und Physischen? Diese Frage werden wir später erörtern, wenn wir den psychophysischen Dualismus kritisieren. Jetzt wollen wir zunächst hören, wie sich derselbe das Verhältnis des Psychischen zum Physischen denkt und wie er sich speziell mit den rätselhaften Tatsachen abfindet, die wir zu Anfang unserer Erörterungen zusammengestellt haben. Die einfachste Form des psychophysischen Dualismus nimmt an, daß die psychische Reihe neben der materiellen Reihe existiert und zwischen beiden ein durchgängiger Parallelismus ohne gegenseitiges Aufeinanderwirken besteht. Einen solchen hat bereits SPINOZA in seinem wunderbaren System gelehrt, aber auch dogmatischer Grundlage und in einem ganz anderen Zusammenhang. Im 18. Jahrhundert wird dieser psychophysche Parallelismus unter dem Einfluß CHRISTIAN WOLFFs bis zum Auftreten KANTs fast zur herrschenden Lehre, allerdings gewöhnlich durch die Annahme einer Seele etwas modifiziert. Um dabei den Parallelismus, d. h. den übereinstimmenden Ablauf der beiden Reihen verständlich zu machen, bedurfte es einer weiteren Annahme. Im 18. Jahrhundert bot sich als solche die prästabilierte Harmonie von LEIBNIZ an, die man mit einigen Abänderungen vom System des LEIBNIZ, welchem der psychophysische Dualismus und Parallelismus ganz fremd war, auf die Parallelismuslehre übertrug. So erklärt WOLFF - unbeschadet seiner Seelenlehre, auf die ich bei der Besprechung des Egotismus zurückkomme -, daß die Reihe der seelischen und die Reihe der körperlichen Prozesse "infolge der Natur der Seele und des Körpers harmonisch sind oder übereinstimmen" (94). Damit war nun freilich eigentlich nur eine Umschreibung des zu erklärenden Parallelismus gegeben. Man mußte also die prästabilierte Harmonie entweder auf eine von Anfang an von Gott getroffene Einrichtung (göttlicher Harmonismus) oder ein Eingreifen Gottes von Fall zu Fall (Okkasionalismus GEULINCXs) oder auf eine nicht näher zu bestimmende Übereinstimmung in der "Natur" des Psychischen und des Materiellen zurückführen. Der moderne psychophysische Parallelismus unterscheidet sich vom älteren nicht wesentlich. Vielfach schränkt er allerdings die Parallelität mehr oder weniger ausdrücklich auf die psychischen Vorgänge und die materiellen Prozesse der Großhirnrinde (95) ein. Man spricht dann von einem partiellen (96) oder, wie ich zu sagen vorziehe, einem asymmetrischen psychophysischen Parallelismus: ein sehr großer Teil der materiellen Prozesse bleibt ohne psychischen Parallelprozeß. Andere Parallelisten haben die psychische Reihe hypothetisch ergänzt und auf gleiche Länge mit der materiellen gebracht. Hauptvertreter dieses universellen oder symmetrischen psychophysischen Parallelismus sind FECHNER (97) und PAULSEN (98). Allerdings bleiben beide ihm schließlich nicht vollständig treu, indem sie erstens mehr oder weniger bestimmt den psychischen Prozessen eine Seele unterlegen (egotistische Variante) und zweitens in einer alsbald noch zu erörternden Weise nachträglich die beiden Reihen doch wieder vereinigen. Die jetzt in Rede stehende Verlängerung der psychischen Reihe ist die Hauptlehre des Hylozoismus (99) welcher allen materiellen Vorgängen und des von WUNDT sogenannten Animismus (100), welcher zumindest allen organischen Vorgängen (Lebensprozessen) psychische Vorgänge zuordnet. Irgendwelche Gründe für die Verlängerung vermag der universale Parallelismus nicht anzuführen, er kann sich nur darauf berufen, daß die Asymmetrie der beiden Reihen für unser Denken unbefriedigend ist. Auch in der Erklärung des Parallelismus sind seine modernen Anhänger kaum über die alten WOLFFschen Lehren hinausgekommen. FECHNER scheint den letzten Grund der Parallelität in einem göttlichen Bewußtsein zu suchen. Viele andere verzichten auf jede Erklärung und scheinen die Parallelität, eventuell auch die asymmetrische, als eine letzte Tatsache anzusehen. Gegenüber dieser Ohnmacht des reinen psychophysischen Parallelismus ist auch seine egotistische Modifikation in keiner günstigeren Lage. Auch mit der Unterstellung einer Seele (eines Ich) auf der Seite der psychischen Reihe ergibt sich keine Möglichkeit, die Übereinstimmung der beiden Reihen zu erklären. Auch die einfache Seele bleibt, solange man an einem reinen Parallelismus festhält, also jedes Aufeinanderwirken der beiden Reihen verwirft, außer jeder Beziehung zur physischen Reihe und ihre Übereinstimmung mit der letzteren ebenso unbegreiflich wie vorher. Es ist erklärlich, daß bei dieser Sachlage der reine psychophysische Parallelismus oft sich selbst aufgegeben hat und, gewissermaßen sich selbst verleugnend, seine Stellung zu verbessern gesucht hat. Vor allem muß es ihm darauf ankommen, die Asymmetrie der beiden Reihen zu beseitigen und eine Erklärung für ihre Harmonie zu gebn. Außerdem fühlt er das Bedürfnis, wie alle Formen des Dualismus, doch über diesen hinauszugehen und unserem monistischen Drang ein Zugeständnis zu machen. So entstehen vier neue sehr verbreitete Erkenntnistheorien (101), die materialistische, die spiritualistische, die identistische und die logistische Einheitshypothese. ![]()
30) Comte, Cours de philosophie positive, 5. Auflage, Bd. 1, Paris 1892, Seite 11 31) Comte, a. a. O., Bd. 2, Seite 338. 32) a. a. O., Bd. 1, Seite 4. 33) Nicht richtig ist es hingegen, wenn man behauptet, Comte habe die Philosophie auf die Ergebnisse der einzelnen Wissenschaften beschränken wollen. Gegen eine solche Beschränkung verwahrt sich Comte ausdrücklich (a. a. O., Bd. 1, Seite 20). Die Philosophie soll vielmehr die Ergebnisse der positiven Wissenschaften zu allgemeinen Sätzen systematisch zusammenfassen. 34) Auch das relativistische Prinzip kommt zumindest seiner objektiven Seite nach zum Ausdruck. Vgl. auch Bd. 6, Seite 570 ("le caraktére essentiellement relativ de la philosophie positive"). In der Darstellung von Laas (Idealismus und Positivismus, Berlin 1879m 1882 und 1884) wird diese Beziehung des Positivismus zum Relativismus zu sehr in den Vordergrund gerückt (vgl. Bd. 1, Seite 183, 196, 211 und Bd. 2, Seite 78). 35) Ich gebe übrigens gern zu, daß schon in der Formulierung der Prinzipien diese Nebenbedeutung bei Comte hier und da durchblickt. - Von den späteren Schriften Comtes, die bekanntlich einen traurigen intellektuellen Verfall zeigen, sehe ich hier ganz ab. 36) Ich betone nochmals, daß die Bezeichnung "ursprünglich" hier nicht allgemein-historisch gilt, sondern lediglich im Gegensatz zur Umbildung des Immanenzprinzips durch die Bewußtseinsmonisten gebraucht wird. 37) Warum die Bezeichnung "empiristisches" Prinzip nicht zweckmäßig wäre, wird sich später ergeben. Vorläufig sei nur bemerkt, daß es üblich ist, als Empirismus diejenigen Erkenntnistheorien zu bezeichnen, welche ihren Ausgangspunkt von der Erfahrung, d. h. den Gignomenen nehmen, während das positivistische Prinzip das Ziel der Erkenntnistheorie umgrenzt. Dabei ist es übrigens natürlich, daß Positivismus und Empirismus meist Hand in Hand gehen. So spricht z. B. Lewes (Problems of life and mind, London 1874-1877) ganz im Sinne des Positivismus von der Eliminierung metempirischer Elemente. 38) Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 18, Seite 137 und Bd. 19, Seite 1; Der menschliche Weltbegriff, Leipzig 1891. 39) Sie ist übrigens schon sehr alt (vgl. Aristoteles, De anima III 8, Akademie-Ausgabe 431 b). 40) Erstere würden den Empfindungen und den Individualvorstellungen, letztere den Allgemeinvorstellungen entsprechen. 41) Über die Beziehungen der protonoetischen Theorien zum sogenannten Spiritualismus. 42) Summa tot. theolog. I, Quaest. 76, 84 und 89 (offenbar im Anschluß an Aristoteles, De anima 432 a). 43) Opp. omnia. Florenz 1727, Bd. 1, Seite 826 (Disquis. metaphys. Amsterdam 1644, Seite 64-95). 44) Da für diese Gruppe der Erkenntnistheorien eine geeignete Bezeichnung fehlt und doch irgendwie wünschenswert ist, habe ich die Bezeichnung "Transformismus" vorgeschlagen. 45) Der Hauptsatz des extremen Sensualismus wurde bezüglich der primären Erinnerungsbilder schon von Aristoteles ausgesprochen (Rhetor. 1370 a), dagegen für die übrigen Vorstellungen und das Urteil absolut bestritten. Hume nähert sich dem Standpunkt des extremen Sensualismus bereits erheblich mehr, indem er ganz allgemein die Vorstellungen (ideas) als schwache Abbilder (faint images, copies) der Empfindungen (impressions) bezeichnet und die "reflection" Lockes, welche diesem als eine zweite Quelle der Vorstellungen galt, auf die Gefühlstöne beschränkt. Vgl. z. B. "Treatise on human nature", Bd. 1, Teil 1, 1 und 2 (Boston-Edinburgh 1854, Bd. 1, Seite 15 und 22). Andererseits bleibt doch unentschieden, ob er auch die Bildung von Beziehungsvorstellungen und von Urteilen lediglich als eine copy der bezüglichen impressions ansah. 46) London 1728. 47) Vgl. z. B. Essai sur l'origine des connoissances humaines (1746), Oeuvres, Paris 1802, Bd. 1, Seite 15, 38, 61f; Traité des systémes, Bd. 2, Seite 71f; Traité des sensations (1754), Bd. 3, z. B. Seite 268f; Traité des animaux, Bd. 4, z. B. Seite 13. Vielfach gewinnt man den Eindruck, daß Condillac, ohne es selbst zu wissen, doch den gemilderten Sensualismus vertritt. 48) Theaetet 151 E und 186 D. Plato begeht nur den Fehler, daß er infolge seines protonoetischen und rationalistischen Standpunktes umgekehrt die Bedeutung der Empfindungen weit unterschätzt. 49) Theaetet 185 B 50) Theaetet 185 C 51) Hier wie in allen diesen Auseinandersetzungen begreife ich unter den Vorstellungsfunktionen auch die Urteilsfunktionen mit ein. 52) Von den alten ideae innatae [angeborene Ideen - wp] unterscheiden sie sich schließlich also doch nur durch die größere Allgemeinheit und die Beziehung auf eine mögliche Erfahrung. Dabei ist zu berücksichtigen, daß auch die vorkantischen Philosophen fast ausnahmslos die angeborenen Ideen sich nur als potentiell, als angeborene Anlagen oder Funktionsweisen der Vernunft dachten und ihr aktuelles Auftreten von der Sinneserfahrung abhängig machten. 53) Manche Anhänger Kants wollen allerdings nicht wahr haben, daß Kant das Apriori zuweilen auch in diesem Sinn verstanden hat. Ich kann mich jedoch dafür nicht nur auf manche ganz eindeutige Stellen in Kants Werken (z. B. Prolegomena § 11), sondern auch auf das Zeugnis Vaihingers berufen (Kommentar zu Kants Kr. d. r. V., Bd. 2, 1892, Seite 279f). 54) Man hat mitunter deshalb geradezu die genetische Methode mit dem gemilderten Sensualismus identifiziert. 55) Vgl. z. B. die Schilderung von Sextus Empiricus, Adv. math. VII, 216 (ed. Bekker, Seite 238). 56) Die aristotelische Definition der Erfahrung (Metaphysik, Akademie-Ausgabe 981a) ist damit nicht identisch; denn Aristoteles rechnet auch die Individualvorstellungen zur Erfahrung. Die Erfahrung ist für ihn nicht die Summe (Sammlung) aller Empfindungsgignomene, sondern die Summe aller individuellen Erinnerungsbilder, ja er setzt dabei offenbar schon die Zusammenordnung der gleichartigen, also einen ausgesprochenen Vorstellungsprozeß voraus (ebd. 980 b). Das Hinzurechnen der (individuellen) Erinnerungsbilder zur Erfahrung oder sogar die Beschränkung des Erfahrungsbegriffs auf diese Erinnerungsbilder (mit Ausschluß der Empfindungen) blieb dann für die ganze Scholastik maßgebend. Die Zusammenordnung der gleichen Vorstellungen wurde bald in der "Erfahrung" ausdrücklich mitinbegriffen (Buridan), bald nicht. Noch bei Hobbes wird die Erfahrung mit dem Gedächtnis vieler Dinge (memoria multarum rerum) identifiziert. In dieser letzten Fassung deckt sich der Erfahrungsbegriff fast ganz mit dem Begriff der Sinneserfahrung der genetischen Erkenntnistheorie; denn bei den primären individuellen Erinnerungsbildern, welche Hobbes mit der memoria multarum rerum meint, überwiegt der Empfindungscharakter noch ganz, die Vorstellungsfunktion ist noch im Minimum. Auch ist zu bedenken, daß die Empfindungsgignomene im Augenblick, wo sie für die Erkenntnistheorie verwertet werden sollen, uns nur zu einem verschwindenden Teil als solche gegeben sind und größtenteils durch Erinnerungsbilder vertreten werden müssen. 57) Avenarius Begriff der Erfahrung deckt sich hiermit nicht ganz, da Avenarius ihm von Anfang an die Unterscheidung von Umgebungsbestandteilen und menschlichen Individuen zugrunde legt. Auch seine beiden Begriffe der "reinen Erfahrung" lassen sich nicht restlos mit dem oben bestimmten Erfahrungsbegriff identifizieren. (vgl. "Kritik der reinen Erfahrung", 1888, bzw. 1890, Bd. 1, Nr 1f, Bd. 2, Nr. 932f, 964f, 1039f.) 58) So schon sehr deutlich im ersten Absatz der Einleitung zur Kr. d. r. V. Über die Schwankungen Kants im Gebrauch des Wortes "Erfahrung" vgl. Vaihingers Kommentar, Bd. 1, Seite 165 und 176. 59) Vgl. meine Erkenntnistheorie 1913, Seite 411f. Die Bezeichnung "Logizismus" statt "Logismus" schließt Verwechslungen noch sicherer aus. 60) Die Metaphysik umfaßt nur noch mehr als der Rationalismus, so namentlich auch die oben erwähnten protonoetischen Erkenntnistheorien. 61) Ein Beispiel hierfür ist in manchen Beziehungen die Arbeit Rickerts, Der Gegenstand der Erkenntnis, 2. Auflage, Tübingen/Leipzig 1904, freilich nur in ihrem ersten Teil; Seite 112 erfolgt offenkundig die logizistisch-rationalistische Peripetie mit den Worten: "der in jedem Urteil anerkannte Wert ist, weil zeitlos, unabhängig von jedem individuellen Bewußtseinsinhalt, den wir vorstellen ..." 62) Vgl. Parmenides, Dielssche Ausgabe, Berlin 1897, Seite 38. 63) Plutarch, Dübnersche Ausgabe der Fragmente, Paris 1855, Bd. 5, Seite 16. 64) Ein außerordentliches historisches Verdienst des Kritizismus, den wir oben bei der Besprechung der antizipierenden Erkenntnistheorie nicht zulassen konnten, tritt hier scharf hervor. Er machte durch seine kritischen Bestimmungen zumindest dem extremen Dogmatismus und Rationalismus ein Ende. 65) Vgl. z. B. Kr. d. r. V. Ausgabe Hartenstein, Bd. 3, Seite 215 oben, woselbst allerdings in Kants eigenem Sinn, Zeile 2, vielleicht besser "transzendentem" statt "transzendentalem" zu lesen wäre. 66) a. a. O. Hartenstein, Bd. 3, Seite 173. Die erste Ausgabe formuliert den Kausalgrundsatz folgenermaßen: "Alles, was geschieht (anhebt zu sein), setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folge ("folgt", Kehrbach-Ausgabe)." 67) Kant selbst gebraucht den Ausdruck "System". 68) Die anderen sind zum Teil selbst von manchen Kantianern aufgegeben worden. 69) Dieses Scheitern ist nur dadurch etwas verdeckt worden, daß von Kants Anhängern die "objektive Gültigkeit", die "Allgemeinheit", die "subjektive" und "objektive Notwendigkeit", die "Apriorität" und die "Reinheit" dieser Begriffe und Grundsätze in ein sehr kompliziertes gegenseitiges Verhältnis gebracht worden sind. Bald hieß es diese, bald jene sei das Endziel der Deduktion. Dabei zeigen diese Kant-Erklärungen nicht nur mit Kant selbst, sondern auch unter sich und in sich mannigfache Widersprüche. Selbst die weitaus bedeutendste Darstellung der kantischen Deduktion, die von Riehl, scheint mir von solchen Widersprüchen nicht vollkommen frei (Der philosophische Kritizismus, 2. Auflage, Bd. 1, Leipzig 1908). Seite 384 wird gesagt, daß Kant aus der "objektiven Gültigkeit", "Allgemeinheit und Notwendigkeit" gewisser Erkenntnisse beweisen will. Seite 399 heißt es, die "Apriorität" gewisser Erkenntnisse sei das "Problem" Kants, das "Thema des Beweises" und die "objektive Gültigkeit" das Ziel. Danach wäre also die Reihenfolge des Beweises: Apriorität - objektive Gültigkeit - Allgemeinheit und Notwendigkeit. Die Apriorität soll nun durch die metaphysische Deduktion (Riehl unterscheidet die metaphysische und die transzendentale) sichergestellt sein (Seite 399). Diese metaphysische ist "der Nachweis der völligen Übereinstimmung von Erkenntnisbegriffen und logischen Funktionen, bis auf die Art ihres Gebrauchs". Seite 489 wird auch von der Übereinstimmung "der Einheitsbegriffe in Urteilen mit den allgemeinen Begriffen von Dingen" gesprochen, Seite 496 heißt es, "die metaphysische Deduktion habe die allgemeinsten Erkenntnisbegriffe oder Kategorien als Begriffe a priori erwiesen, dadurch, daß sie sie von den Funktionen der Urteile über Dinge überhaupt ableitet". Soweit wäre die Darstellung noch widerspruchsfrei. Nun heißt es aber Seite 500: "Die Tatsache reiner Begriffe ist analytisch, durch Zergliederung der Vorstellung eines Gegenstandes, zu erkennen." Ist diese Reinheit mit der Apriorität identisch? Und soll, falls dies bejaht wird, damit ein neuer Beweis für die Apriorität der Begriffe neben der metaphysischen Deduktion (vgl. auch Seite 451) gegeben werden? Ich kann mich nicht nur nicht von der Stichhaltigkeit der beiden Beweise, sondern auch nicht von ihrem Zusammenfallen überzeugen. Dazu kommt nun schließlich, daß die transzendentale Deduktion der objektiven Gültigkeit der Kategorien, aus der die Allgemeinheit und Notwendigkeit erst folgen sollte, in ihrer Beweisführung die Allgemeinheit und Notwendigkeit teils voraussetzt, teils mit der objektiven Gültigkeit identifiziert. Selbst in Riehls Darstellung Seite 512 und 515 tritt dies deutlich erkennbar hervor. 70) Darauf stützt sich die sogenannte "metaphysische Deduktion". 71) vgl. Riehl, a. a. O., Seite 500. 72) Riehl, a. a. O. Seite 514 73) Viele moderne Logizisten arbeiten versteckt mit solchen Ontologismen. 74) Auch wäre zu urgieren, daß nach Riehl u. a. die Allgemeinheit und Notwendigkeit, die von diesem Einwand als Beweismittel gebraucht werden, umgekehrt erst aus der objektiven Gültigkeit geschlossen werden sollen. 75) vgl. z. B. auch Planck, Die Einheit des physikalischen Weltbildes, Leipzig 1909. Der sogenannte Konditionismus (vgl. z. B. Verworn, Kausale und konditionale Weltanschauung, Jena 1912) glaubt ganz ohne den Ursachbegriff auskommen zu können. 76) Die Vermengung dieser beiden Wahrscheinlichkeiten spielt in manchen Schriften der Anhänger Kants eine große Rolle. 77) Kr. d. r. V., Hartenstein-Ausgabe, Bd. 3, Seite 154. 78) Dahin gehört z. B. die spezielle Tafel der Kategorien, die spezielle Aufzählung der Grundsätze des reinen Verstandes und dgl. mehr. 79) Vgl. namentlich Hermann Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, Berlin 1902. 80) Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. 1, Halle/Saale, Seite 231. 81) Im Bereich der Vorstellungsfunktionen wird von den meisten Logizisten in sehr charakteristischer Weise das Urteil gegenüber dem Begriff in den Vordergrund geschoben. Besonders deutlich ist dies bei Cohen, der eine logizistische Erkenntnistheorie aus dem kantischen System entwickelt hat (a. a. O., Seite 41f und 499f). 82) Husserl, a. a. O., Seite 268f. 83) Cohen, a. a. O., Seite 67 84) Bezüglich dieses Nachweises verweise ich auf meine Erkenntnistheorie, Jena 1913, Seite 102 und 421. 85) Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, Tübingen und Leipzig 1904, Seite 155. Rickert vergleicht die logizistische Begriffsbildung mit der Bildung von Begriffen wie "gerade Linie", "Atome" usw. in der Mathematik und Physik. Zwischen beiden besteht jedoch nicht nur ein Unterschied, sondern geradezu ein diametraler Gegensatz. Der Begriff der geraden Linie und des Atoms ist aus unseren Empfindungsgignomenen durch eine Zusammenstellung des Ähnlichen und Zerlegungen gewonnen, während für die logizistischen Begriffe ein solcher Ursprungsnachweis vom Logizisten selbst bestritten wird und auch nicht geführt werden kann, weil sie falsch gebildet sind. Rickert verlangt "eine völlige Umkehrung der allgemein verbreiteten Ansicht vom Erkennen, nach welcher das Urteil sich nach einem Sein zu richten hat". Der genetische Positivismus behauptet, daß das Urteil sich nach den Gignomenen zu richten hat. Diese stellen das Sein dar. Eine andere Richtungsbestimmung für das Urteil existiert schlechterdings nicht, und die von Rickert verlangte Umkehrung ist unzulässig. - - - Eine interessante Varietät des Logizismus ist die "Gegenstandstheorie" von Meinong (vgl. Über Annahmen, Leipzig 1902, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 21, Seite 182; Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie, Leipzig 1904, Seite 1; Die Stellung der Gegenstandstheorie im System der Wissenschaften, Leipzig 1907, Seite 8f). Meinong spricht von "idealen Gegenständen, die zwar bestehen, in keinem Fall aber existieren, daher auch in keinem Sinn wirklich sein können". Als Beispiel führt er Gleichheit und Verschiedenheit an. Ich muß das "Bestehen" solcher idealer Gegenstände generell bestreiten. Gegeben sind mir zwei Empfindungsgignomene oder Vorstellungsgignomene a b c und a¹ d e. Daran knüpfe ich die Vorstellung (Urteil, Annahme) a = a¹ oder a ähnlich a¹ oder b verschieden von d. Die Gleichheit bzw. Ähnlichkeit bzw. Verschiedenheit ist der Inhalt, die einzige Bedeutung meiner Vorstellung meines Urteils, meiner Annahme, nicht aber ein "Gegenstand", der "den Urteilen, Annahmen gegenübersteht". Die ganze, auf die Scholastiker zurückgehende, von Brentano (Psychologie vom empirischen Standpunkt, Bd. 1, Leipzig 1874, Seite 115) erneuerte Lehre, welche in der Vorstellung, im Urteil usw. einen Akt des Vorstellens und einen Gegenstand des Vorstellens unterscheidet, ist eine willkürliche Zerlegung der als Einheit gegebenen Vorstellun. Die weiteren Erörterungen Meinongs (namentlich in dem an 3. Stelle zitierten Werk, Seite 7f) erledigen sich dadurch, daß das Nichtsein, welche Meinong behandelt, eben ein Vorstellungsein ist. Die von Meinong herangezogene "Idealität" der sensiblen Qualitäten besagt doch keineswegs (wie Meinong Seite 9 behauptet) irgendwie ein Nichtsein oder ein minderes Sein. Das "Sosein" Meinongs, welches er dem Sein entgegenstellt, ist von dem Sein (das bedeutet bei Meinong: von den Empfindungsgignomenen) nur deshalb unabhängig, weil wir die aus den Empfindungsgignomenen geschöpften Vorstellungen neu kombinieren können und auf diesem Weg ein Sosein schaffen, dem kein Sein (in Meinongs Sinn) entspricht. Dieses vorgestellte Sosein entspricht also bald einzelnen Empfindungsgignomenen selbst oder Teilen derselben, bald vorgestellten Beziehungen der Empfindungsgignomene, bald überhaupt weder Empfindungsgignomen noch Teilen noch Beziehungen derselben. Wieso man daraus folgern kann, daß das Sosein das eigentliche Wesen eines "Gegenstandes" ausmacht, das "ihm anhaftet, mag er sein oder nicht sein" (Seite 13), ist mir unerfindlich. Der einzige "Gegenstand", den ich anerkenne, sind die Empfindungsgignomene im 1. und 2. Fall; die Phantasievorstellung im 3. Fall hat überhaupt keinen "Gegenstand". 86) Rickert, a. a. O., Seite 165 87) Rickert, a. a. O., Seite 145, Anm. 88) Deutsche Literatur-Zeitung, 1893, Jahrgang 14, Nr. 11, Seite 323. 89) Die Bezeichnung "Realismus" wurde und wird bekanntlich in sehr verschiedenen Bedeutungen angewendet. Da sie ganz offen läßt, was als real gelten soll, so ist diese Mehrdeutigkeit geradezu selbstverständlich. Durch eine Hinzufügung von Adjektiven - ich erinnere an Ausdrücke wie "naiver Realismus", "erkenntnistheoretischer Realismus", "kritischer Realismus", "metaphysischer Realismus", "ästhetischer Realismus", "Begriffsrealismus" usw. - hat man dann die einzelnen Bedeutungen zu unterscheiden versucht. Leider sind auch diese spezialisierenden Attribute oft unzweckmäßig und mehrdeutig ausgefallen, so daß fast ein kleines Lexikon der Realismen erforderlich ist, um alle Bedeutungen bei den einzelnen Schriftstellern auseinanderzuhalten. In neuerer Zeit versteht man in der Erkenntnistheorie unter Realismus in einem prägnanten Sinn gewöhnlich die Lehre, daß außer dem Psychischen oder dem erkennenden Subjekt noch ein anderes vom Psychischen bzw. dem Subjekt unabhängiges Seiendes (Wirkliches) existiert. Übrigens ist auch diese Bestimmung, wie eine eingehendere Untersuchung zeigt, nur unter vielen Schwankungen und nicht stets festgehalten worden. Für die oben gewählte Bezeichnung trifft sie zu, da der psychophysische Dualismus das Physische als ein zweites koordiniertes Reales neben das Psychische stellt. Über den sogenannten Neo-Realismus vgl. z. B. Edmund Howard Hollands, Neo-Realism and Idealism, Philosophical Review 1908, Bd. 17, Seite 407. 90) Eine analoge Unterlegung einer Einheit auf der materiellen Seite ist durchweg unterblieben. Die "Materie" ist nur ein Kollektiv- oder - zuweilen - ein Allgemeinbegriff, aber keine einfache Einheit wie die "Seele". Immerhin klingt die hyle [Urstoff - wp] bei manchen alten Philosophen an einen solchen materiellen Einheitsbegriff an. 91) Brentano, a. a. O., Seite 111f. 92) Man könnte natürlich einwenden, daß man die umgekehrte Reihenfolge der Beweise einschlagen und erst das Subjekt-Objekt usw. nachweisen und dann die Unterscheidung des Psychischen vom Physischen auf die nunmehr sichergestellte Subjekt-Objektbeziehung gründen will. Dieser Versuch ist natürlich zulässig und wird bei der Besprechung des Egotismus erörtert werden. 93) Die geschichtliche Entwicklung dieser Lehre gebe ich an anderer Stelle. 94) Christian Wolff, Psychologia rationalis, 1734, § 612. Vgl. auch "Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen usw. 1719. 95) Die Beschränkung auf die Großhirnrinde ist für den partiellen psychophysischen Parallelismus übrigens nicht wesentlich, sondern nur die Beschränkung auf das Nervensystem. Ganz abgesehen davon, daß überhaupt eine Grenze für das Auftreten psychischer Begleitprozesse nicht bestimmt werden kann (vgl. meine Erkenntnistheorie 1913, Seite 242f), kann speziell auch die Pathologie durchaus nicht ausschließen, daß z. B. der Sehhügel zum Zustandekommen von Empfindungen auch ohne Rinde ausreicht (vgl. hierzu auch Head und Holmes, "Brain" 1911, Bd. 34, Seite 177f). Ich betrachte es z. B. als wohl möglich, daß der Rinde im Bereich der Empfindungsgignomene nur die Bedeutung zukommt, Erregungsresiduen der früheren Empfindungserregungen festzuhalten und neue Empfindungserrungen mit diesen Residuen [Übrigbleibsel - wp] in Verknüpfung zu bringen. Die Rinde hat eben die Eigentümlichkeit, Reste der empfangenen Erregungen nicht wie die Reflexzentren in denselben Zellen und fast auf Null abgeschwächt, sondern in besonderen Zellen in erheblicher Stärke zu bewahren. Auch nach unseren Erfahrungen bei großhirnlosen Tieren steht sicher nichts im Weg, speziell z. B. die Schmerzempfindungen, wenn man sich auf solche Schlüsse überhaupt einlassen will, im Sehhügel zu lokalisieren. - Auch vergißt man oft bei der heute üblichen Monopolisierung der Großhirnrinde für die psychischen Prozesses, daß bei den Evertebraten [Wirbellose - wp] das Zentralnervensystem nach einem ganz anderen Plan aufgebaut ist, so daß ein der Rinde homologer Teil bis jetzt überhaupt gar nicht nachzuweisen ist. Können wir nun lediglich aufgrund des Fehlens eines solchen Homologgebildes den Evertebraten psychische Prozesse ganz absprechen? Sicher nicht. Naturwissenschaftlich ist weder eine positive noch eine negative Antwort zu begründen. Es ist auch gar nicht sichergestellt, daß die psychischen Prozesse, welche sich bei uns in Empfindungen, Vorstellungen usw. gliedern, bei niederen Tieren ebenso scharf und in derselben Richtung gegliedert sind, und wohl möglich, daß z. B. den Erregungsprozessen der Nervenelemente der Evertebraten ein oder mehrere andersartige, z. B. Empfindung, Vorstellung und motorische Innervation irgendwie zusammenfassende psychische Prozesse entsprechen. Vgl. auch Lloyd Morgan, Psychological Review, 1905, Bd. 12, Nr. 2/3, Seite 78. 96) Den von Busse, Geist und Körper, Seele und Leib, Leipzig 1903, Seite 87, Zeile 14 und "Zeitschrift für wissenschaftliche Philosophie und philosophischen Kritizismus, 1899, Bd. 114, Seite 10 erhobenen Einwand gegen die Partialität des Parallelismus kann ich übrigens nicht anerkennen. Er ist ganz unlogisch. Eine gesetzmäßige Zuordnung behauptet jeder Parallelismus. Warum sollte nun diese Zuordnung nicht für bestimmte materielle Prozesse auch ganz unterbleiben können? 97) Außer dem Hauptwerk (Elemente der Psychophysik, Leipzig 1860) vgl. namentlich: Über die Seelenfrage 1861 (2. Auflage mit einer Einleitung von Friedrich Paulsen, Leipzig 1907, z. B. Seite 228), Zend-Avesta 1851 (2. Auflage 1901, namentlich Seite 110f), Die Tagesansicht gegenüber der Nachtsicht, Leipzig 1879, Seite 29, 87, 240f. 98) Friedrich Paulsen, Einleitung in die Philosophie, 1892 (4. Auflage 1896, Seite 95). 99) Die richtigere Bezeichnung wäre "Hylopsychismus". Er war schon im Altertum vielfach vertreten, vgl. z. B. Aristoteles, De anima 411a. Dabei ist freilich zu berücksichtigen, daß das Altertum Seele und Körper noch nicht so scharf schied wie wir. 100) Zweckmäßiger wäre die Bezeichnung Biopsychismus, da Animismus ursprünglich (bei Tylor) etwas ganz anderes bedeutete und auch der wörtliche Sinn zu wenig prägnant ist. Bekanntlich ist auch diese Lehre im Altertum sehr verbreitet gewesen. 101) Ich erinnere daran, daß ich die Erkenntnistheorien hier nach ihrem logisch-systematischen Zusammenhang, nicht nach ihrer historischen Entwicklung darstelle. Das Studium der letzteren lehrt, daß sich der Materialismus usw. glaube ich, daß auch die historischen Beziehungen gerade des modernen Materialismus zu den parallelistischen Lehren der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts enger sind, als man jetzt gemeinhin annimmt. |