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FRIEDRICH PAULSEN
Einleitung in die Philosophie
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"Gedanken stecken so wenig zwischen den Blättern eines Buches, wie sie durch die Luft herüberschwirren zu unserem Ohr; die Gedanken erzeugt der Leser oder Hörer durch Interpretation an sich gar nicht gedankenhafter Symbole. Lägen die Gedanken fertig im Buch, so daß man sie nur herauszunehmen brauchte, so bedürfte es ja auch keiner Interpretationskunst, auch gäbe es keine Meinungsverschiedenheit über den Inhalt."


3. Die Erkenntnis der Außenwelt

Die Außenwelt ist der Vorstellung als eine Welt bewegter Körper gegeben. Körper aber, so war das Ergebnis der erkenntnistheoretischen Reflexion, von der wir ausgingen, sind Erscheinungen, subjektive Gebilde, deren Inhalt Wahrnehmungs- und Vorstellungselemente sind. Alles, was wir von einem Körper aussagen können, daß er süß, weiß, schwer, ausgedehnt, undurchdringlich, im Wasser löslich, in diese chemischen Elemente zerlegbar ist, kommt zuletzt immer auf Empfindungsqualitäten und Wahrnehmungsinhalte hinaus. Körperliche Objekte sind permanente Sensibilien, ihr Wesen besteht in den verschiedenen Seiten ihrer Sensibilität. Oder mit JOHN STUART MILL: Körper sind permanente Möglichkeiten der Empfindung. (1) Wenn ich sage: dieses körperliche Ding existiert, so heißt das, auf seinen eigentlichsten Ausdruck zurückgeführt: ich bin überzeugt, daß solche und solche Wahrnehmungen in solchem Zusammenhang möglich sind. Wenn ich sage: hier liegt ein Stück Papier, so heißt das: ich habe diese Gesichtswahrnehmungen, ich nehme an, daß ich diese und diese Tastwahrnehmungen haben würde, wenn ich diese Bewegungen ausführte. Ich sage, wenn ich das Zimmer verlasse: drin auf dem Tisch liegt ein Blatt Papier; das heißt wieder: ich bin überzeugt, wenn ich oder auch ein anderer hineingeht, so wird er dies oder das sehen und fühlen können. Glaubte ich das nicht, so würde ich jene Behauptung nicht machen; fände ich hineingehend es nicht so, so würde ich sagen: das Papier ist weggekommen; glaubte ich nicht, daß es noch irgendwo möglich wäre, diese Wahrnehmungen zu machen, so würde ich sagen: das Papier existiert nicht mehr, wenigstens nicht in seiner alten Gestalt; und glaubte ich nicht, daß es möglich wäre, irgendwo seine Überreste in Form von Asche oder Moder irgendwie zur sinnlichen Wahrnehmung zu bringen, so würde ich sagen: es hat überhaupt aufgehört wirklich zu sein. Also überall bleibt die Beziehung auf die Wahrnehmung: Möglichkeit der Wahrnehmung meinen wir, wenn wir von der Wirklichkeit körperlicher Dinge reden. Ganz so will es auch KANT.

Aber, wird der gesunde Menschenverstand sagen, das Papier bleibt doch, auch wenn ich aufhöre wahrzunehmen; die Elemente, aus denen es besteht, werden noch da sein, wenn es längst kein Leben mehr auf der Erde gibt, wie sie denn auch waren, ehe es Leben und Empfindung gab. - Gewiß; nur ist die Bedeutung der Aussage, der Sinn des Prädikats "wirklich" auch hier kein anderer als der: wenn ein empfindendes und vorstellendes Wesen da gewesen wäre, dann würde es solche und solche Wahrnehmungen haben machen können, würde die Erde etwa als glutflüssige Masse gesehen haben und darin auch den Kohlenstoff, der dann durch tausend Transformationen endlich in dieses Papier überging. Aber auf keine Weise wird man diesen Beziehungspunkt, ein so bestimmtes Bewußtsein, überhaupt los; man kann es als regelmäßige und allgemeine Voraussetzung in jedem einzelnen Fall vernachlässigen, aber man kann es nicht überhaupt bei Seite bringen. Einem körperlichen Ding Dasein und Bestimmungen beilegen, heißt immer, es als Inbegriff möglicher Wahrnehmungen für ein mögliches Bewußtsein setzen; ohne Wahrnehmung und Bewußtsein kein Körper. Körpern kommt demnach nur relative, nicht absolute Existenz zu; oder mit KANTs Ausdruck, sie sind Erscheinungen für ein "Bewußtsein überhaupt."

Entspricht diesem relativen Dasein, dem Dasein für ein Bewußtsein, ein absolutes Dasein, ein Dasein an und für sich? Sind die Erscheinungen, die wir Körper nennen, Hinweisungen auf ein Wirkliches, das ohne alle Rücksicht auf mein Bewußtsein Dasein hat?

Alle Menschen sind davon überzeugt. Jedermann glaubt, daß die Welt mehr als eine Phantasmagorie in seinem Bewußtsein, daß die erscheinende Körperwelt auf ein Ansich, das in ihr erscheint, hinweist. Was ist dieses Ansich? KANT sagt: wir wissen es nicht und können es nicht wissen; es ist das notwendige Jenseits des Bewußtsein, das Transzendente. - Liegt die Sache wirklich so hoffnungslos? Ich meine nicht. Ich glaube, man darf mit SCHOPENHAUER und mit aller idealistischen Philosophie sagen: etwas von dem, was das Wirkliche an sich selber ist, wissen wir allerdings; von den lebenden Geschöpfen wenigstens glauben alle zu wissen, was sie an sich sind. Gegeben sind sie uns als Körper mit eigentümlicher Struktur und mannigfachen äußeren und inneren Bewegungsvorgängen; auch die eindringendste physiologische Untersuchung zeigt nichts anderes. Dennoch glaubt jedermann, daß hier noch etwas anderes wirklich ist, das ist ein  Innenleben,  vergleichbar dem, das er in sich selber erlebt.

Was ist der Grund dieser Annahme? Offenbar hat SCHOPENHAUER recht, wenn er den Grund dafür in der Tatsache findet, daß wir uns selbst auf doppelte Weise gegeben sind. Ich weiß um mich ganz unmittelbar als ein wollendes, fühlendes, empfindendes, vorstellendes Wesen. Andererseits bin ich mir als körperliches Wesen gegeben, ich nehme meinen Leib wahr und stelle ihn vor als ein körperliches Objekt unter den übrigen. Nun findet zwischen Vorgängen des Innenlebens und des leiblichen Lebens regelmäßige Korrespondenz statt; Gefühle werden von Veränderungen im Blutumlauf und in der Körperhaltung, Triebe und Bestrebungen von Bewegungen des Organsystems im Einzelnen oder im Ganzen begleitet; Einwirkungen auf den Leib erscheinen in inneren Vorgängen, in Gefühlen oder Empfindungen. Also mein leibliches Leben ist der Spiegel meines Seelenlebens; das leibliche Organsystem ist die äußerlich wahrnehmbare Darstellung des Willens und seines Triebsystems, der Leib ist die Sichtbarkeit oder die Erscheinung der Seele.

Das Ich, das auf solche Weise sich selber als Doppelwesen gegegen ist, wird nun der Schlüssel zur Deutung der Außenwelt. SCHOPENHAUER erinnert an die zweisprachige Inschrift von Rosette, durch welche die Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphenschrift zuerst möglich wurde. Wie hier das Nebeneinander desselben Inhalts in bekannter und unbekannter Schrift zur Deutung der unbekannten Zeichen führte, so wird das Nebeneinander der Innen- und Außenseite der Wirklichkeit im Eigenleben zum Schlüssel für die Deutung der Außenseite überhaupt; wir lernen die körperlichen Formen und Vorgänge als Symbole innerer Vorgänge auffassen. Menschen gegenüber bringen wir es zu einer erstaunlichen Sicherheit der Deutung; jede Bewegung, jeder Gestus, jede Zuckung der Gesichtsmuskeln wird uns zum verständlichen Symbol eines inneren Vorgangs; bei der Rede vergessen wir überhaupt, daß wir es mit Symbolen zu tun haben, wir meinen unmittelbar Gedanken zu hören oder zu lesen; wir müssen uns erst darauf besinnen, daß alles, was von außen zu uns kommt, nichts als Lufterschütterungen sind, die von einem Körper durch einen eigentümlichen Mechanismus hervorgebracht werden; und ebenso besteht alles, was ein Buch unserer Wahrnehmung darbietet, lediglich in kleinen Anhäufungen von Druckerschwärze auf weißem Papier. Gedanken stecken so wenig zwischen den Blättern eines Buches, wie sie durch die Luft herüberschwirren zu unserem Ohr; die Gedanken erzeugt der Leser oder Hörer durch Interpretation jener an sich gar nicht gedankenhaften Symbole. Lägen die Gedanken fertig im Buch, so daß man sie nur herauszunehmen brauchte, so bedürfte es ja auch keiner Interpretationskunst, auch gäbe es keine Meinungsverschiedenheit über den Inhalt.

Wie weit reicht nun diese Deutung? - Es läßt sich keine feste Grenze ziehen; im allgemeinen kann man sagen: die Deutbarkeit der körperlichen Welt nimmt in dem Maße ab, als die körperlichen Vorgänge an Ähnlichkeit mit den Vorgängen meines leiblichen Lebens verlieren. Je größer die Ähnlichkeit und je näher der Verkehr, desto sicherer ist die Auslegung. Am besten verstehen wir unsere nächste Umgebung; mit abnehmender Sicherheit die Stammes- und Volksgenossen. Die Glieder eines fremden Volkes bieten der Deutung schon beträchtliche Schwierigkeiten, namentlich was die feinere, geistigere Entwicklung der Innenwelt anlangt: erst durch den mühsamen Prozeß der Erlernung der Sprache werden wir in den Besitz des wichtigsten Gedankensymbolsystems gesetzt und meist bleibt dieser Besitz mehr oder minder unvollkommen; für die feineren Schattierungen der Vorstellungs- und Gefühlswelt reicht die Interpretationskunst nicht aus; nur wer durch langes Leben mit dem fremden Volk verwächst und gleichsam ein Glied desselben wird, erlangt jenes feine Verständnis, das wir für die Innenwelt des eigenen Volks haben. Übrigens ziehen auch innerhalb des Volks gesellschaftliche Trennungen dem Verständnis mehr oder minder scharfe Grenzlinien. Noch viel unvollkommener ist das Verständnis zwischen verschiedenen Rassen, verschiedenen Kulturkreisen; es fängt hier an auf die gröberen Umrisse des Vorstellungs- und Gefühlslebens sich einzuschränken. Steigen wir zur Tierwelt herab, so fällt mit der Sprache das feinste Symbolsystem, in dem sich besonders die Vorstellungsseite des Innenlebens objektiviert, überhaupt fort, daher vermögen wir uns nur sehr unbestimmte Vorstellungen von dieser Seite des tierischen Innenlebens zu machen. Verständlicher bleibt uns die Willensseite; die gleichartigen Organsysteme und ihre Verrichtungen deuten wir auf gleichartige Triebe und Gefühlserregungen. In dem Maße wie die Gleichförmigkeit des Organsystems abnimmt, in demselben Maße nimmt auch die Form des Verstehens ab; in der niederen Tierwelt reicht die Analogie nur noch aus, um die gröbsten Umrisse eines Innenlebens erkennen zu lassen. In der Pflanzenwelt läßt die Fähigkeit des Verstehens noch mehr nach und in der unorganischen verschwindet auch der letzte Schimmer; die Körperwelt hört hier ganz auf, ein uns entzifferbares Symbol eines Innenlebens zu sein. Daß aber in Wirklichkeit auch hier noch eine Innenseite vorhanden ist, darauf führt doch, wie früher die metaphysische Betrachtung, welche den beständigen Zusammenhang des unorganischen und organischen Daseins betonte, so hier die erkenntnistheoretische Betrachtung. Sagen, die unorganischen Körper seien bloß Körper, heißt sagen, daß sie nur relative Existenz haben und überhaupt nicht etwas an sich sind. Wer das nicht sagen will, wird zugeben müssen, daß auch die Elemente der unorganischen Materie Symbole eines Ansich sind, dessen Bestimmung wir nur in der Richtung suchen können, die uns durch die Entwicklung angezeigt wird, die dieses Ansich in der tierischen Welt nimmt.

Das Ende dieser Betrachtung wäre also:  ich erkenne das Wirkliche, wie es an sich ist, soweit ich selbst es bin und sofern es eben das ist oder dem ähnlich ist, was ich bin, nämlich Geist.  Das ist die Wahrheit jener alten Rede der griechischen Philosophie: das Gleiche wird nur durch Gleiches erkannt.

Bemerkenswert ist dabei ein eigentümliches Verhältnis zwischen der äußeren oder phänomenalen Erkenntnis und dem auf Interpretation beruhenden Verständnis der Erscheinungen. Man kann es zu der Paradoxie zuspitzen:  je mehr wir die Dinge begreifen, des weniger verstehen wir sie,  und umgekehrt. Wir begreifen am besten die Vorgänge der unorganischen Welt, das heißt, wir sind hier imstande, sie durch so strenge begriffliche Formeln zu fassen, daß sie berechenbar werden. Die Lebensprozesse setzen der begrifflich-mathematischen Formulierung und Berechnung sehr viel größeren Widerstand entgegen, die Biologie arbeitet durchweg mit empirischen Gesetzen, die auf die letzten elementaren Naturgesetze ohne Rest zurückzuführen sich bisher noch immer als undurchführbar erwiesen hat. Am unberechenbarsten ist der Mensch; daher man bis auf diesen Tag nicht aufgehört hat, sein Handeln überhaupt für gesetzlos oder für Wirkungen eines gesetzlosen Agens, des sogenannten freien Willens, anzusehen, womit seine Begreiflichkeit, seine Faßbarkeit durch den Begriff überhaupt in Abrede gestellt ist. Umgekehrt aber verhält es sich mit dem  Verstehen;  menschliches Leben allein verstehen wir ganz; in der Geschichte ist das Maximum des Verstehens; es nimmt ab in der Zoologie und Botanik und erlischt ganz in der Physik und Astronomie, wo das mathematische Begreifen am vollkommensten ist.

Zusammenfassend können wir mit einem Bild sagen: die Welt ist in einer an Zeichen überreichen Geheimschrift geschrieben. Jedes Zeichen, jedes mehr oder minder selbständige körperliche System bedeutet einen Gedanken Gottes, eine konkrete Idee, die ein Moment der einen großen allumfassenden Idee der Wirklichkeit ist. Von diesen bedeutungsvollen Zeichen versteht der Menschengeist einige wenige mit einiger Sicherheit zu entziffern, es sind die Symbole des menschlich-geistigen Lebens, die seine nächste Lebensumgebung bilden. Andere zeigen mit diesen eine gewisse Verwandtschaft, die Typen des organischen Lebens der Erde, doch ist hier schon die Entzifferung - man denke an die Instinkte der Tiere - sehr unvollkommen. Endlich sind wir umgeben mit einer unabsehbaren Menge von Zeichen, deren Dasein wir zwar bemerken, deren Sinn sich aber jedem Versuch der Entzifferung entzieht, das ist die Welt der physikalisch-chemischen und der astronomischen Tatsachen.

Mit einem Wort gehe ich nun noch auf die Frage ein:  wie entsteht der Glaube, daß eine von meiner Vorstellung unabhängige Wirklichkeit da ist?  Unmittelbar gegeben sind mir nur meine Bewußtseinsvorgänge; wie kommt es, daß ich darüber zu einer transzendenten Wirklichkeit hinausgehe und mich und mein Bewußtsein mit seinem Inhalt als ein abhängiges Glied dieser seienden Welt sehe?

Seiner allgemeinen Möglichkeit nach beruht dieser Glaube wohl auf den Erlebnissen, die das Ich als  wollendes  Wesen macht. Indem es seiner eigenen Bestrebungen und ihrer Tendenz inne wird, wird es zugleich hemmender Widerstände inne. Die Erwartungsvorstellungen, in denen es die Zukunft vorausnimmt, werden durch die wirkliche Wahrnehmung getäuscht, der Vorstellungsverlauf wird von seiner spontanen Richtung abgedrängt. Absichten werden durchkreuzt, Bewegungen verfehlen ihr Ziel; innere Erlebnisse von dieser Art sind gewiß die erste Bedingung der Konstruktion der Wirklichkeit nach dem Schema von Ich und Nichtich. Wo sie ganz fehlten, da würde es zu dieser Entgegensetzung überhaupt nicht kommen. Ein bloß vorstellendes Wesen, dessen Vorstellungen ohne Gefühlsbetonung wären, oder ein Wesen, dessen Wille sich absolut durchsetzte, dem sich jeder gewollte Vorstellungsinhalt sogleich als wahrgenommene Wirklichkeit darstellte, das würde die Vorstellung einer objektiven Wirklichkeit jenseits seiner Vorstellungswelt nicht hervorbringen, es würde seine Vorstellungen vorstellen und seine Gedanken denken, wie ein Mathematiker seine Formeln und Figuren denkt.

Die weitere Durchführung der Entgegensetzung von Ich und Nichtich in der Wirklichkeitsanschauung dürfte dann wesentlich folgende Momente zu ihrer Voraussetzung haben.

1) Die Unterscheidung des  eigenen Leibes von den übrigen Körpern.  Der eigene Leib, der zunächst durch sinnliche Wahrnehmung, nicht anders, als die anderen Körper, gegeben ist, gewinnt notwendig eine einzigartige Stellung schon dadurch, daß seine Bewegungen und Berührungen mit anderen Körpern zu Willenserregungen und Gefühlen in einer unmittelbareren Beziehung stehen, als die Bewegungen und Berührungen anderer Körper; ferner dadurch, daß die Wahrnehmung seiner Teile und Bewegungen den beständigen, identischen Hintergrund für die Wahrnehmung aller anderen bildet.

2) Die Unterscheidung der  möglichen  von den  wirklichen  Wahrnehmungen, der konstanten  Sensibilien  von den vorübergehenden  Sensationen,  oder mit KANT, der  Erscheinungen  von den  Empfindungen.  Auch das ist eine Unterscheidung, die jedermann machen lernt. Ich sehe einen Gegenstand, schließe dann die Augen und sehe ihn nun nicht; aber ich bin überzeugt, ich kann ihn jeden Augenblick wieder sehen; der Versuch ist die stets bereite Bestätigung der Überzeugung. Ich verlasse mein Haus, meinen Wohnort, sehe tausend fremde Dinge, dabei bin ich überzeugt, daß zu Hause noch alles an seinem Platz steht, das heißt, daß ich jederzeit, wenn ich diese Ortsveränderung ausführte, alle jene bekannten Dinge wiedersehen könnte. Und wenn ich heimkehre, findet es sich so; und nun geht es mit der Welt draußen ebenso, sie steht da, der Wiedererneuerung durch Wahrnehmung stets gewärtig. So baue ich eine Welt aus möglichen Wahrnehmungen auf und die wirklichen Wahrnehmungen erscheinen als ein verschwindender Ausschnitt aus den möglichen. Diese möglichen Wahrnehmungen sind nun eben das, was in gewöhnlicher Rede die objektive Wirklichkeit heißt; und die wirklichen Wahrnehmungen werden als Einwirkungen dieser objektiven Welt auf das Bewußtsein des Subjekts konstruiert: die Sensibilien Ursache der Sensationen.

Das Übergewicht, das so die Welt der möglichen über die wirklichen Wahrnehmungen gewinnt, kann man dann mit JOHN STUART MILL (2) etwa auf folgende Weise erklären. Die möglichen Wahrnehmungen oder die Erscheinungen, im Unterschied von den wirklichen Wahrnehmungen, sind beharrlich und unabhängig von der Willkür. Die  wirklichen  Wahrnehmungen wechseln beständig, der Bewußtseinsinhalt ist in jedem Augenblick ein anderer und zwar ist der Wechsel abhängig von meiner Willkür, jede Wendung des Auges führt einen anderen Inhalt herbei. Dagegen die  möglichen  Wahrnehmungen, die Sensibilien, sind beharrlich und unabhängig von der Willkür; während ich die wirklichen Wahrnehmungen jederzeit verschwinden lassen kann, sind die möglichen im großen und ganzen beständig; ich kann der Wahrnehmung des Mondes am Himmel mich jeden Augenblick entziehen, aber die Möglichkeit, ihn dort zu sehen, kann ich nicht ebenso beseitigen. Damit hängt zusammen, daß die möglichen Wahrnehmungen und ihre Zusammenhänge für verschiedene Subjekte gemeinsam sind, die wirklichen nicht; sowie, daß das Eintreten der möglichen Wahrnehmungen berechenbar ist, das der wirklichen nicht. Wann der Mond sichtbar werden, d. h. aufgehen wird, läßt sich berechnen, dagegen auf keine Weise, wann und ob der Einzelne ihn wirklich sehen wird. Daher alle Wissenschaft allein den möglichen Wahrnehmungen oder den Erscheinungen und ihren Zusammenhängen nachfragt, nicht aber den zufälligen Zusammenhängen der wirklichen Wahrnehmungen im Einzelbewußtsein:  Naturgesetze  sind Formeln, die  konstante Beziehungen der Erscheinungen  darstellen, im Unterschied von  Assoziationen von Vorstellungen im subjektiven Bewußtsein. 

So entsteht die Vorstellung einer objektiven Welt. Dem Bewußtsein bleibt diese psychologische Vermittlung fremd; die Körperwelt steht ihm gegenüber als absolut seiende Wirklichkeit. Erst die erkenntnistheoretische Reflexion führt auf die Betrachtung, daß der notwendige Beziehungspunkt für diese objektive Welt, wie KANT sagt, ein "Bewußtsein überhaupt", ein konstruktives, mit synthetischen Funktionen ausgestattetes Subjekt ist; und daß hinter der Erscheinung noch ein an sich Seiendes vorausgesetzt werden muß, dessen Symbol die Erscheinung ist. Was das sein könne, ist im Vorigen angedeutet worden: ein für sich seiendes Innenleben erfüllt allein die Bedingung des absoluten Daseins.
LITERATUR - Friedrich Paulsen, Einleitung in die Philosophie, Berlin 1899
    Anmerkungen
    1) JOHN STUART MILL, An Examination of Sir WILLIAM HAMILTONs Philosophy, 1865, Chapter XI
    2) MILL, ebenda, Seite 192f