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Studien zur Erkenntnistheorie [Rickerts Lehre über die logische Struktur der Naturwissenschaft und Geschichte.] [ 2 / 8 ]
Erstes Kapitel Darstellung der Rickertschen Lehre I. Erkenntnistheorie § 1. Gleich WINDELBAND sieht RICKERT das eigentliche Arbeitsgebiet der Philosophie in den Wertproblemen. (1) Nach seiner Meinung könnte man sogar Beweise bringen, daß die bedeutendsten Philosophen, wenn sie auch ihre Aufmerksamkeit denjenigen Fragen schenken, welche heutzutage von historischen Wissenschaften und Naturwissenschaften behandelt werden, immer als ihre spezifische philosophische Aufgabe die Lösung der Wertprobleme betrachten. Der Wertbegriff hat bei ihm die weiteste Bedeutung, so daß er alle Gebiete der menschlichen Werte umfaßt. Das Wahre, das Gute, das Schöne, das Heilige, alle diese Begriffe ordnet RICKERT gleich WINDELBAND dem allgemeinen Wertbegriff unter. Wahr und falsch, gut und böse, schön und häßlich, heilig und unheilig, alle diese Gegensätze haben den gleichen Ursprung, über den die Spezialwissenschaften, weder die historischen noch die naturwissenschaftlichen, nichts Bestimmtes aussagen und von dem sie auch keine Erklärung geben können. Denn jede von diesen Disziplinen hat ihr eigenes Arbeitsgebiet und setzt die obenerwähnten Begriffe als existierend voraus. Einzig die Philosophie ist die Wissenschaft, die sich mit dieser Aufgabe befassen kann. Sie allein kann Normen für das wissenschaftliche, sittliche, künstlerische und religiöse "Leben" aufstellen. Allgemein wird behauptet, daß eine solche Aufgabe die Grenzen der Wissenschaften überhaupt überschreitet; aber man vergißt dabei, daß jeder, der die Worte wahr oder gut gebraucht, schon damit das Vorhandensein von Normen voraussetzt. Nach RICKERTs Meinung, die er ausführlich in seiner Abhandlung über den "Gegenstand der Erkenntnis" (zweite Auflage) darlegt, ist sogar das bloße Konstatieren einer Tatsache schon eine Anerkennung eines bestimmten Wertes. Dies ist für die Lehre RICKERTs außerordentlich charakteristisch. Später werden wir dieser Frage näher treten, vorläufig wollen wir nur den Ausdruck "wissenschaftliches, sittliches, künstlerisches und religiöses Leben" im Auge behalten. Mit der Bezeichnung "das wissenschaftliche Leben" tritt RICKERTs Standpunkt klar zutage: er stellt sich damit auf den Boden des erkenntnistheoretischen Subjektivismus. Er spricht vom "wissenschaftlichen Leben", nicht von der Wissenschaft, vom "sittlichen Leben", nicht von Sittlichkeit und vermeidet absichtlich jede Gegenständlichkeit des Ausdrucks. Überall sucht er systematisch die Dingbegriffe in Relationsbegriffe aufzulösen. Gleich WINDELBAND glaubt er in dieser Beziehung Anhänger und Verfechter der kantischen Lehre zu sein. RICKERTs Meinung nach besteht das Hauptverdienst KANTs darin, gezeigt zu haben, daß die Ursache der Objektivität der Erkenntnis nicht in den Dingen liegt, sondern in der Unveränderlichkeit der Regel, nach der in unserem Denken die Verknüpfung der Eigenschaften der Dinge vor sich geht (2). Es gibt keine Philosophie, keine Moral und keine Religion, sondern nur ein philosophisches, religiöses, wissenschaftliches und sittliches Leben.
Der Wertbegriff ist für RICKERT nicht der oberste Begriff der Philosophie. Er geht einen Schritt darüber hinaus und bildet den Begriff des überempirischen oder transzendenten Sollens (5). Dieses verleiht unserer Erkenntnis Objektivität. Der Wille, der das transzendente Sollen erkennt und annimmt, hat selbstverständlich nichts Gemeinsames mit dem individuellen Wollen. Die Bezeichnung transzendentes Sollen soll nur zum Ausdruck bringen, daß unsere theoretischen Urteile der Hauptsache nach in einer Anerkennung bestehen. In der 1904 nach den "Grenzen" erschienenen zweiten Auflage des "Gegenstandes der Erkenntnis" kommt dieser Gedanke noch schärfer zum Ausdruck. Die Frage nach der logischen Autonomie wird schon in den "Grenzen" gestreift, währen im "Gegenstand" ausdrücklich darauf eingegangen wird.
Seiner Meinung nach haben die bedeutendsten Philosophen, wie z. B. PLATON, ARISTOTELES, SPINOZA und KANT, alle den Fehler gemacht, daß sie die "intellektuellen Werte" anderen bevorzugten und dadurch gewisse Seiten des menschlichen Lebens vernachlässigten. Für PLATON war der allgemeine Begriff" nicht nur das wahrhaft Seiende, sondern auch das Gute. Für ARISTOTELES setzte sich das höchste Ideal des Erkennens in den Begriff der Gottheit um; SPINOZA spricht von amor intellectualis dei; sogar für KANT ist die menschliche Erkenntnis unvollkommen, weil sie nicht imstande ist, das Ding-ansich zu erkennen. RICKERT aber glaubt, daß es vom Standpunkt eines erkenntnistheoretischen Subjektivismus aus möglich ist, den Gegensatz zwischen intellektuellen und nicht intellektuellen Werten zu überwinden. Unser Bewußtsein schafft , wie er meint, frei die Natur. Freilich handelt es sich hierbei ausschließlich um die Formen unserer Erkenntnis. Was die Wirklichkeit betrifft, so ist sie absolut irrational und unserer Erkenntnis unzugänglich. Nun ergibt sich zunächst die Schwierigkeit zu zeigen, wie unsere Werte mit der Wirklichkeit, die für irrational erklärt worden ist, übereinstimmen können. RICKERT antwortet darauf: Wenn wir an der Möglichkeit der Erkenntnis nicht verzweifeln wollen, so müssen wir glauben, daß die Befolgung der Pflicht und die Anerkennung eines transzendenten Sollens uns immer näher und näher zum Erkenntnisziel bringen wird. (7) Die Welt, die Wirklichkeit muß so eingerichtet sein, daß das Ideal der Erkenntnis in ihr erreicht werden kann. Das erinnert gewissermaßen an LEIBNIZ' harmonia praestabilita, weil auch hier eine wunderbare Übereinstimmung unserer bewußten Tätigkeit mit der Wirklichkeit angenommen wird. Und nach RICKERTs eigenem Geständnis muß diese Übereinstimmung als eine metaphysische Idee ausgesprochen werden. WINDELBAND gibt nach dem Vorbild LOTZEs diesem Gedanken folgende eigentümliche Formulierung:
Die ganze Aufgabe, die sich RICKERT stellt, besteht darin, den Beweis zu erbringen für seine Annahme, daß der Gegenstand der Erkenntnis das Sollen und nicht das Sein ist. Er bemüht sich deshalb eifrigst, den Begriff des Seins aus unserem Denken zu eliminieren. Bis zum Schluß seiner Arbeit scheint ihm das auch gelungen zu sein, aber schließlich erweist es sich für unser Denken doch als unmöglich, ohne den Begriff des Seins auszukommen. Das einzige Mittel, sich von ihm loszulösen, ist der Glaube, also eine metaphysische Annahme! Es ist nicht einzusehen, mit welchem Recht RICKERT zu der Behauptung kommt, daß diese Annahme den Bau seines Systems, den er bsi dahin mit soviel Sorgfalt ausgeführt hat, nicht erschüttert. RICKERT wurde, das wollen wir festhalten, durch seine Gedankengänge dazu geführt, anzunehmen, daß die Welt so eingerichtet ist, daß in ihr das Ziel der Erkenntnis erreicht werden kann. Dieser Gedanke konnte nicht ohne Einfluß auf den ganzen weiteren Verlauf seiner Untersuchung bleiben. Wenn er auch erst am Schluß zu einer Formulierung gelangt, hat er doch von Anfang an das Denken unseres Autors geleitet. § 2. Man kann kaum bezweifeln, daß es der Glaube an die "harmonia praestabilita" war, der RICKERT folgende Worte in den Mund legt:
Wer ferner annimmt, daß unsere Erkenntnis durch die Vorstellungen zustande kommt, der verdrängt den Begriff des erkennenden Subjekts, denn alle Vorstellungen sind, wie die Dinge, die wir durch sie erkennen, Objekte. Man hat es dann, wie in den Einzelwissenschaften, mit einer Reihe von Vorstellungen zu tun, während es an einem Subjekt fehlt, das die Übereinstimmung zwischen den Objekten erkennt. Um zu begreifen, was Erkenntnis ist, muß die Erkenntnistheorie vom Subjekt ausgehen, weil die Erkenntnis ohne erkennendes Subjekt ebenso unmöglich ist wie ohne Gegenstand. Wenn es aber wahr ist, daß in den Vorstellungen keine Erkenntnis stecken kann, so fragt es sich weiter, worin sie dann eigentlich steckt? RICKERT weist darauf hin, daß schon ARISTOTELES der Meinung war, die Wahrheit sei nicht in den Vorstellungen, sondern in den Urteilen enthalten. Diese Überzeugung ist, wie RICKERT glaubt, geeignet, der Erkenntnistheorie einen ganz neuen Weg zu weisen. Es muß zugegeben werden, daß unsere Urteile von unseren Vorstellungen ganz unabhängig sind, denn "solange man meint, daß die Urteile nur in einer Verknüpfung oder Zerlegung der Vorstellungen bestehen", ist "das Bedürfnis nach einer transzendenten Wirklichkeit als dem Gegenstand der Erkenntnis nicht hinweg zu schaffen." (11) Da wir uns genötigt sahen auf das transzendente, vom erkennenden Subjekt unabhängig existierende Sein zu verzichten, fragt es sich, ob es möglich ist, irgendeinen anderen, vom urteilenden Subjekt unabhängigen Maßstab zu finden? Ein solcher Nachweis wäre die Antwort auf die Grundfrage der Erkenntnistheorie, nämlich auf die Frage nach dem Gegenstand der Erkenntnis. Die Begriffe von wahr und falsch sind die einzigen Begriffe, mit welchen sich die Erkenntnistheorie befaßt. Sie sind, wie die Begriffe gut und böse in der Ethik, ganz selbständig und autonom. Die Erkenntnistheorie hat sich um die Fragen über die Übereinstimmung unserer Erkenntnis mit der Wirklichkeit überhaupt nicht zu kümmern. Sie existieren gar nicht für sie. Sie wurden von denjenigen Philosophen erfunden, die die kantische Lehre nicht durchgedacht haben. (12) Die Aufgabe der Erkenntnistheorie besteht nach RICKERT darin, die Erkenntnis von den Vorstellungen zu emanzipieren und zu zeigen, daß unsere Urteile deshalb eine bleibende und objektive Grundlage haben, weil sie nicht nach empirischen Kriterien und Prinzipien konstruiert werden. Die transzendente Wirklichkeit, welche die menschlichen Vorstellungen bedingt, ist eine Fiktion. Es ist vollständig unmöglich, ihre Existenz nachzuweisen oder zu rechtfertigen. Von Kindheit an hat man sich daran gewöhnt, an das Dasein einer transzendenten Wirklichkeit zu glauben, so wie man etwa an die Unbeweglichkeit der Erde oder an die Himmelsfeste glaubt. Dagegen kann das Vorhanden seines Kriteriums der Wahrheit der Urteile, wie RICKERT meint, nachgewiesen werden, und zwar mit der größten Überzeugungskraft, deren der menschliche Verstand fähig ist. Um dieses Kriterium zu finden, muß man erst fragen, was Urteile sind. Darauf gibt RICKERT folgende Antwort:
Gleich PLATON nimmt er die Wandelbarkeit aller sinnlichen Dinge an und erkennt die Notwendigkeit über dieselben hinaus ein Bleibendes und Wesenhaftes zu suchen. PLATON und ARISTOTELES waren beide der Meinung, daß Gegenstand der Erkenntnis die Dinge sind. Daraus ergibt sich die schon obenerwähnte aristotelische Definition des wahren und falschen Urteils. RICKERT führt diese Gedanken von PLATON und ARISTOTELES an, interpretiert sie im Sinne ZELLERs und stellt ihnen die Lehre KANTs entgegen. Er meint, daß LOTZE PLATO falsch verstanden hat, wenn er in seiner Logik "... die platonische Idee interpretiert als das, was gilt, im Gegensatz zu dem, was ist." (17) Dieser Gedanke soll der platonischen Lehre vollkommen fremd, aber von eminenter Bedeutung für die moderne Erkenntnistheorie sein. Die wirkliche Existenz [nominal] der allgemeinen Begriffe kann nicht anerkannt werden. Wirklich sind nur einzelne Dinge. Sie bilden die einzig anzuerkennende Wirklichkeit. Das Allgemeine dagegen gilt. Diese Gegenüberstellung von Sein und Gelten hat RICKERT bei LOTZE entlehnt. Sie spielt in der Erkenntnistheorie dieses Autors (RICKERT) sowie in derjenigen WINDELBANDs eine bedeutende Rolle. Sie entbindet RICKERT von der Notwendigkeit in das Wesen des Seins einzudringen.
Wie es die menschliche Erkenntnis leitet und wie RICKERT die Widersprüche, die mit seiner Definition der Erkenntnis verbunden sind, zu beseitigen sucht, dies zu zeigen wird die Aufgabe des folgenden Kapitels sein. § 3. Welche Voraussetzungen müssen wir machen, um das gesuchte Kriterium zu finden? WINDELBAND sagt, daß außer der Anerkennung der formalen Gesetze unseres Denkens wir nur eine Gesamtvoraussetzung zu machen gezwungen sind, diejenige nämlich,
Der innere Widerspruch dieser Behauptung interessiert uns an dieser Stelle nicht. Es ist hier viel wichtiger, klar zu machen, welche Bedeutung sie für die gesamte philosophische Konzeption WINDELBANDs hat. Für ihn ist es gar nicht wesentlich, ob die allgemeingültige Norm, der sich das individuelle Bewußtsein unterordnet, tatsächlich existiert. Vom Standpunkt WINDELBANDs und RICKERTs aus ist die Frage nach der Existenz der Normen sogar unberechtigt. Von Wichtigkeit ist nur ihre Geltung. In der Philosophie dieser beiden Denker findet diese Frage nicht dadurch eine Lösung, daß man die objektive Existenz der Normen beweist, sondern ihre Beantwortung liegt in dem Nachweis, ob es Menschen gibt, die von der Existenz der Normen überzeugt sind. Der bereits weiter oben eingeführte, auf den ersten Blick so paradox erscheinende Satz, Philosophie sei nur zwischen denjenigen möglich, welche der Überzeugung sind, daß eine Norm des Allgemeingültigen über ihrer individuellen Tätigkeit steht, findet damit seine Erklärung. Wir können uns unmöglich damit einverstanden erklären, daß Philosophie nur zwischen solchen möglich ist, die sie annehmen wollen. Sollte es nicht ein Etwas geben, das den Menschen zwingt, die philosophische Wahrheit anzuerkennen? WINDELBAND und RICKERT stellen dies absolut in Abrede. Die Anerkennung des Wahren auf dem Gebiet der Erkenntnis setzt - ebenso wie die Anerkennung des Guten und Schönen in der Ethik und Ästhetik - immer nur den guten Willen voraus. Es gibt also keine Wahrheit ansich, sowie es kein Gut und keine Schönheit ansich gibt. Es gibt nur menschliche Wahrheit, menschlich Gutes und menschliche Schönheit. Wer die Wahrheit will, muß deshalb diejenigen Bedingungen akzeptieren, von denen das Dasein der Wahrheit abhängt. Dies ist die Interpretation, die WINDELBAND und RICKERT der kritischen Philosophie geben. Sie ist die Grundlage ihrer Erkenntnistheorie. Ihre Gnoseologie hat in gewisser Hinsicht unverkennbare Ähnlichkeit mit der kantischen. Doch führen sie dieselbe konsequenter durch als der Königsberger Philosoph. Bei RICKERT ist unsere gesamte Erkenntnis nichts anderes als ein Produkt der aktiven Tätigkeit unseres Verstandes und nur unseres Verstandes. Der kantische Satz, der seiner Zeit die ganze Welt in Erstaunen versetzte und demzufolge der Verstand der Natur Gesetze vorschreibt, findet bei WINDELBAND und noch mehr bei RICKERT seine Stelle. Nach KANT läßt sich der Skeptizismus dadurch überwinden, daß man ihn in sich aufnimmt und verarbeitet. Diese Vorschrift wurde von RICKERT bis in ihre Konsequenzen durchgeführt. Sieht man von seiner metaphysischen Idee der "harmonia praestabilita" ab, dann unterscheidet sich seine Erkenntnistheorie ihrem Wesen nach eigentlich nicht vom Skeptizismus: beide behaupten die Unerkenntlichkeit der Wirklichkeit. RICKERT unterscheidet sich von den Skeptikern nur durch seine Behauptung, daß wir uns ein Wissen selbst schaffen können, ein Wissen, das, ohne die Wirklichkeit abzubilden, gewisse Beziehungen zur Wirklichkeit hat, aber nichts weiter über sie aussagt. Es wird autonom geschaffen, und deshalb ist es unmöglich, daß Uneinigkeiten und Widersprüche in Bezug auf dasselbe entstehen können. Zum Kriterium der Wahrheit unserer Urteile wird also nicht die problematische, unerfaßbare Wirklichkeit, deren Existenz nicht einmal sicher nachgewiesen werden kann, sondern der leicht zu formulierende, genau bestimmbare menschliche Zweck. Auf dieser einzig möglichen Grundlage wird eine Philosophie aufgebaut, die dauern wird in saecula saeculorum [alle Zeiten - wp]. Der Verstand findet in der Natur nur das, was er in sie hineinlegt, und er legt in sie nur das hinein, was für seine Ziele erforderlich ist. Durch diese Überlegungen geht ohne Weiteres hervor, welche Unterscheidung RICKERT zwischen einem erkenntnistheoretischen und einem psychologischen Standpunkt in der Erkenntnis macht (21). Die Psychologie interessiert sich ausschließlich für die Tatsachen der Erkenntnis. Sie weist die Elemente nach, aus denen sich die Urteile zusammensetzen; sie fragt nach dem Ursprung derselben und interessiert sich für deren Verknüpfung. Das alles geht die Erkenntnistheorie gar nichts an. Ihr Interesse gilt dem Problem der Geltung der Erkenntnis. Und so wie RICKERT dieses Problem faßt, hat es mit psychologischen und genetischen Fragen nichts Gemeinsames. Die Psychologie erörtert quaestio facti [Tatsachenfragen - wp], die Gnoselogie quaestio juris [Rechtsfragen - wp]. Das Recht der Erkenntnis, sich wahr zu nennen, ist zum wenigsten von den Ergebnissen psychologischer Forschungen abhängig. Wenn das Problem der Erkenntnis durch die vom Menschen sich selbst gesteckten Ziele bestimmt ist, wenn es dem Menschen frei steht, zu bestimmen, was wahr und was falsch ist, so ist es natürlich klar, daß er je nach seinen Bedürfnissen der Erkenntnis eine beliebige Form geben kann. So zeigt sich, daß RICKERTs hauptsächliches Bestreben darin besteht, die Wirklichkeit aus der Erkenntnis auszuschließen. Wie bereits gesagt, nimmt RICKERT erst am Schluß seines Buches seine Zuflucht zur "harmonia praestabilita", obwohl seine ganze Untersuchung darauf angelegt ist, daß ihm diese Reserve immer offen bleibt. Er selbst meint, seine Erkenntnistheorie sei von der metaphysischen Idee völlig unabhängig. Um sie aber von metaphysischen Voraussetzungen freizumachen, stellt sich RICKERT auf den Standpunkt der immanenten Philosophie und bekämpft alle Arten von erkenntnistheoretischem Realismus, den erkenntnistheoretische Idealismus mit inbegriffen. RICKERTs Kritik der gnoseologischen Theorien ist sehr überzeugend und geistreich. Wir können hier jedoch nicht näher darauf eingehen, da wir uns nicht für den kritischen, sondern für den positiven Teil seiner Arbeit interessieren. In dem letzteren verteidigt RICKERT den Idealismus gegen den bekannten Einwand, wonach der konsequente Idealist unbedingt anerkennen muß, daß weder die Welt noch die Dinge vor seinem Bewußtsein existiert haben. Im ersten Augenblick erscheint dieser Satz unwiderlegbar. Wenn es keine transzendente, vom erkennenden Subjekt unabhängige Welt gibt, so existiert die Welt vor der Geburt des Subjekts nicht. RICKERT meint nun, diese Erwägung beruth auf einem Mißverständnis, dem nämlich, daß die Kritiker des erkenntnistheoretischen Idealismus vergessen, daß Zeit und Raum Bewußtseinstatsachen und Formen unserer Erkenntnis sind. Vom Standpunkt des Idealismus aus darf von der Existenz der Welt außerhalb des Bewußtseins oder vor demselben gar nicht die Rede sein; denn dies würde eine Anerkennung der Objektivität der Zeit und des Raums in sich schließen. Der oben angeführte Einwand gilt für RICKERT nur in Bezug auf den physiologischen Idealismus, der die Qualitäten für immanent, die Quantitäten dagegen für transzendent hält. Der zweite gegen den Idealismus erhobene Einwand ist der Solipsismus. Wie bekannt, behaupten gewisse Idealisten, daß der Idealismus unumgänglich zum Solipsismus führt. SCHOPENHAUER bezeichnet z. B. den theoretischen "Egoismus" als eine kleine Grenzfestung, die zwar unbezwinglich, deren Besatzung aber so schwach ist, daß sie den Angriffen der Philosophie nicht standhalten kann und die man deshalb unbeschadet links liegen lassen darf. Im Gegensatz dazu meint RICKERT, daß man mit den Einwänden gegen den Solipsismus unbedingt rechnen muß. Er bedauert, daß "von manchen zur Leugnung des Transzendenten geneigten Erkenntnistheoretikern gegen den Solipsismus bisweilen mehr Pathos als Gründe vorgebracht werden". (22) Ums sich vor dem Solipsismus zu schützen, führt RICKERT den eigenartigen Begriff eines erkenntnistheoretischen Subjekts ein. Mit Hilfe dieses Begriffs gelingt es RICKERT, den Standpunkt des erkenntnistheoretischen Idealismus zu wahren, ohne den SCHOPENHAUERschen Satz "die Welt ist meine Vorstellung" anzuerkennen. Er betont im Gegenteil: "die Welt ist eben nicht mein Bewußtseinsinhalt" (23). Nun erhebt sich die Frage, was RICKERT dann eigentlich unter einem erkenntnistheoretischen Subjekt versteht, mit dessen Hilfe ihm die Überwindung des Solipsismus gelingt? Es ist nötig, genau auf diese Frage einzugehen, weil RICKERT diesen Begriff für seine wichtigsten Ausführungen gebraucht. Der Begriffe des "erkenntnistheoretischen Subjekts" wird auf folgende, ziemlich komplizierte Weise gewonnen. RICKERT konstatiert, daß es in der Philosophie einen dreifachen Gegensatz des Subjekts zum Objekt gibt. Das Wort Objekt hat dreierlei Bedeutungen:
2. die gesamte ansich existierende Welt oder das transzendente Objekt; 3. den Bewußtseinsinhalt oder das immanente Objekt.
2. mein Bewußtsein mit seinem gesamten Inhalt; 3. mein Bewußtsein im Gegensatz zu diesem Inhalt.
Gesetzt, dies wäre der Fall; das einzig wahre Subjekt wäre das erkenntnistheoretische; der gesamte Bewußtseinsinhalt müßte zum Objekt gerechnet werden, das, wie wir gesehen haben, in der Erkenntnistheorie keine Rolle spielt und auch keine Rolle spielen darf; dann hätte SCHOPENHAUER mit seinem Ausspruch, daß die Welt wirklich meine Vorstellung ist, wirklich unrecht. Ihm könnte man dann mit gutem Recht den Satz entgegenstellen: Die Welt ist eben nicht mein Bewußtseinsinhalt (25). § 4. Der Ursprung der Erkenntnis ist also das erkenntnistheoretische Subjekt oder, was für RICKERT damit identisch ist, das Bewußtsein überhaupt. Seine Erkenntnistheorie befaßt sich ausschließlich mit diesem Bewußtsein überhaupt. Worin besteht seine Funktion, welches ist seine Bestimmung? Daß die Erkenntnis nicht in den Vorstellungen steckt, und daß es eine vom erkennenden Subjekt unabhängige Wirklichkeit nicht gibt, haben wir bereits gesehen. Nun fragt es sich, worin die Wahrheit liegt, wenn nicht in den Vorstellungen. Vorwegnehmend wollen wir sagen, daß nach RICKERT die Wahrheit in den Urteilen steckt. Jede Erkenntnis muß die Form eines Urteils haben, deshalb ist es nötig, vorerst zu einer Analyse der Urteile überzugehen. RICKERT macht diesbezüglich eine für seine Methode sowie für seine Ziele sehr charakteristische Äußerung:
Schon WINDELBAND stellt dem Urteil die Beurteilung entgegen, und diese Entgegenstellung ist entscheidend für seine Gnoseologie. Dennoch führt er diesen Gedanken nicht bis zum Schluß durch. Erst RICKERT entschließt sich, ihn bis in seine letzten Konsequenzen zu verfolgen. Wenn man eine philosophische Werttheorie konsequenz durchführen und alle realistischen Bestandteile aus ihr entfernen will, so gibt es keinen anderen Weg als die Anerkennung des Satzes, daß unsere Urteile absolut keine Vorstellungen enthalten; nur aufgrund dieser Annahme läßt sich die Theorie der autonomen Erkenntnis rechtfertigen, ebenso wie es KANT durch die Anerkennung der vollständigen Unabhängigkeit des kategorischen Imperativs von der Sinnlichkeit möglich wurde, eine autonome Ethik aufzubauen. RICKERT hat diese Konsequenz gezogen. Urteilen bedeutet Beurteilen. Der Sinn jedes Urteils ist das freiwillige Verneinen oder Bejahen; Erkennen ist Anerkennen. Vielleicht ist aber das Urteil, wenn auch seinem Wesen nach ein Anerkennen, dann doch vom individuellen Ich abhängig? oder, mit anderen Worten: wie kann man die Urteilsnotwendigkeit beweisen? Der Erkenntnisakt besteht, wie wir bereits darauf hingewiesen haben, in der Anerkennung der Werte, und unsere Erkenntnis wird durch Lustgefühle geleitet. Welcher Unterschied besteht aber zwischen der Anerkennung der Werte im Urteil und allen anderen Arten der Bewertung, die bekanntlich in den meisten Fällen das Resultat zufälliger Launen und vorübergehender Stimmungen des individuellen Ichs sind? Zur Beantwortung dieser Frage wendet sich RICKERT an die Psychologie. Das Merkmal der Wahrheit in den Urteilen ist die Gewißheit, "ein Lustgefühl, in dem der Trieb nach Erkenntnis zur Ruhe kommt." (29) Diese Gewißheit, die allen Wahrheitsurteilen eignet, beruth ihrerseits auf der Evidenz, auf die alle mittelbar und unmittelbar unbezweifelbaren Urteile zurückgeführt werden. Dem Lustgefühl, welches das Gefühl der Gewißheit begleitet, legen wir jedoch eine andere Bedeutung als unseren übrigen Gefühlen bei. Wir sind fest davon überzeugt, daß das Urteil, zu dem wir veranlaßt worden sind, überall und für alle Zeit gefällt werden soll. Töne z. B. erscheinen und verschwinden. Sie sind Vorstellungen. Wenn ich Töne höre, so bin ich genötigt, zu urteilen, daß ich Töne höre. Und dieses Urteil hat ewige zeitlose Geltung, weil es undenkbar ist, daß ich jemals das Entgegengesetzte behaupten kann.
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1) "... die Philosophie handelt überall von Werten und Normen und den Formen ihrer Anerkennung" (Gegenstand der Erkenntnis). Vgl. Windelband, Präludien, Seite 51, "Was ist Philosophie?" Philosophie ist "die kritische Wissenschaft von den allgemeingültigen Werten. Die Wissenschaft von den allgemeingültigen Werten: das bezeichnet die Gegenstände; die kritische Wissenschaft: das bezeichnet die Methode der Philosophie". 2) vgl. Grenzen, Seite 98 3) ebd. Seite 675 4) Husserl, Logische Untersuchungen, 1900, Bd. 1, Seite 114 5) vgl. Grenzen, Seite 683 6) Gegenstand der Erkenntnis, Seite 233 7) Vgl. Grenzen, Seite 737; Gegenstand der Erkenntnis, Seite 243. 8) Präludien, Kritische oder genetische Methode, Seite 323. 9) Gegenstand der Erkenntnis, Seite 230 10) Trotzdem hält Rickert dieses Argument selbst nicht für überzeugend genug. Auf Seite 83 sagt er: "Selbst wenn man meinen sollte, daß es auch ohne räumliche Trennung einen Sinn hat, von einem Abbild des Dings durch eine Vorstellung zu sprechen, so wäre die Vorstellung auch dann noch keine Erkenntnis." 11) Gegenstand der Erkenntnis, Seite 85 12) Im Vorwort zum "Gegenstand der Erkenntnis" bemerkt Rickert daß er "die Grundgedanken dieser Schrift nach wie vor nicht für "neu", sondern für nichts anderes als eine notwendige Konsequenz der durch Kant herbeigeführten Epoche in der Philosophie halte". 13) Gegenstand der Erkenntnis, Seite 86 14) Wundt, Logik, dritte Auflage, Bd. 1, Seite 145 15) Eduard Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung, dritte Auflage, Abt. 2, Seite 219. 16) Vgl. Grenzen, Seite 245 17) Vgl. Grenzen, Seite 97 18) Vgl. Grenzen, Seite 98 19) Präludien, "Geschichte und Naturwissenschaft", Seite 341 20) Präludien, Seite 342 21) In dem bereits zitierten Aufsatz, Präludien, Seite 318-354, behandelt Windelband die genetische und die kritische Methode. Vgl. auch Sigwarts Logik, Bd. 1, dritte Auflage, Seite 10: "Die Beziehung auf diesen Zweck scheidet die logische Betrachtung des Denkens von der psychologischen. Dieser ist es um die Erkenntnis des wirklichen Denkens zu tun, und sie sucht demgemäß die Gesetze, nach denen ein bestimmter Gedanke gerade so und nicht anders eintritt . . . Die logische Betrachtung dagegen setzt das Wahrdenkenwollen voraus und hat nur für diejenigen einen Sinn, welche sich dieses Wollens bewußt sein und nur für dasjenige Gebiet des Denkens, welches von ihm beherrscht wird." 22) Gegenstand der Erkenntnis, Seite 56. 23) Gegenstand der Erkenntnis, Seite 57 24) Gegenstand der Erkenntnis, Seite 25 25) vgl. Grenzen, Seite 174 26) Gegenstand der Erkenntnis, Seite 95 27) ebd. Seite 103. 28) Gegenstand der Erkenntnis, Seite 106 29) Gegenstand der Erkenntnis, Seite 111; vgl. Sigwart, Logik I, § 3 und Wundt, Logik I, Seite 82. Wir werden diese Frage im zweiten Teil meiner Arbeit ausführlich behandeln. 30) Gegenstand der Erkenntnis, Seite 111; vgl. Sigwart, Logik I, § 3 und Wundt, Logik I, Seite 82. Wir werden diese Frage im zweiten Teil meiner Arbeit ausführlich behandeln. 31) ebd., Seite 112f 32) ebd., Seite 113 33) ebd., Seite 116 34) ebd., Seite 170 35) ebd., Seite 121 |