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JULIUS SCHULTZ
Die drei Welten
der Erkenntnistheorie

[Eine Untersuchung über die Grenzen
zwischen Philosophie und Erfahrungswissenschaft]

[1/2]

"Ich sehe zunächst nur grüne, metallische, weiße, dunkle Flecken, fühle ein Rund, ein Heiß, ein Kühl; daß all das ein körperliches Ding ist, Lampe genannt, das ist mir nicht gegeben, das denke ich dazu."

"Kein Sinn kann uns verraten, daß Dinge sind; denn die Hand tastet nur Formen; und das Auge unterscheidet farbige Flächen und zeigt jeden Gegenstand von verschiedenen Seiten in den verschiedensten Gestalten. Die Dinge sind also durchaus nicht einfach Komplexe von Empfindungen, sondern irgendeine Tätigkeit des Verstandes muß den Komplex von seinen Hintergründen lösen und verselbständigen, damit es zur Dingheit kommt - und zu einer Welt, in der Erfahrungen möglich werden."

"Das Vergleichen, auf dem alle und jede Erkenntnis beruth, ist eine Tätigkeit unseres Denkens und also bezeichnen, wie schon Plato wußte, die Wörter Gleichheit, Ähnlichkeit, Kontrast usw. nicht Gegenstände der Wahrnehmung, sondern gedankliche Kategorien."

"Dem Vergleichen schließt sich das Identifizieren an mit seiner Kategorie der Dasselbigkeit. Es schafft aus dem momentanen das Dauerding, das eines bleibt, auch wenn wir wegschauen oder uns schlafen legen; es garantiert uns mit anderen Worten die objektive Welt."


I. Die erste Welt

1. Einleitung. Vielbetretene Pfade, die uns zu verwachsen drohen, muß ich heute säubern und verbleichende Wegmarken ein wenig auffrischen. Eine bescheidene Arbeit: doch hoffe ich, nicht ganz unnütz. Denn es geht allmählich in der Erkenntnistheorie fast zu wie beim Turmbau zu Babel. Vielleicht ist ein Versuch an der Zeit, von tausend Mißverständnissen, die uns plagen, ein paar Dutzend aufzuklären.

2. Der Streit um das Gegebene. Jede Erkenntnistheorie beginnt mit der Frage, was uns denn "gegeben" ist? Es gibt lange und hübsche Abhandlungen darüber, und eigentlich sollte man doch meinen, die Antwort müßte für jeden verständigen Menschen gewissermaßen auf der Hand liegen, vollends aber für einen Philosophen, will sagen, für einen Auserwählten unter hunderttausend! Dennoch hören wir drei Definitionen. Die Logisten nennen das Denken, die Sensualisten die Empfindung, die Empiristen die Welt des naiven Menschen "gegeben".

Aber schon dieser erste Streit stammt aus Mißverständnissen. Der Logist nämlich versteht unter dem Wort "gegeben" dasjenige, was er als Werkzeug braucht, um überhaupt in irgendeine Untersuchung einzutreten. Und in seinem Sinn behält er natürlich recht: keiner leugnet ihm das ab. Gewiß, um irgendwie zu forschen, bedürfen wir nicht nur der scharfen und klaren Gedanken, sondern müssen auch an die Möglichkeit eines richtigen Denkens fest glauben; sonst wollen wir uns lieber schlafen legen oder zu einem guten Souper [festliches Abendessen - wp] niedersitzen als philosophieren! Was alle gemeinsam das Selbstverständliche finden, hebt der Logist besonders hervor, und er darf das. Nur kommt er von Anfang an auf andere Wege als wir; auf andere, ebenfalls erlaubte; sie führen aber nicht zur Erkenntniskritik, sondern zur formalen Logik.

Das Denken war unserem Freund nämlich zunächst nicht als Objekt gegeben; sondern als Mittel, Objekte zu erkennen: gegeben als lebendige Tätigkeit. Nun kann sich ein subjektives Tun sprachlich nicht anders als im Will und Soll abspielgeln; es fordert für sich Regeln, nicht Beschreibungen, treibt nicht theoretische, sondern Normwissenschaften aus sich hervor. Und das ist ja in diesem Fall geschehen: die normierende Logik existiert und herrscht über all unserem Wissen. Wer sich mit ihr und den ihr entfließenden Forschungsmaximen und Methodenlehren begnügen will, ist ganz in seinem Recht. Nennt er aber seine Wissenschaftskunde "Erkenntniskritik", so meint er mit dem Wort etwas Anderes als wir Übrigen - und mißversteht uns.

Nun können wir andererseits das Denken auch zum Gegenstand unseres Denkens wählen. Dann aber müssen wir es entweder aus der Sinnenwelt irgendwie abstrahieren - vielleicht in der Weise, wie KANT das versucht hat; und in diesem Fall wäre ja jene Welt, aus der abstrahiert wurde, für unsere Untersuchung früher da, als das Abstrahierte: sie wäre das "Gegebene"! Oder wir analysieren die Natur unserer Erkenntnis; und dann wird das Denken zu einem psychologischen Vorgang, der keineswegs elementar, nicht im Mindesten sogleich "gegeben" ist.

3. Sensualisten und Empiristen. Also einigen wir uns: nicht das unumgängliche Instrument allen Forschens, unser voll entwickeltes Denken nämlich, wollen wir künftig meinen, wenn wir von einem "Datum" reden; sondern den rohesten Stoff, der auf Verarbeitung harrt. Ich will mit dieser Wendung einstweilen noch nicht kantianisieren; jeder Positivist, der nur irgendwie seine "Inhalte" ordnen und vernünftig beschreiben möchte, darf sie sich aneignen.

Um nun zwischen dem Sensualisten und dem Empiristen zu entscheiden, müssen wir zunächst klar erkennen, daß die beiden Standpunkte auch wirklich verschieden sind. Es gibt nämlich Leute, die so tun, als ob schon ein Kind - als ob gerade jedes Kind - unter "Dingen" nur seine Empfindungen oder deren Komplexe verstehen würde. Bereits BERKELEY wunderte sich beinahe, wie jemand auf den barocken Einfall geraten kann, das Dasein vom Wahrgenommenwerden zu trennen. Und manche der neuesten Positivisten wundern sich mit ihm und behaupten etwa, wer im täglichen Leben sagt, daß in seinem Garen ein Birnbaum steht, der meint im Grunde bloß dieses: daß unter den und den Bedingungen bestimmte Tast- und Farbempfindungen auftauchen würden. So sagt ja auch jeder zum Zweifler, er solle nur hingehen, zuschauen und fühlen! Aber da spielt eine offenkundige Verwechslung mit! Sie hat auch sonst viel Unfug in der Philosophie gestiftet: man vermengt den Beweis für die Existenz eines Gegenstandes mit dieser Existenz selber. Oder hält Hans etwa auch seine Grete für weniger wirklich als seine eigene Persönlichkeit? für wirklich in einer andersartigen Hinsicht? für einen Haufen lieblicher Sensationen? Nein, ich vermute, derlei Sätze sind rednerische Entgleisungen, so daß die Verfasser gar nicht im Ernst sagen wollen, was sie zu sagen scheinen. Jede Berufung auf die Praxis unserer Werkeltage müßte sie sonst ja leicht widerlegen!

Aber es schwirren heutzutage eine Menge von Redensarten umher, die eine Verwechslung des sensualistischen mit dem empiristischen Standpunkt leicht machen. Und die Nester, von denen sie ausfliegen, sind die Schulen von SCHUPPE und AVENARIUS; das muß endlich einmal gesagt und begründet werden, eher bekommen wir keinen Frieden!

Beide Denker betonen zunächst, daß wir von anderem als von Bewußtseinsinhalten nie reden dürfen. Das scheint unverfänglich; gewiß, alles ist uns in letzter Linie als Bewußtseinsinhalt gegeben. Nur besagt der Satz in dieser Weite weniger, als es scheint. Denn, so hat schon MARVIN einmal nicht unfein bemerkt, wenn alles Bewußtseins ist, so ist "Bewußtsein" eigentlich nur noch ein anderer Name für "Sein" überhaupt. Und, so sensualistisch der Anfang klingen mag, die Frage bleibt dennoch offen, was nun ursprünglich "bewußt" sein soll, die gestaltete Welt des gewöhnlichen Menschen oder bloße Aggregate von Empfindungen? - Unsere Autoren entscheiden sich für das erstere; SCHUPPE will ja schließlich den naiven Realismus zu Ehren bringen und läßt wirkende Dinge, wie z. B. feuerspeiende Berge, von seinem Bewußtsein umfangen; und AVENARIUS gründet alles auf die Aussagen von Menschen, nimmt also das empirische Ich und Du zur Basis; wenn er von Zentralgliedern empiriokritischer Prinzipialkoordinationen und vom System C spricht, so bereitet sich im Grunde nur seine unleidliche Vokalbelsucht festliche Augenblicke. Gemeint ist nichts Anderes als die hirnbegabte Einzelpersönlichkeit der Erfahrungswelt des Naiven. Nun gut - in dieser empirischen Realität aber gilt der Satz nicht, der für die Welt der bloßen Sensationen zuträfe: daß nämlich das Perzipiertwerden mit dem Sein in eins fällt. Gerade hier ist der Punkt, wo es sich entscheiden heißt. Entweder wähle ich als Erstes ein momentanes Empfindungsmosaik;, wo dann Muskelgefühle, Hunger, Schmerzen, Farben, Wünsche sich dazu gesellen können und von Existenzen außerhalb des Empfindens keine Rede mehr ist. Oder mein Bewußtseinsinhalt - will sagen, der Inhalt des allgemeinen Bewußtseins, das SCHUPPE aus seinen Prämissen ganz richtig konstruiert - ist der Kosmos unseres täglichen Lebens samt Wirkungen, Dingen - und Menschen, und diese Menschen können Aussagen machen und sogar Bücher schreiben, über ihren menschlichen Weltbegriff, ja freilich! Dann aber haben diese Menschen auch Augen, Ohren und - Systeme C, zu deutsch "Gehirne" und zwar zu dem Zweck, um einander und die übrigen Dinge kennen zu lernen. Und dann sind ihre Anschauungen allerdings etwas Anderes als die Objekte selber. Ob diese Menschen mitsamt ihren Anschauungen letztlich Bewußtseinsinhalte oder "Wirklichkeiten" heißen, das ist hierfür gänzlich einerlei. - In der Tat kann niemand, der sich einmal auf einen empiristischen Standpunkt stellt, an der Doppelheit von Gegenstand und Wahrnehmung zweifeln. Zweifelt SCHUPPE zum Beispiel, so verwechselt er nur das von ihm selber geforderte, allgemeine Subjekt mit sich, dem Professor in Greifswald. Für jenes ist das Bild der Ratsapotheke mit dieser selbst identisch; für den Herrn Professor nicht, sonst würde das hübsche, alte Haus sich ja wirklich vergrößern, wenn besagter Herr darauf zugeht, und so weiter: das ist schon bei PLATO nachzulesen! Nicht einmal das kleinste Kind auf der Straße glaubt, daß die Straße plötzlich rot geworden ist, wenn es sie durch ein rotes Glas anblickt; es trennt folglich sein Sehen vom Dasein des Gesehenen; zwar nicht mit erkenntniskritischer Schärfe; aber es trennt. Natürlich denkt es nicht in jedem Augenblick an die Scheidung; wer von uns täte das? aber es weiß zu scheiden, ganz instinktiv; und darauf allein kommt es hier an. - AVENARIUS redet vielerlei vom vitalen Nutzen des Erkennens; schreibt also wohl auch den Tieren Gesicht und Gehör zu. Nun meint er ja nicht, daß der Hund den Hasen mit denselben Augen sieht wie der Jäger. Da sind also gleich zwei verschiedene Hasenbilder; auch zwei Hasen? In einer Welt, für die Wörter wie "vital" noch einen Sinn haben sollen, offenbar nicht. Doch was rede ich von Tieren? Unser Autor erklärt es ja ausdrücklich für glaubhaft, "daß ein und derselbe Bestandteil meiner Umgebung auch Bestandteil der Umgebung eines anderen Menschen sein könnte", daß dieser identische Bestandteil jedoch in den beiden "Prinzipialkoordinationen" nicht auch "der Beschaffenheit" nach gleich ist. Also R = R, R = R₁, R = R₂, aber R₁ nicht = R₂! Wenn zwei Bilder einanander ungleich sind, der Gegenstand aber identisch ("der Zahl nach eines"), dann können doch wohl die Bilder mit diesem Gegenstand nicht zusammenfallen. Oder muß sich die Logik nur just von den Positivisten alles bieten lassen? - AVENARIUS ist vielen Leuten bequem, weil er ihnen ein tieferes Nachsinnen über die Welträtsel mit einem Griff vom Hals schafft: anderen imponiert er durch seinen halbmathematischen Dialekt; die denken, wer fünfhundert Seiten voll Formeln schreibt, muß doch wenigstens mit dem Aufwand bewiesen haben, was er will - "und kontrollieren solls der Kuckuck!" - Aber ich wiederhole, wir haben lange genug in derlei Nebenln getappt!

Und unter dem Nachwuchs der beiden Positivisten ist die Verwirrung so wird emporgewachsen, daß man durch die empiriokritischen Ranken sich kaum mehr durchzuschlagen weiß. Da spricht etwa der im Übrigen sehr geistreiche und anregende Herr HEIM von einem Teufel, der uns verführt die leuchtende Welt zu verdoppeln: und dies sei der Anfang des erkenntnistheoretischen Sündenfalls. (Das wackere Wort hat meines Wissens REHMKE gemünzt.) Also ein Satan flüstert es jedem dreijährigen Bengel ein, der die Augen zumacht: die Mama bleibt doch an seinem Bett sitzen, auch wenn er sie nicht mehr sieht: oder, in unsere Fachsprache übersetzt: Objekt des Empfindens und Empfinden sind zweierlei! Ob dem kleinen Kerl ohne diese Suggestion die Welt wirklich soviel heller glänzt? "Aber so mein' ichs ja garnicht!" Mag sein, daß ich die Phrase mißverstehe; jedenfalls ist sie mißverständlich und trägt bei den tiefen Gegensatz zwischen der Welt der Sensationen und der des einfachen Menschen zu verwischen.

Ähnlich wirken die stehenden Ausdrucksweisen anderer "Immanenter", z. B. KAUFMANNs; wenn dieser auf Dinge, Ursachen, Gesetzmäßigkeiten und dergleichen kommt, redet er gerne von natürlichen Hypothesen oder von der Metaphysik des gemeinen Mannes. Als paradoxe Formeln, die den Zwecken einer bestimmten Erkenntnistheorie dienen, darf man sich derlei Wendungen wohl gefallen lassen. Aber man muß sich hüten, daß man sie nicht preßt. Wer sie im Wortsinn ernst nimmt, der bildet sich leicht ein, der Mensch habe zunächst nur ein Nebeneinander von Empfindungen vor sich; und konstruiere sich aus diesen bewußt seinen späteren Kosmos. Nun glaube auch ich (und habe ein Buch geschrieben, um es darzulegen), daß ursprünglich Empfindung und Assoziation war und daß aus letzterer das Denken erwachsen ist; aber die ersten Schritte auf diesem Weg waren eben die Verdinglichung der Empfindungskomplexe, das Erwarten gleicher Folge nach gleichem Vorgang und das Übrige; die kategorial geschaute Welt ist die Bedingung, nicht eine Konsequenz des höheren Denkens - zu dem man die Hypothesenbildung doch wohl rechnen sollte! Um gleich ein Beispiel zu nehmen: ich möchte vermuten, daß schon ein Frosch oder zumindest schon die niederen Säugetiere ihre Empfindungsklumpen wie Dinge apperzipieren; und nun würde gewiß niemand gerne von einer Metaphysik der Känguruhs reden. Der Mensch, der in seiner Sachwelt umhergeht, schmiedet Hypothesen; vom Säugling, dem sich diese Welt aus dem Chaos der Empfindungen erst bildet, bleibt ein solcher Ausdruck ungebräuchlich - und ist darum leicht mißzuverstehen.

4. Fassung des Problems beim Streit um das Gegebene. Empiristen und Sensualisten haben beide recht; man muß nur erst wissen, wem das "Gegebene" gegeben sein soll.

Dem natürlichen Menschen, aber ebenso gut auch dem Herrn Professor, der ein erkenntnistheoretisches Buch schreibt, ist die "gemeine Wirklichkeit" gegeben: also Ich und Du inmitten einer Welt von Körpern, alle mit mannigfachen Eigenschaften begabt und bis zu einem gewissen Grad regelmäßig auf einander wirkend. - Dem erkenntnistheoretischen Subjekt aber, einer ehrenwerten Persönlichkeit, der ich diese kleine Schrift in Ehrfurcht widmen möchte: dem sind freilich die Empfindungen gegeben. Recht also haben beide Parteien; es fragt sich nur, wessen Anfang zweckmäßiger ist.

5. Kritik des sensualistischen Standpunkts. Der Sensualist empfiehlt seine Methode vielleicht durch eine psychogenetische Betrachtung. Das niedere Tier und der menschliche Embryo leben in einfachen Empfindungen; aus denen baut sich dann - dort in Jahrmilliarden, hier in etwa drei Jahren - der Kosmos. Und wenn die Erkenntnistheorie diesen natürlichen Gang mitgehen will, so hat sie eben die Empfindungen als Datum zu betrachten.

Aber sie wird doch nicht von Säuglingen getrieben. Und für den erwachsenen Philosophen sind jene ursprünglichen Komplexe sicherlich nicht "gegeben". Er erschließt sie vielmehr als Endglieder langer und schwieriger Gedankenreihen; erschließt sie richtig; auf dieser Gewißheit beruth ein Teil meines eigenen Philosophierens; wer meine Schriften kennt, weiß es; aber von einer unmittelbaren Gegebenheit kann hier natürlich keine Rede sein. Wir wollen doch ja nicht die primäre, erkenntnistheoretische mit der interessantesten aller entwicklungsgeschichtlichen Fragen verwechseln!

Aber es gilt, so erklärt ein Anderer, unser Weltbild von subjektiven Zutaten zu säubern, bevor wir theoretisieren. Ich sehe doch zunächst nur grüne, metallische, weiße, dunkle Flecken, fühle ein Rund, ein Heiß, ein Kühl; daß all das ein körperliches Ding ist, Lampe genannt, das ist mir nicht gegeben, das denke ich dazu.

Indessen - wenn dieses Gedankenelement mir nun ebenso unmittelbar gewiß ist wie jene Sensationen!? Und als erwachsener Vollmensch zumindest kann ich das schwerlich leugnen. Entstanden ist ja wohl die Körperwelt samt dem, was KANT Apriori nannte, aus irgendwelchen Urempfindungen. Man sieht, ich bin selber im Grunde ein guter Sensualist. Aber hier muß ich dem Gegner zu Hilfe kommen; denn jene Konstruktionen geschahen in dunklen Kinderzeiten, von denen ich nichts mehr weiß. Jetzt, wo ich meditiere, fühle ich mich der Dingheit meiner Lampe so sicher wie ihrer Farben. - Und warum sollten diese "objektiver" sein als jene? Wer mit einem Farbenblinden je gesprochen hat, dächte vielleicht eher umgekehrt.

Und auf jeden Fall: wer Empfindung und Gedankenzutat unterscheidet, der analysiert; und der Stoff dazu, das heißt hier die empirische Wirklichkeit, ist ihm vor der Analyse "gegeben".

Andere verwechseln unsere Fragestellung mit einer Art von Minimalaufgabe. Sie wollen nicht wissen, was gegeben ist, sondern mit welchem Mindestmaß an Gegebenem sich die Welt nachschaffen läßt. Da haben wir Empfindungen - und dort den Regelmäßigkeitssatz! Außerdem können wir vergleichen und identifizieren. Und nun vorwärts! Die Sensationen taumeln in so blödsinniger Unordnung durcheinander! Soll Zucht und Sitte in das Gesindel kommen, so brauchen wir den euklidischen Raum, Substanz, Ursache und das Weitere!

Sehr hübsch! Gegen eine "immanente Philosphie" in diesem Sinne kann niemand das Geringste einwenden. Es fragt sich nur, wieviele Leser ihre Zeit ans Nachspielen solcher Spiele des Scharfsinns setzen mögen. Eins muß uns allen klar sein: daß in Wahrheit unser Kosmos nicht auf diese Art erbaut worden ist. Ein Wesen, das zunächst auf bloße Komplexe und Folgen von Empfindungen angewiesen wäre, würde natürlich nun und nimmer auf die Idee geraten, etwas wie Gesetz, Regel und Zusammenhang zu fordern. Dieses Bedürfnis kann erst innerhalb unserer Raum- und Dingwelt entstanden sein. Und das Vergleichen und Identifizieren selber: gehört das nicht bereits zu jenem Gedanklichen, das die Sensualisten aus ihrem reinen Datum abscheiden müßten?

Nehmen wir aber ihre Position ernst und lassen wirklich nur Empfindungen gegeben sein: so kommen wir nicht um einen Schritt mehr vorwärts. Denn bei jedem Denkakt, durch den wir den augenblicklichen Bewußtseinsinhalt erweitern wollten, müßten wir notwendig aus der Rolle fallen. Das merken wir nur nicht so leicht, weil sich die Immanenten von einer kräftigen Verwechslung auf den kentaurischen Rücken nehmen und scheinbar forttragen lassen. Sie vertauschen nämlich immerfort Ich und Ich, wie tausendfach man sie auch gewarnt hat. Ist das Universum nur Empfindung, so empfindet selbstverständlich das erkenntnistheoretische Subjekt oder allgemeine Bewußtsein; und mein wie dein empirisches Ich ist ein Komplex und wird zusammenempfunden. Denn närrisch wäre ich doch, wenn ich annehmen wollte, ich, der dann und dann geborene Doktor JULIUS SCHULTZ, mit meinen lumpigen Seelenerlebnissen und paar Reminiszenzen, trüge die Erde, auf der ich stehe, samt Sonne, Mond und Sternen, in meinem eigenen Hirnkasten spazieren; ja, meine mitgeschleppten Kritiker werden mir etwas pfeifen! Und streich' ich alles Individuelle aus mir fort, so bleibt vom Ich nur die apperzeptive Tätigkeit, eben jenes allgemeine Subjekt, übrig. Dieses aber schreibt ja keine Bücher und denkt auch nicht nach, wie es seine Empfindungen ordnet; wenigstens wissen wir davon nichts; sondern wer darauf sinnt, aus dem Chaos eine Welt hervorzuzaubern, das sind die ganz empirischen Professoren KAUFFMANN, ZIEHEN usw.; die von anderen ebenso empirischen Männern sich haben anregen lassen und wieder andere überzeugen möchten. Das erkenntnistheoretische Subjekt also "hat" die Empfindungen als Datum und kommt mit ihnen nicht weiter; oder, wenn mans psychogenetisch wenden will, allmählich, in vorgedanklicher Entwicklung. Und derjenige, der diesem armen Subjekt nun dennoch gnädig zu Raum, Dingheit und dem Übrigen verhilft, ist der mit Menschengedanken operierende, von der Geschichte der Philosophie befruchtete, individuell persönliche Philosoph. Dem jedoch sind die Empfindungen nicht gegeben; der abstrahiert sie aus der empirischen Welt, die ihn seit Kindertagen umfaßt; er abstrahiert sie richtig; aber Datum ist ihm wie uns allen das, was wir unser ganzes Leben lang "Wirklichkeit" nennen.

6. Die empirische als die "erste Welt". Wer mit uns auf den Boden der sogenannten empirischen Wirklichkeit tritt, der fühlt ihn bald dort oder hier schwanken und verlangt nach Sicherung. Vorurteile trüben das natürliche Weltbild; Träume und Halluzinationen spielen zwischen die wachen Wahrnehmungen hinein; Farbenblindheit kommt vor. All das aber und Ähnliches ist so gefährlich nicht, wie es ausschaut. Die Wissenschaft hat sichere Methoden, subjektive Abirrungen wegzuschneiden und sozusagen einen Normal-Kosmos herzurichten; dazu verfeinert und kontrolliert sie die Sinne durch allerlei Instrumente. Wie dies im Einzelnen geschieht, interessiert mich heute nicht; es ist oft und gut dargestellt worden; und niemand wird hier auf strittige Punkte oder Mißverständnisse stoßen.

Die so gesäuberte Sinnenwelt des Forschers und nicht die Welt irgendeines beliebigen unkultivierten oder gar krankhaften Individuums soll also unser Datum sein: sie soll unsere "erste Welt" heißen.

Wenn wir sie analysieren, so finden wir zunächst unsere Gefühle, Vorstellungen, Schlüse, Willensakte in ihr vor; von denen aber sehen wir sogleich ab; und was dann übrig bleibt, ist die "äußere Welt", der selbstverständlich das Bild unseres eigenen Leibes ebensogut angehört, wie die der übrigen Menschen- und Tierleiber. Über das Verhältnis jener "inneren" Vorgänge zum wahrgenommenen "Äußeren" wollen wir uns einstweilen der Gedanken enthalten. Wir gehen vielmehr dazu über, das Draußen zu zerfasern. Da scheint es nun einem oberflächlichen Blick, als bestände das durchunddurch aus Empfindungen. Wir aber haben bereits bemerkt: irgendwelche Gedankenelemente stecken darin. Und zwar nicht willkürliche Vermutungen oder Schlüsse, sondern notwendige Bestandteile, ohne die das All in einen nichtigen Wirrwarr auseinanderflattern würde. Was diese rätselhaften Klammern im letzten Grund sind? ob apriorische Postulate? ob angeborene Ideen? ob unbewußte Verstandesoperationen? ob Reminiszenzen? [Erinnerungen - wp] ob assoziative Gewohnheiten? Wir lassen es hier dahingestellt; bekennen höchstens dem Neugierigen ganz unter der Hand, daß wir uns dereinst für die fünfte der Möglichkeiten entschieden haben. Aber darauf, wie gesagt, kommt jetzt nicht das Allergeringste an. Genug, die ordnenden Funktionen existieren, und zwar vor aller Erfahrung; einfach weil das Wort "Erfahrung" nur innerhalb einer geordneten Welt irgendeinen Sinn hat. Ein Empfindungsgestöber kann man vielleicht erleben; erfahren aber nicht.

Wir müssen uns einigen, wie wir das Verstandesmäßige, das mit unseren Sensationen so unlösbar verfilzt ist, nennen wollen. Ich schlage vor, bei dem guten kantischen Ausdruck: "Formen" oder beim aristotelischen "Kategorien" stehen zu bleiben. Den Nörglern sei versichert, daß wir weder an Töpfe denken zum Einfüllen von Empfindungsmus, noch an ontologische Schliche. Wir wollen einfach Wörter für einen Tatbestand, den nur ein Blinder leugnen könnte; und nehmen die von den Entdeckern des Verhältnisses geprägten Vokabeln, wie üblich und billig.

7. Die "Formen". Über sieben Formen des Anschauens oder Denkens werden wir uns leicht einigen, sobald wir uns nicht mißverstehen wollen.

1) Die erste ist unser Raum. Das könnte von den beiden entgegengesetzten Schulen mit entgegengesetzten Argumenten bestritten werden. Und beide Streitgründe leben vom Mißverständnis. Die Empiristen zeigen, wie die Tiefendimension durch eine Vergesellschaftung des Sehens mit Muskelgefühlen und dergleichen während des Lebens erwächst; und wo wäre nun das Apriori? - Mag sie erwachsen, wie sie will, antworten wir; menschliche Erfahrung jedenfalls hebt erst an, nachdem der Raum sich dreifach dehnt. Denn vorher wissen wir weder von Dingen, noch von Wirkungen, noch von Regelmäßigkeit; hätten folglich nicht den geringsten Grund, einen Raum zu vermuten, der uns nicht gegeben wäre. Also haben wirs nicht etwa mit einer willkürlichen Hypothese, sondern mit einer Form im kantischen Sinn zu tun - soweit nämlich die Räumlichkeit nicht eine Seite der Empfindungen selber ist. - Das Letztere aber behaupten nun die Nativisten: neben Qualität und Intensität wäre das Lokalzeichen die dritte Bestimmung jeder Sensation. Man könnte ihnen für die Gesichtsebene und den Tastraum vielleicht recht geben. Aber viererlei übersteigt gewiß die unmittelbare Wahrnehmung: erstens der Zusammenfluß der beiden Räume, des optischen und des haptischen; und zwar auch dann, wenn das stereoskopische Sehen sich als ungelernte Funktion unseres einfachen oder unseres Doppelauges erweisen würde; zweitens die Einordnung der Klänge, Gerüche, Organgefühle [horwicz] in den allgemeinen Raum; ferner dessen Grenzenlosigkeit; und schließlich jene Bedingung für die euklidische Geometrie, die der Mathematiker "Ebenheit des Raums" nennt.

Es ist die instinktive Gewißheit, daß die Linie unveränderter Richtung durch zwei Punkte völlig bestimmt ist. Dieses letzte Postulat ist besonders lehrreich und geeignet, Mißverständnisse aufzuhellen. Jedes Raubtier, das sich auf seine Beute stürzt, setzt gewissermaßen voraus, daß zwischen dem Objekt und seinem Auge nur ein nächster Weg ist; und der Stier, der beim Losrennen die Augen zudrückt, überläßt sich den Gefühlen unveränderter Richtung, gleich als wüßte er, daß die so durchmessene Bahn mit jener ersten, durch zwei Punkte bestimmten, zusammenfällt. Habe ich aber die Sicherheit, daß die Gerade die beiden Definitionen vereinigt, so ist der Parallelensatz gegeben.

Aber ihr allmächtigen Götter! Mißverständnisse will ich beseitigen - und locke hier selber ein so recht vollsaftiges, kraftstrotzendes herbei! Wenn nämlich nicht die Hälfte meiner Leser mich nun beschuldigt, ich ließe Büffel und Königstiger Geometrie treiben, so versteh' ich die Welt nicht mehr. Meinetwegen! Die Bemerkung war ja ganz beiläufig - und sollte wirklich in harmlosester Weise zeigen, daß unsere Bewegungen sich seit frühen Tierzeiten nach den Gesetzen des euklidischen Raums richten, daß dieser also, entstanden wie auch immer, unserem Handeln und dann doch wohl auch unserem Anschauen zugrunde liegt, lange bevor wir zur folgern und Hypothesen zu ersinnen gelernt haben!

2) Daß Vorstellungen ihre Temporalzeichen unmittelbar an sich tragen könnten, leugnen wir nicht unbedingt; aber für die absolute, völlig gleichmäßig hinfließende, unendliche Zeit NEWTONs gelten analoge Erwägungen, wie für den euklidischen Raum. Jedes Kind, das nach einem traumlosen Schlaf überzeugt ist, die Welt sei während der Nacht weiter gelaufen, glaubt instinktiv an die newtonische Zeit; und ohne diesen Glauben zerfiele der Gang des Universums in Fetzen: um überhaupt "erfahren" zu können, bedürfen wir jener unmittelbaren Gewißheit.

3) Kein Sinn kann uns verraten, daß "Dinge" sind; denn die Hand tastet nur Formen; und das Auge unterscheidet farbige Flächen und zeigt jeden Gegenstand von verschiedenen Seiten in den verschiedensten Gestalten. Die Dinge sind also durchaus nicht einfach Komplexe von Empfindungen, sondern irgendeine Tätigkeit des Verstandes muß den Komplex von seinen Hintergründen lösen und verselbständigen, damit es zur Dingheit kommt - und zu einer Welt, in der Erfahrungen möglich werden.

4) Das Vergleichen, auf dem alle und jede Erkenntnis beruth, ist eine Tätigkeit unseres Denkens und also bezeichnen, wie schon PLATO wußte, die Wörter Gleichheit, Ähnlichkeit, Kontrast usw. nicht Gegenstände der Wahrnehmung, sondern gedankliche Kategorien.

Einige Philosophen leugnen das: in jeder Empfindung soll bereits eine Vergleichung stecken, denn ohne daß die Sensationen sich voneinander abheben, würden sie überhaupt nicht bewußt. Wir streiten nicht mit ihnen: denn das gäbe ein eitles Wortgefecht. Natürlich ist es erlaubt, die Hervorhebung, die in jeder einzelnen Apperzeption liegt, mit dem Ausdruck "Unterscheiden" oder "Vergleichen" zu beehren. Ich definiere nur anders; ich spreche nämlich vom "Vergleichen" erst da, wo zwei gesonderte Akte der Aufmerksamkeit durch einen dritten aufeinander bezogen werden. Und daß diese Tätigkeit übersinnlich ist, will sagen, einem einfachen Schmecken oder Farbensehen weder gleichgeordnet noch ohne Weiteres beigegeben, leuchtet ein.

5) Dem Vergleichen schließt sich das Identifizieren an mit seiner Kategorie der Dasselbigkeit. Es schafft aus dem momentanen das Dauerding, das eines bleibt, auch wenn wir wegschauen oder uns schlafen legen; es garantiert uns mit anderen Worten die objektive Welt.

Hier aber steht jener Baum der Erkenntnistheorie, dessen Frucht uns aus dem Paradies des Nichtsalswahrnehmens treibt. Wirklich, den haben nicht verschrobene Metaphysiker in ihren Gewächshäusern gezüchtet, der gedeiht in allen Wetterstürmen des frischen Lebens. Die Welt wäre auch dem Dinge räumlich schauenden und vergleichenden Menschen noch ein Chaos, wenn er nicht die felsenfeste Gewißheit hätte, daß die Existenzen rundum von seiner Wahrnehmung unabhängig dauern würden; und daß eine Wendung des Gesichts, eine Augenkrankheit, eine Vergrößerung, eine Färbung durch Buntglas die Gegenstände unverzaubert läßt. Wer das aber glaubt, wie in aller Welt könnte der leugnen, daß Objekt und Wahrnehmung zweierlei sind? Die Immanenten haben entweder den Sinn ihrer eigenen Worte oder die Konsequenzen der Dauer der Dinge nicht erfaßt; oder sie meinen mit ihrem Leibspruch, Empfindung und Empfundenes sind identisch, irgendetwas Besonderes, Mystisches, was den Horizont meines Begreifens bei Weitem überschreitet. Oder endlich, sie bewegen sich in der Welt der bloßen Sensationen: dann aber gehen sie uns hier nichts an, wo wir (nach Abrede) die empirische Wirklichkeit des lebendigen Menschen analysieren.

Vielleicht denkt einer von ihnen, wenn die Not am größten ist, sei Gott am nächsten; und jenes "Bewußtsein ansich" kann immerhin auch als Gott gelten. Der aber erhört ihr Gebet diesmal nicht. Denn entweder nimmt das allgemeine Subjekt alles wahr, was wir übrigen für existierend halten; z. B. einen Mammutknochen, der heute noch zehn Meter unter der Erde liegt; und dann könnten wir ja immerhin als denkbar zugeben, daß das Sein ein Wahrgenommenwerden ist; es wäre aber alsdann für die Perzeption des invididuellen Geistes von der des allgemeinen getrennt; und wir hätten nur für den Begriff des Daseins einen neuen metaphysichen eingesetzt, ohne an der Sache das Geringste zu ändern. - Oder man faßt das allgemeine Bewußtsein als Summe oder Quintessenz der einzelnen Bewußtseine auf: und dann sind auch seine Wahrnehmungen von den Existenzen der Dinge verschieden, denn nach unserer instinktiven Überzeugung entsteht jener Knochen nicht erst, noch verwandelt er sich, wenn wir ihn morgen ausgraben.

Und auch mit dem Begriff der "möglichen Wahrnehmung" darf man uns jetzt nicht kommen. Der hat sein volles Recht in der Wahrheitstheorie, wir werden es sehen. Aber die Identität von Perzeption und Objekt läßt sich aus ihm nicht destillieren. Wahrnehmungen kann ich wohl einem unpersönlichen, allgemeinen Bewußtsein zuschreiben; mögliche Wahrnehmungen nur einem empirischen oder gedachten Einzel-Ich. Denn was heißt hier "möglich"? "Wenn du denundden Weg machst, dich bückst, die Augen aufsperrst, unter die Eiche dort tastest, so findest du diesen Käfer oder jenen Pilz!" "Wenn ich mich in den Mittelpunkt der Erde begeben könnte, dann würde ich verbrennen; könnte ich mich aber glutfest machen und hätte geeignete Instrumente, so könnte ich denoderden Hitzegrad ablesen usw.!" Derlei meinen wir, wenn wir behaupten, das verborgene aber vorhandene Ding wäre Gegenstand einer möglichen Wahrnehmung. - Nun gut, so setzen wir denn, indem wir den Ausdruck gebrauchen, uns selber als Einzelpersönlichkeiten bereits voraus. Und hier stehe nun ich, und dort mein Schreibtisch; dreh' ich mich ihm zu, so seh' ich ihn; wende ich mich ab, so verschwindet er; meine Wahrnehmung kommt zustande, indem mein empirischer Leib eine bestimmte Stellung zu dem ebenso empirischen Möbel einnimmt; sie kann also unmöglich mit diesem Möbel selbst in eins gesetzt werden.
    "Wohl aber ist", so entgegnet vielleicht ein Schüler Mills, "die Dauer des mit sich identischen Pultes nichts anderes als eine Regel für mögliche Wahrnehmungen. Diese Regel ist im wirklichen oder möglichen Bewußtsein, die Empfindungen ebenso; und folglich außerhalb unser selbst nichts."
Ich frage abermals: "außerhalb wessen?" Sind "wir" das erkenntnistheoretische Subjekt, dem unsere empirischen Persönlichkeiten wie Dinge neben anderen gelten: dann ist Bewußtsein ja dem Sein überhaupt gleichzusetzen; und das Zusammenfallen von Gegenstand und Perzeption versteht sich von selber. Sollen wir aber lebendige Menschen sein, HANS CORNELIUS oder JULIUS SCHULTZ (und dies ist unser augenblicklicher Standpunkt): dann wären "wir" ja unsererseits füreinander solche "Regeln", die übrigen Regeln folglich allerdings "außerhalb unserer selbst"; auch weisen sie "uns" verschieden an, wenn "ich" z. B. eine Suppe als angebrannt schmecke, die ein Mitgast als rauchfrei ißt. Solange wir in der Welt der Menschenerfahrung bleiben, klafft also auf jeden Fall ein Abgrund zwischen Wahrnehmung und Objekt; und wenn nun weiter jemand fragt, worin das unabhängige Sein eines Objekts dann besteht - und wenn er findet, in der Regel bestehe es, die unsere unsere Perzeptionen beherrscht: so tut er eine wahre oder falsche (jedenfalls feine und geistreiche) metaphysische Aussage; die aber meine jetztige Position nicht erschüttert; auch wohl nicht erschüttern will; nicht streiten möchte ich deshalb mit ihm; nur denkbare Mißverständnisse ausschließen. Innerhalb der Welt des Naiven kann es Immanenzphilosophie nicht geben; ob sie dann richtig wird, wenn wir diese erste Welt zu zersprengen Gründe gefunden haben: das steht einstweilen völlig dahin.

6) Trotz allem Identifizieren aber bliebe die Welt ein dummes Kaleidoskop, wenn wir nicht an ihre Regelmäßigkeit glauben würden, will sagen: unter gleichen Bedingungen immer wieder gleiche Vorgänge erwarteten. Man behauptet wohl, ohne eine solche Erwartung sei das Identifizieren selber gar nicht möglich. Der Kopf meines Freundes zeigt sich im Fenster; und ich nehme an, daß sein unsichtbarer Rumpf gewohnterweise an den Hals anschließt. Ist das auch bereits eine "Induktion"? - Es kommt auf den Sprachgebrauch an; wollten wir über Ja oder Nein streiten, so würden wir uns mißverstehen. Jedenfalls bezeichnen das bloße Vervollständigen sinnlicher Wahrnehmungen und die Gewißheit, daß in einer bestimmten Lage ein bestimmtes Ereignis eintreten wird, zwei Stufen des Erkennens.

7) Wenn wir einen Teil unseres Empfindens als Ich zusammenfassen und fühlen und mit gleicher Gewißheit das Du und die gemeinsame Umwelt dem entgegensetzen, so leistet da unser Verstand eine Tätigkeit, ohne die das menschliche Weltbild nicht möglich würde: unser Universum bekommt so sein natürliches Koordinatensystem.

Die Positivisten trüben nur Klares, indem sie das Ich wie eine Art Hypothese behandeln, von der man auch absehen kann. Nun kann ich gewiß mich selbst mir zum Objekt nehmen; und durch Grübeln und Analysieren mich letztlich als einen "Komplex" verstehen. Dagegen ist auch gar nichts einzuwenden, daß ich mich aus Sensationen denkend vor mir aufbaue, wie jedes Ding im All. Der Fehler MACHs und der anderen besteht vielmehr darin, daß sie nicht untersuchen, wer denn das liebe Ich so grausam zergliedert! Wer sitzt im Parkett? Die Gegner scheinen anzunehmen, das wäre unser alter Freund, das erkenntnistheoretische Subjekt: irgendein Unpersönliches starrt in all den Wahrnehmungsglanz und beschließt, diese Figur soll "Ich" heißen und jene "Du". Aber so ist es doch nicht. Bevor der "Standpunkt" der Ichheit gewonnen war, sogen wir ja an unseren Lutschbeuteln; und wollten wir diese "Abgrenzung" verlassen, so müßten wir uns zuvor künstlich verblöden. Denn unser ganzes Gedankenleben brennt im Ichunddu.

Mit anderen Worten: jener nüchterne Zuschauer, der sich selber als einen Komplex denkt - und das zwar mit Recht -: ist kein unpersönliches Subjekt, sondern der höchst persönliche, ganz empirische Philosoph, der die Werke anderer liest, für andere schreibt, Züge aus seinem Leben zum Beleg seiner Meinungen vorbringt. Wie schade wär' es für die Freunde und Gegner MACHs, wenn der von uns allen verehrte Mann gerade in diesem Stück recht hätte; und statt seiner gewinnenden Einzelpersönlichkeit irgendein Ichweißnichtwas, das den Standpunkt "Mach" nach Belieben einnehmen oder verlassen könnte, seine Schriften verfaßt hätte!

Im Ernst aber: wem ganz deutlich geworden ist, daß er sich wohl zu bestimmten Erkenntniszwecken als ein Aggregat selber denken kann, daß aber der Denkende dabei immer Er selbst bleibt, der Mensch mit dieser Stirn, diesen Erlebnissen, diesen Anregungen: der kommt nie mehr in Versuchung, das Ich aus den Daten seiner "ersten Welt" streichen zu wollen. Und zum Ich gehört natürlich mit der gleichen Unmittelbarkeit auch das Du. Ja! sollte uns einst die naive Welt zerstört werden, dann könnten wir die Träume BERKELEYs oder FICHTEs ernstnehmen lernen; aber das Empfindende wäre dann eben ein allgemeines Subjekt, nicht mehr, JULIUS SCHULTZ. Doch dergleichen Annahmen könnten nur die Resultate metaphysischer Untersuchungen sein. In dieser Sinnenwelt des gewöhnlichen Menschen, von der wir auszugehen beschlossen haben, hat der Begriff des Ich seine Bedeutung bloß, wenn ihn ein Nichtich begrenzt; die empirische Schranke bildet meine Körperhaut; und die Annahme, daß ich mit meinem lebendigen Leib zwischen lauter Maschinen herumspaziere, wäre ja wirklich Wahnsinn. Deshalb besteht für die erste Welt der Satz allerdings zu Recht: daß das Du für das Ich ein notwendiges Korrelat ist.

Bemerken wir jedoch weiter, daß dieselben Gegenstände von Mehreren wahrgenommen werden: so zeigt sich abermals, daß die Behauptung trügt, daß Wahrnehmung und Wahrgenommenes dasselbe sind. Der Sensualist darf sie aussprechen; aber wir haben gesehen, daß sein Ausgangspunkt unzweckmäßig war - und wir lassen ihn sein. Der Philosoph darf sie vielleicht künftig von irgendeiner denksteilen Warte aus ins Unendliche rufen, wir werden noch sehen. Wer hingegen auf dem Boden der naiven Erfahrung einstweilen bleiben möchte und dennoch - und gerade deshalb! - die Identitätslehre predigt: der vergewaltigt die formale Logik. Denn wenn A die Anschauung meines Bewußtseins ist, B die des deinigen; so können A und B mit einem C nur dann identisch sein, wenn sie unter sich identisch sind; was, wie eine einfache Tatsache zeigt, nicht der Fall ist. Gibt es aber nur ein A, so bist du ein totes Gerüst oder ein Trau. Im ersten Fall zerbricht die Welt der "reinen Erfahrung" und löst sich in ein Gespenstermärchen auf. Im zweiten Fall ist auch mein empirisches Ich samt meinem Körper geträumt, und der Träumende ist so etwas wie das "Bewußtsein ansich". Dann aber ist dessen Traum mit dem, was normale Menschen Wirklichkeit nennen, wieder identisch; ich setze das eine Wort für das andere ein; und die Schlußkette geht von vorne los.
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LITERATUR - Julius Schultz, Die drei Welten der Erkenntnistheorie, Göttingen 1907