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JULIUS von KIRCHMANN
Über das Prinzip des Realismus
[Ein Vortrag gehalten in der Philosophischen Gesellschaft zu Berlin]
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"Die Frage, wie der Inhalt des Seienden beim Wahrnehmen in die Seele eintritt, also die Frage nach dem Näheren in diesem Vorgang, ist nicht zu beantworten. Sie bildet seit Jahrtausenden die Aufgabe der Philosophie und der Physiologie und sie ist, trotz der großen Fortschritte beider, heute noch gerade so ungelöst, wie zu den Zeiten der Griechen. Um diese Frage zu beantworten, müßte dem Menschen noch eine dritte Art des Wahrnehmens gegeben sein, welche gleich fähig wäre, Körperliches wie Geistiges, und zwar gleichzeitig und in einem wahrzunehmen."

"Die Bewegung körperlicher Moleküle, sei es im elektrischen Strom oder in der Nervensubstanz, wird ewig etwas Körperliches bleiben, und die Stöße derselben bleiben spezifisch vom Wissen als einem ganz neuen Spiegel des Seienden, durchaus verschieden. Man kann beide für identisch erklären, aber diese Einheit bleibt ein hohles Wort, welches die verschiedene und eigentümliche Natur des Wissens weder erläutert, noch den Vorgang des Wahrnehmens begreiflicher macht."

"Der Inhalt des Seienden ist für die Wahrnehmung unerschöpflich; nicht bloß als Inhalt der Welt, sondern auch als Inhalt eines einzelnen konkreten Gegenstandes; je mehr wir Mittel auffinden, die Wahrnehmungsfähigkeit der Sinne zu steigern und die Gegenstände zu zerlegen, je höher sich die Aufmerksamkeit des Beobachters steigert, desto reicher quillt der Inhalt des Gegenstandes, ohne je erschöpft zu sein."

"Die Zahl der aus einem Gegenstand abzutrennenden Begriffe ist unerschöpflich. Man hat in der Philosophie dieses Spiel nicht gelten lassen wollen und nur einen Begriff für den betreffenden Gegenstand als den wahren zugelassen. Man hat sich dabei an die wesentlichen Merkmale des Gegenstandes geklammert; allein das Wesentliche ist selbst, als Beziehungsform, ein schwankender Halt, der jedem Wunsch dienen kann."

"Das Und bedarf Mehrerer zu seiner Anwendung und verbindet zwar, aber ohne irgendeine nähere Bestimmung; so daß das Verschiedenste und Entgegengesetzte dadurch verbunden werden kann; daraus erhellt sich, daß es selbst kein Bild eines Seienden ist, sondern eine ansich leere Beziehungsform im Dienste des Denkens und namentlich der erleichterten Mitteilung."

Ich habe den im vorigen Jahr gefaßten Beschluß der geehrten philosophischen Gesellschaft, wonach eine Reihe von Vorträgen über die Prinzipien der verschiedenen philosophischen Systeme gehalten werden sollte, dahin verstanden, daß diese Vorträge sich nur auf die sogenannten erkenntnistheoretischen Prinzipien zu beschränken hätten, ein Ausdruck, den ich, trotz des schwerfälligen Pleonasmus [Doppelmoppel - wp], beibehalten muß, da er für diesen Begriff einmal gebräuchlich geworden ist. Ich werden demgemäß, wie meine Vorgänger, auch beim Realismus auf dieses Prinzip mich zu beschränken haben; bitte aber im Voraus um Entschuldigung, wenn ich hie und da den Inhalt mit berühre, da ohnedem jenes Prinzip nicht voll verständlich gemacht werden kann.

Unter einem erkenntnistheoretischen Prinzip verstehe ich dasjenige Prinzip, auf welches nicht allein der Inhalt eines Systems, sondern auch der Beweis seiner Wahrheit und in vielen Systemen auch die Anordnung oder das eigentlich Systematische desselben gestützt oder daraus abgeleitet wird.

Man kann hier zunächst das Bedenken erheben, ob überhaupt ein solches Prinzip, insofern es ein allgemeines Kriterium der Wahrheit für den Inhalt des Systems abgeben will, möglich ist. KANT hat dies bekanntlich in seiner "Kritik der reinen Vernunft" bestritten, "weil ein allgemeines Kriterium von allem Inhalt abstrahieren muß, die Wahrheit aber gerade diesen Inhalt angeht." Diese Wahrheit des Inhalts kann jedoch auch auf die Art seines Gewußtseins oder auf die Quelle, aus der er geschöpft wird, gestützt werden, und ein solches Kriterium kann für allen unterschiedenen Inhalt dasselbe sein. In diesem Sinne haben schon die Stoiker die energeia eines Satzes und DESCARTES das "Klare und Deutliche" eines solchen als Kriterium aufstellen können, und ebenso wird sich zeigen, daß der Realismus dies vermag, indem er die Wahrheit seines Inhaltes nach der Quelle bestimmt, aus der er geschöpft worden ist.

Ein solches Prinzip ist offenbar das oberste in jedem System, und die Folge davon ist, daß es vom betreffenden System nicht bewiesen werden kann. Jeder Syllogismus, durch den es als Konklusion abgeleitet würde, müßte von Prämissen ausgehen, welche die Konklusion bedingen und es würden dann diese Prämissen und nicht jenes Prinzip als das oberste gelten müssen. Dies hat schon ARISTOTELES erkannt und an mehreren Stellen in seinen Schriften besprochen; er hat deshalb für die Erkenntnis der obersten Prinzipien auf die Induktion [epagoge] verwiesen. Ich verstehe jedoch diesen Verweis auf die Induktion nicht so, als hätte ARISTOTELES den Beweis für die Wahrheit des Prinzips auf dessen Induktion stützen wollen, sondern ARISTOTELES hat die Induktion nur als den Weg zeigen wollen, auf dem diese Prinzipien zu finden und zu erkennen sind. Dies ist auch die Ansicht ZELLERs in seiner "Geschichte der griechischen Philosophie" und in diesem Sinne kann auch der Realismus jenen Sätzen des ARISTOTELES beistimmen.

Indem ich Ihnen nun das Prinzip des Realismus darlegen soll, stoße ich auf eine Schwierigkeit, wie sie im Idealismus viel weniger besteht. Der Realismus ist nämlich noch nicht so, wie der Idealismus, zu einem oder mehreren Systemen gleichsam kristallisiert; er ist weit jüngeren Datums, als dieser, und während in der alten Philosophie er nur an den Epikuräern einige Vertretung gefunden hat, datiert sein wissenschaftlicher Anfang erst von BACON, dem dann LOCKE, HUME und die französischen Enzyklopädisten gefolgt sind. In Deutschland ist er erst durch die glänzenden Ergebnisse der modernen naturwissenschaftlichen Methode mehr in Pflege genommen worden, und seine Ausbildung ist durch den Kampf gegen die idealistischen Systeme SCHELLINGs und HEGELs beschleunigt worden. Allein trotz der großen Zahl seiner Anhänger fehlt noch die klare und umfassende Hervorhebung seines erkenntnistheoretischen Prinzips, wenn es auch von Allen instinktiv geübt und benutzt wird. Ich bin deshalb genötigt, in dessen Darstellung vielfach Ansichten einzuflechten, welche zunächst nur mir persönlich angehören; doch zeigt die neueste Literatur, daß sich die Ansichten allmählich auch hierin zusammenfinden.

Ebenso möchte ich gleich hier zu Beginn dagegen protestieren, wenn man den Realismus mit dem Empirismus und Sensualismus zusammenwirft; diese beiden waren nur die rohen Anfänge für jenen. Ebenso ist der Realismus nicht dasselbe, wie der Materialismus; letzterer gilt ihm vielmehr nur als ein Auswuchs, hervorgegangen aus einer zu oberflächlichen Benutzung des Denkens bei der Betrachtung des sinnlichen Stoffes. Selbst HEGEL spricht nur vom Empirismus und der Tadel, den er über ihn ausspricht, trifft durchaus nicht den Realismus in seiner gegenwärtigen Gestaltung. Der Realismus stellt vielmehr das Denken ebenso hoch, wie der Idealismus; aber eben deshalb mag er das Denken nicht mißbrauchen und es nicht, wie der Idealismus, zu Aufgaben benutzen, die seine Kraft übersteigen.

Soll ich nun den wesentlichen Unterschied zwischen Idealismus und Realismus mit wenigen Worten aussprechen, so liegt er meines Erachtens darin, daß der Idealismus das Denken auch als die ausschließliche und unmittelbare Quelle für den Inhalt des Seienden benutzt, und daß nach ihm gerade das Höchste im Sein, das ontos on [das wirklich Seiende - wp] oder das on he on [das Seiende als Seiendes - wp], nur durch das Denken erfaßt werden kann; der Realismus dagegen hält daran fest, daß der Inhalt des Seienden nicht durch das Denken, sondern nur durch die Wahrnehmung dem Wissen des Menschen zugeführt werden kann, und daß das Denken nur die Aufgabe hat, diesen durch die Wahrnehmung empfangenen Inhalt zu bearbeiten, d. h. von seinem Falschen zu reinigen und das Allgemeine in Form von Begriffen und Gesetzen aus ihm heraus zu ziehen. Ehe ich deshalb imstande bin, Ihnen das erkenntnistheoretische Prinzip des Realismus in seiner kahlen, abstrakten Form darzulegen, muß ich eine kurze Darstellung der Natur des menschlichen Wahrnehmens und Denkens vorausschicken, da nur dadurch das Prinzip in seiner vollen Bedeutung erfaßt werden kann.

Die Wahrnehmung zerfällt bekanntlich beim Menschen in die Sinneswahrnehmung und in die innere Wahrnehmung; der Name der letzteren schwankt; sie ist auch oft mit Selbstbewußtsein, ja von LOCKE mit Reflexion bezeichnet worden. Ich will dafür den Namen Selbstwahrnehmung gebrauchen, um damit neben ihrer, der Sinneswahrnehmung ganz gleichlaufenden Natur, zugleich den Unterschied von derselben anzudeuten.

Die Sinneswahrnehmung wird durch die bekannten fünf Sinne vermittelt. Eigentlich sind es sechs. Das Fühlen umfaßt nämlich zwei durchaus verschiedene Sinne: einmal den Muskelsinn, dessen Organe die motorischen Nerven und Muskeln sind, und dessen Objekt der Druck und die Bewegung ist, aus denen die gefühlte Kraft als das Gemeinsame hervortritt; und zweitens den Sinn des reinen Fühlens, dessen Organe die sensiblen Nerven und die Haut sind, und dessen Objekt die Temperatur und das Glatte und Rauhe ist. Weil hier die Sinnesorgane nicht so deutlich und sichtlich unterschieden, wie bei den anderen Sinnen auftreten, hat das gewöhnliche Vorstellen und die daraus hervorgegangene Sprache beide als einen Sinn aufgefaßt und mit einem Wort bezeichnet, zum großen Nachteil der Sache, insbesondere zum Nachteil des wichtigen Begriffs der Kraft.

Die Selbstwahrnehmung hat nur die seienden Zustände der eigenen Seele zum Gegenstand; diese sind das Begehren und die Gefühle der Lust, des Schmerzes und der Achtung; sie bedarf dazu keiner Organe. Indem sie nur von der eigenen Seele Kunde gibt, fehlt dem Menschen die Wahrnehmung des Geistigen und Seelischen bei anderen Wesen. Nur so weit dieses bei den Menschen mit bestimmten sinnlich wahrnehmbaren Mienen, Tönen, Gesten, Stellungen, Bewegungen usw. kausal verknüpft ist, vermag der Mensch über das Geistige Anderer sich ein Wissen zu verschaffen, was aber nur auf Schlüssen, also auf einem Denken, beruth und dabei in den Elementen dieser geistigen Zustände nicht über das hinaus kann, was er selbst an Geistigem in sich durch Wahrnehmung kennen gelernt hat. Deshalb ist das gnothi sauton [Erkenne dich selbst! - wp] so wichtig; denn es bildet die unentbehrliche Grundlage für alle seelischen, von uns erfaßbaren Zustände überhaupt, mögen wir sie in Gott, die Engel und den Teufel, oder in die Tiere und Pflanzen oder in die Himmelskörper, wie ARISTOTELES tut, verlegen.

Das Wissen als solches bedarf, um sich selbst zu wissen, nicht, wie die Gefühle und das Begehren der Seele, der Wahrnehmung; das bewußte Wissen hält vielmehr zwei Richtungen in sich vereint; einmal weiß es seinen Inhalt und zweitens seine Form oder sich selbst. Was das unbewußte Wissen anlangt, welches in der neuesten Philosophie eine so große Rolle spielt, so ist es, selbst wo es im einzelnen Menschen auftritt, kein Gegenstand der Selbstwahrnehmung, deshalb nur durch Schlüsse und Hypothesen, die sich auf Wahrgenommenes stützen, zu erreichen, und daher kein Gegenstand meiner heutigen Aufgabe.

In Bezug auf die Sinnes- und Selbstwahrnehmung gewinnt man durch Beobachtung und Induktion eine Reihe von Grundsätzen, deren klare Erkenntnis und beharrliches Festhalten von großer Wichtigkeit ist. Jedes Wahrnehmen gibt
    erstens seinen Inhalt als ein außerhalb seiner selbst Bestehendes, und damit als ein Seiendes im Gegensatz zum Gewußten. Die Sinneswahrnehmung setzt das Seiende außerhalb der wahrnehmenden Seele; die Selbstwahrnehmung nimmt es zwar als Teil der eigenen Seele, aber doch immer als ein vom wahrnehmenden Wissen verschiedenes Seiendes.

    Zweitens ist das durch die Wahrnehmung der Seele zugeführte Wissen ein unmittelbares. Es wird nicht durch weitere Operationen der Seele erst hervorgebracht; insbesondere ist das Denken unbeteiligt, und es ist irrig, wenn Schopenhauer und viele Andere das wahrnehmende Wissen und sein Setzen eines entsprechenden Gegenstandes auf eine Anwendung des Kausalitätsprinzips zurückzuführen, indem dieses Setzen nur geschieht, weil die Seele nach einer Ursache für dieses Wissen verlangt.

    Drittens ist der Vorgang beim Wahrnehmen weder ein Tun, noch ein Leiden; es ist keine Aktion des Gegenstandes auf die Seele und keine Reaktion dieser gegen jenen, also auch kein Produkt aus beiden, sondern ein reines einfaches Geschehen. Die sorgfältigste Selbstbeobachtung bietet es nur so und weiß von solchen Aktionen nichts. Diese Annahme ist vielmehr nur eine Hypothese, nach Analogie der körperlichen Vorgänge gebildet, um sich den Vorgang selbst damit verständlicher zu machen.

    Viertens ist die Wahrnehmung plötzlich da. Es mag sein, daß die körperlichen Vorgänge im jeweiligen Organ und den Nerven bis zum Gehirn einen Zeitverlauf haben; allein dies trifft immer nur die dem Wahrnehmenden vorausgehenden Vorgänge, während mit deren Abschluß das Geistige oder das Wissen plötzlich und mit einem Mal da ist.

    Fünftens ist das Wahrnehmen mit seinen einzelnen hier genannten Bestimmungen notwendig; der Mensch kann es, wenn er das Organ hat und nicht verschließt, nicht verhindern, und selbst der strengste Idealist kann sein Prinzip nur am Schreibtisch festhalten; so wie er aufsteht, ist er dem Zwang, das Wahrgenommene außerhalb seiner selbst als seiend zu setzen, unterworfen.
Hieran schließen sich einige wichtige Betrachtungen:

1. Der Begriff des Seins ist nur durch die Wahrnehmung vermittelt und ohne sie würde er dem Wissen fehlen.

2. Deshalb zerfällt das Seiende in einen Inhalt und in eine Form. Der Inhalt fließt gleichsam durch das Wahrnehmen aus dem Gegenstand in das Wissen über und wird dadurch aus der Form des Seins heraus in die Form des Wissens übergeleitet. Die Seinsform selbst geht bei der Wahrnehmung nicht mit in das Wissen über; sie ist gleichsam das Harte, Starre, die Grenze, an welcher das Wahrnehmen bei der Übernahme des Inhaltes sich stößt; nur durch diesen Widerstand, welchen die Seinsform dem Wahrnehmen leistet, gilt sie demselben als ein Seiendes, d. h. als ein Nicht-Wißbares. Das Sein ist deshalb in seiner positiven Natur unerfaßbar, und der Begriff desselben bleibt für uns nur ein negativer, d. h. er bedeutet in Wahrheit nur das Nicht-Wißbare an den Dingen. Wäre diese Schranke, die aber nur als Schranke empfunden wird, dem Wahrnehmen nicht gesetzt, so wäre aller Unterschied zwischen Sein und Wissen aufgehoben; der Mensch hätte gerade durch diese Steigerung seines Wahrnehmens das Mittel verloren, das Seiende vom Gewußten zu unterscheiden.

3. Dagegen ist der in das Wissen übergehende Inhalt des Seienden, als Inhalt, im Gegenstand und im Wissen nicht bloß der gleiche, sondern der identische. Nur dadurch fühlt man im Wahrnehmen sich mit dem Gegenstand gleichsam eins; es verschwindet die Trennung zwischen dem Ich und dem Gegenstand; je tiefer man sich in die Betrachtung eines Gegenstandes versenkt und gleichsam in einer Aufsaugung seines Inhalts sich selbst vergißt, umso mehr verschwindet der Gegensatz von Subjekt und Objekt. Nicht das Denken ist es also, von dem jenes Subjekt-Objekt ausgeht, was im Idealismus FICHTEs und SCHELLINGs eine so große Rolle spielt, vielmehr tritt dessen Einheit nur im vollkommensten Wahrnehmen hervor, insofern bei diesem die Scheidewand der Seins- und Wissensform völlig zurücktritt, ohne aber deshalb aufzuhören. Wenn SCHELLING und HEGEL sagen: "Sein und Wissen sind dasselbe, zugleich aber auch unterschieden", so löst der Realismus das Unverständliche dieser Formel, ohne das darin enthaltene Wahre wegzuwerfen; nach ihm besteht allerdings eine Identität zwischen dem Sein und dem wahren Wissen, aber nur in Bezug auf den Inhalt; dagegen ist der Unterschied der Form, in welche dieser Inhalt als seiender und als gewußter gefaßt ist, unvertilgbar und bildet den festen Halt, an dem, trotz der Identität des Inhalts, die seiende Welt doch ewig eine andere bleibt, als die gewußte. In diesem Sinn sind auch die Sätze des ARISTOTELES zu verstehen, wo er den Gedanken und das Gedachte für identisch erklärt.

4. Die Frage, wie dieser Inhalt des Seienden beim Wahrnehmen in die Seele eintritt, also die Frage nach dem Näheren in diesem Vorgang, ist nicht zu beantworten. Sie bildet seit Jahrtausenden die Aufgabe der Philosophie und der Physiologie und sie ist, trotz der großen Fortschritte beider, heute noch gerade so ungelöst, wie zu den Zeiten der Griechen. Um diese Frage zu beantworten, müßte dem Menschen noch eine dritte Art des Wahrnehmens gegeben sein, welche gleich fähig wäre, Körperliches wie Geistiges, und zwar gleichzeitig und in einem wahrzunehmen. Da wir eine solche nicht besitzen, so sind wir nicht einmal imstande, hier durch Hypothesen eine Antwort zu bieten; selbst die wildeste Phantasie kann sich eine Lösung auch nur erdenken. Die Wissenschaft hat bisher hierbei nichts vermocht, als entweder das Sein in Wissen, oder das Wissen in Sein umzuwandeln. Mit dieser letzten Wendung glaubt der Materialismus die Frage gelöst zu haben; aber er vergißt, daß er mit allen seinen Beobachtungen und Versuchen nur die innige Wechselwirkung zwischen Gehirn und geistigen Zuständen der Seele dargelegt zu haben, aber nicht die Identität derselben. Es gehört zur Rohheit seines Denkens, diese so durchaus verschiedenen Kategorien miteinander zu verwechseln. Alle Verfeinerung der Beobachtungen durch eine Vervollkommnung der Instrumente wird nie über die letzten Enden des Körperlichen und über die Moleküle des Gehirns und deren Schwingungen hinauskommen; das Band zwischen diesen Enden und dem Anfang des Geistigen bleibt trotzdem so unbekannt, wie zuvor. Die Bewegung körperlicher Moleküle, sei es im elektrischen Strom oder in der Nervensubstanz, wird ewig etwas Körperliches bleiben, und die Stöße derselben bleiben spezifisch vom Wissen als einem ganz neuen Spiegel des Seienden, durchaus verschieden. Man kann beide für identisch erklären, aber diese Einheit bleibt ein hohles Wort, welches die verschiedene und eigentümliche Natur des Wissens weder erläutert, noch den Vorgang des Wahrnehmens begreiflicher macht. Deshalb bleiben auch alle System des Monismus, sowohl das des PLOTIN, wie die von SPINOZA, FICHTE, SCHELLING und HEGEL, in ihrer höchsten Einheit nur ein Spiel und Blendwerk. Dieses hen kai pan [Eins und Alles - wp], diese Einheit, die sich sofort wieder in Sein und Wissen dirimieren [trennen - wp] muß, bleibt für den menschlichen Geist unfaßbar und ist ein leeres Wort, mit dem man zwar sein Spiel treiben und aus dem man nach Art des Taschenspielers alles Beliebige hervorgehen lassen kann, aber mit dem man nicht irgendein Begreifliches bezeichnen kann.

3. Der Inhalt des Seienden ist für die Wahrnehmung unerschöpflich; nicht bloß als Inhalt der Welt, sondern auch als Inhalt eines einzelnen konkreten Gegenstandes; je mehr wir Mittel auffinden, die Wahrnehmungsfähigkeit der Sinne zu steigern und die Gegenstände zu zerlegen, je höher sich die Aufmerksamkeit des Beobachters steigert, desto reicher quillt der Inhalt des Gegenstandes, ohne je erschöpft zu sein. Hier besteht eine Unerschöpflichkeit im Wahrnehmen, aber nicht im Begriff, in welchen HEGEL die Unendlichkeit verlegt.

Ich wende mich zum zweiten Bestandteil des Wissens, zum Denken. Während das Wahrnehmen nur als ein einfaches Geschehen empfunden wird, liegt im Denken eine Tätigkeit. Die sorgfältige Beobachtung dieser Tätigkeit zeigt, daß sie sich nach verschiedenen Richtungen, bald hier-, bald dorthin entfaltet, und es lassen sich dann fünf Richtungen ihr unterscheiden;
    1) das wiederholende Denken (Erinnerung, Gedächtnis);

    2) das trennende Denken (Urteilen, Scharfsinn, Analyse);

    3) das verbindende Denken (Phantasie, Konzeption, Synthese);

    4) das beziehende Denken (Vergleichen, Verhältnis, ta pros ti [relatives Sein - wp]

    5) die unterschiedene Art, einen Inhalt zu wissen (Aufmerksamkeit, gewisses, notwendiges Wissen).
Die hier eingeklammerten Worte sollen nur zunächst das Verständnis erleichtern, ohne die betreffende Richtung damit zu erschöpfen.

Das wiederholende Denken macht das Wissen unabhängig vom Fortbestand und der steten Gegenwart des Seienden. Was einmal wahrgenommen worden ist, kann in seinem Inhalt später auch ohne Wahrnehmung im Wissen als bloße Vorstellung wieder auftreten und zum Gegenstand der Betrachtung genommen werden. Das trennende Denken besondert sich zu vier Arten; es trennt einen Gegenstand
    a) in seine Teile oder
    b) in seine Eigenschaften, oder
    c) in seine Elemente, oder
    d) in seinen Begriff und die bildlichen Reste.
Dieses Trennen ist am Gegenstand selbst oder im Sein nur als teilendes Trennen einigermaßen ausführbar; die drei anderen Arten sind nur an der Vorstellung des Gegenstandes ausführbar, also nur im Wissen. Ich beschränke mich hier auf die wichtigste Art, auf das begriffliche Trennen. Es ist in seiner Eigentümlichkeit nicht zu definieren; man muß es an der eigenen Ausübung desselben kennenlernen. Während bei den drei vorhergehenden Arten die Trennstücke für sich wahrnehmbar bleiben, hört dies beim begrifflichen Trennen auf; weder die Begriffe, noch die bildlichen Reste, durch deren Abtrennung der Begriff gewonnen wird, sind für sich wahrnehmbar; aber da sie aus der Wahrnehmungsvorstellung durch Trennen gewonnen sind, so entspricht ihrem Inhalt auch ein Stück im wahrgenommenen Gegenstand, und der Inhalt des Begriffs ist ebenso im Gegenstand als ein seiender, wie in der Vorstellung als ein gewußter enthalten. Der Begriff ist deshalb nicht bloß oder allein im Wissen (post rem), sondern auch im Sein (in re). Der begriffliche Inhalt ist im Sein so vielmal, wie einzelne Gegenstände zu ihm gehören; trotz der Gleichheit dieses Inhalts lassen die unterschiedenen Orte im Raum und in der Zeit, in welchen sie sich befinden, sie nicht in eine Identität zusammenfallen; aber im Wissen, wo diese unterschiedenen Orte als gleichgültig beiseite bleiben, fallen diese vielen Begriffe unterschiedslos zusammen. Deshalb ist im Wissen der jedesmalige Begriff nur einer. Hier zeigen sich also Raum und Zeit als die principia individuationis, wie die Scholastiker sie nannten. Endlich ist der Begriff in Bezug auf seinen Gegenstand ein ebenso unmittelbares Wissen, wie die Wahrnehmungsvorstellung. Durch das begriffliche Trennen wird an der Unmittelbarkeit ihres aus dem Gegenstand geschöpften Inhaltes nichts geändert und durch das Trennen dieses Inhaltes innerhalb des Denkens kann offenbar diese Unmittelbarkeit nicht aufgehoben werden.

Die Verschiedenheiten in den Ansichten über die Natur der Begriffe ist aus der einseitigen Auffassung ihrer Momente entsprungen; deshalb ist jede dieser Ansichten in Schwierigkeiten geraten, die für sie unlösbar sind. Wenn PLATO die Begriffe zwar als ein Seiendes setzt aber nicht als ein in den einzelnen Gegenständen Seiendes, sondern sie als Ideen in ein Jenseits der sinnlichen Welt verlegt (universalia ante rem), so hat er nicht vermocht, das Teilhaben (metexein) der sinnlichen Dinge an ihrer Idee irgendwie zu erklären. ARISTOTELES verlegte das Sein des Begriffs in die Gegenstände (universalia in re), allein er hat nicht erklärt, wie sich der eine Begriff innerhalb des Wissens in unzählige Begriffe innerhalb der Gegenstände umwandeln kann. Die Stoiker und die Nominalisten des Mittelalters leugneten deshalb das Sein der Begriffe und ließen sie nur als Gebilde des Denkens gelten (universalia post rem), allein sie vermochten die wahrnehmbare Übereinstimmung des Begriffs mit seinen Gegenständen nicht zu erklären. Der Nominalismus blieb auch später die herrschende Ansicht; selbst KANT hält noch daran fest. Erst HEGEL hat das Sein der Begriffe mit großer Energie wieder geltend gemacht, jedoch auf die Identität von Sein und Wissen überhaupt gestützt. Da nun diese Identität nach ihm zugleich sein und nicht sein soll, so bleibt das Unfaßbare dieser Identität auch am Sein der Begriffe haften, und es hat deshalb das darin enthaltene Wahre nicht zur allgemeinen Anerkennung gelangen können.

Indem das begriffliche Trennen beliebig nach den verschiedensten Richtungen an demselben Gegenstand geübt, auch am zunächst gewonnenen Begriff wiederholt werden kann, so erhellt sich, daß die Zahl der aus einem Gegenstand abzutrennenden Begriffe unerschöpflich ist. Man hat in der Philosophie dieses Spiel nicht gelten lassen wollen und nur einen Begriff für den betreffenden Gegenstand als den wahren zugelassen. Man hat sich dabei an die wesentlichen Merkmale des Gegenstandes geklammert; allein das Wesentliche ist selbst, als Beziehungsform, ein schwankender Halt, der jedem Wunsch dienen kann. LOCKE hat deshalb alle Festigkeit der Begriffe für die natürlichen Dinge geleugnet. Tatsächlich aber gibt es hier einen festen Anhaltspunkt, nämlich wenn der Begriff zum Glied eines wahren Gesetzes benutzt werden kann; ist dies der Fall, so ist er ein realer Begriff (man hat kein besseres Wort), wo nicht, so ist er ein Spielbegriff. So wären es für die Rechtswissenschaft Spielbegriffe, wenn sie das Eigentum an den körperlichen Sachen nach deren Farben, als rotes, grünes Eigentum usw. bestimmen wollte; dagegen könnten innerhalb der Physik die Farben als Anhaltspunkt und Glieder für Naturgesetze dienen, und eine begriffliche Trennung nach diesen Eigenschaften könnte hier zu realen Begriffen führen.

Das verbindende Denken, als die dritte Richtung desselben, fügt teils Wahrnehmungsvorstellungen, teils Trennstücke derselben und ebenso mehrere bloße Vorstellungen wieder zu einer Vorstellung und damit zum Bild eines Gegenstandes zusammen. Dieses verbindende Denken kann die zu verbindenden Stücke beliebig wählen und in deren Verbindung über das, was die seiende Welt bietet, weit hinausgehen, wie die Werke der Dichtkunst und anderer Künste beweisen; allein in den Formen, durch welche diese Trennstücke zu einer Vorstellung sich zusammenschließen, bleibt das Denken an die Einheitsformen gebunden, welche innerhalb des Seienden bestehen; werden diese nicht eingehalten, so entsteht keine Verbindung, ja die Forderung, eine solche Einheit als Einheit aufzufassen, erscheint dann unausführbar und unmöglich. Dies ist der Grund, weshalb auch innerhalb der Philosophie viele Begriffe solcher Art nur Worte bleiben, bei denen man sich nichts vorstellen kann; man versteht wohl, daß der Philosoph mit seinem Wort eine Einheit vorzustellen fordert, allein da für dieselbe keine im Sein irgendwie vorhandene Einheitsform vom Philosophen geboten wird, so vermag selbst die lebhafteste Phantasie seine Forderung nicht zu erfüllen. Die einende Kraft dieser Einheitsformen liegt entweder in der Stetigkeit des Raums und der Zeit, oder in der Dieselbigkeit des Orts im Raum und der Zeit oder in den anziehenden Kräften und dem Begehren der Seele. Hierauf näher einzugehen ist mir bei der beschränkten Zeit unmöglich. Auffallend ist es, daß diese so überaus wichtigen Einheitsformen innerhalb des Seins von der Philosophie noch wenig untersucht und als solche noch wenig besonders hervorgehoben worden sind. Man spricht in derselben zwar unaufhörlich von Einheit, allein man hat sich noch wenig die Mühe gemacht, näher auf diesen schwierigen Begriff einzugehen.

Die beiden letzten Richtungen des Denkens lasse ich noch beiseite, da sie nicht auf die Erkenntnis des Seienden ausgehen und das erkenntnistheoretische Prinzip zunächst für das Seiende darzulegen ist. Dieses Prinzip kann nunmehr in seiner einfachsten Formel geboten werden und lautet dann:
    Das Wahrgenommene ist (existiert) und
    Das Widersprechende ist nicht (existiert nicht)
Beide Sätze vereint bilden das erkenntnistheoretische Prinzip des Realismus; aus ihm leitet er nicht nur seinen Inhalt, sondern auch seine Wahrheit ab. Der zweite Satz, vom Nichtsein des Widersprechenden, gilt darin als der höhere, welchem der erste, vom Sein des Wahrgenommenen, im Kollisionsfall sich unterordnet. Mit anderen Worten: der Inhalt alles Körperlich und geistig Seienden kann nur mittels der Wahrnehmung vom menschlichen Wissen erfaßt werden; nur die Wahrnehmung in ihren beiden Arten bildet die Brücke, welche den Inhalt des Seienden in das Wissen überführt, und dieser Inhalt gilt vermöge dieses seines Ursprungs als wahr, d. h. als identisch mit dem Inhalt des Gegenstandes. Das Denken bemerkt jedoch bei der Bearbeitung dieses Inhalts bald, daß mannigfache Widersprüche sich darin vorfinden, und diese Stücke werden deshalb als das Falsche aufgrund des zweiten Satzes ausgestoßen; nur der so gereinigte Inhalt gilt nunmehr als der wahre. Das Denken bleibt jedoch hierbei nicht stehen, sondern mittels seiner trennenden und verbindenden Tätigkeit sondert es diesen Inhalt der Dinge in Teile, Eigenschaften, Elemente und Begriffe; zunächst im Dienst einer Entlastung der Sprache und leichteren Mitteilung; später im Dienste der Wissenschaft, deren Ziel die Erkenntnis der im Seienden herrschenden Gesetze ist. Diese Gesetze gelten, wie die Beobachtung bald lehrt, nicht bloß zwischen diesem und jenem Einzelnen, sondern sie bestehen zwischen den begrifflichen Trennstücken der Dinge und gelten deshalb für alle einzelnen Dinge, welche diese begrifflichen Trennstücke in sich enthalten, oder, wie man gewöhnlich zu sagen pflegt, welche unter die Begriffe fallen, die als die Glieder des Gesetzes auftreten. So gilt das Gesetz, daß die Steine, wenn ihnen die Unterlage entzogen wird, zur Erde fallen, nicht bloß für diesen oder jenen Stein, sondern für alle Dinge, welche das begriffliche Stück des Steines in sich enthalten, und zwar eben deshalb, weil die gesetzliche Verbindung nicht an konkrete einzelne Gegenstände, sondern an begriffliche Stücke der Dinge geknüpft ist.

Alles Wissen von den körperlichen und geistigen Dingen in der Welt ist nur durch dieses Prinzip des Realismus erlangt worden; dies gilt sowohl vom im gewöhnlichen Leben umlaufenden Wissen, wie vom Inhalt der Wissenschaften und es besteht für das menschliche Erkennen des Seienden kein anderes Mittel als das in diesem Prinzip bezeichnete. Insbesondere sind die Begriffe der seienden Dinge dem Menschen nicht angeboren; sie sind ihm auch nicht durch höhere Wesen oder eine Gottheit offenbart worden; der Mensch hat sich die Wahrheit vielmehr durch die Mühe des Wahrnehmens und durch die Arbeit des Denkens erwerben müssen. Auch ist für diese Arbeit bei der Unerschöpflichkeit des Inhalts der Dinge kein Ende abzusehen, wohl aber wird auch hier das Ergebnis durch die Teilung der Arbeit gesteigert. Der eine Mensch ist mehr zum Wahrnehmen und Beobachten, der andere mehr zur denkenden Verarbeitung des von jenem gewonnenen Inhalts geschickt. Auch die Philosophie hat für ihre Erkenntnis der Dinge keine anderen Mittel, als die, welche in diesem Prinzip bezeichnet sind; ihr Unterschied liegt nicht in einer besonderen Art von Mitteln, welche nur innerhalb der Philosophie zur Anwendung kommen, sondern in der Ausdauer und Schärfe, mit er in ihr von diesen Mitteln Gebrauch gemacht wird. Insbesondere gibt es keine intellektuelle Anschauung, von der PLATO, SPINOZA, SCHELLING und Andere sprechen. Dieser Begriff ist nur eine gemachte Verbindung von Wahrnehmen und Denken; man verlangt nach einem geistigen Vermögen, welches die Unmittelbarkeit und Behaglichkeit des Wahrnehmens mit der trennenden und verbindenden Kraft des Denkens in einem enthalten soll. Eine solche intellektuelle Anschauung wäre allerdings ein bequemes Ruhekissen für die Philosophie; bis jetzt hat es aber noch Niemand besessen, und was als Resultat desselben behauptet wird, läßt sich leicht als ein unklares Gemisch aus Wahrnehmung und Beziehungsformen darlegen, wobei von letzteren gleich die Rede sein wird.

Kein Denken und keine sonstige Kraft der Seele vermag den Inhalt eines Seienden zu bieten, den es nicht erst aus der Wahrnehmung überkommen hätte. Alle einfachen Bestimmungen der Farben, der Töne usw., sowie die der einfachen seelischen Zustände der Lust, des Schmerzes, der sittlichen Gefühle, des Begehrens und Wollens können selbst durch die kühnste Phantasie eines Dichters oder Philosophen in ihren Arten nicht vermehrt werden; die Vorstellung einer nie gesehenen einfachen Farbe, eines nie empfundenen Gefühls ist dem Menschen unmöglich; nur in der Verbindung der gegebenen Elemente besteht die Freiheit der Kunst.

Vor allem gefährlich ist die Benutzung der Gefühle und Begehren zur Auffindung oder Beglaubigung der Wahrheit. Weder die sittlichen noch die religiösen Gefühle sind dazu geeignet, wie sich aus dem entgegengesetzten Inhalt der Sittlichkeit und der Religionen verschiedener Völker und Zeiten erhellt, die sämtlich dasselbe Gefühl zur ihrer Beglaubigung benutzen. Ebensowenig sind die wissenschaftlichen Gefühle hierzu geeignet; jenes Sehnen nach einem Höheren, nach einem Absoluten, nach einer Einheit der Unterschiede, jenes Verlangen nach einer engeren Verknüpfung zwischen den Gattungen und Arten und zwischen den sich regelmäßig folgenden Dingen, sei es durch Erzeugung oder Entwicklung, gleicht den Irrlichtern, welche nur zu leich den Forscher vom rechten Weg abführen. Niemals kann mit solchen Gefühlen die Wahrheit eines Wissens beglaubigt werden; die Mathematik ist nur deshalb von so allgemein anerkannter Gültigkeit, weil sie allein von allen Wissenschaften sich am reinsten von aller Einwirkung jeglichen Gefühls zu halten vermocht hat, und der Streit in den übrigen Wissenschaften steigt in demselben Verhältnis, als sich darin die Gefühle einmischen.

Für die Erkenntnis des Seienden gilt deshalb dem Realismus der alte Satz: "Nihil est in intellectu, quod non fuerit prius in sensu" [Nichts ist im Verstand, was nicht zuerst in den Sinnen gewesen war. - wp] noch heute als wahr, insofern man unter sensus auch die innere Wahrnehmung mit befaßt.

Meine Aufgabe könnte hiermit als beschlossen gelten, wenn im menschlichen Wissen nur Vorstellungen und Begriffe des Seienden enthalten wären. Allein eine sorgfältige Beobachtung seiner selbst, sowie die Untersuchung der in der Sprache durch Worte fixierten Vorstellungen ergibt sehr bald, daß in der menschlichen Seele neben dem Wissen des Seienden noch ein anderes Wissen besteht, was zwar keinen Inhalt des Seienden bietet, aber diesen Inhalt auf das Mannigfachste umschlungen hält, so daß kaum der einfachste Satz ausgesprochen werden kann, ohne von dieser zweiten Art von Vorstellungen mit Gebrauch zu machen. Indem diese Vorstellungen ihren Ursprung in der Seele selbst haben und mit den Vorstellungen des Seienden die engsten Verbindungen und Verschmelzungen eingehen, verleihen sie dem Inhalt des Seienden gleichsam eine höhere Natur und daraus erklärt sich, wie die Philosophie von den ältesten Zeiten an gerade mit diesen Mischbegriffen sich am meisten zu tun gemacht hat, wie sie dieselben als das wahrhaft Seiende (ontos on) genommen, und darüber die Wahrnehmung als das gemeine Mittel des großen Haufens verächtlich beiseite geschoben hat.

Eine sorgsame Verfolgung dieser zweiten Art von Vorstellungen ergibt, daß sie in zwei Hauptarten zerfallen, daß aber in jeder derselben nur eine geringe Zahl von ursprünglichen Vorstellungen besteht, welche sich jedoch durch ihre mannigfachen Verbindungen untereinander und mit dem Seienden zu einem Reichtum entfalten, der unerschöpflich scheint. Diese beiden Hauptarten sind die Beziehungen und die Wissensarten. Sie haben beide das miteinander gemein, daß sie kein Wissensbild eines Seienden sind, daß sie deshalb in ihrer Reinheit leer sind von jeglichem seienden Inhalt, aber daß sie gerade dadurch befähigt sind, sich jedem Inhalt anzufügen, ihn gleichsam umzuspinnen und dadurch eine so enge Verknüpfung mit ihm einzugehen, daß diese Beziehungen und Wissensarten mit wenig Ausnahmen sowohl vom gewöhnlichen Vorstellen, wie von der Wissenschaft für Bezeichnungen seiender Bestandteil der Dinge gehalten werden. Gerade die größten Schwierigkeiten, in welche die einzelnen System geraten, haben ihren Ursprung in der Verwechslung dieser Beziehungsformen und Wissensarten mit den Seinsbegriffen. Vermöge der ursprünglichen Leerheit dieser Formen sind sie nämlich fähig, den entgegengesetzten Inhalt in sich aufzunehmen und umgekehrt denselben Gegenstand mit den entgegengesetzten Beziehungsformen zu umspinnen und dadurch, wenn sie für seiende Bestimmungen gehalten werden, zu einem Widerspruch zu führen, obgleich ein solcher schon nach dem gewöhnlichen Vorstellen unmöglich ist. Die Antinomien KANTs und die Widersprüche, die HEGEL in so vielem Seienden und dessen Begriffen aufzuzeigen vermag, beruhen lediglich auf der schillernden und neckischen Natur der Beziehungsformen und Wissensarten und sind unvermeidlich, sowie dieselben als Bezeichnungen eines Seienden genommen werden.

Die ursprünglichen Beziehungsformen können nicht voneinander abgeleitet werden; sie müssen, wie schon ARISTOTELES es mit seinen Kategorien getan hat, aus der Erfahrung, d. h. aus dem Sprachvorrat der kultivierten Völker ausgesondert werden. Auf diesem Weg lassen sich 12 Urformen aufstellen, die sich zu drei in vier Klassen ordnen lassen. Die
    erste enthält das Nicht, das Und und das Oder;

    die zweite das Gleich, die Zahl und das Alle;

    die dritte: das Ganze mit seinen Teilen; die Ursache mit ihrer Wirkung; die Substanz mit ihren Akzidenzen;

    die vierte: das Wesen und das Unwesentlich, die Form und den Inhalt und endlich das Äußere und das Innere.
Es ist möglich, daß sich noch mehrere Urformen auffinden lassen; doch ist es nicht wahrscheinlich, insofern man nur versteht, die Mischformen in ihre Urformen aufzulösen. Auch ist es merkwürdig, daß keine dieser Urformen selbst im Denken des Ungebildeten und in den Sprachen roher Völker fehlt. Dies beweist mehr als alles Andere, daß sie ein ursprünglicher Besitz der menschlichen Seele sind.

Das Unterscheidende von den Wissensarten liegt bei diesen Beziehungen darin, daß sie zu ihrer Anwendung mehrerer Gegenstände und mindestens zweier bedürfen. Schon dadurch charakterisieren sie sich als kein Wissensbild eines Seienden; ebenso dadurch, daß wenn ein Gegenstand von den zwei bezogenen verändert wird, der andere die entgegengesetzte Beziehung annehmen muß, obgleich er selbst in seinem Sein nicht im Mindesten geändert worden ist. Schon PLATO hat bemerkt, daß SOKRATES auf seinen Vater bezogen der Jüngere ist, und daß, wenn statt des Vaters der Sohn eingestellt wird, genau derselbe SOKRATES der Ältere ist.

Die vollständige Untersuchung dieser Beziehungsformen würde ein ganzes Buch füllen; ich muß mich daher auf Einzelnes beschränken.

Das Nicht bezeichnet kein Seiendes; dies gibt Jedermann zu; es kann nicht wahrgenommen werden; so entsteht die Frage: Wie kommt das Nicht in das Wissen der Seele? und was sagt es aus? Offenbar keine positive, d. h. keine seiende Bestimmung und doch ist es der Menschheit unentbehrlich. Schon MOSES hätte ohne das Nicht seine zehn Gebote nicht erlassen können. Das Nicht ist deshalb leer an seiendem Inhalt, aber verbindet sich in unendlich mannigfacher Weise mit einem solchen. So ist das Nichts die Verbindung von Nicht mit Etwas; das Andere ist das Nicht-Dieses; der Unterschied ist das Nicht-diese Eigenschaft; das Negative ist das Nicht-Positive; das Unendliche ist das Nicht-Endende; der Widerspruch ist das Positive und das Negative als Einheit gesetzt usw. Das Nicht verlangt Mehrere, zwischen denen es die Beziehung bildet; man sagt: das Schwarze ist nicht weiß, die Seele ist nicht ein Körper usw. Wenn in einzelnen Fällen das Zweite sprachlich zu fehlen scheint, so liegt es nur an der veränderten Bedeutung der Kopula ist, welche dann nicht bloß die Verbindung beider Glieder des Satzes ausdrückt, sondern als Existenzialsatz das erste Glied mit dem Existieren, als zweitem verbindet; z. B. der Regen ist nicht (es regnet nicht), statt: das Regnen ist nicht seiend.

HEGEL hat das Unendliche oder das Nicht-Endende für das schlechte Unendliche des Verstandes erklärt und ihm das positive Unendliche entgegengestellt. LOCKE hatte bekanntlich eine bildliche, d. h. abgeschlossene Vorstellung des Positiv-Unendlichen für unmöglich erklärt und mehrere lange Kapitel seines Hauptwerkes mit dem Beweis dessen angefüllt; er hätte es kürzer haben können, wenn er auf den Widerspruch in einem beschlossenen, d. h. beendeten Nicht-Endenden aufmerksam gemacht hätte, welcher in jedem seienden oder positiven Unendlichen liegt. HEGEL mußte deshalb für sein positives Unendliches eine andere Wendung nehmen; er machte es zu einem Begriff, der in seinem Anderssein mit sich identisch bleibt; oder zu dem Etwas, "was in seinem Übergehen in Anderes mit sich selbst zusammengeht"; diese "Beziehung im Übergehen und im Andern auf sich selbst" soll die wahre Unendlichkeit sein. Schon diese Worte zeigen, daß auch diese Unendlichkeit nur aus Beziehungen besteht, also nichts Seiendes ausdrückt. Deutlicher wird dieser dunkle Gedanke durch das, was HEGEL über den Begriff sagt; er hat nach ihm seine Besonderheiten in sich und auch nicht; das Hier, sagt HEGEL in der "Phänomenologie", "ist ein Baum und auch nicht ein Baum, sondern ein Haus; das Hier ist Beides und auch nicht Beides". Man erkennt an dieser Stelle den Ursprung dieser rätselhaften Auffassung. HEGEL wollte die abstrakte Natur der Begriffe nicht gelten lassen; sie sollten all den Reichtum ihrer Besonderung schon in sich, wenn auch nur implizit (ansich) enthalten und durch die Besonderung, z. B. der Blume zu einer Rose, sollte nur dasjenige explizit heraustreten, was schon implizit im Gattungsbegriff enthalten ist. Deshalb war HEGEL zu der Behauptung genötigt, der Begriff sei nicht bloß das Allgemeine, sondern auch das Besondere, und zugleich auch nicht das Besondere; denn die besonderen Art-Unterschiede sind miteinander nicht verträglich. Hierin liegt ein Teil der angeblichen Widersprüche, welche HEGEL im Seienden findet; ein anderer Teil wird sich später ergeben. Jedenfalls erhellt sich, daß mit dieser positiven Unendlichkeit nichts bezeichnet ist, als die sehr bekannte Natur der Begriffe, wonach sie konträre Besonderungen hinter- oder nebeneinander anzunehmen imstande sind; so kann z. B. die Blume eine Rose und daneben auch eine Nelke oder eine Lilie sein. Diese Eigentümlichkeit der Begriffe ist Nichts, was der Verstand nicht begreifen könnte, vielmehr die selbstverständliche Folge davon, daß das trennende Denken bei der Bildung des Begriffs diese konträren Besonderungen erst abgetrennt hat.

Das "Und" bedarf Mehrerer zu seiner Anwendung und verbindet zwar, aber ohne irgendeine nähere Bestimmung; so daß das Verschiedenste und Entgegengesetzte dadurch verbunden werden kann; daraus erhellt sich, daß es selbst kein Bild eines Seienden ist, sondern eine ansich leere Beziehungsform im Dienste des Denkens und namentlich der erleichterten Mitteilung.

Das "Oder" ist eine so eigentümliche Vorstellung, halb Trennung, halb Verbindung, daß bei ihr sofort klar ist, wie sie kein Seiendes bezeichnet, sondern ebenfalls nur eine Beziehung innerhalb des Denkens.

Das "Gleiche" erfordert mehrere; es kann als solches nicht wahrgenommen werden und ist keine seiende Bestimmung, wie sich schon daraus erhellt, daß derselbe Gegenstand im selben Moment gleich und ungleich ist, je nachdem ich ihn auf dieses oder jenes Ding beziehe. Diese Feder ist gleich mit jener Feder und ungleich in Bezug auf dieses Tintenfass.

Die Zahlen erfordern mehrere Einsen; die Eins ist noch keine Zahl, sondern nur das Element der Zahlen; um mehrere Dinge zählen zu können, müssen sie als Einsen aufgefaßt werden. Die Zahlen als solche sind nichts Seiendes; denn ich kann denselben Gegenstand zu einer 2, 3, 4 usw. machen, je nachdem ich den Anfang mit Andern im Zählen mache, und dieser Taler kann ebenso gut zur Summe von 3, wie von 300 Talern gehören. Es erhellt sich also, daß die Zahlen gar keine seiende Bestimmung der Dinge sind, sondern nur eine Form, sie zu beziehen.

Von der wichtigen Beziehung des "Alle" ist dies ebenso leicht nachzuweisen. Es kann die verschiedensten Zahlen befassen, ja selbst eine ganz unbestimmbar große Zahl, z. B. Alle Menschen, die von jetzt ab geboren werden; oder: alle möglichen Dreiecke.

Die nun folgenden sechs Beziehungen haben das Eigentümliche, da0 sie in Gegensätze zerfallen und schon damit ihre beziehende Natur kenntlich machen. Es folgt dies auch daraus, daß derselbe Gegenstand bald als Ganzes, bald als Teil, bald als Ursache, bald als Wirkung usw. auf gefaßt werden kann, was bekanntlich bei seienden Bestimmungen unmöglich ist; derselbe Gegenstand kann nicht zugleich als rund und als dreieckig gelten, wohl aber als Ursache und als Wirkung. Diese Beziehungen haben infolgedessen das Eigentümliche, daß dieser Wechsel der Gegensätze durch eine Reihe von Gegenständen ohne Ende fortgehen kann. So kann der Teil wieder als Ganzes gefaßt und von Neuem als geteilt angenommen werden; so kann jede Wirkung wieder als Ursache einer weiteren Wirkung angesehen werden; jede Substanz kann auch als Akzidenz einer höheren aufgefaßt werden; so hat SPINOZA den Menschen zum Modus oder einer Akzidenz Gottes gemacht. Der Inhalt kann wieder als Form behandelt und ein tiefer liegendes Stück als Inhalt gelten; so gilt bei einem Testament die Schrift als Form, die Erklärung als Inhalt; allein dieser Inhalt hat wieder an der deutschen Sprache die Form und die Gedanken sind der Inhalt usw. Das Innere wird durch sein Erkanntwerden zu einem Äußeren und das Innere zieht sich dann als das noch nicht Erkannte tiefer zurück. Indem so diese Beziehungen in sich selbst keinen Abschluß haben, verlaufen sie in ihrer Anwendung auf Seiendes ohne Ende fort, wenn die Natur des Seienden nicht der weiteren Fortsetzung des Wechsels hinderlich wird.

Das Wesen der Kausalität liegt im Begriff der Erzeugung; die Wirkung soll aus der Ursache hervorgehen; diese Erzeugung ist aber niemals wahrzunehmen; die Wahrnehmung bietet nur die regelmäßige zeitliche Folge des Andern (Wirkung) auf das Eintreten des Einen (Ursache); das Seiende in der Kausalität ist nur diese zeitliche Folge der beiden begrifflichen Stücke. Mehr nimmt auch KANT in diese Kategorie nicht auf. Trotzdem hält auch KANT sie für einen bloßen, dem Denken angehörenden und nur den Dingen-ansich übergezogenen Begriff. HUME desgleichen, nur fehlte er darin, daß er die kausale Beziehung als eine bloße Gewohnheit des Denkens annahm, während derselben doch die Notwendigkeit und Allgemeinheit innewohnt. Um diese unfaßbare Erzeugung zu beseitigen, hat die moderne Naturwissenschaft sie in eine bloße Bewegung und andere Gruppierung der ewig unerzeugten Atome verwandelt.

Wenn HALLER sagt: "Ins Innere der Natur dringt kein "erschaffener Geist", so bezeichnet dies keine Wahrheit, sondern nur das neckende Spiel der Beziehungsform des Innern und Äußern. Sobald wie in der Erkenntnis eines Gegenstandes ein Schritt weiter geschehen ist, wird dieser erkannte Teil, der vorher ein Inneres war, zu einem Äußeren, und da dieses nicht ohne Inneres gedacht werden kann, so muß dieses Innere von Neuem als das noch Unerkannte tiefer in den Gegenstand verlegt werden. Jede noch so große Erkenntnis des Gegenstandes hebt daher dieses Innere nicht auf, so wie man jene als Äußeres nimmt; ebenso wie jede Sache eine Wirkung nach sich ziehen muß, wenn man sie als Ursache setzt. Diese Notwendigkeit liegt aber nicht im Seienden, sondern nur darin, daß ihm die Beziehung einer Ursache übergezogen wird. Deshalb läuft die Kette der Ursachen und Wirkungen ohne Ende fort; allein dies gestattet keinen Schluß, daß auch im Sein eine endlose Folge des Einen auf das Andere stattfinden muß. Alle diese unendlichen Reihen, welche eine so große Rolle in der Philosophie spielen, sind nur die Folge davon, daß man diese Beziehungsformen, welche den Wechsel ihrer Gegensätze ohne Aufhören gestatten, als ein Seiendes nimmt. Diese Verwechslung ist der alleinige Grund von den berühmten Antinomien KANTs. In der Thesis wird jedesmal das Seiende als ein solches aufgefaßt und es zeigt sich da als endlich; in der Antithese wird es dagegen als Beziehung aufgefaßt und wird damit zu einer endlosen Reihe. Man braucht deshalb nur die Natur der Beziehungen darzulegen, um sofort diese Widersprüche zu beseitigen und die Antinomien aufzulösen. Indem KANT die Natur dieser Beziehungen nicht erkannt hat, war er deshalb genötigt, das Seiende zur bloßen Erscheinung herabzusetzen. Allein diese Auflösung durch die Unterscheidung der Dinge-ansich von ihren Erscheinungen ist unbefriedigend, wie schon HEGEL bemerkt hat, weil der Widerspruch innerhalb der Erscheinungen, d. h. innerhalb des Denkens bleibt.

Insofern ein Seiendes als ein Trennbares aufgefaßt werden kann, ist es leicht, dasselbe in Beziehungen aufzulösen oder umzuwandeln. Dies tat LEIBNIZ mit dem Raum und der Zeit. Wenn man ihre Stetigkeit nicht beachtet, so lösen sie sich in eine Anzahl von Orten auf; Raum und Zeit mit ihren Bestimmungen von Vor und Nach, Innen und Außen, Neben usw. werden dann zu bloßen Verhältnissen oder Beziehungen dieser Orte; eine Auffassung, welche auch KANT lange geteilt hat und die noch in seiner "Kritik der reinen Vernunft" an einigen Stellen hervortritt.

Es gibt überhaupt viele Bestimmungen im Seienden, welche leicht als Beziehungen gefaßt werden können und in dieser Form verständlicher erscheinen. Dies gilt z. B. von jedem Tätigen, welchem als solchem ein Leidendes gegenübersteht; man kann eines nicht ohne das andere denken; deshalb liegt es nahe, wie als Beziehungen zu fassen; allein der seiende Vorgang ist hier in Wahrheit einer, nur das Denken spaltet ihn, und erst dadurch drängt sich die Beziehung ein. ARISTOTELES, der zuerst die Beziehungen als ta pros ti zu einer besonderen Kategorie erhoben hat, ist vorzüglich durch diesen Umstand an deren voller Erkenntnis gehindert worden. So gilt ihm das Wissen als eine Beziehung, weil es sich auf einen Gegenstand bezieht; so gilt ihm der Herr als eine Beziehung, weil seine Herrschaft sich auch einen Sklaven bezieht. ARISTOTELES ist durch dieses Mißverständnis immer darüber schwankend geblieben, ob er die pros ti zum Seienden (ta onta) rechnen soll oder nicht.

So ist die Grenze oder das Ende vom Seienden Selbst eine seiende Bestimmung; die Grenze wird wahrgenommen; allein es liegt sehr nahe, sie nicht bloß als Ende des Einen, sondern auch als Anfang des daranstoßenden Anderen zu nehmen; sie verwandelt sich dann in eine, dem Nicht angehörende Beziehungsform. Indem HEGEL diesen Unterschied übersieht und beide Auffassungen als die eines Seienden nimmt, gelingt es ihm, im Begriff der Grenze einen Widerspruch aufzuzeigen, weil "die Grenze einerseits die Realität des Daseins ausmacht und sie "andererseits dessen Negation ist". (HEGELs Werke, Bd. VI, Seite 182) Diese Verwechslung der Beziehungen mit seienden Bestimmungen muß natürlich fortwährend zu Widersprüchen führen, und sie ist ein weiterer Grund, weshalb HEGEL in so vielen Begriffen den Widerspruch findet und denselben deshalb zu einem Kennzeichen der Wahrheit oder des Vernünftigen erhebt.

Man kann nun fragen: Woher stammen diese Beziehungsformen, wenn sie nicht dem Seienden entlehnt sind? Der Realismus kann darauf keine Antwort geben; er findet sie nur, gleich dem Satz vom Nichtsein des sich Widersprechenden, als im Denken aller Menschen vorhanden; die Sprache der alten und der modernen Völker haben sie durch besondere Worte ausgezeichnet und ihre Anzahl ist, wie gezeigt wurde, nicht erheblich, wenn man versteht, deren Verbindungen auf ihre Urformen zurückzuführen.

Ihr Nutzen für das Wissen scheint nach dem bisher Dargelegten sehr zweifelhaft; ja sie verwirren leicht und führen zu Irrtümern, wenn man sie für seiende Bestimmungen der Dinge selbst hält. Dieser Nachteil wäre unzweifelhaft sehr groß, wenn man mit KANT meinen würde, daß die Anwendung seiner Kategorien, welche, mit Ausnahme der Realität, lauter Beziehungen enthalten, auf den Wahrnehmungsinhalt und damit ihre Auffassung als Seinsbegriffe für den Menschen unvermeidlich ist, weil nur dadurch eine Erfahrung für ihn zustande kommen kann. Allein wenn dies nicht notwendig ist, wie sich leicht zeigen läßt, so wäre dieser Nachteil nur durch die eigene Schuld der Menschen herbeigeführt und bei einiger Aufmerksamkeit zu vermeiden. Trotzdem zeigt die Erfahrung und Sprache, daß kein Volk die Beziehungen zu entbehren vermocht hat, und näher betrachtet, liegt ihr Nutzen zunächst in einer Erleichterung des Denkens und der Gedankenmitteilung, vor Allem aber in einer stärkeren Vergeistigung des von der Wahrnehmung überkommenen Inhalts des Seienden. Schon durch die Übernahme dieses Inhaltes in die Wissensform bei der Wahrnehmung ist diese Vergeistigung eingetreten und durch die Verschmelzung dieses Inhaltes mit Beziehungen tritt diese Vergeistigung ein zweites Mal ein. Der Vorgang gleicht dem Verfahren der Spinne; durch ihr Netz gewinnt sie zunächst ihren Fang, wie das Wissen seinen Inhalt durch die Netze der Sinne beim Wahrnehmen; dann kommt die Spinne hinzu und umzieht den Fang mit den aus ihr selbst entnommenen Fäden und nun erst ist er ganz ihr Eigen. So umspinnt das Denken den Fang der Sinne mit seinen Beziehungsformen, und indem diese aus ihm selbst entnommen sind, erscheint nun erst der Inhalt ganz ihm eigen, erst nun ist er mit dessen eigensten Fäden durchzogen.

So will der Mensch nicht bloß wissen, was ein Gegenstand ist, sondern auch was er nicht ist; erst wenn auch sein Unterschied von anderen Dingen mit gewußt wird, fühlt das Wissen sich im vollen Besitz des Gegenstandes; d. h. erst durch den Hinzutritt dieser Beziehung auf Anderes erreicht das Wissen des Was seine volle Bestimmtheit. Das Ähnliche wird durch das Vergleichen erreicht. Alle Wissenschaft und Lehrbücher benutzen dieses Vergleichen, um den Begriff eines Gegenstandes klarer zu machen. Die Zahlen enthalten in sich eine Bestimmtheit und eine Schärfe des Unterschieds, welche ein Übergehen der einen in die andere völlig ausschließt; man nennt sie daher diskret. Deshalb ist deren Gebrauch für den Menschen überall da unentbehrlich, wo es ihm auf die bestimmte Erkenntnis einer Größe ankommt. Das Maß bildet da die Eins und die Zahl dieser Einsen gibt die Größe des Gegenstandes. Weil bei den Qualitäten diese unmittelbare Anwendung der Zahlen nicht möglich ist, werden sie in der Physik in Größen umgewandelt, oder als Ursachen von solchen behandelt und an diesen dann die gleiche Bestimmtheit durch Messen und Zählen erreicht, wie der Thermometer ein Beispiel ist. Der in der Kausalität enthaltene Begriff der Erzeugung dient wesentlich zum geistigeren Verständnis der im Sein bestehenden, ansich höchst wunderbaren Verkettung begrifflicher Stücke, wonach, wenn das Eine ist, das Andere allemal nachfolgen muß. Indem nun diesem Vorgang die Beziehungsform von Ursache und Wirkung übergezogen wird, ist damit kein neuer Inhalt gesetzt, aber der Vorgang ist nun faßlicher geworden; er hat sein Wunderbares für die Seele verloren, weil die Erzeugung eine Beziehungsform ist, die aus dem Innern der Seele selbst stammt. Ähnlich für die Substanz zum Verständnis, wieviele für sich unselbständige Eigenschaften durch ihre bloße Verbindung ein Selbständiges werden können. Diese Beispiele dürften genügen, um den eigentümlichen Wert der Beziehungsformen für das menschliche Wissen darzulegen.

Ich wende mich nun zu den Wissensarten. Hier führt die Beobachtung zu sechs Arten; sie sind:
    1) das bloße Vorstellen,
    2) das wahrnehmende Wissen,
    3) das gesteigerte Wissen (Aufmerksamkeit)
    4) das bekannte Wissen,
    5) das gewisse Wissen, und
    6) das notwendige Wissen.
Sie haben alle das miteinander gemein, daß derselbe Gegenstand, oder derselbe Wissensinhalt auf diese sechs verschiedenen Arten gewußt werden kann, ohne daß dieser Inhalt selbst davon im Mindesten berührt oder verändert wird. Ich sehe z. B. diesen Mann auf der Straße gehen; dies ist ein wahrnehmendes Wissen; der Mann biegt um die Ecke und ich kann ihn nicht mehr sehen, aber seine Gestalt, seine Kleidung, sein Gang, kurz: der ganze wahrgenommene Inhalt seiner ist als Inhalt noch in meinem Wissen und kann auch ohne Wahrnehmung später wiederkehren. Das ist das bloße Vorstellen. Der Mann kommt nun bald wieder zurück und macht den Weg öfters; nun ist meine Vorstellung seiner eine mir bekannte; ich höre, daß dieser Mann mein neuer Vorgesetzter ist, nun steigert sich die Vorstellung seiner bei mir im Grad; dies ist das gesteigerte Wissen, oder das aufmerksame Wissen; indem ich ihn dann wiedersehe, habe ich die Gewißheit, daß er noch ist, noch existiert; das ist das gewisse Wissen. So hat der Schüler in einem geometrischen Lehrsatz, wenn er ihn das erste Mal von seinem Lehrer aussprechen hört, bereits denselben Inhalt in seinem Wissen, wie später, wo er den Beweis desselben kennen gelernt hat; allein erst dann ist sein Wissen des Lehrsatzes ein notwendiges; es kann nun nicht anders sein, als es der Lehrsatz besagt.

Diese Beispiele werden genügen, um die Natur dieser Wissensarten zu verstehen. Sie sind offenbar nicht der Ausdruck einer seienden Bestimmung am Gegenstand, sondern sie bezeichnen nur die besondere Art, wie eine solche Bestimmung oder der Gegenstand gewußt wird. Dessenungeachtet ist auch hier die Verknüpfung der Wissensart mit dem Inhalt des Seienden so eng, daß das gewöhnliche Denken und die aus ihm hervorgegangene Sprache die Wissensart oft als eine Eigenschaft des Gegenstandes selbst behandelt; so sagt man: Dieser Mann ist ein bekannter Mann; dieser Vorfall ist durchaus gewiß; der Donner ist notwendig, wenn es geblitzt hat; die Gleichheit der Winkel ist eine notwendige Eigenschaft des gleichseitigen Dreiecks. Trotzdem kann das Notwendige, so wenig wie das Gewisse und Bekannte, zu den seienden Eigenschaften des Gegenstandes gehören, denn sie alle werden nicht wahrgenommen; sie sind nur verschiedene Arten, denselben Gegenstand zu wissen, und hängen von den persönlichen Umständen des wissenden Menschen ab; deshalb ist derselbe Gegesntand dem Einen ein bekannter, dem Andern ein neuer, deshalb gilt derselbe Vorgang dem Einen als gewiß, dem Andern als ungewiß; deshalb kennt der Schüler wohl den das erste Mal gehörten Lehrsatz, er ist ihm ein bloßes Wissen; er glaubt wohl auch auf das Ansehen des Lehrers hin an seine Wahrheit, d. h. er ist ihm ein gewisser, aber die Notwendigkeit dieses Lehrsatzes besteht zunächst nur im Wissen des Lehrers. Der Astronom weiß die nächste Sonnenfinsternis aufgrund seiner Berechnungen als notwendig, das Publikum nimmt diese Angabe zwar als gewiß, aber es empfindet nicht ihre Notwendigkeit.

LITERATUR: Julius von Kirchmann, Über das Prinzip des Realismus, Leipzig 1875