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JULIUS von KIRCHMANN
Über das Prinzip des Realismus
[Ein Vortrag gehalten in der Philosophischen Gesellschaft zu Berlin]
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"Die Menge glaubt ihren Führern und an die Wahrheit ihrer politischen oder sozialen Programme; nicht weil sie den Inhalt des Geglaubten auf das Prinzip der Wahrheit geprüft haben, sondern weil die Aussprüche von Personen kommen, welche ihnen als Autoritäten gegenüberstehen, und weil man ein festes Vertrauen in ihre höhere Weisheit hat und in ihren guten Willen, die Wahrheit zu sagen."

"Das erkenntnistheoretische Prinzip des Realismus hat die allgemeine tatsächliche Geltung für sich, soweit unsere Kenntnis der Menschen und Völker reicht. Daß das Wahrnehmen der Seele ein Wissensbild von einem seienden Gegenstand gibt; daß das sich Widersprechende unmöglich ist, diese Sätze gebraucht auch der roheste und ungebildetste Mensch tagtäglich, umd daraus seine Kenntnis des Seienden zu entnehmen."

"Jeder an seiner Seele gesunde Mensch dem realistischen Prinzip mit Notwendigkeit in seinem Wahrnehmen und Denken unterworfen. Deshalb kann selbst der entschiedenste Idealist sein System nur am Schreibtisch mit der Feder aufrechterhalten; sowie er aufsteht und das Fenster öffnet, ist er dem realistischen Prinzip untertan und muß Dinge und Menschen als seiend neben sich anerkennen und danach sein Handeln einrichten."

Man wird wohl im Allgemeinen geneigt sein, diese Wissensarten als persönliche, den wissenden Menschen angehörige Zustände anzuerkennen; nur bei der Notwendigkeit dürfte man bedenklicher werden, da die meisten Systeme diese Notwendigkeit als etwas Reales, ja als eine dem höchsten Seienden, wie der Gottheit, wesentliche Bestimmung behandeln und selbst die Sprache zeigt sich hier weniger fügsam, um das Subjektive dieser Bestimmung durch sie auszudrücken. Es kann jedoch hier daran erinnert werden, daß alle Systeme die Notwendigkeit zu den Kategorien der Modalität rechnen und daß KANT in seiner "Kritik der reinen Vernunft" im Abschnitt über die Postulate des Denkens sagt:
    "Die Kategorien der Modalität habe das Besondere an sich, daß sie den Begriff, dem sie als Prädikat beigefügt werden, als Bestimmung des Objekts nicht im Mindesten vermehren, sondern nur das Verhältnis zum Erkenntnisvermögen ausdrücken. Selbst wenn der Begriff eines Dings ganz vollständig ist, kann ich doch fragen, ob der Gegenstand möglich, wirklich oder notwendig ist."
Hier wird die Natur der Notwendigkeit als einer bloßen Wissensart so klar und bestimmt von KANT anerkannt, als der Realismus es nur wünschen kann. Merkwürdigerweise hält jedoch auch KANT diese Natur der Notwendigkeit nicht fest, sondern behandelt in der vierten Antinomie dieselbe wieder als eine seiende Bestimmung und spricht da von einem schlechthin notwendigen Wesen. Noch mehr wiederholt sich dies in seiner "Kritik der praktischen Vernunft".

Alle diese Wissensarten sind mit einer, jeder eigentümlichen Empfindung verbunden, vermöge deren das darin durchzogene Wissen, eben als eine besondere Art desselben, dem Menschen gilt. Diese Empfindung ist kein Schmerz- oder Lustgefühl, aber wird doch als eine seiende Bestimmung der Seele gelten müssen, so daß ihrer Ursache deshalb nachgegangen werden kann. Hier zeigt die Beobachtung, daß die Notwendigkeit hauptsächlich aus der Erkenntnis der Identität hervorgeht und daß sie deshalb jedem auf den Satz des Widerspruchs gegründeten Wissen anhängt. Deshalb hat auch die Konklusion im Syllogismus die Notwendigkeit an sich, denn die Konklusion ist nur in der Form von den beiden Prämissen verschieden, dem Inhalt nach aber bereits vollständig in ihnen enthalten; jede andere Konklusion würde zu einem Widerspruch mit den als wahr gesetzten Prämissen führen, und da dieser Widerspruch nach dem Prinzip des Realismus nicht sein kann, so ist die Konklusion notwendig. Deshalb sind alle Sätze der Geometrie notwendig, sobald sie sich mittels der Hilfslinien als Konklusionen aus Prämissen ergeben und diese Prämissen schon früher bewiesen worden sind. Nur beim ersten Lehrsatz, mit dem die Geometrie beginnt, ist dies nicht möglich, und deshalb wird bei dem Satz, daß zwei Dreiecke einander gleich und ähnlich sind, wenn zwei Seiten und der von ihnen eingeschlossene Winkel sich gleich sind, die Identität in anderer, mehr sinnlicher Weise dargelegt, indem gezeigt wird, daß diese Dreiecke, aufeinander gelegt, sich decken müssen.

Diese Identität oder die Unmöglichkeit des Widerspruchs, ist die Hauptquelle aller Notwendigkeit im menschlichen Wissen. Diese Notwendikeit hängt jedoch nicht bloß dem zweiten, sondern auch dem ersten Satz im Prinzip des Realismus an. Auch das Wahrgenommene hält der Mensch notwendig für ein Seiendes; deshalb kann ein Streit unter den Menschen nicht bloß durch Syllogismen, sondern auch durch Wahrnehmung geschlichtet werden. Bei dem Streit, ob schon Veilchen im Garten blühen, geht man hinaus, und sieht man sie da, so ist der Streit notwendig gehoben. Indem jedoch der erste Satz im Prinzip des Realismus dem zweiten untergeordnet ist, weicht diese auf dem ersten Satz beruhende Notwendigkeit zurück, wenn sie zum Widerspruch mit einem sonst als wahr Anerkannten führt. Aus einem solchen Konflikt beider Sätze entspringt der Schein, jener merkwürdige Wissenszustand, wo der Mensch, trotzdem, daß er wegen des Widerspruchs seine Wahrnehmung für falsch halten muß, dennoch durch die dem Wahrnehmen innewohnende Notwendigkeit sich fortwährend getrieben fühlt, das Wahrgenommene für wahr zu halten. Man denke an den aufgehenden Mond, wo man, wenn man hinsieht, sich kaum enthalten kann, ihn für größer zu erklären, als den Mond im Zenit, obgleich hier der Schein durchaus nicht auf einer Sinnestäuschung beruth. Eine dritte Quelle der Notwendigkeit liegt in jenen Beziehungsformen, welche sich in zwei Gegensätze spalten; hier ist, wenn der eine gesetzt wird, auch das Setzen des anderen notwendig; nehme ich einen Gegenstand als Ursache, so muß ich auch eine Wirkung dazu setzen, selbst wenn ich sie nirgends finden kann; dasselbe gilt von der Substanz und der Akzidenz [Merkmal - wp], vom Äußeren und Inneren, von der Form und dem Inhalt usw. Weitere Ursachen dieser Wissensart der Notwendigkeit sind nicht vorhanden.

Für das praktische Leben ist die Wissensart der Gewißheit die wichtigste. Selbst der Gelehrte weiß nur einen kleinen Teil des Wissens als notwendig; auch er muß das Meiste auf Treu und Glauben annehmen, sei es aufgrund einer Mitteilung lebender Menschen, oder aufgrund von Büchern, von Schriften und anderen Dokumenten. So beruth der größte Teil des Wissens des einzelnen Menschen nicht auf der eigenen Anwendung des realistischen Prinzips, sondern auf einem Glauben. Der Glaube gehört zur Wissensart der Gewißheit; sie hat ihre verschiedenen Ursachen und kann vom schwächsten Grad zu einem so hohen steigen, daß der Glaube, wie man sagt, Berge versetzt und sogar das sich Widersprechende für wahr hält. Credo, sagt TERTULLIAN, quia absurdum est. [Ich glaube, weil es absurd ist. - wp] Die Wissensart der Gewißheit mit ihren verschiedenen Graden ist von KANT das Meinen und das subjektive Fürwahrhalten genannt worden, während er das Wissen des Wahren das objektive Fürwahrhalten nennt. Diese Bezeichnung ist nicht treffend; die persönliche Überzeugung, auch wenn sie nicht die Wahrheit enthält, beruth auf ebenso festen und allgemeinen, d. h. objektiven Gesetzen, wie die Erkenntnis oder das Wissen des Wahren. Letzteres geht aus der Anwendung des erkenntnistheoretischen Prinzips hervor und hat neben seiner Wahrheit auch die Gewißheit von seiner Wahrheit in sich. Insofern gehört das erkenntnistheoretische Prinzip auch zu den Ursachen, welche ein gewisses Wissen, d. h. eine Überzeugung von seiner Wahrheit hervorbringen. Allein die Gewißheit hat daneben noch andere Quellen, welche wesentlich in den Gefühlen des Menschen, insbesondere in den Achtungsgefühlen vor den Autoritäten ihren letzten Grund haben. Das Kind glaubt den Eltern, der Schüler glaubt dem Lehrer, der Fromme glaubt den Aussprüchen des Priesters, die Menge glaubt ihren Führern und an die Wahrheit ihrer politischen oder sozialen Programme; nicht weil sie den Inhalt des Geglaubten auf das Prinzip der Wahrheit geprüft haben, sondern weil die Aussprüche von Personen kommen, welche ihnen als Autoritäten gegenüberstehen, und weil man ein festes Vertrauen in ihre höhere Weisheit hat und in ihren guten Willen, die Wahrheit zu sagen. Je höher die Autorität in ihrer Erhabenheit steigt, desto stärker wird das Fürwahrhalten ihrer Aussprüche bei den Andern.

Das großartigste Beispiel dieser Wirkung der Autorität auf das Fürwahrhalten geben die Religionen. Für den realistischen Philosophen haben sie ihren Ursprung beim Stifter in der schwärmerischen Auffassung gewisser Lehren, als einer unmittelbaren Eingebung Gottes, welche die Phantasie seiner Jünger und Anhänger allmählich zu einem System ausbildet und mit Legenden, Wundern und Prophezeiungen unwillkürlich umgibt; für die große Masse beruth der Glaube an diese Lehren und Verheißungen auf den Einflüssen der Erziehung in der Familie und Schule, auf dem Leben in einem Volk oder einer großen Gemeinschaft, welche dieselben Überzeugungen hegt und betätigt, endlich auf dem feierlichen Kultus, welcher den höchsten Priester der Berührung mit der Masse entrückt und mit einem erhabenen Schein umkleidet. Deshalb ist der religiöse Glaube in einem Land umso fester, je stärker diese Ursachen zusammenwirken und je mehr nur eine Religion im Land besteht, und je größer die Scheidung der Priester von den Laien ist. Ob dabei der Inhalt der Religion sich mit den Prinzipien der Wahrheit verträgt oder nicht, tritt bei der großen Masse der Gläubigen ganz zurück. Selbst die Gebildeten haben hier von jeher Mittel gefunden, das Gebiet des Glaubens von dem der Wissenschaft getrennt zu halten und von den dabei hervortretenden Schwierigkeiten das Auge abzuwenden vermocht.

Es ist deshalb ein durchaus törichtes Beginnen, wenn die Philosophie meint, den Glauben mit den Gründen der Wissenschaft bekämpfen zu können. Seit Jahrhunderten ist dies von den Deisten in England, von VOLTAIRE und den Enzyklopädisten in Frankreich, von den Rationalisten, den Naturforschern und den Anhängern des Materialismus in Deutschland in der mannigfachsten und gründlichsten Weise versucht worden; selbst die Kunst hat man dazu benutzt; die hierher gehörenden Romane von EUGENE SUE und Anderen sind zu hunderttausenden von Exemplaren in Frankreich und allen katholischen Ländern verbreitet worden, und trotzdem zeigt sich der Erfolg gleich Null. Sowie die Religionen nicht von Männern der Wissenschaft begründet werden können, so können sie auch nicht von ihnen zerstört werden; der Glaube ruht auf Fundamenten, die zwar erschüttert werden können, aber nur nicht durch das Mittel einer wissenschaftlichen Widerlegung seines Inhalts. Ein höchst anziehendes Beispiel davon gibt der Briefwechsel SPINOZAs mit ALBERT BURGH, einem seiner ehemaligen Schüler, welcher in Rom zum katholischen Glauben übergetreten war. Beide erschöpfen sich in Gründen, den Gegner zum Glauben oder umgekehrt zur Wissenschaft zurückzuführen; allein beide ohne den mindesten Erfolg. Indem Glauben und Wissenschaft auf durchaus verschiedenen Fundamenten beruhen, bieten die modernen Versuche, der Religion durch die Wissenschaft hie und da zu Hilfe zu kommen und die schlimmsten Sätze in ihr fallen zu lassen oder in logische Kategorien umzuwandeln, eine der kläglichsten Erscheinungen von Halbheit in der Gegenwart.

Die Lehre von den Wissensarten kann hier so wenig, wie die von den Beziehungen erschöpft werden; jedoch wird das Angeführte hoffentlich genügen, um deren wahre Natur und große Bedeutung für die Menschheit zu erfassen. Blickt man auf die Systeme der Philosophie seit den Zeiten der Griechen bis auf die Gegenwart zurück, so zeigt sich, daß beinahe alle das wahrhafteste und höchste Sein (das ontos on) wesentlich in jenen Kategorien gesucht haben, welche nur Beziehungen oder Wissensarten im menschlichen Vorstellen bezeichnen, aber in keiner Weise als Bild eines Seienden gelten können und deshalb auch zur Erkenntnis eines solchen nicht benutzt werden können. Wie trotzdem die Philosophie darauf gekommen ist, in ihnen die höchste Erkenntnis zu suchen, ist zum Teil schon früher angedeutet worden; nicht wenig hat dazu aber auch die Herabsetzung der Wahrnehmung beigetragen. Weil das von der Wahrnehmung gebotene Sein einem steten Wechsel unterliegt, weil man in den Täuschungen der Sinne sich nicht zurechtfinden konnte, weil die Begriffe dagegen in ihrem Inhalt ein Ewiges und Unveränderliches bieten, oder weil man, wie KANT, die Möglichkeit allgemeiner Gesetze in natürlicher Weise sich nicht zu erklären vermochte, so wurde nur das Denken als der alleinige Weg zur Erkenntnis des Wahren proklamiert und eine besondere Vernunft gegenüber dem Verstand erfunden, die womöglich als intellektuelle Anschauung die höchsten Begriffe und Gesetze den Menschen ohne Arbeit in den Schoß legen soll. Die Beziehungen und Wissensarten mußten, da sie ihren Ursprung nicht aus dem Seienden ableiteten, und doch wegen ihrer Verschmelzung mit dem Seienden als Kategorien des Seienden galten, diese Richtung der Philosophie wesentlich verstärken, und zuletzt wurden so diese Kategorien des bloßen Wissens zu den Kategorien des höchsten Seins; man erfand ein Absolutes und bemerkte nicht, daß es sich nur aus den Beziehungen des Nicht und des Bedingten zusammensetzt. Auch die ganze Kategorientafel KANTs besteht nur aus Beziehungen und Wissensarten, die Realität ausgenommen, und wenn KANT auch die richtige Erkenntnis hat, daß sie nur Formen sind, welche nicht aus dem Sein stammen, sondern dem Wissen der Seele ursprünglich angehören, so gibt er ihnen doch wieder eine seiende Bedeutung, indem nur durch sie die Erfahrung möglich werden soll. Deshalb könnte man wohl meinen, daß gerade dieser Punkt und die Erörterung, ob diese Kategorien des Wissens als Kategorien des Seienden gelten können oder nicht, zu den wichtigsten Aufgaben der Philosophie in der Gegenwart gehören. -

Ich habe damit begonnen, daß ich die erkenntnistheoretischen Prinzipien für unbeweisbar erklärt habe; ich kann deshalb auch Alles, was ich hier daraus abgeleitet habe, nicht in der Weise einer geometrischen Deduktion oder eines Syllogismus Ihnen beweisen und daher Niemand zum Fürwahrhalten des Vorgetragenen zwingen; jedoch läßt sich mancher wichtige Umstand anführen, der, ohne streng beweisend zu sein, dennoch das realistische Prinzip unterstützt, und es annehmbarer zu machen geeignet ist. Ich werde mit der Darstellung dieser Umstände schließen.

Erstens hat das erkenntnistheoretische Prinzip des Realismus die allgemeine tatsächliche Geltung für sich, soweit unsere Kenntnis der Menschen und Völker reicht. Daß das Wahrnehmen der Seele ein Wissensbild von einem seienden Gegenstand gibt; daß das sich Widersprechende unmöglich ist, diese Sätze gebraucht auch der roheste und ungebildetste Mensch tagtäglich, umd daraus seine Kenntnis des Seienden zu entnehmen, und selbst HEGEL kann, obgleich er den Satz des Widerspruchs in seiner Lehre verspottet und verletzt, doch nicht umhin, denselben fortwährend zur Widerlegung seiner Gegner zu benutzen. Beide Sätze erscheinen dem Menschen angeboren; schon das Kind bedient sich derselben, wird von denselben in seinem Wissen geleitet, wenn es auch diese Sätze in ihrem Für-sich-sein noch nicht kennt. Sie bezeichnen auch nicht bloße Formeln, die man als solche kennen müßte, um danach zu verfahren; nein, sie bezeichnen die der Seele innewohnenden Kanäle und Kräfte, welche nach diesem Prinzip wirken und das Wissen mit einem Inhalt erfüllen, auch wenn sie nicht gekannt sind. Man erkennt durch diese Kräfte, wie man mittels der physikalischen und chemischen Kräfte verdaut; beides ohne diese Kräfte und ihre Gesetze zu wissen.

Indem der Philosoph sonach nur dieselben Mittel, wie jeder andere gesunde Mensch zur Erkenntnis der Dinge benutzt werden kann und auch der Gegenstand, das körperlich und geistig Daseiende, für beide derselbe ist, so erhellt sich, daß der Unterschied der Philosophie von den besonderen Wissenschaften von bestimmten Voraussetzungen ausgehen und nicht bis zu den höchsten Begriffen und Gesetzen hinaufsteigen, während die Philosophie den von jenen beschafften Stoff der Wahrnehmung aufnimmt und die von jenen gebildeten Begriffe und Gesetze bis zu den höchsten fortführt, wo sie sich über das Gebiet aller Wissenschaften ausdehnen, damit die höchste Kontrolle für ihre Wahrheit erfahren und das höchste einende Band für den unermeßlichen Reichtum der besonderen Wissenschaften bilden. Deshalb besteht auch keine feste Grenze zwischen den besonderen Wissenschaften und der allgemeinen oder der Philosophie; jene greifen bald in diese, und diese bald in das Gebiet jener ein, und je mehr die Begriffe der Philosophie Gemeingut der Gebildeten werden, umso mehr ziehen schon die besonderen Wissenschaften einen Teil der Philosophie in ihre Darstellung hinein.

Zweitens. Das realistische Prinzip der Erkenntnis gilt nicht bloß allgemein, für alle Menschen, es wirkt auch bei allen mit Notwendigkeit. Weil es das Gesetz einer Kraft und eines unaufhaltsamen Geschehens innerhalb des menschlichen Wissens bezeichnet, ist auch jeder an seiner Seele gesunde Mensch diesem Prinzip mit Notwendigkeit in seinem Wahrnehmen und Denken unterworfen. Deshalb kann selbst der entschiedenste Idealist sein System nur am Schreibtisch mit der Feder aufrechterhalten; sowie er aufsteht und das Fenster öffnet, ist er dem realistischen Prinzip untertan und muß Dinge und Menschen als seiend neben sich anerkennen und danach sein Handeln einrichten.

Drittens. Indem der Realismus sein Prinzip mit allen Menschen gemein hat und alle danach ihr Wissen erwerben und die Wahrheit bestimmen, ist es der realistischen Philosophie möglich, eine Sprache zu reden, die klar und deutlich ist, die sich von Widersprüchen frei hält und die selbst vom einfachen Mann bald gefaßt werden kann; denn er findet hier dieselben Kräfte und Gesetze wieder, die er selbst fortwährend übt und nach denen die ihm geläufigen Vorstellungen und die Sprachen sich zum größten Teil gebildet haben.

Viertens. Das realistische Prinzip allein kann sich durch alle Gebiete hindurch konsequent erhalten; es hat selbst für die Gebiete der Moral, des Rechts und der schönen Künste an den Gefühlen der Achtung und Lust und deren idealen Nachklängen den festen Boden, wo die Beobachtung und Induktion genau in derselben Weise zur Erkenntnis führen kann, wie innerhalb des Gebietes der Natur. Dagegen vermag der Idealismus, je strenger er sein Prinzip entwickelt, umso weniger das Recht, die Moral und die dahin gehörenden Gestaltungen des menschlichen Lebens und Handelns zu erfassen. Dieses Handeln ist nicht möglich, wenn Raum und Zeit nichts Reales sind, wenn das wahrhaft Wirkliche zeit- und raumlos ist; die menschlichen Handlungen selbst werden dadurch zu einem Unwirklichen, zu einem bloßen Schein oder zu einer Erscheinung herabgesetzt, die unmöglich einen sittlichen Wert beanspruchen kann. Deshalb müssen KANT ebenso wie FICHTE und SCHOPENHAUER ihre idealistische Lehre verlassen und durch irgendein Kunststück eine Mehrheit von Individuen schaffen und die erst zur Erscheinung herabgesetzte Welt durch irgendeine Wendung wieder zu einer wirklichen erheben, ehe ihnen eine Ethik möglich wird.

Fünftens schließt das realistische Prinzip alle vorgefaßten Meinungen aus, mit dem andere Systeme an ihren Gegenstand herantreten. Es hat weder ein Kategorienschema, wie KANT, unter dem alle Dinge betrachtet und geordnet werden sollen, noch ein Prinzip der dialektischen Entwicklung oder genetischen Abfolge, vermöge dessen der Inhalt sich aus sich selbst erzeugen müßte; vielmehr fordert es nichts, als ein unbefangenes Herantreten an den Gegenstand. Der Mensch hat danach nur seine Sinne zu öffnen, um den Inhalt des Seienden in das Wissen überfließen zu lassen, und indem er sich voll und Ganz in den Gegenstand versenkt und dessen Inhalt zu dem schon in der Seele vorhandenen Inhalt hinzutritt, erwacht das vergleichende und unterscheidende Denken, es trennen sich die Teile und Eigenschaften der Dinge, durch die Vergleichung wird das begriffliche Trennen auf den rechten Weg geleitet, und allmählich findet der neue Inhalt seine Stelle oder entwickelt sich zu einem brauchbaren Glied eines Gesetzes. Am Gegenstand hat dieses Prinzip immer den sicheren Halt, an dem es seine Resultate wiederholt prüfen und im Fall, daß sie sich nicht bewähren, die Untersuchung von Neuem beginnen kann. Die Unterschiede sind für dieses Prinzip das Erste, das proton pros hemas [das Erste in Bezug auf uns selbst - wp] und vielleicht auch das proton te physei [das ansich Erste - wp]; durch das begriffliche Trennen steigt das Wissen zu höheren Begriffen und durch die Induktion zu höheren Gesetzen auf, und so mindern sich in den höchsten Regionen die Gegensätze; aber das Prinzip verlangt nicht, daß aller Unterschied in eine höchste Einheit aufgehen, daß der Dualismus von Körperlichem und Geistigem, von Sein und Wissen in einem Höchsten zum Monismus werden muß. Es leugnet nicht diese Möglichkeit, aber es erzwingt sie nicht gewaltsam, wie PLOTIN, wie SPINOZA, wie die Identitätsphilosophen und überschätzt eine solche Einheit auch nicht; da selbst, wenn sie erreicht wäre, die Unterschiede ebensowenig wie früher entbehrt werden könnten, um durch deren Anfügung zur Besonderung des Einen und zum Reichtum der seienden Welt wieder herabsteigen zu können. Das realistische Prinzip hat deshalb auch kein festes Schema für die Einteilung; es will weder eine zweiteilige noch eine dreiteilige alle Dingen aufzwängen, sondern es folgt in seiner Heraushebung der Teilungsmomente den Unterschieden, die der Gegenstand selbst bietet und deren Begriffe sich als brauchbare Glieder zu Gesetzen ergeben.

Sechstens kennt deshalb das realistische Prinzip auch kein absolutes System. Überhaupt ist für es die Ordnung des Inhaltes, sei sie welche sie wolle, nur ein Beziehungsbegriff, für welchen es in den Gegenständen keinen Anhaltspunkt gibt. Jede Anordnung des Stoffes eines wissenschaftlichen Gebiets, jedes System, in welches dieser Stoff gebracht wird, hat keine sachliche Unterlage, sondern dient nur den persönlichen Bedürfnissen des Lernenden und des Lehrers. Im betreffenden Gebiet sind alle Unterschiede, alle höheren und niederen Begriffsstücke und wirkenden Kräfte auf einmal und bunt durcheinander vorhanden. Dies gilt für die natürliche, wie für die sittliche Welt, für das Körperliche, wie für das Geistige. Wenn der Stoff in eine Ordnung gestellt wird, so liegt der Anlaß dazu zunächst in dem jeder Sprache anhaftenden Mangel, daß sie das Allgemeine und das Besondere, bis zur Grenze des Einzelnen hinab, mit einem Wort inhaltsvoll zu bezeichnen nicht vermag; die Fülle von Begriffen eines Gebietes kann nur nach und nach durch Worte mitgeteilt werden, und so ist die Ordnung in dieser Mitteilung wesentlich durch den Umfang dieser Worte und weiter durch die Persönlichkeit des Lernenden und Lehrers bedingt. Je vollständiger der Kenner einer Wissenschaft sie inne hat, umso mehr ist das System und die Ordnung, in welcher ihm deren Inhalt zugeführt worden ist, zurückgetreten. Der Inhalt der Wissenschaft in seinem Kopf gleicht dann dem Netz der Spinne; überall wo es berührt wird, erzittern sofort die verwandten Maschen, und die leiseste Erschütterung macht das ganze Netz (des Wissens) lebendig.

Man kann den Inhalt eines Gebietes ebensogut von oben beginnen und synthetisch zum Besonderen herniedersteigen, wie umgekehrt mit dem Einzelnen beginnen und analytisch auf steigen, indem zunächst die niederen Begriffe und allmählich die höheren ausgesondert werden. Man kann in der Physiologie des Menschen gleicht gut mit der Lehre vom Blut, oder von den Nerven, oder von den Knochen beginnen; in jeder dieser Ordnungen sind vortreffliche Werke vorhanden; man kann in der Rechtswissenschaft mit den dinglichen, oder mit den persönlichen Rechten, oder mit den Rechten des status beginnen, und jede dieser Anordnungen hat ihre eigentümlichen Vorteile und Nachteile. Dies zeigt, daß das System sich nicht aus seinem Gegenstand entnehmen läßt und wenn der Idealismus eine genetische Entwicklung des Inhalts fordert und auf diese die Wahrheit und Notwendigkeit gründet, so ist ein solcher Versuch zwar blenden und schmeichelt dem Gefühl des Philosophen, aber es ist für den Kenner ein Leichtes, diese Entwicklung als ein bloßes Kunststück darzulegen, was den Stoff zunächst aus der Sprache und Erfahrung gesammelt und aufgelesen hat und unter dem Katheder bereit hält, um zu seiner Zeit als ein durch Entwicklung Gewonnenes hervorzutreten. Eine solche Methode ist in Wahrheit das Gegenteil von der Notwendigkeit, deren sie sich rühmt; sie ist vielmehr die Willkür. Deshalb ist dem Realismus der Inhalt der Dinge die Hauptsache; er verlangt nch der vollen Entfaltung des Reichtums im Seienden; die Ordnung dieses Inhalts überläßt er dem persönlichen Bedürfnis der Lehrer und Lernenden; während der Idealismus durch seine genetische Methode genötigt ist, diese Ordnung als das höchste hinzustellen und darüber die Entwicklung des Inhalts in den Hintergrund zu schieben. Ein belehrendes Beispiel dazu bietet die Logik HEGELs; sie ist ein künstliches Gebäude von lauter Begriffen; nach den Gesetzen, welche in diesem Gebiet herrschen, sucht man darin vergebens, und doch sind alle Begriffe nur da und nur gebildet, um als Glieder zu realen Gesetzen zu dienen. Daher erklärt sich das Unbefriedigte, mit dem selbst der aufmerksamste Leser dieses Buch am Ende zumacht; eine Menge von Begriffen tanzen gleich Gespenstern um ihn herum, aber es fehlt ihm die Handhabe, sie zu leiten und zur Beherrschung des Seienden zu benutzen.

Siebtens gewährt das realistische Prinzip mehr wie jedes andere den entgegengesetzten Richtungen und streitenden Parteien eine feste Unterlage, von der gemeinsam ausgegangen werden kann, um allmählich zu einem gemeinsamen Einverständnis zu gelangen. In der Wahrnehmung des Inhalts der Dinge stimmen alle Menschen mit gesunden Sinnen überein; die Sinnestäuschungen sind leicht zu entfernen, indem sie selbst auf Gesetze zurückgeführt werden; ebenso sind die Verfälschungen dieses Inhalts, welche namentlich beim inneren Sinn durch die Gefühle bewirkt werden, für den besonnenen Forscher leicht fern zu halten. Deshalb ist beim Realismus der Boden, von dem auszugehen ist, für Alle leicht als derselbe darzulegen; aller Zweifel kann sich dann nur an die Arbeit des Denkens anknüpfen, durch welche dieser Stoff getrennt, verbunden und bezogen wird und alle bedeutenderen Irrtümer können nur hieraus ihren Anfang nehmen. Je länger aber diese Arbeit geübt wird, je größer die natürliche Anlage hier unterstützende eintritt, je ernster das Denken und je andauernder und beharrlicher es vollzogen wird, umso mehr müssen die Irrtümer und Zweifel sich verlieren, während die Künstlichkeit der Prinzipien der idealistischen Systeme hier dem Irrtum und den sich einmengenden Gefühlen nur einen schwachen Damm entgegenzusetzen vermögen. Deshalb kann nur innerhalb des realistischen Prinzips der Streit der Meinungen sich allmählich verlieren; nur hier muß er dem festen Kern der Wahrheit Platz machen. Deshalb kann nur hier der begonnene Bau durch gemeinsame Arbeit wahrhaft weiter geführt werden; der neu hinzutretende Arbeiter braucht nicht den Bau bis auf den Grund wieder einzureißen, um für seine angeblichen Entdeckungen Platz zu bekommen. Beim Realismus fügt sich alles Neue harmonisch zum Alten und selbst wenn das Neue ein altes lang bestandenes Gewölbe durchbricht, bleibt in den auseinanderfallenden Quadern ein reiches Material, was zum neuen Dom wieder verwendbar ist.

Es liegt Achtens in der Natur des realistischen Prinzips, daß es die Systeme anderer philosophischer Richtungen nicht bloß negiert, sondern daß es bei ihnen auch die Stellen klar aufzuzeigen vermag, wo sie sich vom natürlichen Prinzip, als welches nunmehr das realistische gelten dürfte, entfernt haben und damit auf Abwege und in Widersprüche geraten sind. So ist KANT nur dadurch auf seinen transzendentalen Idealismus gekommen, weil er
    1) ohne Idealisierung des Raums und der Zeit zu bloßen Form des menschlichen Wissens es für unausführbar gehalten hat, die allgemeinen synthetischen Urteile (Gesetze) innerhalb der Mathematik zu erklären oder deren Möglichkeit zu begreifen und weil

    2) nach seiner Meinung solche allgemeine und notwendige Gesetze auch innerhalb der Naturwissenschaft bestehen sollten, aber diese nicht möglich wären, wenn die dazu benutzten Kategorien dem Seienden und nicht dem menschlichen Denken angehören würden.
KANT hat dabei übersehen, daß alle Gesetze in der Naturwissenschaft nur eine induktive Allgemeinheit, aber keine Allgemeinheit im strengen Sinn haben und daß auch die Lehrsätze der Mathematik zunächst nur durch Induktion, wahrscheinlich von den ägyptischen Priestern, gefunden worden sind, daß deren Beweise eine spätere Zutat der Griechen sind und daß diese wohl zur Notwendigkeit der Konklusion in der einzelnen hinzugezeichneten Gestalt mittels Hilfslinien führen, aber daß bei dieser Methode die Allgemeingültigkeit des Lehrsatzes für alle Gestalten, z. B. des begrifflichen Dreiecks, nicht bewiesen wird, und daß diese wahre und strenge Allgemeingültigkeit der geometrischen Lehrsätze nur dadurch zu gewinnen möglich wird, daß man vermöge der stetigen Natur des Raums die unzähligen z. B. Dreiecke, über die ein Lehrsatz etwas feststellt, auf eine Bewegung der Gestalt innerhalb fester Grenzen zurückführen kann, welche als Bewegung alle diese unzähligen Dreiecke durchläuft und dabei sehen läßt, daß trotz dieser Bewegung die Beweiskraft der Hilfslinien, auf denen der Beweis beruth, nicht erschüttert wird. Hätte KANT dies bemerkt, so wäre sein ganzer transzendentaler Idealismus nicht nötig gewesen; er hätte beim natürlichen Prinzip des Realismus, der er ansich ja zuneigte, verharren können.

Wenn später HEGEL die dialektische Entwicklung zum Prinzip der Wahrheit erhoben hat, so liegt der Grund, abgesehen von der Einwirkung seiner Vorgänger, KANTs, FICHTEs und SCHELLINGs auf ihn, darin, daß es HEGEL weit mehr auf die Allgemeinheit und Notwendigkeit des Inhalts, als auf diesen selbst angekommen ist; daß er die Begriffe seiner Logik, welche meist den Beziehungen der Wissensarten angehören, für Begriffe des Seienden genommen hat und daß er in Konsequenz der dialektischen Entwicklung genötigt war, in den höheren Begriff den ganzen Reichtum seiner Besonderung mit einzuschließen, da ohnedem die fortschreitende Darstellung des Inhalts der Wissenschaft nicht als ein bloßes Herausheben des in einem höchsten Begriff bereits Enthaltenen erschienen wäre. Nur deshalb muß, in der Sprache HEGELs ausgedrückt, der Begriff auch in seinem Anderssein derselbe bleiben; deshalb muß der Widerspruch aus dem Kennzeichen der Unwahrheit zum Kennzeichen der Wahrheit umgewandelt werden; nur dann können die Besonderungen, zu denen der höhere Begriff sich entfaltet, schon in ihm selbst enthalten sein, obgleich diese Besonderungen, als konträre, einander widersprechen. Daher die bekannte Formel, daß z. B. "das Jetzt die Nacht und auch der Mittag und auch beides zugleich nicht ist", welche ohne Unterlaß in diesem System wiederkehrt; daher die Behauptung, daß die Form des Urteils überhaupt unfähig ist, die Wahrheit auszudrücken. Der Realismus bedarf solcher Gewaltsamkeiten und solcher Torturen des Denkens nicht; er weiß, daß die Begriffe nicht das Erste sind, daß sie vielmehr durch logisches Trennen aus dem Einzelnen hervorgehen und daß dabei die Besonderungen, trotz der Abtrennung des Gemeinsamen, nicht verschwinden, vielmehr neben, aber nich im begrifflichen Stück bestehen bleiben und deshalb vom Denken jederzeit wieder benutzt werden können, um den höheren Begriff zum niederen und reicheren zu gestalten, ohne daß es nötig ist, im Begriff, gleich einer Büchse, alle sich ausschließenden Besonderheiten gewaltsam einzusperren, damit sie bei Öffnung derselben mit dem Schein einer Entwicklung daraus hervortreten können.

Um noch das neueste System, die "Philosophie des Unbewußten", zu erwähnen, so vermag auch hier das realistische Prinzip seine kritische Aufgabe in dem früher angegebenen Sinn zu vollziehen. Die außerordentlichen Erfolge des betreffenden Werkes, was in wenig Jahren so viele Auflagen erlebt hat, wie wohl kaum je ein philosophisches Werk von solchem Umfang, beruhen offenbar, neben dem pikanten, in den Pessimismus auslaufenden Abschluß desselben, auf der wesentlich realistischen Methode und der geistreich geübten Induktion; welche es jedem Gebildeten möglich macht, dem Verfasser bis in seine schwierigsten und feinsten Auffassungen zu folgen. Insofern könnte dieses System zu denen gezählt werden, die auf einem realistischen Prinzip beruhen; der Verfasser geht jedoch bald zu der Hypothese des Unbewußten über, bei der er die strengen Grundsätze des Realismus verläßt und durch SCHELLING verleitet, in einen Idealismus endet, welcher sehr viele Angriffspunkte bietet. Es kann nur Einzelnes in dieser Beziehung hier erwähnt werden.

Unzweifelhaft bestehen innerhalb der Wissenschaft der Natur und der menschlichen Seele nach zahlreiche Probleme, für welche die bisher gebotenen Lösungen nicht ausreichen. Dies benutzt der Verfasser, um zu zeigen, daß die hierher gehörenden Vorgänge auf keine andere Weise erklärt werden können, als durch die Annahme einer geistigen Ursache besonderer Art. Als solche stellt er "das Unbewußte" auf, d. h. nach seiner Erklärung: ein raum- und zeitloses Wesen, was zwei Attribute in sich enthält, ein unbewußtes Vorstellen und ein unbewußtes Wollen. Dieses Wesen ist ihm das All-Eins; es gibt in der ganzen körperlichen und geistigen Welt nichts, was nicht Teil dieses All-Eins ist und in ihm besteht. Auch die Menschen mit ihrem bewußten Vorstellen gehören dazu; das "Bewußtsein" selbst oder das bewußte Wissen ist seinen Bedingungen nach in einem unbewußten Vorstellen jenes Wesens als eine spätere Stufe der Entwicklung mit enthalten. Das Unbewußte umfaßt in der Form des "Idealen" oder Vorstellens den Inhalt der ganzen Welt, noch ehe diese in das Sein tritt; auch ist dieser Inhalt bis in alle Einzelheiten in der Totalität dieses unbewußten Vorstellens oder in seiner "Idee" enthalten und auch die zeitliche oder kausale Verknüpfung dieses Inhaltes ist noch vor seiner Existenz in der Weise der Entwicklung darin vollständig und explizit gesetzt. Vermöge dieser Entwicklung repräsentiert dieser unbewußte Vorstellungsinhalt das "Logische" oder Vernünftige im Unbewußten; es besteht in ihm ein Endziel und alles Vorhergehende dient diesem Endzweck in der vollkommensten und durchaus vernünftigen Weise als Mittel. Es kann keine bessere Welt, wenn einmal eine sein soll, geben, als diese vom Unbewußten in seinem Vorstellen enthaltene. Als solcher bloß vorgestellter Inhalt befindet sich derselbe aber völlig in Ruhe und enthält in sich keinen Anlaß für irgendeine Bewegung oder Veränderung. Diese Veränderung kommt demselben erst von einem zweiten Attribut, dem Willen.

Derselbe besteht zunächst nur als Potenz; um wirkliches Wollen (actu) zu werden, muß er als Streben oder Wollen-Wollen sich mit einem Inhalt erfüllen und dies kann nur mittels einer der Vorstellungen geschehen, die das erste Attribut in seinem unbewußten Wissen enthält. Das Vorstellen des Unbewußten hat als solches keine Macht dem Willen gegenüber; es muß sich passiv vom Willen erfassen lassen. Indem der Wille sich nun mit diesem Inhalt erfüllt, wird er ein wirkliches Wollen und damit wird auch der von ihm erfaßte Inhalt zu einem wirklichen oder realen gegenüber seiner bis dahin bloß idealen Existenz. Erst mit dieser Tätigkeit des Willens entsteht der Raum oder die Zeit als ein Wirkliches; sie sind beide die wirklichen Formen seiner Tätigkeit. Gegenüber dem Logischen des ersten Attributs ist der Wille das Alogische oder Nicht-Vernünftige; in der Regel nennt ihn der Verfasser den "dummen Willen". Durch diese Verknüpfung von Wollen mit Vorstellen kommt so die wirkliche Welt zustande; das Unbewußte mit seinen beiden Attributen bleibt aber das All-Eins; es ist selbst diese Welt. Sie folgt in ihrem wirklichen Verlauf der Entwicklung, welche innerhalb des Vorstellens des Unbewußten bereits bis in das kleinste Detail besteht; der dumme Wille kann nicht anders, als diesen gewußten Inhalt in einen zeitlich und veränderlich seienden Inhalt auseinder zu ziehen. Bei desem seienden Verlauf ergibt sich, daß der Schmerzen viel mehr in der Welt sind, als der Lust; deshalb ist diese seiende Welt, trotzdem sie die "bestmögliche" ist, dennoch schlechter, als gar keine und das Endziel der Entwicklung besteht deshalb in der Vernichtung des Willens, dem die Welt ihr Sein verdankt.

Mit Hilfe der Herstellung eines bewußten und damit vom Willen unabhängigen Wissens in den Menschen und höheren Tieren kann dies dadurch erreicht werden, daß "die Majorität des in der Welt tätigen Geistes den Beschluß faßt, das Wollen aufzuheben". Damit fällt das Actu-Wollen in sein bloßes Potentia-Sein zurück, die wirkliche Welt verschwindet, es bleibt bloß das All-Eine mit dem Inhalt der Welt in der Wissensform und der Wille als bloße Potenz, wobei freilich keine Sicherheit besteht, daß nicht der potentielle Wille von Neuem zum wirklichen Wollen übergeht und daß sich so das Schauspiel der wirklichen seienden Welt noch einmal genau so wie in der früheren Weise abspielt, ja daß nicht dies unzählige Male sich wiederholt.

Was hier als das trockene und vielleicht sonderbar klingende Resultat der Untersuchungen des Verfassers geboten ist, wird von ihm in höchst geistreicher und spannender Weise auf analytische Weise aus der Erfahrung mittels einer anscheinend sehr strengen Induktion gewonnen und indem das Unbewußte erst am Schluß sich in seiner ganzen eigentümlichen Natur offenbart und sich erst hier in seiner Totalität bietet, bleiben die Bedenken verhüllt, welche bei der unmittelbaren Darstellung des bloßen Resultats hervortreten.

Man kann zunächst fragen: Wo kommt der Inhalt im Vorstellen des Unbewußten her, welcher in Wahrheit schon genau derselbe ist, wie ihn die spätere wirkliche Welt bietet, so daß der Unterschied der Idee im Unbewußten von der wirklichen Welt nur in einem Unterschied der Form liegt; dort besteht dieser Inhalt in der Wissensform, hier in der Seinsform. Die Welt ist dort schon eben so fix und fertig und in denselben für uns rätselhaften Komplikationen vorhanden, wie später in der Seinsform, die der Wille ihr gibt und wo sie sich in Raum und Zeit verteilt langsam abspielt. Auf diese Frage gibt der Verfasser keine Antwort; der Inhalt im unbewußten Vorstellen ist in demselben vorhanden, damit muß sich der Leser begnügen. Auch das "Logische" dieses Attributs kann hierzu nichts helfen; vielmehr ist das Logische nur eine Eigenschaft dieses Inhalts, die nicht vor ihm selbst sein kann und aus deren formaler Natur sich auch kein Inhalt entwickeln kann.

Eine zweite Frage ist: Wie kommt es, daß der "dumme Wille", wenn er sich mit einem Inhalt aus dem Vorstellen des Unbewußten erfüllt, gerade mit dem Stück beginnt, womit die Entwicklung in diesem Vorstellen anhebt und daß er auch in seinem Fortgang, der nun ein zeitlicher ist, sich genau an die durch die Entwicklung gebotene Reihenfolge hält, z. B. die Atome und das Unorganische eher in das Sein übersetzt, als das Organische und das bewußte Vorstellen?

Im Willen, als dem Unvernünftigen, kann der Grund für diese vernünftige Auswahl nicht liegen; im ersten Attribut aber auch nicht, weil dieses dem Willen gegenüber sich durchaus passiv verhält und nich den mindesten bestimmenden Einfluß auf seine Auswahl üben kann. Auch für diese Frage fehlt in den ersten Ausgaben des Werkes die Antwort; erst in den späteren versucht der Verfasser sie zu bieten, indem er sagt (fünfte Ausgabe, Seite 808):
    "Der Wille reißt die Idee ein für allemal als seinen Inhalt an sich; aber die Idee, als Erfüllung des Willens, bestimmt sich selbst und entwickelt sich kraft ihres logischen formalen Elements." (Die gesperrten Worte sind ein späterer Zusatz.)
Hier umgeht also der Verfasser die Schwierigkeit dadurch, daß er den Willen nur einmal für allemal, also nur in einem Akt die Idee, d. h. die ganze unbewußte Vorstellungsmasse des ersten Attributs an sich reißen läßt und daß dann die regelrechte Folge in der Verwirklichung dieses Inhalts kraft des logischen Moments des ersten Attributs erfolgt. Allein dieser am Schluß des Werkes neuerlich demselben beigefügte Gedanke ist offenbar ein ganz anderer, als der, welcher im Werk selbst aufgestellt und auch in den späteren Ausgaben beibehalten worden ist. Danach ergreift der Wille, der durch seine Tätigkeit ein zeitlich verlaufender geworden ist, immer nur einen Teil der Vorstellungsmasse und bringt nur diesen Teil zum wirklichen Sein; es wird da, neben dem allgemeinen Mechanismus, welchen das Unbewußte sich zur Ersparung seiner Arbeit im System der physischen und chemischen Naturkräfte und in den Organismen geschaffen hat, auch ein direktes Eingreifen des Unbewußten überall da gesetzt, wo jener Mechanismus nicht ausreicht; dies kann offenbar nur mittels eines erst später eintretenden Erfassens der betreffenden Vorstellung durch den Willen geschehen; ja es wird an vielen Stellen das Eintreten der Hilfe des Unbewußten, d. h. doch die Verwirklichung von der Art und Stärke des bewußten Willens im Tier oder Menschen abhängig gemacht und insbesondere daraus das Mystische im Menschen und das Hellsehen desselben in magnetischen Zuständen abgeleitet.

Hiermit ist aber die in der späteren Ausgabe gebotene, eben erwähnte Lösung unverträglich. Nach dieser darf trotz dem, daß der Actu-Wille sich mit der ganzen Vorstellungsmasse auf einmal erfüllt, dennoch die Verwirklichung dieser ganzen Masse nicht auf einmal erfolgen; der unbewußten Vorstellungsmasse wird darin ein Einfluß auf den Willen beigelegt; er wird von ihr genötigt, trotz dem, daß er sich schon mit der ganzen Massen angefüllt hat, sie doch nur einzeln in der kausalen Folge der Entwicklung zu verwirklichen; alles Annahmen, die gegen die Grundgesetze, welche der Verfasser über die Natur beider Attribute aufgestellt hat, verstoßen. Seite 805 heißt es zwar:
    "Die Ewigkeit der Idee ist nicht als ewige, wenn auch nur ideale Existenz, sondern nur als ewige Präformation oder Möglichkeit zu verstehen."
Dies ist mit der Zeitlosigkeit des Unbewußten jedoch schwer zu vereinigen.

Ich will jedoch jetzt die Bedenken gegen die Hypothese des Verfassers ansich nicht weiter verfolgen, sondern wende mich zu der Frage: Was haben die Wissenschaften durch diese Hypothese, selbst wenn sie durchaus richtig ist, für jene Probleme gewonnen, zu deren Lösung der Verfasser sie aufgestellt hat? - Diese Lösung geschieht bei all diesen Problemen ziemlich auf dieselbe Weise, nämlich in der Art, daß da, wo unsere bisherige Kenntnis der einfachen Kräfte und ihrer Substrate (Atome) samt deren Wirksamkeit nach bestimmten Gesetzen nicht ausreicht, um einen durch Sinnes- oder Selbstwahrnehmung gegebenen Vorgang zu erklären, der Verfasser das Unbewußte einschiebt, welches dann vermöge seiner Allwissenheit, Untrüglichkeit und Allgegenwart überall da mit seinem Wissen und Wollen direkt aushelfend eintritt, wo die allgemeinen, von ihm selbst zunächst eingerichteten Mechanismen und Organisationen nicht ausreichen, um seine Zwecke zu erfüllen.

So will der Mensch seinen Zeigefinger heben. Dazu gehört nach der durch die bisherige Wissenschaft gewonnenen Kenntnis vom Bau und der physiologischen Tätigkeit des menschlichen Körpers, daß die Vorstellung des Fingerhebens, die in Hirnschwingungen im Vorderhirn besteht, sich auf die Enden der motorischen Nerven des Fingers, welche im hinteren Teil des Gehirns liegen, überträgt, daß diese mit dem Willen verbundene Vorstellung da das Ende des richtigen Nerven trifft, in dessen Nähe noch eine große Anzahl anderer liegen; daß dann diese Erregung in ihrem Fortgang bis zum Finger sich auf mehrere andere motorische Nerven im richtigen Maß verteilt, da die Bewegung selbst keine einfache ist, und daß endlich so die betreffenden Muskeln zur Zusammenziehung, d. h. zur Erhebung des Fingers gereizt werden. Der Verfasser weist nun sehr geschickt nach, daß die bisherigen Lösungsversuche dieses Problems nicht ausreichen; aber was tut er selbst? Er nimmt das Unbewußte zu Hilfe; nach seiner Erklärung erweckt das bewußte Wollen des Fingerhebens das unbewußte Wollen jener Zwischenvorgänge und dieses erfüllt sich mit den dazu nötigen unbewußten Vorstellungen aus der Gesamtmasse des ersten Attributs. Vermöge seiner Allwissenheit und Allweisheit bedarf dieses unbewußte Vorstellen keiner Organe, um sich über die Lage der betreffenden Nervenenden zu orientieren; es bedarf auch keiner Überlegung, um die zweckmäßigste Art der Ausführung zu finden; Ziel und Mittel weiß es in Einem und es weiß auch ohne Organ alles, wie, wohin und wie stark der Wille zu leiten ist, damit das rechte Nervenende in der richtigen Weise getroffen und so zuletzt die Wirkung des Fingerhebens herbeigeführt wird. So kommt das Unbewußte dem nicht ausreichenden Organismus und dem nicht ausreichenden bewußten Willen direkt zu Hilfe und führt so die Wirkung herbei, welche die Wissenschaft mit ihren bisherigen Begriffen und Gesetzen nicht abzuleiten vermocht hat.

Ähnliches geschieht bei den Instinkten der Tiere und Menschen. Das Unbegreiflich dieser Instinkte liegt, wie der Verfasser richtig hervorhebt, darin, daß das bewußte Wollen des Geschöpfs zweckmäßige Mittel für einen Zweck realisiert, der für es ein unbewußter ist, und daß auch der Zusammenhang dieser Mittel mit dem Zweck selbst im Allgemeinen dem Geschöpf unbekannt ist. Auch hier hat, wie der Verfasser zeigt, die Wissenschaft das Problem noch nicht zu lösen vermocht; und auch hier bietet der Verfasser die Lösung dadurch, daß er das Unbewußte zu Hilfe nimmt. Im Tier besteht vermöge der All-Einheit des Unbewußten die unbewußte Vorstellung und der unbewußte Wille, sich selbst und seine Gattung durch Fortpflanzung zu erhalten. Die richtigen und besten Mittel dazu liegen in einem allweisen Vorstellen des Unbewußten vor; diese Mittel läßt das Unbewußte zu bewußten Vorstellungen werden; der unbewußte Wille des Zwecks wird damit von selbst ein bewußtes Wollen der Mittel und damit ist der Instinkt fertig und erklärt.

In ähnlicher Weise bietet der Verfasser die Lösung für alle anderen Probleme innerhalb des Gebietes des Leiblichen und Geistigen, und es entsteht nun die Frage: Ist diese vom Verfasser gegebene Lösung wirklich ein Fortschritt in der Erkenntnis des betreffenden Gebietes, enthält sie wirklich eine Erklärung des Vorgangs?

Aller Fortschritt der Erkenntnis des Seienden, alles Erklären und Begreifen eines komplizierten Vorgangs auf leiblichem oder geistigem Gebiet besteht lediglich darin, daß dieser Vorgang als das Resultat mehrerer bereits bekannten, mit, oder auch gegeneinander, nach festen Gesetzen wirkenden einfachen Kräfte und deren Substrate dargelegt wird, oder daß aus einer Reihe von Erfahrungen mittels der Analyse und Induktion ein neues einfaches Gesetz aufgefunden wird, was nunmehr in gleicher Weise zur Erklärung verwickelter Vorgänge und Resultate dienen kann. So war der Tau auf den Pflanzen lange Zeit für die Wissenschaft unbegreiflich und hätte man zu dieser Zeit die Hypothese des Verfassers schon gekannt, so würde man nicht angestanden haben, das Unbewußte zu Hilfe zu nehmen und mittels eines direkten Eingreifens und Ergänzens des allgemeinen Mechanismus und Organismen den zum Bestand und zur Fortbildung der Pflanzen notwendigen Tau vom Unbewußten ebenso beschaffen zu lassen, wie das Unbewußte beim gegenwärtigen Stand der Wissenschaften die Instinkthandlungen der Tiere durch direktes Eingreifen beschafft, um deren Leben und Fortpflanzung zu sichern. Allein diese Hilfe würde sich sofort als eine Täuschung erwiesen haben, als man die einfachen Gesetze des Wasserdampfes und der Wärmestrahlung entdeckte. Nun bedurfte man des Unbewußten zur Erklärung des Taus nicht mehr; der Vorgang war nun aus einfachen Naturgesetzen vollständig zu erklären und man vermochte nun auch einzusehen, weshalb bei Wind oder bedecktem Himmel der Tau ausbleibt, obgleich er da für das Bestehen der Pflanze am notwendigsten ist und deshalb das Unbewußte auch da den Tau eigentlich beschaffen müßte, wenn der Tau wirklich in ihm seine Ursache hätte.

Ganz ähnlich, wie jetzt der Verfasser sein Unbewußtes benutzt, geschah dies früher mit der Lebenskraft. Sie war das Konvolut [Ansammlung - wp] all der durch die damals bekannten einfachen Kräfte und Gesetze nicht erklärbaren organischen Vorgänge, umgewandelt in die Beziehungsform einer Kraft. Diese Lebenskraft entspricht genau dem Unbewußten des Verfassers, welches ebenfalls die Kraft in seinem Willen und die zweckmäßige Leitung dieser Kraft in seinem vernünftigen unbewußten Vorstellen enthält. So wie nun diese Lebenskraft sofort, gleich einem Phantom, verschwunden ist, als durch LIEBIG und Andere die Verdauung, der Stoffwechsel und die tierische Wärme der Organismen auf einfache physikalische und chemische Kräfte und Gesetze zurückgeführt wurden, so dürfte es auch mit der Hypothese des Unbewußten geschehen sein, wenn man diese vor jenen Entdeckungen schon gekannt und dann sicherlich auch für die Erklärung dieser physiologischen Vorgänge benutzt gehabt hätte.

Diese Beispiele lehren, daß die Hypothese des Verfassers keine wissenschaftliche Lösung der Probleme enthält, für welche er sie aufgestellt hat. So bald wie in der Wissenschaft mittels der Beobachtung und Induktion ein neues Gesetz entdeckt wird, oder es gelingt, einem komplizierten, bisher unaufgelösten Vorgang in einfache Gesetze und Kräfte aufzulösen, bedarf es der direkten Hilfe jenes Unbewußten nicht mehr. Nur da, wo die Wissenschaft noch nicht zu den angedeuteten Elementen gelangt ist, kann sich der Schein einer in ihr gebotenen Lösung erhalten. Wenn aber mit Sicherheit der weitere Fortschritt der Wissenschaften, wie auch der Verfasser anerkennt, zu erwarten ist, so wird allmählich diese Aushilfe des Unbewußten immer entbehrlicher werden und sich zuletzt als ein ebensolches Phantom herausstellen, wie dies bereits mit der Lebenskraft und vor dieser mit der qualitas occultae und dem unerkennbaren Wesen der Dinge geschehen ist. In Wahrheit ist diese Hypothese des Unbewußten, statt eine Lösung der Probleme der Wissenschaft, nur ein anderer Name für das zu Lösende selbst. Anstatt den Inhalt der Welt und die in ihm enthaltenen Komplikationen der mannigfachsten Kräfte in deren einfache Elemente und Gesetze aufzulösen und damit das Verständnis dieser Komplikationen zu bieten und so zugleich dem Menschen eine wunderbare neue Macht über das Seiende zu verleihen, behält die Hypothese diese Welt in allen Komplikationen ihres Inhalts unverändert bei und bietet nur anstatt der Seinsform die Wissensform für diesen Inhalt. Dieser selbst ist in beiden genau derselbe und die Schwierigkeit der Reduktion seiner Komplikationen auf einfache Elemente und Gesetze bleibt für diese Welt in der Wissensform genau dieselbe, wie bei der seienden Welt; ja sie ist da noch größer, weil jener vorgestellte Inhalt der Welt im Unbewußten der Wahrnehmung und Beobachtung des Menschen völlig unzugänglich ist, während für die seiende Welt diese Mittel dem Menschen jederzeit zu Gebote stehen. So bleibt der Mensch trotz dieser Hypothese nach wie vor auf die Beobachtung des Seienden und auf die denkende Bearbeitung des so gewonnenen Inhalts angewiesen, um das Ziel der Wissenschaften, d. h. die Auffindung der innerhalb der Welt bestehenden einfachsten Kräfte und Gesetze zu erreichen.

Diese Hypothese ist aber nicht bloß kein Fortschritt in der Erkenntnis, sondern sogar ein Hemmschuh für dieselbe; sie wird zum Schemel für die faule Vernunft, die nur zu gern bereit ist, sich mit einem geheimnisvollen Namen abspeisen zu lassen und so die schwere Mühe der Beobachtung, der Analyse und Induktion sich zu ersparen. Was hindert den Forscher, nunmehr jeden noch unerklärten Vorgang im Sein auf das direkte Eingreifen des Unbewußten zurückzuführen? Was tut diese Hypothese anderes, als mit diesem direkten Eingreifen des Unbewußten das Wunder von Neuem in die Wissenschaft einzuführen, während aller Fortschritt derselben nur dadurch erreicht worden ist, daß man mit unerbittlicher Strenge dieses Mittel von der Wissenschaft ferngehalten hat. Der Verfasser gleicht, indem er seine Hypothese dem Forscher bietet, einem Mann, der einen Anderen im Studium eines Buches vertieft antrifft, in welchem einzelne Sätze nicht in gewöhnlicher, sondern in einer unbekannten Chiffre-Schrift gedruckt sind. Um ihm die Mühe des Dechiffrierens zu ersparen, gibt er ihm ein anderes Buch genau desselben Inhalts, in dem für jene Sätze zwar eine andere, aber doch auch unbekannte Chiffre-Schrift angewendet ist. Nun ist es aber doch die Auffindung des Schlüssels zur Chiffre- Schrift, auf die es ankommt, und hierfür hilft das zweite Buch nicht weiter als das erste.

Ich habe mich bis hier auf den Kern des Systems beschränkt, so verführerisch es auch ist, auf die Bedenken gegen das Einzelne einzugehen. Nur einige der wichtigeren Punkte möchte ich hier noch hervorheben.

1. Man hat bekanntlich am Pessimismus vielfach großen Anstoß genommen, in den das System ausläuft; allein zunächst bleibt ja nach diesem System Alles beim Alten. Solange nicht jener Majoritätsbeschluß für die Aufhebung allen Wollens erreicht ist, proklamiert das System ausdrücklich
    "die Bejahung des Willens zum Leben als das vorläufig Richtige; nur in der vollen Hingabe an das Leben und seine Schmerzen, nicht in feiger persönlicher Entsagung und Zurückziehung ist etwas für den Weltprozeß zu leisten." (Seite 763)
Es bleibt also bis zu diesem in weiter Ferne liegenden Zeitpunkt bei der Arbeit für die Erweiterung der Erkenntnis oder Steigerung des Bewußtseins wie bisher; es bleibt bei den die Schmerzen lindernden Trieben der Liebe und des Mitleids; es bleibt bei den sittlichen Regeln und Rechtsgesetzen, welche ja sämtlich auf eine Minderung der Schmerzen und einer Steigerung des Wohls abzielen und so zeigt sich der bald so verschriene, bald so gefeierte Pessimismus des Systems nur als ein in unabsehbarer Ferne liegendes Ziel. Bis dahin ist vielmehr der Optimismus oder das Streben nach Lust und Erhöhung des Bewußtseins die Pflicht des Einzelnen wie Aller; denn nur dadurch kann jenem Ziel nähergekommen werden.

2. Es ist deshalb zur Zeit auch nur eine Doktorfrage, ob die Summe der Schmerzen in der Welt die Summe ihrer Freuden überwiegt und zu jeder Zeit überwiegen wird; sie bleibt nach dem Verfasser auf Jahrtausende hinaus ohne allen praktischen Einfluß auf das Handeln der Menschen; ja selbst wenn sie gegen ihn entschieden würde, bliebe der Kern seines Systems unerschüttert; es würde nur aus eine Komödie eine Tragödie. Gegen die Ausführungen des Verfassers in Bezug auf diese Frage kann man jedoch immer schon jetzt geltend machen, daß für die Summierung der Schmerzen, namentlich der anderer Individuen, ebenso wie für die Freuden, kein nur einigermaßen sicherer Maßstab besteht, um zu entscheiden, auf welcher Seite das Mehr vorhanden ist.

3. Auch erhebt sich gegen die Art, wie der Verfasser sich die Aufhebung des Willens und die Vernichtung der seienden Welt mit ihren Schmerzen denkt, das Bedenken, daß wenn dies "durch einen Beschluß der Majorität des in der Welt tätigen Geistes, dahin gehend, das Wollen aufzuheben" geschehen soll, er etwas sich Widersprechendes setzt. Denn in einem Beschluß liegt selbst ein Wollen, und ein Wollen nicht zu wollen ist ein contradictio in adjecto [Widerspruch in sich - wp]. Zwei positive oder bestimmte Wollen können einander aufheben, wenn sie die gleichzeitige Ausführung von einander ausschließenden Dingen verlangen; aber ein auf Aufhebung des Wollens gerichtetes Wollen bleibt immer ein Wollen, was, weil es will, sich nicht selbst vernichtet. Deshalb hat SCHOPENHAUER mit großer Vorsicht nur von einer "Verneinung" des Wollens gesprochen; das Verneinen hat die Macht, etwas ganz aufzuheben, aber freilich nur im Denken. Auch erscheint deshalb der Vorschlag SCHOPENHAUERs der richtigere, wenn er nach Art der indischen Heiligen den Willen durch Nichts-Denken und Nichts-Wollen allmählich zum Erlöschen bringen will.

4. Der Name des "Unbewußten" hat für den Laien etwas Zauberhaftes und Geheimnisvolles; er läßt ein Dunkles, Unerforschtes vermuten, in das der Verfasser den Leser einzuführen gedenkt. Nicht bloß die Wißbegierigen, auch die Neugierigen eilen herbei, um die Wunderdinge mit anzuschaun. Näher betrachtet, drängt sich die Frage auf, weshalb der Verfasser überhaupt diesen Namen für sein All-Eins-Wesen gewählt hat? Daß der Wille, als etwas bloß Seiendes, kein Wissen hat, also in dieser Hinsicht unbewußt, d. h. ohne Wissen genannt werden kann, wie der vor mir liegende Stein, ist klar; auch erhält der Wille beim Verfasser den Beinamen des bewußten und unbewußten nur durch die Vorstellung, mit der er sich erfüllt; ist diese unbewußt, so ist es auch der Wille, und ist diese bewußt, so heißt derselbe Wille beim Verfasser ein bewußter. Die Frage konzentriert sich also auf das erste Attribut, auf das unbewußte Vorstellen. Der Verfasser sagt selbst darüber (Seite 3):
    "Es hat mit dem bewußten Vorstellen das gemein, daß beide einen idealen Inhalt besitzen, der selbst keine Realität hat."

    Und Seite 365: "Es ist wahrscheinlich, daß in der unbewußten Vorstellung die Dinge so vorgestellt werden, wie sie ansich sind, nicht in der Form, wie sie dem an die Sinnlichkeit geknüpften Vorstellen erscheinen."
Allein dieser Unterschied träfe ja nur den Inhalt des Vorstellens; der Unterschied des Bewußten und Unbewußten liegt aber in der Art oder Form, wie dieser Inhalt gewußt wird. Als solche Form zeigt sich nun beim bewußten Wissen, daß es
    1) den Inhalt überhaupt in der Form des Wissens hat;

    2) daß es diese Form selbst zugleich weiß, oder daß das Wissen neben seinem Inhalt zugleich sich selbst als Wissen weiß (seiner bewußt ist);

    3) daß das Wissen die vielen zerstreuten und hintereinander aufgenommenen Vorstellungen zusammenfassen und vermöge der ihm einwohnenden Beziehungsformen in der mannigfachsten Weise aufeinander beziehen kann, und

    4) daß das Wissen trotz der Vielheit seines Inhalts und seiner zeitlich getrennt eintretenden Vorstellungen sie doch als Eines weiß.
Von diesem die Form des Wissens betreffenden Bestimmungen besitzt nun das unbewußte Vorstellen des All-Einen nach den Auseinandersetzungen des Verfassers unzweifelhaft die unter 1) 3) und 4) ebenfalls; denn die Vernünftigkeit des Attributs, die wesentlich als Beziehung der einzelnen Vorstellungen in der Form von Mitteln auf andere als Zwecke dargelegt wird, gehört ja zu der Bestimmung unter 3) und die All-Einheit des Unbewußten führt auch zur Bestimmung unter 4). Aber selbst die Bestimmung zu 2) kann dem Vorstellen des Unbewußten nicht abgesprochen werden, weil ja nur dadurch das Herausheben der zweckmäßigen Mittel aus der ganzen Vorstellungsmasse beim aushelfenden Eingreifen des Unbewußten in einzelnen Fällen möglich ist, und weil der Gegensatz des Wollens und Vorstellens in ihm ebenfalls als gewußter enthalten sein muß, da ja das Endziel, die Aufhebung des Willens durch bewußtes Vorstellen nur dadurch von ihm überhaupt vorgestellt werden kann.

In Wahrheit hat also das Vorstellen des Unbewußten alle Bestimmungen, welche das Wissen beim Menschen zu einem Bewußten machen. Wenn dessenungeachtet der Verfasser so streng auf einen Unterschied beider beharrt, so hat dies offenbar andere Gründe. Sie liegen darin, daß das bewußte Wissen des Menschen, welches wir allein kennen,
    1) ein in seinem Inhalt beschränktes ist;

    2) daß es nur einen kleinen Inhalt auf einmal als gegenwärtiges Wissen fassen kann;

    3) daß es deshalb einen zeitlichen Verlauf und Wechsel, oder eine Art von Bewegung in seinem Vorstellen hat;

    4) daß es an die Funktionen leiblicher Organe, insbesondere der Hirnnerven geknüpft ist und ohne gewisse Bewegungen oder Veränderungen in der Lage der Hirnmoleküle nicht zustande kommen kann.
Der Verfasser behandelt diesen letzteren Punkt beinahe im Sinne des Materialismus, so daß man schwankend wird, ob er meint, das bewußte Wissen sei nur diese Hirnfunktion, oder es sei bloß durch eine Art von Kausalnexus mit demselben verknüpft. Offenbar konnte nun der Verfasser für sein All-Eins diese Schranken nicht zulassen und so kam er auf den Namen des "Unbewußten", obgleich es in Wahrheit ein wirkliches bewußtes Vorstellen in der eben angegebenen Weise ist und es nur dadurch sich von einem bewußten Wissen des Menschen unterscheidet, daß es
    1) den ganzen Inhalt der Welt umfaßt,

    2) daß es diesen Inhalt nicht zerstückt und zeitlich in sich aufnimmt,

    3) daß auch sein Denken und Beziehen der einzelnen Teile des Inhalts keinen zeitlichen Verlauf hat und keinem Irrtum unterworfen ist, und

    4) daß es diesen ganzen Inhalt vermöge der Zeit- und Raumlosigkeit in einer noch größeren Einheit trotz dessen unendlicher Mannigfaltigkeit besitzt.
Genau genommen rechtfertigen diese Unterschiede aber nicht den gewählten Namen des Unbewußten; es ist höchstens für den einzelnen Menschen ein Unbewußtes, d. h. seine Tätigkeit wird, während sie geschieht, nicht unmittelbar von diesem so wahrgenommen und gewußt, wie dies bei den, den Sinnen und der Selbstwahrnehmung zugänglichen Gegenständen geschieht. Offenbar ist jedoch der Name von dieser für das Individuum statthabenden Unbewußtheit entnommen; nur rechtfertigt dies nicht die Beibehaltung dieses Namens für das Wesen ansich und ohne Beziehung auf ein wahrnehmbares Subjekt, in dem es wirkt. Deshalb knüpfen sich auch an diesen Namen im gebildeten Publikum die sonderbarsten Erwartungen von dem, was diese neue Philosophie bringen wird, und gerade dieser rätselhafte Name mag dem Werk gar manchen Leser zugeführt haben. Dies in Bezug auf Kapitel C, VIII.

5. hat der Verfasser die von SCHOPENHAUER gesetzte Identität von Wille und Gefühlen in sein System mit übernommen. Allerdings konnte er sie nicht gut entbehren; allein jede unbefangene Selbstwahrnehmung wird dagegen protestieren und ARISTOTELES wie DESCARTES, LOCKE und KANT setzen die Gefühle als ein spezifisch vom Willen Verschiedenes. Der Verfasser selbst definiert die Lust als eine "Befriedigung des Willens" und den Schmerz als das Gegenteil; allein in dem Wort Befriedigung liegt entweder schon das Gefühl der Lust als etwas dem Willen nur sich Anschließendes; oder soll damit bloß die freie, ungehemmte Entfaltung des Willens gemeint sein, so mag diese als Ursache der Lust gelten, aber die Lust selbst als die Wirkung ist dann immer von der Ursache verschieden. Auch haben schon PLATO im Philebos und ARISTOTELES im 7. und 10. Buch der "Nikomachischen Ethik" verschiedene Arten der Lust erörtert, die sich ohne Begehren und Wollen einstellen. Schon daß die Gefühle nach ihren mannigfachen Unterschieden gewußt
werden, zeigt, daß sie zwar seiende Zustände der Seele sind, aber keineswegs die bloße, dem Wissen unzugängliche Seinsform; daß sie vielmehr auch einen mannigfachen, in das Wissen durch Selbstwahrnehmung überzuführenden Inhalt haben, während der Wille dem Verfasser nach nur die nicht wißbare Seinsform repräsentiert; denn Seite 104 sagt derselbe:
    "Das Ideelle ist eben ganz genau dasselbe, wie das Reelle, nur ohne Realität; sowie umgekehrt die Realität an den Dingen das Einzige an denselben ist, was nicht durch das Denken geschaffen werden kann, was über ihren ideellen Inhalt hinausgeht."
Deutlicher wird dies, wenn man, wie im Beginn meines Vortrags geschrieben ist, Inhalt und Form an den Dingen und Vorstellungen unterscheidet; im Inhalt sind beide identisch, oder, wie der Verfasser hier sagt, ganz genau dasselbe; nur in der Form sind sie unterschieden; das Ding hat den Inhalt in der Seinsform, die Vorstellung in der Wissensform; das Wahrnehmen ist die Brücke, auf der dieser Inhalt aus der Seinsform in die Wissensform überfließt. Wenn also dem Verfasser nach der Wille nur das Reale oder das ist, was den vorgestellten Inhalt in die Seinsform überführt, oder was diesen Inhalt zu einem Realen macht, so ist der Wille das Unwißbare, und die Gefühle, die einen wißbaren Inhalt haben, können also nicht dasselbe wie der Wille sein. Die Ausführungen in Kapitel B, III dürften diese Bedenken nicht beseitigen.

6. Indem die Seinsform oder das Reale ansich oder als solches nicht wißbar ist, folgt, daß es auch nicht in verschiedene Arten zerlegt werden kann; denn dies könnte nur vermöge eines verschiedenen Inhaltes desselben möglich sein; das Sein in seiner positiven Natur ist aber dem Wissen unerreichbar. Dessenungeachtet begegnet man im Werk den verschiedensten Arten des Seins; das Unbewußte vor dem Eintritt des actu-Wollens hat ein "Übersein"; das unbewußte Vorstellen als solches hat ein "reines Sein", der Wille vor seinem actu-Wollen hat ein "potentia-Sein"; in seinem Übergang zum actu-Wollen ein leeres Sein; dann ein wirkliches Sein; auch ein latentes, ideales und reales Sein kommt vor. Es ist dies vielleicht nur ein Mangel im Sprachgebrauch; allein, wenn man einmal, wie der Verfasser, zu der Erkenntnis gelangt ist, daß das Sein nur die nicht wißbare Form des Seins an den Dingen ist, und daß die Wissensform seinen konträren Gegensatz bildet, dann sollte man das Wort Sein ausschließlich für diesen strengen Begriff der Seinsform benutzen und mit äußerster Sorgfalt jeden Gebrauch desselben für andere, wenn auch verwandte Begriffe vermeiden.

7. Ein wichtiger Punkt in diesem System ist auch die darin zur Beweisführung benutzte Wahrscheinlichkeit. Ihr Begriff ist der, zur Mathematik gehörigen Rechnung des Wahrscheinlichen entlehnt. Diese Spezialwissenschaft beruth auf dem Grundsatz, daß alles Geschehen in der Welt aus Ursachen nach festen Gesetzen mit Notwendigkeit hervorgeht. Meist ist aber ein Vorgang nicht die Wirkung einer, sondern vieler zusammenwirkender Ursachen, und in vielen Fällen sind die Gesetze für einzelne dieser Ursachen noch unbekannt, oder das Gesetz ist zwar bekannt, aber die Ursachen selbst sind in der Stärke ihrer Wirksamkeit und im Verhältnis ihrer Stärke zu der anderer und zur Stärke hemmender Gegenursachen nicht zu ermitteln. So kann der natürliche Tod eines Menschen aus einer sehr allmählichen und verwickelten Einwirkung sehr zahlreicher Ursachen, die wieder von Gegenursachen zum Teil geschwächt werden, als letztes Resultat hervorgehen. Nun lehrt die Beobachtung, daß bei einer erheblichen Anzahl von Menschen, die in annähernd gleichen Verhältnissen leben, die Zahl der in einem gewissen größeren Zeitraum, z. B. in einem Jahr, sterbenden Menschen sich beinahe gleich bleibt, und daß diese Gleichheit umso genauer eintrifft, je größer die Zahl der in die Beobachtung gezogenen lebenden Menschen ist und je gleicher ihre Lebensverhältnisse, z. B. ihr Lebensalter, ihre Lebensweise, das Land und Klima, in dem sie leben usw., sind. Aus diesem sich so gleich bleibenden Verhältnis der Zahl der lebend in den Zeitraum eintretenden Menschen zu der Zahl der in demselben gestorbenen ergibt sich somit die Wahrscheinlichkeit für den einzelnen Menschen, ob der Tod in diesem Zeitraum ihn treffen wird; sie wird mit einem Bruch bezeichnet, dessen Zähler die Zahl der Toten und dessen Nenner die Zahl der in einem Zeitraum lebend eingetretenen Menschen bildet. Die Wahrscheinlichkeit ist somit immer ein echter Bruch und ihm steht die 1 als die volle Gewißheit gegenüber, welche sich z. B. dann ergibt, wenn regelmäßig alle lebend eingetretenen Menschen innerhalb des Zeitraums alle sterben. Diese Wahrscheinlichkeit und ihre Berechnung erscheint auf den ersten Blick höchst wunderbar und sie wird, näher betrachtet, nur dadurch begreiflich, daß im letzten Grund die Zahl und Stärke der den Tod herbeiführenden und hemmenden Ursachen zwar für die einzelnen Todesfälle schwankt, aber daß diese Schwankungen sich durch die große Anzahl der einzelnen Fälle allmählich so kompensieren, daß die Summe der Wirksamkeit der einzelnen Ursachen für einen ganzen solchen Zeitraum sich gleich bleibt. Nur auf diese Weise ist jene beobachtete Regelmäßigkeit des Resultats möglich, ja notwendig, aus welcher die Wahrscheinlichkeit hervorgeht.

Hieraus folgt zunächst, daß da, wo gar keine Kausalität für gewisse Vorgänge besteht, von Wahrscheinlichkeit nicht gesprochen werden kann. Dessenungeachtet geschieht dies vom Verfasser für die Frage, ob "das Auftauchen des Wollens aus der Potenz" (Seite 798), nachdem er durch den Beschluß der Majorität des bewußten Geistes aus dem Dasein zur bloßen Potenz herabgedrückt worden ist, nochmals zu erwarten sei. Der Verfasser setzt diese Wahrscheinlichkeit gleich ½ weil nur zwei Möglichkeiten vorliegen, entweder daß der Wille wieder auftaucht, oder nicht. Schon diese Wahrscheinlichkeit ist unzulässig, weil dieses Auftauchen des Willens aus der Potenz in das actu-Wollen ein völlig freies oder kausalitätsloses ist. Noch größer ist der Irrtum, wenn der Verfasser meint, die Wahrscheinlichkeit, daß dieses Auftauchen sich n-mal wiederholen wird, sei 1/2n, gleich der Wahrscheinlichkeit, n-mal hintereinander die Kopfseite eines Geldstücks nach oben zu werfen (Seite 799). Dieser Vergleich paßt nicht, weil das Fallen des Geldstücks auf eine bestimmte Seite aus bestimmten Ursachen nach festen Gesetzen hervorgeht, so unter anderen aus der Art des Anfassens des Geldstücks, der Art es zu werfen, der Art, wie der Tisch, auf den es fällt, mit seiner Oberfläche die Bewegung hemmt oder unterstützt usw. Wenngleich alle diese Ursachen und ihre Verschmelzung zu diesem bestimmten Resultat unserem Wissen unerreichbar sind, so ist doch die sich gleich bleibende Zahl der Fälle, wo die Kopfseite oben liegt, für eine große Anzahl von Würfen nur dann möglich, wenn jene Ursachen bestehen, ihre verschiedene Wirksamkeit für den einzelnen Fall sich durch die große Zahl der Fälle ausgleicht und deshalb die Totalität der Fälle sich gleichsam als eine Wirkung aus der einen Totalität des sämtlichen Ursachen darstellt. Wenn also nur beim Dasein der Kausalität der Begriff der Wahrscheinlichkeit überhaupt möglich ist, so erhellt sich, daß die Formeln dieser Wahrscheinlichkeit für jenes durchaus kausalitätslose Auftauchen des Willens aus seiner Potenz nicht anwendbar sind. Hier ist der eine Fall so wahrscheinlich wie der andere, oder vielmehr gilt hier überhaupt keine Wahrscheinlichkeit, sondern nur der reine Zufall, und es gibt deshalb auch gleichgültig, ob schon viele oder wenige Fälle eines solchen Auftauchens vorhergegangen sind.

Ganz dasselbe gilt für die erkenntnistheoretischen Prinzipien der verschiedenen Systeme der Philosophie. Auch hier spricht der Verfasser von einer mehr oder weniger großen Wahrscheinlichkeit derselben und des aus ihnen Abgeleiteten, wenn er auch nicht gerade diese Wahrscheinlichkeit in bestimmten Zahlverhältnissen angibt. Da diese Prinzipien für ein bestimmtes, darauf gestütztes System das Höchste und Erste sind, auf welches das System erst alle seine Beweise stützen kann, so kann dieses höchste Prinzip selbst von System nicht bewiesen werden; es fehlen dafür die Gründe ebenso, wie bei jenem kausalitätslosen Auftauchen des Willens die Ursachen, und es bleibt deshalb der Begriff der Wahrscheinlichkeit für die erkenntnistheoretischen Prinzipien ebenso unanwendbar, wie für jenen Vorgang des Willens.

Aber auch innerhalb eines bestimmten philosophischen Systems ist es bedenklich, die Wahrscheinlichkeitsrechnung in der Weise zu benutzen, wie es vom Verfasser in Kapitel II der Einleitung geschieht. Alles, was aus dem erkenntnistheoretischen Prinzip seiner Vorschrift gemäß in einem System abgeleitet wird, seien es bejahende oder verneinende Sätze, hat an der Wahrheit des Prinzips genau denselben Anteil, wie das Prinzip selbst; alles dagegen, was in dieser Weise daraus weder abgeleitet, noch widerlegt werden kann, ist für dieses System weder wahr noch falsch; es liegt außerhalb des Gebietes, was von seinem Prinzip bestimmt wird; es ist für es ein Grundloses und fällt deshalb, gleich dem Ursachlosen, nicht unter den Begriff des Wahrscheinlichen. Demgemäß hat auch keines der bisherigen bedeutenderen System von diesem Begriff für den aus seinem Prinzip abgeleiteten Inhalt einen Gebrauch gemacht; weder PLATO spricht von einer Wahrscheinlichkeit seiner Ideen, noch ARISTOTELES von einer Wahrscheinlichkeit seines Satzes, daß die Form (eidos) das allein Seiende ist; weder bei SPINOZA, noch bei LEIBNIZ, noch bei KANT, noch bei HEGEL findet sich dieser Begriff auf den eigentlichen Inhalt ihrer Systeme angewendet.

Etwas anderes ist es, wenn das System als ein aus der menschlichen Tätigkeit des Beobachtens und Denkens hervorgegangenes Werk aufgefaßt wird. Die hier wirksamen Tätigkeiten zerfallen dann in verschiedene Arten, bei denen eine verschiedene Stärke bestehen kann, und ebenso besteht in den Gefühlen und Vorurteilen jedes Menschen eine Anzahl hemmender Kräfte, welche jenen entgegentreten und sie auf Abwege zu führen streben, so daß sich das Werk nicht mit Gewißheit als das reine Resultat seines obersten Prinzips entwickeln kann. Bei einer solchen Auflösung eines Systems in einen zeitlichen Vorgang und in eine Wirkung mannigfach fördernder und hemmender Ursachen hat allerdings die Wahrscheinlichkeit ihren Platz; in diesem Sinne ist bekanntlich auch die Wahrscheinlichkeit, ob ein Richterkollegium ein richtiges Urteil fällen wird, ob ein Brief mit oder ohne Adresse in den Briefkasten gelegt wird, schon Gegenstand der Berechnung geworden und in diesem Sinne könnte man auch von der Wahrscheinlichkeit eines philosophischen Satzes sprechen; allein diese ganze Auffassung fällt außerhalb des philosophischen Systems selbst und sogar in diesem Sinne ist die Wahrscheinlichkeit hier nicht zu berechnen, da es an der genügenden Anzahl ähnlicher Fälle hier fehlt, wo aus der Zahl der falschen und der Zahl der richtigen die Größe der Wahrscheinlichkeit bestimmt werden könnte.

Abgesehen von diesen Bedenken scheint auch die Art unrichtig, wie der Verfasser die Wahrscheinlichkeitsrechnung hier für die Frage benutzt, ob ein Vorgang mit größerer Wahrscheinlichkeit auf materielle oder geistige Ursachen zurückzuführen ist. Indem er nur den ersten Fall berechnet und dabei die wirkenden materiellen Ursachen in mehrere voneinander unabhängige zerlegt, deren gemeinsames Zusammentreffen dadurch natürlich viel unwahrscheinlicher wird, als das Eintreten einer einzelnen derselben, gelangt er mit leichter Mühe dahin, die Wahrscheinlichkeit, daß der Vorgang aus materiellen Ursachen entstanden, tief unter die Hälfte herabzudrücken und somit die geistige Ursache beinahe zur Gewißheit zu erheben. Allein dasselbe Verfahren kann gegen ihn gekehrt werden, wenn man umgekehrt mit der geistigen Ursache beginnt. So kann man z. B. nach der Wahrscheinlichkeit fragen, ob ein gebautes Haus auf materielle oder auf geistige Ursachen zurückzuführen ist? Nun würde im letzteren Fall dazu gehören
    1) daß der Erbauer des Hauses die Vorstellung dieses Hauses in seiner Bestimmtheit gehabt hat;

    2) daß ihm der Besitz eines solchen Hauses als etwas Nützliches oder Angenehmes erschienen ist;

    3) daß sich der Wille in genügender Stärke zur Ausführung in ihm eingestellt hat;

    4) daß die mit dieser Ausführung verbundene Mühe und Sorge ihm nicht so große erschienen ist, um den Willen zum Bauen niederzuhalten usw.
Alle diese Umstände sind geistiger Natur und voneinander zumindest ebenso unabhängig, wie die materiellen Umstände in den vom Verfasser benutzten Beispielen. Wenn man also auch die Wahrscheinlichkeit für jede einzelne dieser geistigen Bedingungen sehr hoch, z. B. zu ½ setzt, so würde das gemeinsame Zusammentreffen dieser vier Bedingungen doch nur eine Wahrscheinlichkeit von 1/24, d. h. von 1/16, haben und folgeweise wäre die Wahrscheinlichkeit, daß das Haus lediglich durch materielle Umstände verursacht worden ist, gleich 15/16 oder nahezu gewiß. Dieses Beispiel wird genügen, um die völlige Unzulässigkeit dieser Berechnungsweise darzulegen. Die Berechnung der Wahrscheinlichkeit ist immer nur für solche Fälle anwendbar, die sämtlich unter der Einwirkung derselben Ursachen stehen, und wor nur die Natur oder die Stärke dieser fördernden und hemmenden Ursachen mehr oder weniger unbekannt ist. Man kann also nicht Fälle darunter stellen, deren Ursachen völlig voneinander verschieden sind, und wo selbst dann, wenn man in der Kausalreihe noch weiter zurückgeht, man auf keine gemeinsamen entfernteren Ursachen trifft.

Diese hier zur Probe geübte Kritik gegen die Philosophie des Unbewußten ist ausführlicher geworden, als mein Thema mit sich bringt; jedoch mag die Meisterschaft, mit der dieses System aufgebaut und seine Schwächen verdeckt sind und die große Bedeutung mich entschuldigen, welche es sich bereits in einem gelehrten und gebildeten Publikum errungen hat.

Ich kehre zu meiner eigentlichen Aufgabe zurück. Man könnte 9. dem realistischen Prinzip vielleicht entgegenhalten, daß damit nicht über den Inhalt der besonderen Wissenschaften hinaus zu kommen ist, während es doch gerade die Aufgabe der Philosophie ist, über diese sich zu erheben und hinter dem wechselnden Spiel der wahrgenommenen Welt das Ewige und Unveränderliche zu entschleiern. Hier ist zunächst zuzugeben, daß die realistische Philosophie in weit näherer Verbindung mit den besonderen Wissenschaften bleibt und ihnen eine weit größere Wahrheit zugesteht, als im Idealismus des letzteren sein, daß er durch sein Prinzip eine Kluft zwischen sich und den besonderen Wissenschaften aufreißt, welche nur durch eine Inkonsequenz von ihm überbrückt werden kann. Ohne sich nämlich aus dem Inhalt der besonderen Wissenschaften zu nähren, bleibt er zu einer Monotonie verurteilt, die immer dasselbe Schema wiederholt und die Leere an Inhalt nur durch die Dunkelheit der Darstellung verdeckt. Will sich der Idealismus als Real-Idealismus oder Ideal-Realismus diese Nahrung aus den besonderen Wissenschaften holen, aber dabei doch die HEGELsche Methode der Entwicklung nicht fallen lassen, so müssen solche entgegengesetzte Erkenntnisprinzipien notwendig in Konflikt geraten; es bleibt dann nichts übrig, als diese Konflikte entweder zu verhüllen oder willkürlich bald diesem, bald jenem Prinzip die Oberhand zu lassen, um weder die Erfahrungswissenschaften zu stark vor den Kopf zu stoßen, noch das idealistische Prinzip zu sehr in die Klemme zu bringen.

Es ist allerdings für einen genialen Kopf verführerisch, über diese gemeine wahrnehmbare Wirklichkeit, die jedem Bauern und Bettler offen steht, sich zu erheben, sie als das Seiende zu verleugnen und hinter ihr den Bau des wahrhaft Seienden zu errichten; die Phantasie kann sich da in den Dienst der Wünsche und Gefühle begeben; es schmeichelt der Eitelkeit, als der Baumeister eines so wunderbaren Werkes dazustehen, das vom Publikum angestaunt wird. Auch die Arbeit ist hier weit bequemer, denn man braucht sich nicht zu sorgen, daß diese luftigen Gebilde an den harten Ecken der Erfahrungswelt zerbrechen könnten; man kann hier beliebig nachhelfen, ohne daß das Gebrechliche des Ganzen bemerkt wird; aber dennoch bleibt dergleichen nur ein Spiel des verbindenden Denkens und jeder Nachfolger bläst das Kartenhaus um, freilich nur um mit frischem Mut ein neues, nicht weniger gebrechliches zu bauchen.

Es ist sicherlich gestattet, auch in der Philosophie, wie in den besonderen Wissenschaften, Hypothesen zur Erklärung von noch ungelösten Fragen zu benutzen; in genialen Menschen brechen oft hier und da plötzlich Konzeptionen hervor, die, mögen sie in einem Unbewußten ihre Quelle haben oder nicht, eine neue Wahrheit bieten, nach der man vielleicht seit Jahrhunderten gesucht hat. Auch der Realismus erkennt dies an; allein er begnügt sich nicht bloß mit der Genialität; er beruhigt sich nicht bei der dunklen und widerspruchsvollen Fassung, in welcher der neue Gedanke bei seiner Geburt geboten wird, sondern er verlangt, daß er zur Klarheit und Bestimmtheit durchgearbeitet, aus den Widersprüchen befreit wird, und vor allem, daß er durch seine bis in die Erfahrungswelt reichenden Konsequenzen mit ihr in Übereinstimmung sich zu setzen und für ungelöste Fragen die Lösung in wissenschaftlicher Weise zu bieten vermag. Dies ist die philosophische Probe solcher genialen Hypothesen und Methoden, soweit der einfachere Weg der Beobachtung, der Versuche und der Rechnung, welchen die besonderen Wissenschaften benutzen, in diesen Höhen versagt ist. Was sich bei dieser Probe nicht bewährt, das mag als ein unterhaltendes Spiel gelten, aber nicht als die Wahrheit, noch als ein Weg zu ihr.

Beinahe alle großen Philosophen sind in solche Überschwenglichkeiten geraten; PLATO mit seiner Ideenwelt; ARISTOTELES mit seiner Götterlehre in der Metaphysik; die Stoiker mit der Leugnung des Unterschieds von Tugend und Lust; die Skeptiker mit der Leugnung der Möglichkeit, die Wahrheit zu erreichen; die Scholastiker mit ihren Versuchen, die Mysterien der christlichen Religion mit der Philosophie in Übereinstimmung zu bringen; DESCARTES mit seinem Zweifel an Allem; SPINOZA mit seiner causa sui [Ursache seiner selbst - wp] und der Einheit von Denken und Ausdehnung; LEIBNIZ mit seiner prästabilierten Harmonie zwischen Wissen und Sein; KANT mit seiner Umwandlung des wahrnehmbar Seienden in subjektive Erscheinungen; FICHTE mit seinem Subjekt-Objekt; SCHELLING mit seiner intellektuellen Anschauung; HEGEL mit seinem Prinzip der dialektischen Entwicklung. Kein Philosoph mag natürlich nach solchen Vorgängern heutzutage davon ablassen, den soliden Bau, welchen ihm die besonderen Wissenschaften bieten, mit einer Krone aus Schaumgold zu schmücken; nur diese soll als das Wesen gelten, während er selbst dabei in einem festen Unterbau ruhig wohnen bleibt und hier die Hilfe für alle Notdurft des Lebens zu suchen kein Bedenken trägt. Leider kann der Realismus solchen Richtungen nicht folgen; er meint, es sei auch in einem steinernen Unterbau noch genug Arbeit für den Philosophen vorhanden; er ist auch bereit, den Bau höher zu führen, aber nur nicht mit Schaumgold, sondern mit Quadern, deren Solidität bereits erprobt ist, und in möglichster Harmonie mit dem Unterbau, der von den besonderen Wissenschaften bereits errichtet worden ist. Vor allem weist der Realismus bei seiner Arbeit die Hilfe des verbindenden und phantastischen Denkens oder der im Dienst der Gefühle stehenden Phantasie zurück. Diese Schmeichlerin ruft bald die Gefühl des Lust, bald die sittlichen und die idealen Gefühle des Schönen zu Hilfe; sie sollen als die echten Prüfsteine und die sicherste Bestätigung der Wahrheit gelten. Es ist vielmehr das wesentliche Kennzeichen des realistischen Philosophen, daß er diesen Gefühlen alle Einwirkung auf seine Forschungen versagt, selbst auf die Gefahr hin, seine Resultate als prosaisch und langweilig verschrien zu hören.

Der Realismus in seiner heutigen Gestalt ist endlich 10. nichts Nagelneues, keine Minerva, die aus dem Haupt eines kleinen Jupiter fix und fertig herausgesprungen ist, sondern sein Erkenntnisprinzip hat von jeher in der Welt gegolten, wenn auch die strenge und bewußte Einhaltung desselben erst am Ende des Mittelalters hervorgetreten ist. BACON, LOCKE, HUME, die französischen Enzyklopädisten, selbst der moderne Materialismus haben an seiner Fortbildung gearbeitet. Das Beispiel der neueren Naturwissenschaft, welche mit ihren Mitteln der Beobachtung und der induktiven Methode so große Erfolge erreicht hat, hat den Realismus in seinen Überzeugungen gestärkt, und das Neue, was in letzter Zeit in ihm hinzugekommen ist, ist nur die eingehende Untersuchung der Beziehungsformen und Wissensarten, wodurch erst das Prinzip desselben seine Vollständigkeit und die Fähigkeit erhält, das Apriori auf seine wahre Bedeutung zurückzuführen und sich durch dessen Verbindungen mit dem Aposteriori nicht irreführen zu lassen, noch eines mit dem anderen zu vermengen. Damit hat der Realismus zugleich gezeigt, daß er das Denken bis in seine höchsten Spitzen und bis in seine engsten Verschmelzungen zu verfolgen vermag, und daß kein Vorwurf gegen ihn weniger begründet ist, als der, welchen HEGEL dem Empirismus macht, nämlich "daß er die Kategorien und deren Verbindungen auf eine völlig unkritische und bewußtlose Weise gebraucht".

Wenn man will, kann der neuere Realismus sogar als eine Fortbildung der Lehre HEGELs gelten. Alle großen Gedanken dieses bedeutenden Mannes, wie der von der Identität des Seins und des Wissens, von der objektiven Natur der Begriffe, von der Hohlheit der alten Metaphysik, von der Bedeutung des Sittlichen
    (Gerechtigkeit und Tugend, Unrecht und Laster", sagt Hegel in seiner Enzyklopädie § 345, "haben in der Sphäere der bewußten Wirklichkeit ihren Wert und finden darin ihr Urteil; aber die Weltgeschichte fällt außerhalb dieser Gesichtspunkte; in ihr erhält dasjenige Moment der Idee des Weltgeistes, welches gegenwärtig seine Stufe ist, sein absolutes Recht")
und viele andere Aussprüche HEGELs sind vom Realismus nicht abgewiesen, sondern aufgenommen, aber auch weitergebildet worden, indem er mit Hilfe seines eigenen Prinzips die dunkle und widerspruchsvolle Fassung dieser Gedanken beseitigt hat, das Gemisch von Wahrem und Falschem darin schied und so erst diese großen Gedanken zur vollen Wahrheit in einer klaren widerspruchsfreien Fassung emporhob.

Ich schließe mit dem Wunsch, daß diese Darstellung des dem Realismus zugrunde liegenen Prinzips dazu beitragen möge, seine Anhänger zu vermehren und die mancherlei Mißverständnisse, welche über ihn noch bestehen, zu beseitigen. Nur bei der Einhaltung dieses Prinzips wird es den deutschen Philosophen möglich werden, aus ihrer Isolierung und dem Kreis weniger Eingeweihter und Nachbeter herauszutreten und in einen lebendigen Verkehr nicht allein mit dem gebildeten Publikum, sondern auch mit den Philosophen der anderen Kulturländer zu treten; eine Verbindung, welche beiden Teilen nur zu Segen gereichen kann.

LITERATUR: Julius von Kirchmann, Über das Prinzip des Realismus, Leipzig 1875