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KARL LUDWIG MICHELET
Idealismus und Realismus
[Vortrag gehalten in der Philosophischen
Gesellschaft zu Berlin am 27. März 1875]

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"Mit eiserner Konsquenz hielt der Empirismus an der einzelnen Realität fest. Damit verschwand die Frage nach dem Was oder dem Inhalt der Philosophie; er war von Außen durch die Sinne gegeben. Es entstand nun die Frage, wie kommen wir zur Wahrheit. Aber darin liegt zugleich die große Inkonsequenz des Empirismus. Denn wenn wir zur Erkenntnis des gegebenen Inhalts kommen sollen, so erheben wir ihn aus seiner Einzelheit zur Allgemeinheit. Das ganze Bestreben des Empirismus geht also lediglich darauf, aus dem Realismus sich wieder in den Idealismus zu begeben: aus den realen Einzelheiten allgemeine Gattungsbegriff, allgemeine Gesetze und Grundsätze abzuleiten, die doch erst die gegebene Sinnlichkeit zur Wahrheit machen."

"Denn das, was von den Einzelnen weggelassen wird, um das Gemeinsame zu finden, ist doch offenbar das Unwesentliche und Zufällige, das Gemeinsame aber das Notwendige und Wesentliche. Jenes ist vergänglich, kommt dem einen oder dem anderen Individuum zu; und mit seiner Eigentümlichkeit geht das Einzelne selbst unter. Solange es aber innerhalb dieser Zufälligkeit besteht, verdankt es dieses Bestehen dem Allgemeinn, das in ihm ist, und ohne welches es gar kein Einzelwesen dieser Gattung wäre."

"Die empirischen Wissenschaften, sagt Aristoteles, sind die Sklaven, die Handlanger der Philosophie, der Königin der Wissenschaften; sie müssen ihr das Material herbeischaffen und gehörig vorbereiten, ehe sie es verarbeiten, und zum Bau ihres Tempels verwenden können."

Wenn wir den Idealismus und den Realismus durch die Kopula und verbinden, so sind es Zwei. Dasselbe tritt ein, wenn es heißt, man wolle das Verhältnis des Idealismus zum Realismus angeben. Denn auch zu einem Verhältnis gehören Zwei, die in Beziehung aufeinander stehen. Nun sind es auch offenbar im gemeinen Bewußtsein zwei Begriffe, die einen schroffen Gegensatz bilden. Wenn dagegen die Philosophie behauptet, sie seien absolut eins - res und idea - Begriff und Sache gar nicht voneinander zu trennen, so hört man leicht den Einwand: "Ja, absolut! Im Absoluten sind freilich alle Kühe schwarz. Im Absoluten ist Alles Eins." Und das hat einer der Jenaer Freunde dem andern, als sie am Anfang dieses Jahrhunderts die neuere Deutsche Philosophie, die Philosophie des Absoluten begründeten, zugerufen. Wenn SCHELLING aber die Gegensätze nur in die Einheit zusammenwarf und ihr Auseinandertreten nur für etwas Ideelles ansah, so hat HEGEL die Identität der Gegensätze ungeachtet ihres realen Unterschiedes behauptet, und die Ableitung der Gegensätze aus der Identität selber unternommen.

Jetzt ist leider ein großer Teil der Philosophen selbst dahin gelangt, die Gegensätze absolut auseinander zu halten, also den gemeinen Standpunkt als den philosophischen zu behaupten. Wir sind in unserer gottvergessenen Zeit so weit gekommen, den Standpunkt des Endlichen, bloß Relativen als den allein für uns möglichen auszusprechen. Hier teilen sich aber wieder die Ansichten. Die Einen sagen, das Endliche oder Relative, als das allein Reale, existiert auch allein; das Ideale, Unendliche ist eben ein leeres Ideal, eine bloße Träumerei. Das ist der Empirismus, insofern er notwendig in seiner Konsequenz zum Materialismus und Atheismus fortschreitet. Die Anderen ziehen es vor, in der Geschichte der Philosophie ein Jahrhundert rückwärts bis zu KANT zu gehen, indem sie das Endliche als das allein Erkennbare, also als das allein für uns Reale ansehen, das Unendliche, Ideale aber in eine jenseitige Welt setzen, die uns unerreichbar ist, die wir also nur in der Idee, nur im Glauben haben.

Aber selbst in diesen Ansichten schlagen die Gegensätze, wenn auch mehr bewußtlos, ineinander um. MOLESCHOTT verwahrt sich ausdrücklich dagegen, daß er die Idee verachtet: seine Ansicht vom Stoffwechsel stimmt durchaus mit der Idee HEGELs überein; er halte die idee selbst für das Realste, und seine materielle Weltanschauung sei selbst die höchste ideale. Das ist, was DAVID STRAUSS in seinem letzten Werk über den neuen Glauben ausgeführt und so HEGEL und MOLESCHOTT, Spekulation und Materialismus als identisch gesetzt hat. Nicht minder halten die Kantianer die diesseitige endliche Realität für eine bloße Erscheinung im Bewußtsein (phainomenon) und die jenseitige Idealwelt, die Welt der noumena für die absolut wahre und allein reale. Das innere Gewissen dieser beiden Richtungen steht also auf Seiten der Philosophie, wenn sie es auch nicht mit den Lippen bekennen wollen. Ich will mich aber hier nicht auf HEGEL berufen, weil er verpönt ist und als veraltet verschrien wird, wiewohl der Kritizismus und vollends LOCKE noch älteren Datums sind. Denn die Lehre HEGELs gehört doch unserem Jahrhundert an, während die beiden anderen aus dem 18. und dem 17. stammen. Wenn man es eine eiserne Konsequenz genannt hat, an HEGEL festzuhalten, so hat die ganze Geschichte der Philosophie diese eiserne Konsequenz besessen, an der Identität des Realen und des Idealen festzuhalten.

Ich möchte daher, nach diesen vorläufigen Bemerkungen, erst geschichtlich von den urältesten Zeiten an diese Harmonie der Gegensätze nachweisen, zweitens die szientifisch-dialektische Erörterung derselben vornehmen, um drittens auf die Methoden zu gelangen, die zwecks ihrer Erkenntnis angewendet worden sind.

I. Schon MOSES hat die absolute Identität des Realen und des Idealen ausgesprochen. Er ist also, man mag sagen, was man will, eigentlich schon Hegelianer gewesen. "Gott sprach", heißt es in der Genesis, "es werde Licht; und es ward Licht". Das Wort ist also, nach Philo, das Schöpferische, der logos, auch bei JOHANNES das die Welt Gestaltende. Über diese Stelle sagt Faust:
    Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen.
    Ich muß es anders übersetzen,
    Wenn ich vom Geist erleuchtet bin.
Er schlägt sich also "die Kraft" vor, doch hat er auch dabei seine Bedenken. Wie hätten sich diese ihm vertausendfacht, wenn er die modernen Materialisten mit ihrem "Kraft und Stoff" gekannt hätte! Denn da ist der Dualismus am prägnantesten ausgesprochen, die Identität des Idealismus und Realismus gänzlich aufgehoben. Er schreibt also getrost: "Am Anfang war die Tat." Und das ist das ganz Richtige. In der Tat ist der Zweck und die Kraft, als das Ideale, mit der ausgeführten Handlung, als dem Realen, durchaus eins. So sagt KANT selbst: In der praktischen Vernunft ist die Idee, der Wille, die Freiheit das empirisch Gegebene. Und wenn theoretisch 100 mögliche und 100 wirkliche Taler noch auseinanderfallen, obgleich beide im Begriff volle 100 Taler sind: so ist klar, daß wenn ich sie mir durch meinen Fleiß erwerbe, der Begriff und die Realität absolut identisch sind.

Doch bleiben wir bei der Ordnung der Geschichte der Philosophie. PARMENIDES sagt, Denken und Sein sind Eins: denn nur das Sein ist, das Nichtsein ist nicht; das Denken also Sein, da es nicht Nichtsein ist. Nach HERAKLIT ist die Vernunft das bewegende Prinzip der Welt, in der Alles rückt, nichts einen Augenblick still steht, wie das Feuer. In diese trockene Ausdünstung, welche die allgemeine Vernunft ist, löst sich alles Bestehende immer wieder auf, wie es ewig aus ihr hervorgegangen ist; und die Vernunft des Einzelnen in ihm ist nur ein Teil der die Welt umfassenden allgemeinen. Und nun erschien gar ANAXAGORAS wie "ein Nüchterner unter Faselnden", indem er den Gedanken (nous) in alle Wesen und in die ganze Natur setzte und ihn sowohl zum Prinzip des Erkennens, als auch der Bewegung machte. Darauf kam PLATO, der geradezu die Ideen, die allgemeinen Gattungsbegriffe der Dinge als das ontos on [seiende Sein - wp] als die wahre Substanz derselben faßte. Und sein Schüler ARISTOTELES vollendete durch die Formel: "Das Denken ist das Denken des Denkens" diese Einheit des Realismus und Idealismus, indem er sagte, daß in der Außenwelt der Gedanke das wahrhaft Substantielle ist, daß der Gedanke in uns, indem er die Dinge berührt, sie zu Gedanken macht; so daß also der Gedanke sich selber in den Dingen denkt.

Die Stoiker und die Epikureer freilich und vollends die Skeptiker scheinen diese schöne Harmonie zu zerreißen. Aber es scheint auch nur so. Das ganze Altertum kommt nicht zu diesem Bruch. Denn der logos, der das Universum lenkt, ist bei den Stoikern das Kriterium für die Erkenntnis der realen Welt, und die Richtschnur für das moralische Handeln. Was diesem Gedanken entspricht, ist das objektiv Wahre und Gute; das ihm Widersprechende falsch und böse. Freilich der Empiriker EPIKUR wird dafür gehalten, mit dem Zwiespalt beider Welten Ernst gemacht zu haben. Und wenn seine Vorgänger, LEUKIPP und DEMOKRIT, die Atome, welche die reale Welt bilden, noch für unsichtbar, also für Gedanken ansehen, die aber alles Wirkliche konstituieren, so macht doch wohl EPIKUR nunmehr das sinnliche Sein zum absoluten Kriterium der Wahrheit: Wir erkennen die objektive Welt, wenn ihre Atome so einströmen, wie sie sind. Der Irrtum entsteht aus dem Leeren, aus einer Unterbrechung der einströmenden Atome; wodurch sie eben verrückt, verändert werden, und so unsere Einbildungen und Träume erzeugen. Selbst bei EPIKUR ist aber Geist und Welt noch Eins, die Seele ist selbst eine Anhäufung von Atomen. Der Skeptizismus endlich vernichtet die ganze Außenwelt, als einen Schein; und es bleibt nichts übrig, als das denkende Ich, das sich, wie MARIUS auf die Ruinen von Karthago, auf die Trümmer der Welt setzt, um sich selbst als alles Sein zu denken. Auf diese Weise ist im Grunde auch hier Idealismus und Realismus Eins. Und die Neuplatoniker erweitern nur dieses abstrakte Subjekt zu einer konkreten Idealwelt die ebenso das allein Reale ist, indem sie die materielle Grundlage der realen Welt als das Nichtseiende behaupten, das in seinem trügerischen Wechsel uns unter den Händen verschwindet. Und dabei kehren sie zu den platonisch-aristotelischen Prinzipien von der Einheit der Ideen und des Seienden zurück.

Soweit hatte es die Griechische Philosophie überhaupt gebracht, als mit dem Christentum erst der große Bruch beider Welten eingetreten ist. "Mein Reich ist nicht von dieser Welt", sagte Christus zum erstaunten Heiden PILATUS. In der Philosophie des Mittelalters steht auf der einen Seite die Intellektualwelt, die Welt des Glaubens, das jenseitige Himmelreich, unseren Augen wie durch eine ungeheure Bergkette verdeckt: auf der anderen Seite liegt diesseits die sinnliche Natur, die Welt des Endlichen, Vergänglichen, das irdische Jammertal. Hier, kann man sagen, treten Idealismus und Realismus wirklich auseinander. Das ist die Weltanschauung der modernen Völker, von der sie sich noch nicht ganz befreit haben, die aber die heutige Philosophie zu überwinden bestimmt ist. Am schroffsten stellt sich dieser Gegensatz in der scholastischen Philosophie dar: als der von Glauben und Wissen, Himmel und Erde, Diesseits und Jenseits, Geisterreich und Natur, Allgemeinem und Einzelnem; wobei aber merkmwürdigerweise sogleich die logische Formel HEGELs einschlägt, daß das nur Äußerliche das nur Innerliche und das nur Innerliche das nur Äußerliche ist. Denn diesseits, auf der Erde, in der Natur, im Wissen soll das Reale liegen. Dieses Realste wird aber, als das irdische Jammertal, vielmehr nur zu einem vergänglichen Schein, zu einer vorübergehenden Wohnstätte, zu einem Traum des Nichtseins gemacht, der im Weltgericht zertrümmert zu werden bestimmt ist; also dieses nur äußerliche Dasein ist vielmehr eine nur innerliche Phantasmagorie. Umgekehrt: Himmel, Jenseits, Glaube, Geisterreich, das nur in der Innerlichkeit des Bewußtseins, als ein Ideal zu leben scheint, ist vielmehr das allein Reale; auch hier also ist das nur Innere ein nur Äußeres. Und diese Dialektik tritt am Schlagendsten in den scholastischen Schulen selber zutage, gerade indem sie ihren Gegensatz gegeneinander herauskehren wollen. Das ist mehrhundertjährigen Kampf der Realisten und der Nominalisten zum Vorschein gekommen. Schon ihr Name enthält ein dialektisches Umschlagen der Gegensätze ineinander. Die Realisten sind keineswegs die Anhänger des Realismus, so wenig wie die Nominalisten Idealisten sind. Vielmehr findet gerade das Umgekehrte statt.

Die Realisten behaupten nämliche, daß die universalia, die Ideen, das Allgemeine: der Mensch, das einzig Reale ist. Dieses Allgemeine setzen sie ursprünglich in einen außerweltlichen göttlichen Verstand, noch vor der Erschaffung der einzelnen Dinge: universalia ante rem [Allgemeinbegriffe vor der Realität - wp]. Doch sehr bald mußten sie zu der Einsicht kommen, daß dieses Allgemeine auch in den einzelnen Dingen ist. Die Idee Mensch ist also ein und dieselbe Sache, die in allen Individuen vorhanden ist. Sie setzten also die Ideen als das allein Reale in den Dingen. Davon haben sie ihren Namen, aber ihren Idealismus habe sie nicht mit Konsequenz in seiner Einseitigkeit festhalten können. Konsequenter dagegen sind die Nominalisten verfahren. Sie haben, wie man es jetzt zu hören pflegt, die Ideen bloß für Namen, Worthauche gehalten; und danach sind sie benannt worden. Die Allgemeinheiten sind ihnen nur Schatten, Abbilder der wirklichen Dinge, die wir uns nach der Anschauung derselben in unserem Verstand bilden; daher wurden sie conceptus, universalia post rem [Allgemeinbegriffe nach der Sache - wp] genannt. An dieser Einseitigkeit hielten sie, wie unsere heutigen Empiriker, fest. Und seit WILHELM von OCKHAM ist das die alleinige philosophische Weisheit der Engländer. Ihnen liegt das Einzelne diesseits in der Natur, und das Allgemeine ist selbst nur ein diesseitiges Jenseits der Natur im menschlichen Verstand. Dasa ist also die Art, wie sie den Gegensatz des Diesseits und des Jenseits aufheben, ohne ihn bestehen zu lassen, während die Realisten, indem sie die universalia auch in re [Allgemeinheit in der Sache - wp] nichtsdestoweniger den aufgehobenen Gegensatz von Diesseits und Jenseits auch bestehen lassen. Das Hauptverdienst beider ist aber, den vielköpfigen Gegensatz des Mittelalters auf die einfache Alternative der Allgemeinheit und der Einzelheit zurückgeführt zu haben.

In dieser Form nahm ihn die neuere Philosophie von CARTESIUS bis HEGEL auf, indem sie das Allgemeine mit Recht für ein Produkt des Denkens ansah, dem Einzelnen aber den Charakter des Seins verliehen hat. Damit war zugleich der Gegensatz in seine strengste Formel gefaßt. So erhielt ihn die moderne Welt aus dem Mittelalter, um ihn aufzulösen. Der, welcher den Stier gleich bei den Hörnern faßte, war zuerst DESCARTES durch sein Prinzip: cogito ergo sum! Weil ich denke, so bin ich. Der Fehler ist nur, vom denkenden Ich, von der Einzelheit, die denkt, auszugehen: nicht von einem allgemeinen Gedanken, der identisch mit dem allgemeinen Sein ist. Das lehrt im Gegenteil SPINOZA, Gott zur alleinigen Substanz, in welcher Denken und Ausdehnung identisch sind, machend: Die einzelnen Dinge existieren nicht wahrhaft, sondern nur die allgemeine Substanz, welche von unserem menschlichen Verstand einmal als denkende Sache, das andere Mal als ausgedehnte Sache gefaßt wird. In Wahrheit fallen aber beide Attribute zusammen: ordo et connexio rerum et idearum unus atque idem. [Ordnung und die Verbindung von Idee und Ding ist ein und dasselbe. - wp] Warum es aber die zwei Attribute einer Substanz gibt, hat SPINOZA zu entwickeln unterlassen. Und wenn SCHELLING dessen Philosophie den erhabensten Realismus nennt, so könnte man sie ebenso als den erhabensten Idealismus, ja mit noch mehr Recht bezeichnen, da ihm ja nur die allgemeine Sache Wahrheit hat. Das kommt dann auch an SPINOZAs Nachfolger MALEBRANCHE zum Vorschein, der SPINOZAs seiende Substanz die allgemeine göttliche Idee nennt, in der alles einzelne Sein enthalten ist. LEIBNIZ aber, der der eigentliche Idealist genannt wird, läßt diese allgemeine göttliche Idee, die Totalität der Weltvorstellung, als das bevorzugte Individuum, als die Monade der Monaden, sich in allen Einzelwesen wiederholen, die sich lediglich dadurch voneinander unterscheiden, daß sie diese Totalität nur bis zu einem gewissen Grad an sich ausgebildet haben.

So weit kam die alte Metaphysik, die nur ein künstliches System ist, die Gegensätze von Denken und Sein, Allgemeinheit und Einzelheit miteinander auszusöhnen, wie z. B. in des LEIBNIZ prästabilierter Harmonie. Die Metaphysiker konnten diese Versöhnung aber nicht erreichen, weil sie vom Gegensatz, den ihnen das Mittelalter gegeben hatte, noch ausgegangen sind und damit die Kluft, die sie überbrücken wollten, eine unendliche, also unausfüllbare geblieben ist.

Der Empirismus empörte sich nun dagegen, daß diese zweitausendjährige Arbeit der Philosophie umsonst geschehen ist, daß der Menschengeist so lange Zeit in das Faß der Danaiden [ohne Boden - wp] geschöpft haben sollte. Der Empirismus wollte kurzer Hand all dieser Unerkennbarkeit und Jenseitigkeit, all diesem künstlichen Treiben in Idealen und Hypothesen, womit die Menschheit sich so lange vergeblich abgequält hatte, ein Ende machen. Er ergriff das archimedische dos pou sto [gebt mir einen Angelpunkt - wp]. Er wollte festen Boden haben. Den sah er nur in dieser Welt. Sein Reich ist nicht von jener Welt: hic rhodus, hic salta [Hier und jetzt entscheide dich! - wp] sagte er sich. Mit eiserner Konsquenz hielt er an der einzelnen Realität fest. Damit verschwand die Frage nach dem Was oder dem Inhalt der Philosophie; er war von Außen durch die Sinne gegeben. Es entstand nun die Frage, wie kommen wir zur Wahrheit. Aber darin liegt zugleich die große Inkonsequenz des Empirismus. Denn wenn wir zur Erkenntnis des gegebenen Inhalts kommen sollen, so erheben wir ihn aus seiner Einzelheit zur Allgemeinheit. Das ganze Bestreben des Empirismus geht also lediglich darauf, aus dem Realismus sich wieder in den Idealismus zu begeben: aus den realen Einzelheiten allgemeine Gattungsbegriff, allgemeine Gesetze und Grundsätze abzuleiten, die doch erst die gegebene Sinnlichkeit zur Wahrheit machen. LOCKE wähnte noch auf diese Weise zur höchsten Allgemeinheit, zu Gott gelangen zu können, der doch das allerrealste Wesen sein muß. Indem er aber selber eingestand, daß je höher die Allgemeinheiten werden, desto abstrakter und unwirklicher sie sich auch gestalten müssen, so ist in HOLBACHs Naturalismus die letzte Folgerung dieses LOCKE'schen Wahns gezogen worden. Wie Gott in DIDEROTs Atheismus nur eine leere Vorstellung ist, so identifiziert der Materialismus Denken und Sein vollständig, wenn er das Denken als die Tätigkeit und nach BÜCHNER als eine Sekretion, des Gehirns faßt.

Hat also auf diese Weise der Empirismus, der hartnäckigste Gegner der deutschen Philosophie, ihr in die Hände gearbeitet, und, freilich ohne es zu wollen, die absolute Einheit des Idealismus und Realismus zugegeben, so zieht sie nun bloß das Resultat aus dieser schweren Arbeit des philosophierenden Geistes. In KANT ist noch der mittelalterliche Gegensatz des Diesseits und Jenseits, die Welt der Erscheinungen und das Ding-ansich, nicht vollständig bewältigt. Aber er schaut dem Gegensatz dreist ins Auge, während die meisten seiner Vorgänger seit CARTESIUS ihn mehr nur beiseite liegen gelassen haben. Und er faßt ihn so scharf ins Auge, daß er ihn beinahe überwindet. Denn die Erscheinungen bekommen ihm nur dadurch Realität, daß sie in die apriorischen Kategorien des Verstandes gefaßt werden: d. h. erst das Ideale macht das Reale zum Realen, und dabei bleibt dieses Reale, obgleich unser Objekt, doch nur eine Vorstellung in uns. Das Ding-ansich aber, die Intellektualwelt muß man sich nicht vorstellen, sagt KANT, als eine Welt jenseits der Erscheinungen. Die Gedankendinge sind nur ein Grenzbegriff, damit die Welt der Endlichkeiten sich nicht für die einzige Realität ausgibt. Die Ideen der Vernunft haben zwar keine äußere Realität im Kontext der Erfahrung: d. h. also, nach dem Gesagten, keine Scheinexistenz, aber sie haben Realität in uns; sie sind nach KANT das wahrhaft Seiende, durch unsere Überzeugung unwankend Festgestellte, das Unendliche der Vernunft, das wir aber nicht mit unseren endlichen Kategorien des Verstandes beweisen können. Und nun macht er in der ersten Ausgabe der "Kritik der reinen Vernunft" eine prophetische Hypothese, die FICHTE, SCHELLING und HEGEL zu ihren Systemen geleitet hat: "Es ist nicht unmöglich, daß das ansich seiende Substrat des Universums, das Ding-ansich, und unser Ich ein und dieselbe denkende Substanz sind." Wie sind die heutigen Kantianer mit dieser Perle ihres Meisters umgegangen! Wie sind sie heruntergefallen von der Höhe seiner Spekulation bis tief in den Abgrund des Empirismus! Aber freilich hat er selbst in der zweiten Auflage der "Kritik der reinen Vernunft" ihnen dazu die Anleitung gegeben, indem er dem besonders von REINHOLD ausgehenden Schrei des Entsetzens über seinen Idealismus nicht zu widerstehen vermochte.

FICHTE widerstand ihm nicht nur, sondern drang noch weiter in die Tiefe der Spekulation, den Gegensatz, dessen Bestehen KANT bereits erschüttert hatte, vollends zu versöhnen, und aus der berühmten Hypothese KANTs, dem Pförtchen aller folgenden Wahrheiten, das breite festgemauerte Tor zum Tempel der Wahrheit, den KANT wieder schließen wollte, zu machen. Das Ich, das Eins mit dem Substrat des Universums, als dem Nicht-Ich, sein soll, wurde bei FICHTE die allgemeine denkende Substanz, deren Akzidenzien [Merkmale - wp] alle einzelnen Dinge sind. Das Universum in seinen einzelnen Teilen ist, theoretisch gefaßt, nur die sich stets an jedem Punkt selber einschränkende Denkkraft des absoluten Ich. Die sittliche Handlung dagegen ist nichts Anderes, als ein stetes Aufheben und Weiterschieben der Grenze der Natur, bis das allgemeine Ich alles Sein, bis alle Individuen die göttliche Substanz selber, alle Heiligen ein Heiliger geworden sind. FICHTE verlangt zur Erreichung dieses Ziels freilich einen unendlichen Progress in der Zeit: d. h. das Ziel wird nie erreicht, obgleich es ein unwankender Glaube bleibt.

Diesen letzten Mangel hob nun die Identitätsphilosophie SCHELLINGs auf, indem sie aussprach: Die absolute Vernunft ist die absolute Einheit des Subjekts und des Objekts, des Allgemeinen und des Besonderen, des Idealen und des Realen, der Form und des Wesens; - Die einzelnen Dinge existieren gar nicht ansich, und gehören nur der subjektiven Reflexion an. Die absolute Totalität ist nie aus sich heraus in die Endlichkeit getreten. Das in allen Endlichkeiten sich darstellende, allein reale Unendliche nennt SCHELLING das Ewige. Diese Erkenntnis ist eine ewige Wahrheit und das Wissen der absoluten Identität wieder ein und dasselbe mit dem Sein der absoluten Identität. Das Organ, womit wir diese ewige Wahrheit, die Einheit des Denkens und des Seins erfassen, sei die intellektuelle Anschauung oder ein anschauender Verstand, in welchem eben alles Besondere in die Allgemeinheit zusammengefaßt ist, und die KANT nur der Gottheit zugeschrieben hat, während SCHELLING sie den Philosophen gewährte. Aber um sie zu haben, dazu gehört eine angeborene Natur; wer diese nicht hat, dem ist nicht zu helfen, der ist unfähig, die Philosophie zu fassen.

Diese intellektuelle Anschauung nun in eine sich selbst beweisende Wissenschaft umgesetzt zu haben, und mit der Kraft der antiken platonisch-aristotelischen Dialektik die Koinzidenz der Gegensätze in die Einheit, wie auch ihr Entspringen aus derselben durch eine konsequente Entwicklung des Denkens durchgeführt zu haben, das ist die Stellung HEGELs in der Geschichte der Philosophie, der damit kein System, am wenigsten ein einseitiges, sondern nur die immanente Methode aufgestellt, den Gang der Sache selbst angegeben hat, in welchem alle einzelnen Systeme, durch eine Auflösung ihrer Gegensätze in eine höchste Harmonie verknüpft, das wahrhafte System der Philosophie konstituieren. Realismus, Empirismus, Materialismus bildet somit in der Wahrheit keinen Gegensatz zum Idealismus, zur Spekulation und zum Spiritualismus; und wir sind von selbst dahin gelangt, die wissenschaftliche Auflösung dieser Gegensätze vornehmen zu können.

II. Um diese Gegensätze wissenschaftlich aufzulösen, müssen wir sie auf ihre einfachste Formel zurückführen; und diese Formel ist die, daß der Idealist das Allgemeine, der Realist das Einzelne für das wahrhaft Seiende ausgibt. Der Realist kann sich nicht davon losmachen, mit OCKHAM das Allgemeine für bloße grammatische Begriffe anzusehen; was der Skeptiker DAVID HUME noch dahin präzisiert, daß die Ideen ein matterer, falberer, undeutlicher Abklatsch der Dinge sind. Hier sind also die allgemeinen Ideen, in Widerspruch gegen PLATO, die Abbilder der Dinge, die einzelnen Dinge die Urbilder. Die Idealisten dagegen fallen in den Fehler der Inder und der scholastischen Realisten, Gott die Urbilder der Dinge in seinem Verstand Revue passieren zu lassen, bevor er sich herbeiläßt, die einzelnen Dingen ihnen nachzubilden. Die universalia sind aber weder ante rem, noch post rem; sie sind einzig und allein, um einen Ausdruck der lutherischen Theologie zu gebrauchen: in, cum et sub re [mit und unter der Sache - wp]. Die Konsubstantiationen [Brot und Wein als Leib und Blut - wp] beider bedeutet ihre Simultaneität, ihre Untrennbarkeit. Der Real-Idealist bedeutet ihre Simultaneität, ihre Untrennbarkeit. Der Real-Idealist behauptet, daß das Allgemeine eine leere Abstraktion wäre, wenn es nicht am Einzelnen seine Verwirklichung fände: das Einzelne aber ein bloßer Schein, wenn es nicht das Allgemein als sein Wesen in sich tragen würde. Jedes trägt das Andere; und nur ihre Verbindung bringt hervor, daß sie beide die Wirklichkeit, das wahrhaft Reale sind, während sie beide getrennt zu bloß ideellen Momenten herabsinken. Die wissenschaftliche Erkenntnis, sagt ARISTOTELES, besteht darin, das Allgemeine im Einzelnen zu fassen; das ist zwar schwer zu begreifen, aber ohne das gibt es keine Wissenschaft.

Alles kommt also darauf an, das Verhältnis des Allgemeinen zum Einzelnen festzustellen; und das können wir nicht anders, als indem wir die Entstehungsart des Einen aus dem Andern erforschen. Die Realisten und die Idealisten haben auch über diesen Punkt entgegengesetzte Ansichten, die aber wieder dialektisch ineinander übergehen. Die Realisten sagen, das Einzelne sei die Quelle des Allgemeinen, nicht umgekehrt das Allgemeine die Quelle des Einzelnen. Wir wollen zunächst die Polemik des ARISTOTELES gegen die platonischen Ideen zugeben, - zugeben, daß nicht der Mensch überhaupt der Vater des ACHILLES ist, sondern das Einzelne das Einzelne erzeugt, ACHILLES der Sohn des PELEUS ist und die Einzelnen durch fortlaufende Generation die allgemeine Gattung erhalten. Wir wollen weiter zugeben, daß in der gemeinen Realität aus dem Begriff nicht die Wirklichkeit entspringt, die Philosophie kein Gras kann wachsen machen. Wenn aber in diesen Ansichten das Allgemeine, der Zeit wie der Würde nach, unter dem Einzelnen steht: so müssen wir doch bemerken, daß es dann eher das Gemeinsame, als das Allgemeine genannt zu werden verdient. Indem wir die vielen Einzelnen, welche uns die sinnliche Anschauung darbietet, miteinander vergleichen, lassen wir das, was ihnen eigentümlich ist, und sie voneinander unterscheidet, weg, um das, worin sie sich gleich sind und was allen angehört, in einen gemeinsamen Begriff zusammenzufassen, der grammatisch durch den Namen ausgedrückt wird. Die Sprache ist der Boden, auf welchem dieses Gemeinsame zu Hause ist; es ist die Sache, wie sie sich im Verstand reflektiert, und zwar im Verstand des Einzelnen, als eines Subjekt. Das Objekt dieses Namens oder dieser Vorstellung ist aber die wirkliche Sache, die Sache in der realen Außenwelt; und diese ist, den Realisten zufolge, doch vortrefflicher, als die bloße Vorstellung im menschlichen Verstande. Und da muß wieder das plausible Beispiel herhalten, daß hundert wirkliche Taler besser sind, als hundert mögliche.

Betrachten wir aber die Sache näher, um ihr auf den Grund zu kommen, so möchte sich doch dieses, von den Realisten gerühmte Verhältnis des Einzelnen und des Allgemeinen, das sehr zum Nachteil des Letzteren ausgefallen ist, in sein Gegenteil verkehren, und dem Allgemeinen, wenn wir auch noch ganz von seinem Ursprung absehen, ein höherer Wert, als dem Einzelnen, beigemessen werden müssen. Denn das, was von den Einzelnen weggelassen wird, um das Gemeinsame zu finden, ist doch offenbar das Unwesentliche und Zufällige, das Gemeinsame aber das Notwendige und Wesentliche. Jenes ist vergänglich, kommt dem einen oder dem anderen Individuum zu; und mit seiner Eigentümlichkeit geht das Einzelne selbst unter. Solange es aber innerhalb dieser Zufälligkeit besteht, verdankt es dieses Bestehen dem Allgemeinn, das in ihm ist, und ohne welches es gar kein Einzelwesen dieser Gattung wäre. Da also dieses Allgemein keinem Einzelnen fehlen kann, so ist es, obgleich nach den Realisten nur für uns im subjektiven Verstand post rem entstanden, doch auch ihrem eigenen Zugeständnis zufolge objektiv in re. Sie werden notwendig zu Ideal-Realisten werden.

Aber freilich haftet diesem Allgemeinen, wegen seiner Entstehung als eines empirisch aus der Anschauung abzuleitendem, ein unvertilgbarer Makel an. Denn wenn wir den Realisten zugeben müssen, daß die reinen Idealisten Unrecht haben, das Allgemeine aus einem ewigen, göttlichen Verstand entspringen zu lassen, so ist es, als ein subjektiv im menschlichen Verstand und noch dazu aus dem vergänglichen Stoff der sinnlichen Einzelheiten gebildetes, sehr schwankender Natur. Weil die Einzelheiten sich stets verändern, und immer andere mit neuen Eigenschaften hinzukommen, so teilt das daraus abgeleitete Allgemein den Mangel dieser Zufälligkeiten. Es ist zufällig, ob die wesentlichen Seiten, die in den vorhandenen Einzelheiten enthalten sind, auch schon alle von uns herausgefunden wurden: ja, ob neu hinzukommende Individuen uns nicht noch neue Seiten darbieten werden, die den bereits beobachteten Einzelheiten gänzlich fehlen. Zu dieser äußeren Zufälligkeit der noch nicht vorhandenen, oder, wenn sie auch vorhanden sind, uns entgangenen wesentliche Merkmale kommt noch die subjektive Zufälligkeit, die Willkür des Beobachters im Auffassen der Gegenstände, sein Irrtum usw. So ist es auch schon oft vorgekommen, und wird immer vorkommen, daß die gefundenen Allgemeinen, Gattungen, Gesetze und Grundsätze durch neue Entdeckungen, genauerer Beobachtungen umgestoßen werden, um anderen Funden Platz zu machen.

So sind die von der Erfahrung aufgestellten Allgemeinheiten und Gesetze selber vergänglich. Damit hören sie aber auf, ewige Wahrheiten und Gegenstand der Wissenschaft zu sein. Sie sind nur Kenntnisse, deren man gar nicht einmal sicher ist, keine Erkenntnisse. Und die empirischen Wissenschaften haben großes Unrecht, sich zu rühmen, exakte Wissenschaften zu sein. Sie sind vielmehr das Allerungenaueste, was es gibt, da genau genommen keines ihrer Gesetze auf absolute Dauer und Festigkeit Anspruch erheben kann, solange es nur a posteriori auf dem Weg der Erfahrung gewonnen worden ist. Ich nehme selbst das GALILEIs Gesetz des Falls die drei Analogien KEPLERs nicht aus. Neuere Erfahrungen könnten in GALILEIs Gesetz das Biquadrat an die Stelle des Quadrats setzen. Neu aufgefundene Planeten, deren es jetzt so viele gibt, könnten nach einem anderen Gesetz, als nach dem A³ : a³ = T² : t², ihren Umlauf ziehen; und überhaupt ist dasselne noch lange nich an allen längst bekannten Himmelskörpern nachgewiesen. Solche Gesetze sind also, namentlich in ihrer Allgemeinheit, etwas nur Vorläufiges; ebenso verhält es sich mit den Arten und Gattungen, unter welche die Individuen subsumiert werden. Die sogenannten exakten Wissenschaften sind also in Wahrheit ein blindes Herumtappen im Finstern; und es lohnt sich kaum der Mühe, in den ephemeren Lehrbüchern solche kurzlebigen Wahrheiten zu verzeichnen. Das Mittel, dessen die empirischen Wissenschaften sich bedienen, um dem Übel abzuhelfen, ist schlimmer als dieses selbst. Sie machen Hypotheses, die, als ein a priori vorausgesetztes Allgemeines, um so wahrscheinlicher werden sollen, je mehr neue stets hinzuströmende Einzelheiten sie bestätigen werden. Da dieser Strom aber nie versiegt, so teilen sie die Vorläufigkeit jener Gesetze und Grundsätze; und haben noch überdies den Nachteil, gar nicht einmal, wie diese, durch Erfahrung begründet zu sein, wie wenn man die Schwingungen der Töne auf die Schwingungen des Äthers überträgt, der ja selber eine Hypothese ist.

Solche vorläufige, hypothetische Allgemeinheiten können wir nur relative Allgemeinheiten nennen. Da, wenn sie das höchste Erreichbare in der menschlichen Wissenschaft sind, es überhaupt keine Wissenschaft gibt: so muß, soll Wissenschaft und Erkenntnis möglich sein, ein anderes Allgemeines vorhanden sein, das nicht von den Einzelheiten abhängt, sondern von welchem diese abhängig sind und aus dem sie entspringen. Das ist nun das absolut Allgemeine. Wenn ich dieses kenne, so weiß ich das Wesentliche aller Einzelheiten, die darunter begriffen sind, ohne sie der Reihe nach untersucht zu haben. Wer dieses Allgemeine kennt, sagt ARISTOTELES daher mit Recht, weiß am Meisten, weil er in eine Erkenntnis viele zusammenfaßt. Diese Erkenntnis ist zwar die schwerste und letzte, wohin wir der Zeit nach kommen, aber zugleich der Würde nach die Erste. Das Erkennen des an und für sich Allgemeinen ist das ansich Wissbarste, wenn auch für uns die sinnlichen Einzelheiten, als das Erste, das sich uns darbietet, wissbarer erscheinen. In Wahrheit geben uns die Sinne aber gar keine Erkenntnis, weil sie nur zu oft täuschen, bei jedem Menschen anders modifiziert sind und damit auch seine Kenntnisse modifizieren. Aber wenn das Denken auch als das bei allen Menschen Gleiche angenommen wird, welches das Allgemeine hervorbringt, je unreiner es ist, je mehr es noch mit dem Stoff der sinnlichen Anschauung durchsetzt ist, und also an allen Mängeln derselben Teil hat.

Um nun das Denken in seiner ungetrübten Reinheit zu erhalten, müssen wir vom einzelnen Subjekt abstrahieren. Das vom subjektiven Denken hervorgebrachte Allgemeine kann eben noch ein relatives sein, wenn hier das Denken selbst noch an die Einzelheiten anknüpft, und so zur bloßen Vorstellung herabfällt. Wenn wir aber an die Stelle des gedachten Allgemeinen ein seiendes Allgemeines setzen, so können wir das einen objektiven Gedanken nennen; und der ist unwandelbar derselbe, und keiner Täuschung unterworfen, wenn er sich in uns spiegelt. Es ist also gar nicht wahr, daß der Einzelne den Einzelnen, PELEUS den ACHILLES zeugt. Sondern das Allgemeine in PELEUS, die Gattung Mensch ist es, aus welcher ACHILLES hervorgehtk, wenn sie sich auch des Vaters als des Mittels bedient, um ihre zeugende Kraft zur Wirksamkeit zu bringen. Ebenso wenn aus dem Samenkorn die Pflanze hervorgeht, so ist es das Allgemeine, die in ihm verborgene Gattung, welche diese Einzelheiten ans Tageslicht treten läßt. So kommen wir also wieder auf den platonischen Gedanken zurück, daß die Ideen die Prinzipien aller Dinge sin. Wenn aber ARISTOTELES diese Gattungsbegriffe als unfruchtbar darstellt, indem des Allgemeinen Niemand der Sohn ist, so wollen wir nicht auf die überschwengliche Darstellung der christlichen Dogmatik zurückgreifen, daß der heilige Geist, d. h. das Allgemeine, ausschließlich Christus gezeugt hat; sondern es genügt die ganz einfache Reflexion, daß das Einzelne selbst mit der zeugenden Kraft des Allgemeinen ausgestattet ist. Und schon hier erhellt die absolute Einheit des Allgemeinen und des Einzelnen, welche wir später noch als die absolute Grundlage der Wahrheit werden festzusetzen haben.

Aber, könnte hier eingewendet werden, dieses sogenannte absolute, objektive Allgemeine sei ebenso schwankend und veränderlich, wie das subjektive oder sogenannte bloß relative Allgemein der empirischen Wissenschaften. Das ist die Lehre DARWINS, welche, um der Schöpfungstheorie zu entgehen, die Wandelbarkeit der Arten und Gattungen im langen Lauf der Zeiten durch den Kampf ums Dasein, durch Wahl und Züchtung behauptet. Wo hat sich aber empirisch eine solche Abänderung gezeigt? Der Übergang des Affen in den Menschen ist eine ganz in der Luft schwebende Hypothese, die durch die genaue Untersuchung der Schädeldifferenzen auf das Glänzendste widerlegt worden ist. Es ist wahr, alte Arten sind ausgestorben, neuere an die Stelle getreten. Aber das sind lediglich unwesentliche Änderungen in einzelnen Merkmalen, Verzweigungen einer Gattung in mehrere Arten und dgl. Höchsten untergeordnete Tier- oder Pflanzenarten können ineinander übergehen, wie Holothurien [Seegurken - wp] oder Conferven [Fadenalge - wp], weil sie eben mehr nur die unbestimmte Allgemeinheit eines Organismus sind, der sich noch so oder so zu individualisieren vermag. Wenn aber JOHANNES MÜLLER schon bedenklich und ängstlich wurde, als die Frage der Wandelbarkeit der Holothurie an ihn herangetreten ist, so ist es wahrhaft leichtsinnig und unverantwortlich von DARWIN, aller Erfahrung ins Gesicht schlagend, den Menschen aus dem Affen hervorgehen zu lassen. Wir wollen so wenig, wie DARWIN, eine bewußte Schöpfung in der Zeit befürworten. Aber um ihr zu entgehen, hilft DARWINs Hypothese nicht, der dann wieder nach dem Ursprung des Affen zu fragen hat, bis der Ahnherr des Menschen zu einer scheußlichen Molluske [Schnecken, Muscheln - wp] geworden ist. Und was kann DARWIN antworten, wenn wir fragen: Woher kommen diese? Es bleibt also nichts übrig, wegen der wesentlichen Konstanz der Arten und ihrer Unwandelbarkeit für die Zukunft, auch ihre Dauerbarkeit in der Vergangenheit, nämlich eine ewige Schöpfung, - will sagen: keine, d. h. die Unentstehbarkeit der Gattungen anzunehmen. Es liegt im Begriff des Allgemeinen, dem Schicksal der Einzelheiten nicht unterworfen, - ewig zu sein.

Wenn VIRCHOW einen Mittelweg einzuschlagen scheint, indem er Alles aus einer Zelle ableitet, Alles für Modifikationen der Urzelle ausgibt, so hat er zwar der absoluten Allgemeinheit die höchste Ehre erwiesen, denn die Urzelle ist das absolute, objektive Allgemeine, aus der Alles entspringt. Er steht also auf dem Standpunkt der Identität des Idealismus und des Realismus, des Allgemeinen und des Einzelen, indem er alles Einzelne, Reale in das ideale Allgemeine von Urbeginn an eingeschlossen denkt. Die Urzelle ist eben nur der Gedanke des Organismus, der sich realisiert; und das akzeptieren wir dankbarst. Wir behaupten auch, daß das Allgemeinste, als die Totalität des Seins, sich besondert, und alle Besonderheiten sich vereinzeln. Der Mangel VIRCHOWs ist nur, eine solche erste, noch ganz abstrakte Allgemeinheit als ein Wesen für sich vorausgesetzt zu haben, und alle Realitäten der Zeit nach aus ihr ableiten zu wollen. Wir behaupten, daß diese Ableitung eine im Begriff vorzunehmende ist, daß es aber keine Zeit gegeben hat, wo die Besonderheiten empirisch aus der ersten Allgemeinheit entsprungen sind. Die zeitliche Entwicklung betrifft nur das stete Hervorgehen neuer Einzelheiten aus ihren Gattungen und Arten; wodurch in jedem Augenblick der Real-Idealismus sich bewährt, in jedem Augenblick Allgemeines und Einzelnes, Denken und Sein sich identisch setzen. Und diese Identität ist nicht nur eine in der Philosophie mit Notwendigkeit zu entwickelnde, sondern die empirische Wissenschaft selbst kann nicht umhin, sei es in ihrer Beschreibung des Ursprungs des relativ Allgemeinen aus dem Einzelnen, sei es in ihrer Hypothese der Geburt aller Einzelheiten aus der Urzelle, diese Identität als das Resultat ihrer Untersuchungen zu behaupten. Da also die Philosophie und der Empirismus darin übereinstimmen, das Allgemeine im Einzelnen, das Einzelne im Allgemeinen zu suchen, so scheint die Differenz nicht das Was, sondern nur das Wie zu betreffen; der Streit reduziert sich auf eine Meinungsverschiedenheit über die Methode und das sollte der dritte Punkt meiner Untersuchung zu sein.

III. Der ganze Gegensatz zwischen Spekulation und Empirismus betrifft also nur die Methode, durch welche beide zur Einheit des Realismus und des Idealismus kommen, obgleich freilich dieser Unterschied der Methode auch auf die inhaltliche Bedeutung, die beide Richtungen dem Allgemeinen und dem Einzelnen geben, nicht ohne Einfluß bleibten kann. Es handelt sich zunächst nur darum, ob die Idee oder das Objekt als das Erste zu setzen ist, woraus, wie aus einer Quelle, die andere Seite fließt. Die Methode, die Idee aus dem Objekt abzuleiten, nennen wir nun die Induktion; sie ist die Methode der empirischen Wissenschaften. Der umgekehrte Weg, das Objekt aus der Idee abzuleiten, ist die Methode der Spekulation, deren Instrument die Dialektik ist. Es ist die uralte Methode, die schon ARISTOTELES kennt, aber nicht vereinzelt angewendet wissen will, sondern nur in Verbindung mit der Induktion. Doch hält er die Induktion mit Recht für unfähig, die Prinzipien, das erste, allem Übrigen zugrunde liegende Sein zu erkennen. Denn wenn uns die Induktion auch auf allgemeine Gesetze und Grundsätze leitet, aus denen sich dann durch ein umgekehrtes Verfahren die Einzelheiten, kraft der Beweisführung, ergeben: so können wir auf diesem Weg darum nicht zu den Prinzipien kommen, weil diese beweisenden Wissenschaften, wie ARISTOTELES sie nennt, in einem fehlerhaften Zirkel befangen sind. Einzelheiten aus Grundsätzen, die selbst ihren Ursprung diesen Einzelheiten verdanken, erschließen zu wollen, da Einzelheiten aber zufällig sind, und ihre Reihe in den Progress ins Unendliche fällt, so ist auch eine solche Wissenschaft diesem Progress hingegeben, und dazu verdammt, immer nur von Endlichkeiten zu Endlichkeiten weiter zu schreiten. Ein solches Objekt kann nie zur Norm gemacht werden, weil es immer nur eine zufällige Einzelheit ist, und höchstens durch die Induktion zu einer relativen Allgemeinheit aufgespreizt wird. Die Regel kann immer nur das absolut Allgemeine sein, das nicht aus den Objekten entspringt, aber doch als das wahrhaft Objektive, alle Dinge aus dem Denken erzeugt.

Diese zeugende Kraft des Denkens wird nun Dialektik genannt. Ihr setzen die Realisten aber gleich den Einwand entgegen, daß sie in ihrer Vermessenheit, wie der göttliche Gedanke, schöpferisch sein will: daß sie titanisch den Himmel zu stürmen unternimmt, indem sie aus dem Begriff die Realität, um einen kantischen Ausdruck zu gebrauchen, herauszuklauben sucht. Das soll eine metabasis eis allo genos [willkürlicher Sprung auf eine andere logische Ebene - wp] sein, ein Übergehen aus einem Gebiet in ein anderes, ganz heterogenes. Aber erstens tut das vielmehr der Realismus. Er spinnt aus der Realität Gedanken heraus, indem er Einzelnes in die Allgemeinheit erhebt. Dieses Fehlers macht sich nun die Dialektik keineswegs schuldig. Sie spinnt nur Gedanken aus Gedanken; sie bleibt in ihrem Gebiet, im Gebiet des Allgemeinen. Die Dialektik trennt und eint die Gedanken, wie PLATO sagt; sie setzt Sein und Nichtsein einander entgegen, und verknüpft sie auch wieder im Werden. Dann ist sie, sagt man, ein müßiges Spiel. Ja, das wäre sie, wenn Gedanken nur Gedanken wären. Aber wir sind keine Dualisten, und haben sogar gezeigt, daß es auch die Realisten, im Grunde genommen, nicht sind. Wenn die Materialisten behaupten, das Denken sei nur eine Sekretion des Gehirns, so können wir mit eben demselben Recht sagen, die Dinge sind nur Sekretionen des Gedankens. Und wir können es mit mehr Recht sagen, da der Gedanke schon an und für sich das Objekte, das allgemeine Objekt ist, dessen Modifikation die einzelnen Dinge sind.

So haben beide Richtungen, obgleich sie entgegengesetzte Methoden befolgen, doch von entgegengesetzten Standpunkten aus denselben Mittelpunkt erreicht. Beiden haben den Dualismus aufgehoben, und damit den Zwiespalt unter sich aufgegeben. Alle einzelnen Menschen, die den Realisten zufolge im Gehirn des Menschen zusammenfallen, als der vorgestellte allgemeine Mensch, sind ebensowohl der Mensch ansich, die seiende Gattung, welche, als das Erste, sich zu allen einzelnen Menschen besondert. Die Tätigkeit im Gehirn, als der gedanklichen Materie, ist identisch mit der Tätigkeit im Samenkorn, als dem materialisierten Gedanken. Ein und dasselbe Prinzip, sagt BRUNO, denkt in uns und bildet im Stein. Die Eigenschaften der Dinge sind subjektive Allgemeinheiten in uns. Die Materie ist der allgemeine Gedanke, der allen einzelnen Qualitäten der Dinge zugrunde liegt. Die Materie und der Gedanke sind beide dieselbe unendliche Substanz, nur das eine Mal angesehen als die unendliche Vielheit der Dinge, das andere Mal als ihre zusammengefaßte Einheit im System der Wissenschaft. Wenn SPINOZA nicht wußte, warum diese absolute Substanz jene zwei Attribute hat, so antwortet die Dialektik, daß die Harmonie der Gegensätze nicht im Gedanken entstehen kann, wenn dieselben nicht im Universum auseinandertreten und sich bekämpfen. Nur aus dem Dualismus entspringt der Monismus, aus der Dualität der Materie der Monotheismus der Vernunft.

Der Empirismus und die Spekulation sind also einig, könnte man sagen; denn es ist gleichgültig, womit angefangen wird. Nein! Sie sind zumindest bis jetzt noch nicht zur Einigung gekommen; und wenn sie dahin gelangen wollen, müssen sie ihre unterschiedenen Wege nicht für gleichgültig ansehen, noch die Alternative des Entweder-Oder aufstellen, sondern zum Bewußtsein dieses Gegensatzes kommen, beide Methoden für notwendig halten, um die Wahrheit zu erkennen, und ihr Verhältnis zueinander bei der Erforschung der Wahrheit angeben. Die Philosophie darf nicht mit sich selbst anfangen, als ob sie idealistisch die ganze Welt bloß aus dem Gedanken heraus deduzieren wollte. Der Philosoph, der Idealist ist selbst ein Einzelner; und weil er ein solcher ist, muß er auch mit dem einzelnen Objekt beginnen, mit dem für uns Erkennende, bevor wir zum an und für sich Erkennbaren schreiten. Denn durch jenes wird uns das Auge für dieses geschärft, wie ARISTOTELES sagt. Wir werden die Prinzipien, das Allgemeine nie erkennen, wenn wir nicht einen großen Schatz empirischer Kenntnisse gesammtelt haben, mit desto größerer Sicherheit werden wir uns auch zur Erkenntnis der Prinzip durch die Dialektik wenden können. Die empirischen Wissenschaften, sagt ARISTOTELES, sind die Sklaven, die Handlanger der Philosophie, der Königin der Wissenschaften; sie müssen ihr das Material herbeischaffen und gehörig vorbereiten, ehe sie es verarbeiten, und zum Bau ihres Tempels verwenden können. Dieses Material sind nun jene relativen Allgemeinheiten, mit denen die Empirie schon das philosophische Tun beginnt, die sinnlichen Objekte in Gedanken zu erheben. Aber sie kann dies freilich nur halb und unvollkommen tun, weil diese Gesetze, als a posteriori gefunden, der letzten Sicherheit und Allgemeingültigkeit ermangeln; und wenn die Empirie sich durch ihre Hypothesen in das aprioristische Gebiet versteigt, so werden ihre Schritte in einem Gebiet, das nicht das ihrige ist, noch unsicherer und schwankender.

Hat der Philosoph aber diesen reichen Schatz der Erfahrung gesammelt, so läßt er ihn einstweilen in seinem Gedächtnis sorgfältig aufbewahrt ruhen. Und nimmt nun, um mit HERAKLIT zu sprechen, den hodos ano [Der Weg hinauf und hinab ist ein und derselbe. - wp] genugsam betreten hat. Hier fängt er nicht mit dem Einzelnsten an, um sich zu immer höheren Allgemeinheiten zu erheben, sondern mit dem Allerallgemeinsten, also etwa dem Sein - versteht sich als Gedanke des Seins -, um zu immer konkreteren Einzelheiten herabzusteigen. Es ist der Weg der Philosophie derselbe, nach ARISTOTELES, der auch in den Kampfspielen vorkommt: von den Schranken zur Säule und von der Säule zu den Schranken. Wenn sich im Empirismus das Allgemeinste, als das letzte Resultat der Abstraktion, immer mehr ausgeleert zu haben scheint, so erfüllt es sich im umgekehrten Weg der Dialektik immer mehr mit Einzelheiten. Denn durch dieses stete Scheiden und Einen der Gedanken verdichten sie sich immer mehr und werden nicht zu konkreten Dingen, aber zu konkreteren Gedanken der Dinge. Die Dinge selber braucht die Philosophie nicht erst zu machen, denn sie sind schon da. Und es ist unter ihrer Würde, dieselben in ihrer Einzelheit, Unwesentlichkeit, Zufälligkeit zu machen; sie schafft aus dem Gedanken den Gedanken derselben, das Wesentliche, Notwendige. Ist die Philosophie also in ihrer dialektischen Deduktion bis zu den Gesetzen von GALILEI oder KEPLER gekommen, so beweist sie aus der innersten Natur der Materie, aus der betreffenden Bewegung, als diesem bestimmten Verhältnis von Raum und Zeit: daß der Fall eine Beschleunigung nach dem Quadrat der Zeiten ist, daß in der himmlischen, absolut freien Bewegung der Cubus der Bahn sich zum Quadrat der Umlaufzeit verhalten muß. Steht dies durch den Gedanken fest, hat die Dialektik irrtumslos das wahre Verhältnis aufgedeckt, dann können keine neu aufgefundenen Einzelheiten diese ewige Wahrheit mehr stören, und wir wenden mit Zuversicht auch auf alle unbekannten und noch zu entdeckenden Himmelskörper das so bestätigte Gesetz an.

Aber weil die Möglichkeit eines dialektischen Irrtums so wenig ausgeschlossen ist, wie die eines Fehlers in der Beobachtung, so müssen sich die beiden Richtungen gegenseitig kontrollieren. Diese wechselseitige Bewährung besteht darin, daß stets die Erfahrung darüber wachen muß, daß keine dialektische Aufstellung der Erfahrung widerspricht: die Dialektik hat darauch zu achten, daß die Erfahrung nicht durch einseitige Beobachtung, gewagte Analogien, luftige Hypothesen etwas als Tatsachen ausgibt, was keine Tatsachen sind. Tatsache ist nur das nach allen Seiten hin beobachtete Objekt: das, was von ihm übrig bleibt, nachdem die Dialektik die an den verschiedenen Seiten etwa sich herauskehrenden Widersprüche gelöst hat. Wahre Dialektik ist nur, daß das subjektive Belieben sich seiner willkürlichen Gedankensprünge ganz entäußert, und lediglich dem objektiven Gang der Sache von Gedanken zu Gedanken lauscht; so daß das Subjekt nur das formelle Gefäß, die Weise der Tätigkeit ist, in welchem der Rhythmus des objektiven Gedankens an und für sich mit schöpferischer Kraft fortschreitet. In diesem Sinne hat ARISTOTELES Dialektik und Empirie auf das Höchste versöhnt. Und HEGEL zieht mit Recht aus seinem Verfahren den Schluß: Die totale Empirie ist die Spekulation selbst; nämlich alle Seiten der objektiven Einzelheiten, in Harmonie gebracht, sind der allgemeine Gedanke.

Wenn ich durch diese Erörterung die Einigung zwischen Empirikern und Philosophen unserer Zeit sollte angebahnt haben, so wären meine kühnsten Wünsche in Erfüllung gegangen.
LITERATUR - Karl Ludwig Michelet, Idealismus und Realismus, Vortrag, Verhandlungen der Philosophischen Gesellschaft zu Berlin, 1875