tb-1cr-2StaudingerB. KerryTh. AchelisA. MeinongC. GöringR. Eucken    
 
FRANZ STAUDINGER
Zur Grundlegung
des Erfahrungsbegriffs

[2/2]

"Wenn ich mir in einem ganz empirischen Beispiel alles um den Schwerpunkt einer Pyramide wegdenke und den bloßen Schwerpunkt zurückbehalte, so bleibt mir der bloße Begriff eines Schwerpunkts, dessen reale Bedeutung aber nunmehr ohne die Pyramide = nichts ist. So ist der transzendentale Gegenstand  = X  auch nur gewissermaßen der Kristallisationspunkt, welcher übrig bleibt, wenn ich mir von irgendwelchen konkreten Gegenständen sämtliche Empfindungsinhalte wegdenke. Der Gedanke eines solchen Dings-ansich ist unvermeidlich, sobald ich einmal eingesehen habe, daß die Sinnesqualitäten nicht dem Ding außerhalb von mir angehören. Denn nun werden diese Qualitäten von dem, worauf sie sich beziehen, getrennt, und mein Verstand sagt mir, daß sie bloße Vorstellungen sind, schränkt also die Sinnlichkeit dahin ein, daß sie mir nicht länger vorspiegeln darf, ihre Qualitäten seien die Dinge selber, oder doch an den Dingen selber. Und das Ding selber? Ja, wenn wir unsere sinnlichen Vorstellungen davon entfernen, so bleibt uns nichts übrig; wir beziehen sie auf  Etwas.  Was aber dieses Etwas sein soll, würden wir nicht verstehen, wenn es uns auch jemand sagen könnte, da das  Etwas  nur durch sinnliche Vorstellungen  Etwas  für uns wird."


II.

Bei all dem können wir uns KANT nicht so einfach ergeben. Sein Erfahrungsbegriff scheint uns nach mehrerlei Seiten anfechtbar. Wir wollen nur einige das Fundament der kantischen Lehre berührenden Einwürfe machen.

Zunächst müssen wir feststellen, daß das kantische Wort "Erfahrung", ebenso wie "Erkenntnis", "Anschauung", "Wahrnehmung", "Raum", "Zeit", "Begriff" etc. zwei ganz verschiedene Bedeutungen in sich schließt, deren ungesondertes Beisammensein in diesem einen Wort zu mancherlei tiefgreifenden Fehler Anlaß geboten hat. Wenn (Kb 124) von "Bedingungen des Denken  zu  einer möglichen Erfahrung" (Kb 113) vom reinen Denken  bei  jeder Erfahrung, (Kb 106) von einer Synthesis  vor  aller Erfahrung die Rede ist; wenn (Kb 170) Erfahrung eine empirische Erkenntnis genannt wird, "die durch Wahrnehmungen ein Objekt  bestimmt",  wenn vom Gegenstand der Erfahrung, der Bedingung der Erfahrung die Rede ist: so ist ganz unmöglich, an das zu Erfahrende, den Inhalt der Erfahrung zu denken, vielmehr kann Erfahrung in jenen Stellen nur als Aktus, als Erfahren aufgefaßt werden. Was sollte ein reines Denken  bei  einem Erfahrungsinhalt statt beim Aktus bedeuten. An anderen Stellen dagegen ist es genau umgekehrt. Die Erfahrung als Produkt des Verstandes aus Materialien der Sinnlichkeit betrifft bloß das Resultat, nicht den Aktus. Wenn es nur  "eine  Erfahrung" gibt (Kb 123), so kann diese unmöglich ein Aktus, sondern bloß das Resultat verschiedener Tätigkeiten sein. Kann ich schließlich etwas von der Erfahrung entlehen, so kann wiederum nur der Inbegriff des Erfahrenen gemeint sein. Die Belege ließen sich für sämtliche oben angeführten Begriffe ins Zahllose häufen. Nun meinten freilich Manche, daß zumindest bei einer  Erkenntnis  KANT selber schon "die Erkenntnisse" und "die Erkenntnis" unterschieden hat (22), doch läßt sich, wie auch VAIHINGER andeutet, diese Ansicht nicht halten.

Uns interessiert jedoch nur, inwiefern die Grundgedanken KANTs davon beeinflußt, inwieweit Unzuträglichkeiten durch jene Scheidung bloßgedeckt werden möchten. Wenn ich eben durch eine Gedankenkette von meinem Kanarienvogel an ein Schiff, das die Heimat dieser Vögel besucht, dadurch an Afrika, dadurch an einen Neger, den ich kürzlich gesehen habe, erinnert werde, so mache ich mir vielleicht nachträglich diesen Gedankengang zum Objekt. Aber ich finde dann zwar eine mir mehr oder weniger interessante Assoziationskette, doch gehört keine Tätigkeit des Geistes, die von einem zum andern Gegenstand führt, wesentlich zum Begriff der Objekte, die ich im Geist vor mir hatte. Bei den sogenannten reinen Verstandesbegriffen bleibt es aber nicht bei der auffassenden Tätigkeit des Geistes allein. Der Inhalt der sogenannten apriorischen Begriffe verschwindet nämlich nicht, sobald der betreffende Gegenstand, das Resultat, das ich durch den Begriff mit erreichen wollte, erreicht ist. Der Inhalt fährt fort, einen integrierenden Teil des Resultates zu bilden. Die Substanz ist nicht bloß ein Begriff, durch den ich eine Empfindung auf ihren Gegenstand beziehe, sondern bleibt der gebildeten Vorstellung zugrunde liegen. Der Raum ist nach KANT ursprünglich nichts als "die Art, wie das Subjekt affiziert wird" (Kb 657f), also nur Etwas, was während des Affiziertwerdens im Subjekt vorgeht. Egal, ob man zu diesem Anschauen nicht bereits eine Tätigkeit des Subjekts voraussetzen muß; der Raum ist immerhin zunächst nichts, was objektiv angeschaut wird, sondern eine Art, wie ich anschaue, eine Form, "durch" (Kb 51) welche ich anschaue.

Wenn ich nun aber den vollendeten Erfahrungsgegenstand ansehe, so sehe ich nicht ihn durch den Raum, sondern im Raum, begreife ihn nicht durch die Substanz, sondern als Substanz, und ich kann den spezifischen Inhalt meines Gegenstandes wegdenke und bloß den Raum, den er erfüllte, als Objekt anschauen und Sätze darüber bilden, die nachher auch für den wieder hereingedachten Gegenstand gültig sein sollen.

Da fragt sich dann freilich sehr, ob diese Erkenntnisse wirklich so bloß formal (23) sind, wie sie nach KANT sein sollen. Da fragt sich aber ferner, in welcher Beziehung einzig von einem apriorischen Ursprung jener Erkenntnisse geredet werden könnte. Wenn ich an die Handlung des Geistes denke, vermöge deren Dinge durch jene Formen erkannt werden, so mag es nahe liegen, deren Ursprung, da er nicht in der Empfindung KANTs zu liegen scheint, in uns zu suchen. Trennen wir aber Handlung und Erfolg, sehen, wir, wie seltsam diese Formen auch im Resultat der Tätigkeit bleiben, so werden wir wohl mißtrauisch dagegen, daß diese Formen bloße Arten der Affektion, bloße Formen der Auffassung sein sollen, und sehen, daß sie letzten Endes doch mehr sind (24). Aber woher dies nehmen?

KANT hat, das betrachten wir zum zweiten, zwischen Wahrnehmungsurteilen und Erfahrungsurteilen unterschieden und wir durften diesen Unterschied gewissermaßen in Schutz nehmen. Erstere sind Urteile, die zur Bildung der Erfahrung dienen, aber nur die Tendenz verraten, in das Erfahrungsganze aufgenommen zu werden, letztere vollziehen diese Aufnahme in das Erfahrungsganze.

Was aber fragen wir, ist dieses Erfahrungsganze? Wenn eine Anzahl Gesichts-, Gehör, Tastempfindungen hier und da kompliziert sind, so gehören sie auch zur Einheit der Apperzeption, sofern sie mir gegenständlich bewußt sind. Es sind aber vielleicht einzelne Dinge, deren raumzeitlicher Zusammenhang noch gar nicht fest bestimmt ist. Ist das nun Erfahrung? Dem einzelnen Ding gegenüber ist vielleicht Folgendes ein Wahrnehmungsurteil: So oft ich jenes "Weiß" sehe, kann ich "Kalt" fühlen. Diese und ähnliche vielleicht nie ausgesprochene Wahrnehmungsurteile würden dann das Erfahrungsurteil bilden: "Jenes Weiße ist kalt". - Nun sehe ich weiter neben jenem Weißen ein Graues. Die Tastempfindungen, verbunden mit Innervations- [Nervenimpulse - wp] und Muskelgefühlen, belehrt mich über eine andere Eigenschaft, von Etwas, das ich andere Richtung nenne: "So oft ich jenen Schnee sehe, hat er eine graue Unterbrechung" - "So oft ich jene Unterbrechung befühle, finde ich eine andere Richtung." - Aha - "An der senkrechten Seite des Steines liegt kein Schnee." - Da haben wir den Zusammenhang im Raum durch ein neues "Erfahrungsurteil" vervollständigt. Nun sage ich: "So oft ich senkrechte Wände beobachte, finde ich keinen Schnee." - Freilich: "Die Schwere läßt den Schnee an der senkrechten Wand nicht haften." In dieser Weise kann jedes Wahrnehmungsurteil nach Erkenntnis des Zusammenhangs zum Erfahrungsurteil gemacht, das Erfahrungsurteil aber zwecks Auffindung neuer Zusammenhänge als Wahrnehmungsurteil gefaßt werden. So könnte im Obigen weiter nach der Ursache der Schwere gefragt und so die alten Erfahrungsurteile zu neuen Wahrnehmungsurteilen gestaltet werden. Erfahrung ist also nicht abgeschlossen, sobald jedes Ding einmal in Raum, Zeit, Kausalität etc. aufgenommen ist; die Frage kann weiter gehen. Gibt es nun auch ein ursprüngliches, allen anderen zugrunde liegendes Wahrnehmungsurteil?

Unser dritter und Haupteinwand behauptet, daß KANT nicht festgestellt hat, was denn nun eigentliche die Bedeutung des Empfindungs- und Vorstellungsinhaltes verbürgt. Wir sahen bei der vorläufigen Auseinandersetzung in der Einleitung, daß nicht die Vorstellung selber der Gegenstand ist, sondern das, was sie vorstellt. In der  Beziehung  auf einen Gegenstand liegt also, wie KANT selbst einsieht und nachdrücklich behauptet (Kb 154, 122 und öfter), die objektive Realität (25) des Gegenstandes verbürgt. Das ist ziemlich selbstverständlich, aber doch verbirgt der erkenntnistheoretische Köder eine metaphysische Angel.

Wodurch wird nämlich diese Beziehung hergestellt und worauf beziehen wir? Wir sollten nach verschiedenen Äußerungen KANTs denken, Empfindung ist das, worauf jene Beziehung beruth. Denn Empfindung setzt ja nach KANT die wirkliche Gegenwart des Gegenstandes voraus (Kb 74), enthält das Reale der Erscheinungen (Kb. 164f, 316; Prolegomena § 26), die äußere Wahrnehmung, die mit Empfindung begleitete Vorstellung (Kb 669), Bewußtsein, in dem zugleich Empfindung ist (Kb 169), bezeugt die Wirklichkeit dieses Gegenstandes unmittelbar (Kb 209, 318).

In der Tat ist es unstreitig KANTs Ansicht, daß wir durch unsere sinnlichen Vorstellungen wirkliche Dinge erkennen; und es ist ganz falsch, das transsubjektive Ding, auf welches sich jene Vorstellungen beziehen, ohne Weiteres mit dem "Ding-ansich" zusammenzuwerfen. Das "Ding-ansich" ist zunächst ganz nüchtern als das Ding aufzufassen, welches, abgesehen von einem Teil unserer Erkenntnisbedingungen, dennoch erkannt (Kb 56), welches  gar nicht  als Gegenstand der Sinne, sondern lediglich durch einen reinen Verstand gedacht werden soll (Kb 235). Dies ist, wie KANT mit Recht sagt, = nichts. Wenn ich mir in einem ganz empirischen Beispiel alles um den Schwerpunkt einer Pyramide wegdenke und den bloßen Schwerpunkt zurückbehalte, so bleibt mir der bloße Begriff eines Schwerpunkts, dessen reale Bedeutung aber nunmehr ohne die Pyramide = nichts ist. So ist der transzendentale Gegenstand  = X  auch nur gewissermaßen der Kristallisationspunkt, welcher übrig bleibt, wenn ich mir von irgendwelchen konkreten Gegenständen sämtliche Empfindungsinhalte wegdenke. Der Gedanke eines solchen Dings-ansich ist unvermeidlich, sobald ich einmal eingesehen habe, daß die Sinnesqualitäten nicht dem Ding außerhalb von mir angehören. Denn nun werden diese Qualitäten von dem, worauf sie sich beziehen, getrennt, und mein Verstand sagt mir, daß sie bloße Vorstellungen sind, schränkt also die Sinnlichkeit dahin ein, daß sie mir nicht länger vorspiegeln darf, ihre Qualitäten seien die Dinge selber, oder doch an den Dingen selber (26). Und das Ding selber? Ja, wenn wir unsere sinnlichen Vorstellungen davon entfernen, so bleibt uns nichts übrig; wir beziehen sie auf "Etwas". Was aber dieses Etwas sein soll, würden wir nicht verstehen, wenn es uns auch jemand sagen könnte (Kb 250), da das "Etwas" nur durch sinnliche Vorstellungen "Etwas" für uns wird. Wenn man in diesem streng erkenntnistheoretischen Sinn denkt, wird man auch Äußerungen wie die, daß die Natur bis zu ihren tiefsten Gründen nur Vorstellung ist, daß die Erscheinungen nur Vorstellungen sind, nicht metaphysisch deutend dahin mißverstehen, daß KANT einen exklusiven Subjektivismus gelehrt hat. So falsch jedoch eine solche Auffassung von KANTs Ansicht ist, so sehr er von dieser Seite aus Recht hat, wenn er gegen den Vorwurf eines höheren Idealismus Einsprache erhebt, so muß man doch sagen, daß gerade derartige Aussprüche auf ein Gebiet hinüberführen, wo sich KANTs Grundansicht verdunkelt und nun als Beweis herangezogen werden für eine ganz andere Seite seines Gedankengangs, die tatsächlich in die von ihm selber entworfene Anschauung hinüberspielt.

Die erkenntnistheoretische Frage richtet sich auf einen wirklichen, von uns unabhängig existierenden Gegenstand. KANT nimmt einen solchen zweifellos an und weist nur in unzähligen, ontologisch-subjektivistisch gedeuteten Stellen die Bemühungen zurück, ihn auch  erkenntnistheoretisch  von uns unabhängig zu machen, einen Gegenstand, abgesehen von uns unseren Erkenntnisbedingungen, doch erkennen zu wollen. Nun fragen wir aber weiter, worin die erkenntnistheoretische Beziehung auf den von uns unabhängigen Gegenstand besteht und was sie herstellt. KANT hat ganz richtig gedacht, daß die Beziehung unserer Vorstellungen auf einen Gegenstand leer bleibt, sobald die sinnlichen Vorstellungsinhalte schwinden. Weil aber nun bei jeder Vorstellung eines Gegenstandes, sei sie welche sie wolle, nur gewissermaßen ein Kristallisationspunkt bleibt, und dieser nichts ist, wenn ich die sinnlichen Vorstellungen entferne, so meint KANT, dieser Einheitspunkt ist überall "einerlei" (Kb 122). Diese Beziehung aber ist "nichts Anderes, als die notwendige Einheit des Bewußtseins", die auch "synthetische Einheit der Apperzeption" genannt wird.

An diesem Punkt gilt es aufzumerken; hier ist eine offenbare Verwechslung erkenntnistheoretischer und metaphysischer Gedanken, die den unachtsamen Anhänger KANTs unrettbar in den bloßen Phänomenalismus oder Idealismus hinüberführt. Zunächst haben wir viele Objekte des Bewußtseins, dagegen nur ein Ich, welches sie sammelt. Es bliebe doch abzuwarten, ob das  X,  das der Abstraktion von einem Haus entstammt, dem das der Abstraktion von einem Vogel entstammt, ohne weiteres einerlei ist, und ob es zu einer Einheit des Bewußtseins in anderer Beziehung steht, als schon die ist, welche die Zusammengehörigkeit auch objektiv auseinanderliegender Vorstellungs teile  in einem Bewußtsein beisammen sein läßt. Ganz richtig ist nach KANT die Einheit der Apperzeption als Grundbedingung des Erkennens dargestellt. Freilich können wir ohne Einheit des Bewußtseins auch keine Einheit in den Objekten herstellen, und wenn unser Bewußtsein das Mannigfaltige der Anschauung nicht in seiner Einheit sammeln und ordnen könnte, läge alles zerstreut umher. Damit ist aber noch lange nicht gesagt, daß diese Einheit eine rein "objektive" Verstandeserkenntnis ist (Kb 663), und noch weniger, daß die Einheit, welche den Gegenstand notwendig macht, nun dieser Einheit des Bewußtseins gleich ist. Wenn es (Kb 663) heißt, die synthetische Einheit des Bewußtseins ist eine objektive Bedingung aller Erkenntnis, unter der jede Anschauung stehen muß, um für mich Objekt zu werden, so ist daran soviel wahr, daß ich ohne Kontinuität meines Bewußtseins auch keine Objekte erkennen könnte. Dagegen greift KANT (Kb 664) über das erkenntnistheoretische Gebiet hinaus, wenn er behauptet, diese "transzendentale Einheit der Apperzeption", die "ursprüngliche Einheit des Bewußtseins" soll nur auch die "objektive Einheit des Selbstbewußtseins" sein, nämlich die, durch welche alles in einer Anschauung gegebene Mannigfaltige in einen  Begriff vom Objekt  vereinigt ist (27). Ursprünglich war diese "ursprüngliche Einheit der Apperzeption" (freilich nicht die empirische Einheit, die ich erhalte, wenn ich mein Ich als Objekt vorstelle, sondern) bloß das "Ich denke", das alle meine Vorstellungen "muß begleiten können", also das aktive Ich, das vorstellt, aber nicht vorgestellt wird. Mit welchem Recht wird nun diese Einheit im Verlauf auf die objektive Seite hinübereskamotiert [hinübergezaubert - wp] und zur Einheit des Gegenstandes gemacht? Oben sahen wir, wir Raum, Zeit, Kategorien zuerst flüssige Formen, durch die wir den Gegenstand vorstellen, dann aber feste materiale Inhalte der gewordenen Gegenstände sind. Sollte hier eine unbewußte Analogie davon gemacht und die rein subjektive Einheit "Ich denke" den Objekten nicht bloß als Sammelpunkt für mein Bewußtsein, sondern ein Sammelpunkt für sie selber untergeschoben sein? Die Einheit der Objekti ist ja tatsächlich eine ganz andere als die Einheit des Ich, in dem jene Objekte vorgestellt werden. Nur dazu, daß sie in einem Ich vorgestellt werden, ist im Ich ein ausreichender Grund zu finden; wie aber im Ich ein ausreichender Grund dafür gefunden werden soll, daß die Empfindungsinhalte nicht isoliert schon Gegenstände vorstellen, sondern sich untereinander zu Dingen zusammenschließen, bleibt mir aus KANTs transzendentalen Deduktionen ganz unverständlich. Man wird hier nicht falsch verstehen. Daß sich verschiedene Vorstellungen in  diesem  oder  jenem  Ding treffen, ist auch nach KANT eine empirische Frage; für transzendental erklärt er nur die Frage, warum sich  überhaupt  verschiedene Vorstellungsinhalte in der Vorstellung eines Dings treffen. Man sieht ganz deutlich, seiner Gewöhnung nach kann es ihm gar nicht einfallen, daß schon der einzelne Vorstellungsinhalt, bzw. Emfindungsinhalt das Dingbewußtsein in sich schließt. Daß sich die Vorstellungen "weiß", "süß", "hart" etc. zu dem speziellen Ding "Zucker" verbinden, ist eine rein empirische Frage, daß sie sich überhaupt verbinden müssen, um ein Ding zu geben, ist die erkenntnistheoretische Voraussetzung KANTs; und dafür meint er den Grund in uns zu finden.

In der Tat haben wir wohl eine ursprüngliche Einheit der Apperzeption, aber diese ist keine objektive Einheit; wir haben vielmehr so viele objektive Einheiten, wie wir Dinge erkennen. Und dabei stimmen im Großen und Ganzen die Menschen im Wesentlichen in der Bildung jener Einheiten überein. Da müßten wir dann wohl prästabilierte [vorgefertigte - wp] Harmonien zwischen den verschiedenen Menschen selber annehmen. Ein Mensch, der nun, wie der, von dem CASPARI ("Grundprobleme der Erkenntnistätigkeit) berichtet, zwei alternierende, aber in sich geschlossene Einheiten des Bewußtseins, die sich aber auf die von beiden im Wesentlichen gleich aufgefaßten Dinge beziehen, hat, müßte demnach noch eine höhere Einheit des Bewußtseins haben; oder die transzendentale Einheit jeder Bewußtseinsreihe dürfte das Bewußtseins, nicht aber die Komplikation zu Objekten betroffen haben. Nicht der Begriff jenes  X  möchte "die Einheit des Gegenstandes" auf irgendeine Weise möglich machen (Kb 119), sondern die Einheit des von uns unabhängigen Gegenstandes möchte umgekehrt jenen Begriff in einem Bewußtsein möglich machen.

Die Frage: Auf was beziehen wir, kann also nicht dadurch gelöst werden, daß wir den Begriff von einem unbestimmten jenseitigen Gegenstand  X,  der abgelöst vom Vorstellungsinhalt überall derselbe bleibt, der transzendentalen Einheit des Bewußtseins gleichsetzen. Die Konsequenzen einer solchen Beziehung sind völlig verwüstend für die kritische Philosophie. Mag sie immerhin die Korrelativität ihrer Grundansicht betonen, immer wird man wieder beistimmend oder verwerfend den durch jene Beziehung hervorgerufenen Schein des höheren Idealismus in den Vordergrund rücken. Die Behauptung (Kb 123, 133, 237 und öfter), daß unserem Wissensbedürfnis vollkommen Genüge getan ist, wenn die formale Einheit der Erfahrung, der durchgängige Zusammenhang der Erscheinungen hergestellt ist, kann uns, wie wir unten noch weiter ausführen werden, wohl über die Wahrheit irgendeiner einzelnen Erfahrung beruhigen, beantwortet aber nicht die allgemeine Frage, ob denn nun tatsächlich eine Beziehung auf ein "Außer uns" vorliegt. Und wenn KANT eine solche Frage als unstatthaft abweist, da wir doch nicht außer uns denken und empfinden könnten, so ist die Frage: Woher die  Beziehung  auf ein Außer uns kommt damit unterdrückt, aber nicht beantwortet.

Betrachten wir nun aber gar einen solchen Gegenstand KANTs inhaltlich näher, so ist darin alles Wesentliche durch den Verstand gemacht, Substanz, Kausalität, Einheit, Raumbegrenzung etc. etc., kurz Alles, was den Gegenstand ausmacht, ist vom Verstand zu der völlig nichtssagenden Empfindungsqualität hinzugedacht. Der Einwand, jene Formen seien rein Formal, sind bloß unsere Auffassungsformen, kann nichts mehr verschlagen, da, wie wir sahen, diese Formen durchaus nicht formal, auffassend bleiben, sondern auf einmal das Wesentliche, ja das Wesentlichste des Inhalts im Objekt ausmachen. Da muß uns vor allem sehr wegen ihrer ursprünglichen Formalität bange werden, und wir fangen an zu vermuten, daß diesen so merkwürdig veranlagten Auffassungenformen eine sehr materiale Bedeutung schon von Anbeginn innewohnt, zumal wenn wir dahintergekommen sind, daß der vollkommen willkürliche Schluß von der ursprünglichen auf die objektive Bewußtseinseinheit ein Hauptmoment auch für den Beweis der objektiven Gültigkeit der apriorischen, im Subjekt entsprungenen Formen bildet.

In der Tat hat die Geschichte der kantischen Philosophie die in ihr liegenden Widersprüche grell herausgehoben. Auf der letztgenannten dogmatischen Bahn schritt die idealistische Entwicklungsreihe weiter. Das Denken ist nicht bloß formal, sondern auch inhaltlich bestimmend; der Naturphilosoph kann,
    "weil er die Natur zur Selbständigkeit erhebt und sich selbst konstruieren läßt, nie in die Notwendigkeit kommen, die konstruierte Natur (d. h. die Erfahrung) jener entgegenzustellen, jene nach ihr zu korrigieren." (SCHELLING, Werke II, Seite 97)
Aber auch HERBART und SCHOPENHAUER brachten nur eine Seite KANTs zur Ausgestaltung. HERBART, der freilich eine Empfindung der Erfahrung zugrunde legt, will die Aussagen derselben doch nicht bloß formell, sondern inhaltlich bearbeiten, SCHOPENHAUER, der eine mehr formale Auffassung der Erfahrung vertritt, der an manchen Stellen, wenn er vom Verhältnis von Gehirn und Geist, vom Aufrechtsehen etc. spricht, überempiristisch wird, läßt sich doch im Prinzip die Welt als bloße Vorstellung bestehen, und glaubt von dem ganz davon differenten Ding-ansich auf einem gar nicht erkenntnismäßigen Weg eine Erkenntnis zu haben.

Der Empirismus durfte diesen Versuchen gegenüber sein Haupt wieder erheben und auf konkreter Unterlage beginnend den Erkenntnisbau aufzurichten suchen. Empirismus und Apriorismus werden dann auch heute noch vielfach als Losungswort für zwei ganz entgegengesetzte Parteistandpunkte angesehen; und die Anhänger dieser verschiedenen Richtungen werfen sich leicht vor, daß die Gegner ihre wahren Meinungen entstellen. (28) Dennoch liegen in jenen Worten durchaus nicht die eigentlichen Gegensätze verborgen. Ein Apriorist, wie KANT, kann, wie EUCKEN treffend bemerkt (29), recht wohl als Genosse des Empirismus gelten, wie er dann auch wohl den Vorwurf eines höheren Idealismus, nicht aber den des Empirismus weit von sich wies. Ein Empirist wie AFRICAN SPIR kann dagegen ganz wohl in dieselbe Rubrik mit BERKELEY registriert werden (30). Auch im Gegensatz von Induktion und Analyse, wie EUCKEN meint, scheint mir nicht der Unterschied zu liegen. Es ist mir keine Induktion ohne vorgängige Analyse der Fälle, aus denen ich eine Regel ziehen will, und umgekehrt keine Anwendung der durch Induktion gewonnenen Regel ohne erstere denkbar. Wie schnell oder wie langsam wir von der gemeinsamen Unterlage der konkreten Welt zu allgemeinen Sätzen über sie gelangen, das ist zu sehr Sache des individuellen Naturells, der Übung, des Gefühls für die Schwierigkeiten, wie des sicheren Blicks für die hervorstechenden Eigentümlichkeiten usw., als daß man darauf prinzipielle Unterschiede begründen könnte.

Der prinzipielle Unterschied liegt einzig in der Frage nach der Bedeutung unseres Vorstellens und Denkens. Doch scheint uns diese nicht genugsam formuliert, wenn wir sie stellen: Welchen Anteil hat der Geist an der Gestaltung der Erfahrung? (EUCKEN, a. a. O. Seite 40), oder wenn wir, wie GÖRING (I, Seite 395) nach dem Verhältnis des Denkens zur Wahrnehmung und dem Erkenntniswert des unbewußten Denkens forschen. Das ganze Erkennen, die ganze Erfahrung als solche ist ja durch die idealistischen und skeptischen Einwürfe in Frage gestellt.  Was verbürgt  unserer Erkenntnis eine reale Beziehung auf etwas von uns Unabhängiges? Das ist unseres Erachtens die Grundfrage und die Parteien trennen sich, je nachdem man auf eine transzendente Macht, oder auf die Autonomie des Denkens zurückgeht, oder die Frage negierend (idealistisch) oder skeptisch beantwortet oder schließlich entweder eine reale Beziehung bloß hypothetisch annimmt, oder in irgendeinem elementaren Erkenntnisfaktor nachzuweisen glaubt. Wir gehen dabei davon aus, daß wir nach der Ableitung der sogenannten apriorischen Erkenntnisse fragen; in der Beantwortung der letzteren aber wird die Grundfrage nach obigen Gesichtspunkten bestimmt.


III.

Wovon sind die allgemeinen und notwendigen "Formen" abzuleiten? Wodurch haben sie ihre real inhaltliche Beziehung auf den Gegenstand? Das sind die beiden sich ergänzenden Fragen, bei denen wir zwecks Lösung unserer Hauptfrage angelangt sind.

Die erste Hauptantwort, wie sie im Wesentlichen LEIBNIZ gibt, lautet: Sie sind von der transzendenten Macht eines absoluten Wesens abzuleiten, und haben ihre Beziehung auf den Gegenstand von jenem erhalten. So festigen sie auch die Erfahrung. - Mit dieser Ansicht, die das Bekannte aus dem Unbekannten erklären will, uns auseinanderzusetzen, halten wir so lange für überflüssig, als uns verständlichere Arten des Zusammenhangs offen stehen.

Die zweite Hauptantwort lautet: Die Frage nach dieser Beziehung ist ganz überflüssig. Wir müssen zufrieden sein, wenn wir eine Übereinstimmung innerhalb unserer Vorstellungen gestiftet haben. Aus unseren Vorstellungen heraus ist doch keine Beziehung möglich. Diese Antwort ist, wenn sie die Beziehung für  Täuschung  erklärt, subjektiv-idealistisch, wenn sie, wie es heute meistens geschieht, sie als problematisch, unbeantwortbar ansieht, skeptisch-phänomenalistisch. Diese Doktrin läßt sich allgemein theoretisch wundervoll ausspinnen, wie es z. B. LOTZE getan hat (31). Doch wenn die Philosophie nicht bloß die Aufgabe hat, im Spalten und Leimen von Begriffen aufzugehen, wenn sie auch diese hartnäckige konkrete Welt begrifflich verdauen soll, so erleidet diese Theorie, wie wir schon andeuteten, an etlichen konkreten Fragen Schiffbruch. Wo bleibt die Übereinstimmung zwischen unseren Vorstellungen, wenn ich mich eben mit einem Freund etwa über Politik gestritten, und dessen gegenteilige Ansichten vernommen, nun aber philosophisch auch nur für denkbar halten soll, die politischen Vorstellungen meiner Vorstellung meines Freundes hätten sich mit meinen Vorstellungen politischer Gegenstände in mir in den Haaren gelegen. Das muß ich doch wohl, wenn ich den "naiven Standpunkt der großen Menge" verlassen habe.-

Was sich in Abstracto so wundervoll anläßt, ist im Konkreten ein einfacher Widersinn. Nicht die Probleme durch Verflüchtigung in eine begriffliche Sphäre zu leugnen, sondern den realen Zusammenhang auch wirklich zu erforschen, sind wir da. Freilich werden Viele diese ja schon öfter den Idealisten entgegengeworfenen Konsequenzen als nicht für sich zutreffend leugnen. Wir werden nachher näher nachweisen, daß jeder, der in irgendeiner Form sein  Begnügen  mit der  in Zusammenhang gebrachten Vorstellungswelt als solcher  behauptet, eben damit auf den Zusammenhang unter seinen Vorstellungen Verzicht leistet.

Die freilich sind von diesem Vorwurf auszunehmen, die wie MILL oder HELMHOLTZ den  Glauben  an eine transsubjektive Wirklichkeit in ihr System einsetzen. Ich weiß keine Erklärung für eine  zur Erklärung des Zusammenhangs meiner Vorstellungen notwendige  Voraussetzung; das ist im Grunde der Sinn dieser Einführung des Glaubens. Und doch ist das "ich weiß nicht", da es die Frage selber zumindest nicht verhüllt, ein wissenschaftliches Prinzip. Nur darf man das "Nichtwissen" nicht als Argument heranziehen, wie es z. B. WUNDT in seiner Logik (Seite 382f) getan hat. Die sonst mit der ganzen Umsicht des Forschers gearbeitete Abhandlung über "die Kriterien der Gewißheit" verwechselt zwei Fragen. Die Naturforschung hat sicherlich Recht, wenn sie "stets nach der Maxime handelt: Gewiß ist, was sich in aller Wahrnehmung als gegeben bewährt". Die "Vorstellung, daß  irgendein  Objekt der Wahrnehmung nicht wirklich ist", stammt freilich nur daher, daß hie und da eine Kollision mit anderen Wahrnehmungen eintritt. Wenn schon der alte Skeptizismus aufgrund dessen behauptet, daß alle unsere Wahrnehmungsobjekte Täuschung sein könnten: so enthält dieser Schluß ein Wahres und ein Falsches, je nachdem man ihn versteht. Bedeutet er: wie einzelne Wahrnehmungen durch andere berichtigt werden müssen, so könnten auch alle Wahrnehmungen nicht miteinander vereinigt werden; dann ist der Schluß falsch, und der Vorwurf WUNDTs, es bestehe "nicht die geringste Rechtfertigung, die objektive Kenntnis überhaupt aufzuheben", trifft ihn mit vollem Recht. Die Erfahrung zeigt ja, daß bis zu einem gewissen Grad, trotz der bloß relativen Gewißheit zahlreicher Sätze ein solches Zusammenstimmen möglich ist. Der Skeptizismus kann aber auch sagen wollen: Wenn ich sehe, daß die  bestimmte Beziehung  einer Wahrnehmung (oder besser: eines Empfindungsinhaltes) Täuschung ist, und ich außer solchen Inhalten nichts treffe, worauf in beziehen könnte, da steigt mir der Zweifel auf, ob nicht  die Beziehung als solche   Täuschung  ist (32). Dieser Skeptizismus verlangt, wenn er ein wissenschaftlich suchender Skeptizismus sein will, das Bewußtseinsmoment zu finden, aus dem ihm unmittelbar die Tatsache und Berechtigung jener Beziehung klar wird. Wie aber der Skeptizismus selber jene beiden Fragen nicht zu scheiden pflegt, so hat auch WUNDT, indem die Schärfe seiner Argumentation die erste Frage traf, den wohlberechtigten heuristischen Skeptizismus, der im Falle der Resultatlosigkeit seines Strebens in das "Ich weiß nicht", bzw. den "Glauben" ausmünden wird, mitgetroffen und die erkenntnistheoretische Grundfrage dadurch verdeckt (33).

Als dritte Hauptantwort auf unsere Grundrfage müssen wir die, von dem nicht einseitig empirisch oder rationalistisch gedeuteten KANT herrührende ansehen: Die Beziehung ist vorhanden, der Verstand macht sie aufgrund der Empfindung. Indessen in ihren Konsequenzen stimmt sie, wie gezeigt ist, mit der phänomenalistischen Antwort überein. Wir zeigten, wie diese Aufstellung gegenüber der Ansicht, die die allgemeinen Formen aus der Erfahrung ableitet, im Recht ist, da unmöglich etwas aus dem Werden der Erfahrung abzuleiten ist, was Bedingung des Werdens der Erfahrung ist. Wir sahen aber, daß mit diesem Nachweis keine Antwort auf unsere Frage gegeben war. Die Beziehung sollte von Seiten des Verstandes nur formell sein - sie ist auch wesentlich inhaltlich; die Beziehung auf eine transsubjektive Wirklichkeit blieb unabgeleitet, die Erfahrung selbst wurde gegenüber ihren Elementen nicht bestimmt. In diesem Elementen also muß von Neuem nach der Beziehung geforscht werden.

Diese Elemente sind aber nach KANT die apriorischen Formen und die Empfindung. Verstand und Sinnlichkeit sind die zwei Quellen, aus denen unsere Erkenntnis fließt. Die Sinnlichkeit ist bloß rezeptiv, der Verstand allein aktiv (34). Die eigentümliche Einbildungskraft scheint jedoch auch spontan, wenn gleich nicht begrifflich gedacht werden zu sollen. Wir werden also wohl annehmen dürfen, daß das Inhaltliche der Verstandesbegriffe, die das Werk der Einbildungskraft erst zur Erkenntnis gestalten, in der Synthesis seine Unterlage findet, und aus ihr abgeleitet werden muß.

Woher dieser Inhalt der Verstandesbegriffe kommt, bleibt damit immer noch zweifelhaft. Die Frage ist nur in ein dunkleres Gebiet verschoben. Schafft es die Synthesis selbst, indem sie zusammensetzt, so wäre das eine ähnliche Entstehungsart, wie sie von vielen Empiristen angenommen wird. Vom Raum z. b. liegt nach diesen gar nichts in der Empfindung selber, aber das Zusammenschließen der Empfindungen läßt ihn werden. Dieser Zusammenschluß erfolgt aber durch eine Tätigkeit der Seele; folglich, so müssen wir schließen, stammt der Raum auch nach dieser Lehre aus uns. WUNDT sagt hiernach ganz konsequent: Es "bleibt kein Zweifel, daß der Raum ebenso wie die Zeit in der Form, in welcher wir ihn anschauen, auch nur in unserer Anschauung besteht". (35) Der Zusatz: "in welcher wir ihn anschauen", dürfte jedoch überflüssig sein; ein Raum, wir wir ihn nicht anschauen, sondern etwa denken, muß nach konsequent empiristischer Lehre erst recht in uns sein. Aber eine solche Theorie ist auch nur durch sehr subtile und für unseren Zweck ganz unwesentliche Unterscheidungsmerkmale vom Apriorismus KANTs zu unterscheiden.

Der eigentliche erkenntnistheoretische Gegensatz wird auch dadurch nicht getroffen, daß man fragt, ob der Raum ursprüngliches Besitztum unseres Bewußtseins oder ein erworbenes ist (36). Nimmt man  angeboren  in einem physiologischen Sinn, so beruth die Annahme auf einer groben Verwechslung der Vorstellung, die wir von den Elementen unserer Sinnesorgane haben, mit den Elementen der sinnlichen Vorstellung selber. Philosophisch aber ist dieser Gegensatz nicht vorhanden. Schon LEIBNIZ versteht die Lehre von den  vérités innées  [angeborenen Wahrheiten - wp] in einem nüchternen Sinn (37). KANT aber läßt ausdrücklich weder den Raum noch sonst eine apriorische Form angeboren sein. Einige wenige Stellen (38) könnte man wohl dahin deuten, die meisten entsprechen der Auffassung, die in der ausdrücklichen Verwahrung KANTs, er nehme keine angeborenen Vorstellungen an, enthalten ist. Alle Vorstellungen, sagt er, sind erworben, aber es gibt auch einen ursprünglichen Erwerb und ein solcher ist der der apriorischen Formen. Nämlich, das Erkenntnisvermögen "bringt sie aus sich selbst a priori zustande". Nur der Grund dazu ist angeboren, die Erwerbung aber geht "lange dem  bestimmten Begriff  der Dinge, die dieser Form gemäß sind, vorher". (39) Die apriorischen Formen bilden auch kein im Geist bloß aus Anlaß der Empfindung heraufwachsendes Gerüst, das sich die folgenden Inhalte einordnet. HERBARTs Vergleich mit einer Glocke, die, egal wovon gerührt, mit Tönen antwortet, ist ebenso unzutreffend. Vielleicht dürfte am ehesten der Vergleich mit einem wachsenden Organismus zutreffend sein, der die Materien von außen aufnimmt, aber seiner Natur gemäß umbildet und formt. Will man dagegen einwenden, daß KANT sich dagegen verwahrt, daß man die apriorischen Formen aus der Organisation ableitet, so ist zu erwidern: Aus der gewordenen Organisation ist ebensowenig abzuleiten, wie aus einer gewordenen Erfahrung, aber der Grund zu den apriorischen Formen ist ebenso angeboren, wie dem Samen der Grund zu keimen. Beiden können sich aber nur bei Hinzutreten der nötigen äußeren Bedingungen entwickeln.

So dürfte KANTs Lehre kein Nativismus, sondern eher der von WUNDT  Präempirismus  genannten Theorie vergleichbar sein, jedenfalls aber in unserer Frage dieselben Konsequenzen teilen. Die sogenannte "apriorische" Erkenntnis hat danach nur Bedeutung für die Objektivität der Vorstellung als solcher, nicht für das als jenseits dieser befindlich Vorgestellte.

Aber die Frage "erhebt sich umso dringender, ob nicht gleichwohl ein objektiv Wirkliches als Grundlage der Raumanschauung vorauszusetzen und wie dasselbe zu denken sei". Und dieses Wirkliche ist "die regelmäßige Ordnung eines Mannigfaltigen, das aus einzelnen, selbständig gegebenen realen Objekten besteht" (40).

Warum erhebt sich diese Frage so dringend? Woher stammt "der Zwang", irgendetwas nach "Inhalt und Form ... als ein von außen Gegebenes" aufzufassen. Wenn WUNDT zugibt, daß diese Tatsachen auf "äußere Bestimmungsgründe" hinweisen, so dürfte diese Frage wohl berechtigt sein.

Will man aber die apriorische oder die präempirische Theorie aufrechterhalten, so ist jener "Zwang" ebenfalls ein subjektiv entstandener, und es wäre damit, die Stichhaltigkeit der übrigen Gründe vorausgesetzt, bewiesen, daß die "objektiv wirkliche" Geltung in jeder Beziehung innerhalb der Vorstellungswelt bleiben muß. Wenn aber bei der Ziehung so strenger Konsequenzen der Zusammenhang der Vorstellungswelt selber ins Schwanken gerät, so ist bewiesen, daß in dieser Ableitung irgendwo ein Fehler liegen muß.

Ich glaube, es bleibt keine Wahl: Entweder gibt es ein ursprünglich nicht in abstrakten Verstandesformen bewußtes Zeugnis von der Außenwelt, oder der Verstand hat eine nicht bloß formelle, sondern auch inhaltliche Bedeutung, das Denken als solches schafft die Brücke zur Außenwelt, oder schließlich zieht man die, die Erfahrung selber verwirrenden Konsequenzen des bloß immanenten Apriorismus. In dieser Hinsicht hat VOLKELT (a. a. O.) die Alternative zwischen den beiden letzten Möglichkeiten scharf und treffend gestellt.

Ist jedoch aus dem Verstand selber, sei er allein oder mit der Erfahrung zusammengeschlossen, eine solche Gewißheit nicht abzuleiten, und gibt es auch sonst keine nachweisbare Brücke zur Außenwelt, so bleibt, wenn hier überhaupt Etwas erklärbar ist, nur die einzelne ursprüngliche Empfindung als Prinzip der Erklärung übrig.

Die Empfindung! Die Lehre von der Empfindung als letztem Element aller anderen geistigen Tätigkeiten ist so wenig neu, so oft schon in ihrer Grundlosigkeit nachgewiesen. Wer sich als Sensualist verrät, ist bei vielen Aprioristen ohne weiteres aus auf ganz überwundenem Standpunkt stehend abgetan. Und doch wäre es möglich, daß auch hier die Akten revidiert werden müßten und das endgültige Urteil auf eine andere Seite zu fallen hätte (41). Ein umfassender Versuch, diese Revision vorzunehmen, wird ja neuerdings gemacht. RIEHL, schon früher als genauer Kenner der kantischen Lehre wohlbekannt, verschmähte es nicht, den apriorischen Kothurn [Jagdstiefel - wp] zu verlassen und aus dem früheren Bathos [Tiefland - wp] der Erfahrung zu deren dunklem Untergrund hinabzusteigen, um in der Empfindung die Grundbedingungen nachzuweisen, aus denen sie formal wie inhaltlich entsteht (42). Ihm ist Empfindung nicht bloß Ausgangspunkt, sondern auch Zielpunkt der Erkenntnis; sie hat schon ohne Hinzutreten besonderer Verstandesformen objektive Bedeutung, ist Keim vom Selbst- wie vom Objektsbewußtsein, gibt stets eine Eigenschaft von Etwas, enthält das Element des Räumlichen, kurz Alles, was wir nötig haben, um die für die erkenntnistheoretische Grundfrage eine ganz ungenügende Ableitung der Formen aus dem Ich zu verbannen, ohne damit einem transzendenten Dogmatismus zu verfallen oder die Sache dem bloßen Glauben anheimgeben zu müssen.

Die Frage ist nun für uns, ob die Empfindung wirklich ein für sich ausreichendes Fundament zur Ableitung aller unserer Erkenntnis sein kann. Wir müssen zu dem Zweck den Begriff, den wir uns von der Empfindung machen müssen, genau betrachten. Denn es fehlt viel, daß dies bereits geschehen wäre. Im Gegenteil herrscht hier, wie überhaupt in Bezug auf unser Problem, eine wahrhaft "babylonische Begriffsverwirrung", mit all ihren "trostlosen Folgen für die Fähigkeit gegenseitiger Verständigung" (43). Diese Bestimmung wird am besten anhand der Gründe, welche die Gegner in Bezug auf wirkliche oder vermeintliche Ableitungsfehler geltend machen, geschehen können.

Einen Hauptgrund zum Angriff bietet dem Gegner die Unterlassung einer genauen Abgrenzung isoliert gedachter Empfindungen dar. Freilich kann sofort der Hebel angesetzt werden, der das System bricht, wenn man wie CONDILLAC die Aufmerksamkeit aus der Vergleichung mehrerer Empfindungen, das Gedächtnis aus deren zurückbleibenden Spuren erklären will. Denn dann ist gerade die psychische Tätigkeit nichts aus der Empfindung Abgeleitetes, in der Empfindung Vorauszusetzendes, sondern sie hebt nur aus Anlaß der Empfindung im Geiste an. Von diesem Gesichtspunkt aus hat JACOBSON ganz recht, wenn er gegen die sogenannte Empfindung eines Unterschieds polemisiert und sie für eine Wahrnehmung des Unterschiedes zweier Empfindungen erklärt. In demselben Sinn sind auch KANTs Prämissen im Recht:
    "Da das, worin sich die Empfindungen allein ordnen und in gewisse Formen gestellt werden können, nicht selbst wiederum Empfindung sein kann, so - (und nun kommt der Fehlschluß) - muß die Form im Gemüt a priori bereit liegen."
Freilich kann die Form, in welcher viele Empfindungen zusammen bestehen, nicht selber Empfindung sein; sonst wäre es eine Empfindung, die andere Empfindungen empfindet. Wir wollen jetzt, um keine Verwirrung hervorzurufen, den wahren, im letzteren Ausdruck enthaltenen Kern herauszuschälen unterlassen. Sicher ist, daß eine Annahme, die in einer direkten Sinnesempfindungen andere Empfindungen empfinden lassen würde, keinerlei Boden hat. Aber ist darum KANTs Folgerung gerechtfertigt? Spaziert sie nicht mit Siebenmeilenstiefeln über andere Möglichkeiten hinweg? Die umfassende Form könnte ja eine Abstraktion oder eine Aneinanderreihung von Elementen sein, die im Keim schon in der Einzelempfindung enthalten wären.

Könnte! - Aber welche Natur müßte dann der Empfindung vindiziert werden? Ist sie ein Bewußtseinsakt oder Etwas in einem oder für einen Bewußtseinsakt? Ist sie eine träge Masse im Bewußtsein, die nur durch außer ihr liegene Kräfte Bedeutung erhält? Das Letztere scheint die kantische Philosophie zu glauben. Sie nennt zwar einmal die Empfindung "Vorstellung mit Bewußtsein", gibt in oben zitierter Stelle den Empfindungen gewissermaßen eine Eigentätigkeit, vermöge deren sie sich ordnen. In der "Apprehension [Zusammenfassung - wp] mittels der Empfindung" (Kb 164) scheint sie nur das Instrument zu sein. Derartige einzelne Ausdrücke liefern jedoch aus dem Zusammenhang genommen selten einen Beweis für das Prinzip. Die genannten lassen sich auch figürlich deuten. Das Prinzip, das der ganzen Trennung in Verstand und Sinnlichkeit zugrunde liegt, besagt, daß die Sinnlichkeit bloß rezeptiv, der Verstand allein spontan ist. Die Spontaneität begleitet zwar die Rezeptivität; sie sind nur zum Zweck einer getrennten Beobachtung isoliert. Aber die Isolierung ist derart, daß nicht nur eine getrennte Betrachtung, sondern ein getrenntes Wesen herauskommt, daß, wenn man die Verstandesformen aus der Erfahrung herausnimmt, für die Empfindung eigentlich so wenig übrig bleibt, daß sie zum Nichts zusammenschrumpft. Ja, wenn gesagt sein sollte, daß die Verstandesformen das abstrakt und bestimmt bezogen wiedergeben würden, was in der Empfindung konkret und ohne  bestimmte  Beziehung gewußt wird! Aber das soll ja gerade abgewehrt werden. Die Empfindung entbehrt ja gerade aller Beziehung, sie ist im strengsten Sinn "exklusiv-subjektiv".

Für diese Subjektivität erhebt sich nun, wie wir schon sahen, der kantischen Philosophie ein furchtbarer Bundesgenossen in der Physiologie. GRÜNHAGEN (44) betont an vielen Stellen die ursprüngliche Subjektivität, d. h. die Beziehungslosigkeit der Empfindung; WUNDT glaubt sogar dem Apriorismus Feld zu geben, wenn man z. B. in die Bewegungsempfindung schon das Moment des Räumlichen legt. Man gesteht damit ein, daß unser subjektives Bewußtseins vor jeder äußeren Einwirkung die allgemeine Form in sich trägt, in der wir unsere Erfahrungen ordnen (45). In Bezug auf die Bewegungsempfindung dürfte dieses Argument gelten, denn es ist wohl fraglich, ob Bewegung in  einer  Empfindung erfaßt werden kann, ob da nicht bereits eine Synthesis vorliegt (46). WUNDT selber erklärt sie ja für gemischten Ursprungs (47). Ist sie aber bereits zusammengesetzt, so gelten gegen sie die Gründe, die man gegen die Unterschiedsempfindung geltend machen kann.

Wenn ich aber recht verstehe, so ist der eigentliche Grund, warum die Physiologie die exclusive Subjektivität der Empfindung betont, das Bedürfnis einer Verwahrung gegen Versuche,  bestimmte  Beziehungen in ihr zu finden. In Bezug auf den Raum scheint mir nicht die Ansicht, daß die Empfindung schon das Bewußtsein eines Fremden, außerhalb des Bewußtseins liegenden enthält, bekämpft werden zu sollen, die Verwahrungen gehen dagegen, daß die Empfindung bereits lokalisiert, daß sie nicht den Raum ganz unbestimmt, sondern einen bestimmten Ort im Raum, nicht ganz allgemein ein unmittelbar dem Bewußtsein Fremdes, sondern ein bestimmtes Ding bezeichnet. Von einer bestimmten Beziehung der Empfindung kann freilich in keiner Weise die Rede sein, wenn wir uns eine Empfindung isoliert denken, wie sie etwa eine Primitivfaser vermitteln möchte. Jede Beziehung  auf eine andere Empfindung  ist ja da ausgeschlossen, und woher sollte so eine isolierte Empfindung für sich allein eine  bestimmte  Beziehung erhalten?

In ebendemselben Sinn ist es richtig und falsch, eine Beziehung der Empfindung auf das Subjekt zu bestreiten. Freilich stellt die Empfindung  "sich"  nicht "dem Subjekt als Modifikation seiner selbst" (48) dar. Sollte das geschehen, so stände die Empfindung dem Subjekt als betrachtetes Objekt gegenüber; es sähe dann sich selber als Objekt mit. Nun gibt es aber, wie wir in der Einleitung erwähnten, zwei Formen des Ichbewußtseins: die, bei welcher das Ich Objekt ist, und die, bei welcher das Ich den Bewußtseinsakt unmittelbar begleitet, als Subjekt im strengsten Sinne. Diese letzte Beziehung wird man füglich nur dann leugnen dürfen, wenn man der Erfindung den Charakter eines Bewußtseinsaktes abspricht. Das ist zwar von Gegnern und Freunden der Ableitung aus der Empfindung geschehen; man ist soweit gegangen, der unserem Objektbewußtsein als tote Materie entgegenstehenden Außenwelt eine Empfindung zu vindizieren [bescheinigen - wp]. Derart metaphysische Extravaganzen können die gründliche erkenntnistheoretische Betrachtung nur beeinträchtigen. Erkenntnistheoretisch bin ich ganz außerstand, mir noch irgendetwas Verständliches unter "Empfindung" zu denken, wenn ich das Bewußtsein davon wegnehme.

Ist dies aber notwendig zum Begriff der Empfindung selber, wie KANT anerkennt, wenn er sie Vorstellung mit Bewußtsein sein läßt; so ist auch seine Lehre von der bloßen Rezeptivität der Sinnlichkeit falsch. Da treten wir in das Gebiet eines zweiten, jedoch mit dem vorigen eng zusammenhängenden Mißverständnis der Ableitung aus der Empfindung. Die Empfindung wird damit, daß man die Verstandesformen aus ihr ableiten will, selber zu einer denkenden gemacht. Ist dies wirklich der Fall, so ist ja die Isolierung leicht. Das Denken nimmt man weg und nennt, was übrig bleibt, Empfindung; was aber da abgezogen wird und was dann übrig bleibt, ist eben die Frage.

Gehen wir wieder vom kantischen Begriff aus, so ist der Verstand als "Vermögen zu Denken", "Vermögen zu Urteilen", denken also urteilen. Das Urteil ist aber "nie die unmittelbare Erkenntnis eines Gegenstandes", sondern die "Vorstellung einer Vorstellung desselben". Wir sehen schon, welche Verwechslung mit dem Vorwurf einer denkenden Empfindung getroffen und impliziert ist, die Verwechslung der ursprünglichen Bewußtseinstätigkeit mit einer bereits abgeleiteten.

Die isoliert und als Bewußtseinsakt gedachte Empfindung ist nun aber in keiner Weise mittelbar auf Etwas bezogen, stellt also noch gar nichts vor, was selber Vorstellung oder Element zu einer solchen wäre. Das Ich, welches in ihr notwendig postuliert werden muß, ist integrierender Bestandteil von ihr, als von einem Bewußtseinsakt; das Etwas, das in ihr vorgestellt wird, ist nur Etwas im Sinne einer vollkommen unbestimmten Allgemeinheit, ohne jede Beziehung auf einen anderen Bewußtseinsinhalt. Doch in zwei Hinsichten bezieht die Empfindung allerdings auf Etwas außer ihr selber.

Das in der Empfindung liegende Ich stößt in ihr unmittelbar auf ein ihm Fremdes, bzw. weiß sich durch ein ihm Fremdes alteriert [verändert - wp]. In diesem Bewußtsein ein Alteration besteht gerade die Empfindung. Es tritt also ein Bewußtsein zunächst dem Zustand, in dem kein Bewußtsein war, unmittelbar gegenüber, ebenso unmittelbar aber dem fremden Etwas, das diesen Gegensatz verursachte. Dieses Bewußtsein muß aber so gedacht werden, daß ihm Grad sowie spezifische Färbung innewohnt. Selbst nach KANT ist ja zumindest die letztere, die Qualität, a posteriori. Die Bestreitung einer in der Empfindung liegenden Qualität und Intensität dürfte wiederum auf dem fehlerhaften Gedanken ruhen, daß doch von Qualität und Intensität erst durch den Vergleich mit anderen Qualitäten und Intensitäten Kunde gewonnen werden kann. Begreiflich freilich. Aber die Gegenfrage wäre dann doch erlaubt: was in der Einzelempfindung diesem Begriff entsprechen möchte, und darum ist es uns zu tun. Will man dafür ein anderes Wort; gut; aber die Sache ist nicht zu bestreiten, auch eine einzige Empfindung ist undenkbar, die nicht eine Abweichung von einem bewußten Nullzustand enthält, und diese Abweichung ist nicht zu denken ohne spezifische Färbung. Der Grad und die Färbung dieser Alteration drücken aber gerade das Verhältnis des Subjekts zum Fremden aus; gerade in ihnen drückt das Subjekt konkret den Eindruck aus, den es verspürt.

Nun bleibt es aber nicht bei diesem unmittelbar konkreten Bewußtsein, dem die subjektive Bewußtseinsfärbung nichts anderes als ein Ausdruck der Beziehung auf ein Fremdes war. Die Einzelempfindung hört auf. Stellen wir uns einen folgenden, wiederum empfindungsleeren Moment vor. Ist jetzt das Bewußtsein verschwunden? Nach allem, was wir wissen, wäre diese Annahme bodenlos. Eine Erinnerung bleibt zurück. Was liegt darin? Wiederum eine Beziehung doppelter Art; zunächst eine Beziehung auf den vorangegangenen  Zustand,  der jetzt eine Färbung gewonnen hat, eine bestimmte Anknüpfung gestattet; dann aber auch eine Anknüpfung an das im vorigen Zustand  Bewußte.  Die Anknüpfung an dasselbe ist zwar nicht im geringsten bestimmter geworden; im Gegenteil, die konkrete unmittelbare Beziehung fehlt jetzt ganz. Dafür aber ist ein Ersatz geschaffen. Es wird dieses Bewußtsein der Beziehung gewußt. Jene selber war unbestimmt und einseitig, ging ins Leere, diese ist bestimmt, der Inhalt des vorigen Bewußtseinszustandes tritt als faßbarer Stellvertreter für jene unbestimmte Beziehung nach außen ein. So ist die erste indirekte Beziehung, die erste Vorstellung einer Vorstellung vorhanden. Einer Vorstellung? wie man will. Man könnte auch letzteren Bewußtseinsakt die erste Vorstellung nennen, da er zuerst eine bestimmte Färbung des Objekts mit sich führt, während in der Empfindung diese bestimmte Färbung subjektiv, die Beziehung auf das Objekt vollkommen unbestimmt zu denken ist.

Nun ist aber in konkreter Wirklichkeit nicht etwa eine Empfindung von einer gleichdauernden Pause abgelöst, sondern Empfindung löst sich vielleicht in einem eiligen Wechsel mit Empfindung ab, verschlingt sich mit ihr, und mit unbestimmten Umrissen gebildeter Elementarvorstellungen zu einem scheinbar unlösbaren Chaos, in dem sich erst allmählich die hervorstechenderen, etwa häufiger gleichmäßig wiederkehrenden Elemente herausheben, miteinander verschmelzen, in die gegenseitigen Beziehungen, Ordnung und Regel bringen, und schließlich das Gerüst jener Welt aufbauen, die wir, in Raum und Zeit ausgespannt, als vollendetes Ganzes anzustaunen gewohnt sind.

Haben wir darum kein Recht, jene elementare Voraussetzung zu machen? Mit dem Gedankenvorrat, den wir haben, müssen wir uns doch schließlich an die der direkten Untersuchung unzugänglichen Gebiete wagen, müssen die zu untersuchenden Gebiete von den Einflüssen getrennt denken, die die Untersuchung verwickeln könnten, und dann fragen, was uns notwendig im Rest zu denken übrig bleibt. Wir können uns irren; wohl; der Schaden ist jedoch nicht so groß, wie der, daß wir uns das zu untersuchende Gebiet einfach vermauern.

In der Empfindung selbst fanden wir mannigfache Keime zu späteren Begriffen. Wie aber entstehen diese Begriffe daraus? WUNDT hat in seiner Logik trefflich auseinandergesetzt, daß das Wesen des Begriffs nicht etwa in einer schematischen Vorstellung oder einer ähnlichen Unbegreiflichkeit zu suchen ist, sondern daß der Gedanke der Stellvertretung und Beziehung darin waltet. Entweder stellen wir uns einen einzelnen Gegenstand oder nur die allgemeine Beziehung vor. Wir haben ein Wort, dessen konkrete Beziehung wir an einzelnen Fällen gelernt haben; nun rufen wir uns, wenn wir das Wort hören, nicht diese Fälle, sondern nur die Beziehung zu ihnen zurück. Da kann es bekanntlich dahin kommen, daß über dem allgemeinen Begriff, dessen Beziehung auf verwandte Begriffe uns vielleicht geläufig ist, die letzte konkrete Beziehung verloren gegangen ist; wie oft geht es uns so, daß, wenn wir einem Ausdruck, z. B. einem historischen Namen, in dem wir eine Fülle von Beziehungen zu haben glauben, nachgehen, derselbe plötzlich auffallend arm und leer erscheint, weil wir wohl früher eine Fülle von Beziehungen mitdachten, aber nun das Bezogene nicht mehr vorstellen können. So ging es einem nicht ungelehrten Professor der Mathematik, so daß er den Lehrsatz des PYTHAGORAS, auf den er sich eine Stunde lang fortwährend bezogen hatte, plötzlich nicht mehr beweisen konnte.

Alle diese Beziehungen haben ihre Wurzel in jener ersten indirekten Beziehung, die wir oben behandelt haben. Wie ich mich auf meinen vorausgehenden Zustand und dessen Inhalt beziehen kann, so auch auf hervorstechende Teile desselben. Gleiches, was in vielen Empfindungen wiederkehrt, wird so Gegenstand einer gesonderten Beziehung, und allmählich durch Einschieben von Zwischengliedern entsteht ein zwar bestimmt umgrenztes, aber inhaltlich blasses, nur durch die Fülle seiner Beziehungen reichhaltiges Gebilde, der Begriff. In der Beziehung mehrerer konkreter Empfindungsinhalte auf den gleichen Gegenstand liegt eine solche Abstraktion. Die ursprüngliche Beziehung nämlich, die konkret gefühlt wurde, bei der sich der Gegenstand unmittelbar, wenn auch völlig unbestimmt, kundgab, wird in den folgenden Bewußtseinsakten nicht mehr unmittelbar, oder doch nicht mehr allein unmittelbar gewuß, sondern durch den konkreten Inhalt der Empfindung wird jener vorgestellt. Da ist es nicht zu verwundern, wenn der Gegenstand als solcher nur mehr ein abstraktes  X  zu sein scheint, welches die konkreten Inhalte in seiner Einheit aufnimmt, wenn man über der abstrakten Beziehung die ursprünglich konkret gefühlte (49) Grundlage ganz vergißt. Zudem ist das konkrete Fühlen bei jedem konkreten Wahrnehmen eines Gegenstandes so flüchtig, die Aufmerksamkeit richtet sich durch Gewohnheit und Übung so plötzlich dem Inhalt der auf das Objekt bezogenen Empfindung zu, daß, wenn nicht stärkere Erregungen des Ich eintreten, die jene objektiven Vorstellungen aus dem Blickpunkt des Bewußtseins verdrängen, vom Fühlen des Gegenstandes auch in direkter, konstant mit Empfindung verknüpfter Wahrnehmung kaum mehr etwas gemerkt wird. Nur hier und da können wir vielleicht ein schwaches Analogon isolierter Empfindung bei uns wahrnehmen. Es kommt ja zuweilen vor, daß ganz unerwartet unsere Hand an ein unerklärliches Fremdes rührt, unser Auge von einem scheinbar außerhalb eines Zusammenhangs mit dem übrigen Gesichtsfeld stehenden Lichteindruck erfüllt, unser Ohr von einem nie gehörten Ton getroffen wird. Da ist im ersten Moment eine Perplexität des Geistes vorhanden, die nur jener ersten Stufe der Beziehung entsprechen dürfte.

Wie sich nun im Einzelnen aus ihr die abstrakten Begriffe ableiten, das können wir selbstredend hier nicht entwickeln. Das Gesagte genügt hoffentlich, um den Vorwurf, die Empfindung müsse bereits als eine  denkende  aufgefaßt werden, zurückzuweisen. Aber es läßt uns auch den nötigen Blick in die eigentliche Werkstätte der Begriffe a priori tun. Diese sind sämtlich solche, die bereits in der ersten erinnernden Beziehung auf die vorangegangene Empfindung, in der sekundären Vorstellung nicht mehr konkret sind, die aber in der Vorstellung  jeder  Empfindung vorgefunden werden. In der ursprünglichen Beziehung, so denken wir, ist z. B. Kausal- und Substanzbewußtsein noch ungeschieden im Bewußtsein der Berührung eines Fremden. Erst die spätere Vorstellung trennt Kausal- und Substanzbewußtsein, indem sie je nach der Erinnerung stärkerer Erregung des Ich, oder stärkeren Widerstandes, den das Ich durch die Reaktion und Beziehung nach außen leistete, das Eine oder das Andere mehr in den Vordergrund treten läßt. Diese Auffassung dürfte als nicht willkürlich erscheinen, wenn man nur Eins bedenkt; wie nämlich auch dem entwickelten Bewußtsein das, was das Ich stärker erregt, z. B. einen Schmerz verursacht, mehr in den Gesichtspunkt der Ursächlichkeit, was dem Ich ruhend gegenüberzustehen scheint, wie ein Stein, mehr in den Gesichtspunkt der Substanz gerückt wird. So sehen wir auch ein Bewegtes in der objektiven Vorstellungswelt mehr nach dem Gesichtspunkt der Ursache an.

Die Begriffe der Ursache und der Substanz sind also konkret bezügliche Begriffe, solche, deren Gegenstand eine nicht bloß formal logische, sondern eine inhaltliche Bedeutung besitzt, ebensosehr wie "weiß", "wohlriechend", "stark" etc. Sie haben nur Bedeutung durch ihre letzte Beziehung auf jenes ursprüngliche, nicht weiter definierbare Kausal- und Substanzbewußtsein, welches wir in der Empfindung antrafen. Die Verwechslung derselben mit abstrakten Begriffen in einem streng nominalistischen Sinn ist in dieser Beziehung noch folgenreicher gewesen, wie die Verwechslung der logischen Kopula mit einer existentialen Aussage. Aus den konkret bezüglichen Begriffen haben sich nämlich zwei ganz abstrakte entwickelt, "Sein" und "Abhängen", die dem Satz der Identität und dem Satz vom Grunde ihre Bedeutung geben. Dieser letztere wird besonders häufig mit der konkreten Kausalität verwechselt, und daraus eine ganz verkehrte Ableitung derselben versucht (50). Wir sind es so gewohnt, Abstraktionen, namentlich solche, die einen Schein von "Denknotwendigkeit" haben, auf diese bloße Beglaubigung hin anzunehmen, daß wir nicht fragen, ob denn die Geltung des Begriffs bloß logisch formal ist oder darüber hinausgeht, und welches Recht für diese weitere Bedeutung wir haben. Die Denknotwendigkeit als solche blendet so sehr, daß man vergißt, daß das begrifflich Umgrenztere nicht eben damit auch das Gewissere ist, daß man wohl gar nicht dahin kommt, das Verhältnis umzukehren, aus dem abstrakteren Begriff den konkreteren zu entwickeln, etwa aus dem Gesetz der Identität, die konkrete Kausalität nachweisen zu wollen. Ist aber der wirkliche Vorgang in allem als ein genau umgekehrter erkannt, so ist die vermeintliche Apriorität der "Begriffe" auf ihre wahre Grundlage zurückgeführt.

Es muß erwähnt werden, daß selbst KANT, so sehr er es zu vermeiden und zu umschreiben suchte, doch selber der Ableitung eines a priori aus der Empfindung sich nicht hat erwehren können. Er erklärt es (Kb 170) als merkwürdig, daß wir die Eigenschaft der aposteriorischen Empfindung, daß sie einen Grad hat, a priori erkennen. Das Reale, welches (nach Kb 162) sogar Gegenstand der Empfindung ist, hat einen Grad; es ist aber auch Eigenschaft der Empfindung (Kb 170), daß sie einen Grad hat. Nun ist aber das Reale das, was der Empfindung am Gegenstand korrespondiert (Kb 162. Wenn aber die Empfindung einen Grad hat, so kann nur das an ihr einen Grad haben, was an ihr dem Realen entspricht, das seinerseits der Empfindung am Gegenstand entsprechen soll. Bedeutet nun gleich das Reale begrifflich nur die "Synthesis einer kontinuierlichen Reihe vom Bewußtseinszustand  0  zu einem gegebenen", so ruht dieses umfassende Reale auf einer Reihe von konkreten Realen, aus denen jene Abstraktion gebildet ist. Ist das Reale in der Empfindung selber, so macht es der Verstand nicht erst, sondern begreift nur abstrakt, was konkret schon bewußt war.

Ist die Empfindung die reale Grundlage auch der apriorischen Begriffe, so ist die Deduktion derselben als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung daraus zu entnehmen, daß ihre Concreta Bedingungen der Möglichkeit der Empfindung sind. Selbstverständlich ist nach der Art, wie wir uns die Bildung der bewußten Beziehungen gedacht haben, daß die in der Empfindung enthaltenen Formen als Kollektivbegriffe auch bei der Bildung des  Zusammenhangs  der Erfahrung auftreten, und  daß sie für diese ganz in Kants Weise a priori gültig sind.  Als einmal gebildete Formen stehen sie dann der  neu hinzukommenden  Empfindung gleichsam als einem von ihnen zu verarbeitenden Rohmaterial gegenüber, und dieser gegenüber läßt sich KANTs strenge Scheidung zwischen  Rezeptivität - Spontaneität  und  Sinnlichkeit - Verstand  relativ rechtfertigen.

In der Empfindung aber ist eine prinzipielle Scheidung der Art ganz unmöglich. Sie ist, objektiv betrachtet, aus dem Zusammenwirken zweier Faktoren, eines äußeren und eines inneren, entstanden zu denken. Nun erhebt sich dagegen freilich der Widerspruch, es sei undenkbar, wie ein materiell zu denkendes Etwas ein Bewußtsein hervorrufen kann. Indessen in der Empfindung ist ja die konkret bestimmte Intensität und Qualität das Bewußtseinszeichen für ein Fremdes und wird in der Erinnerungsvorstellung auch so aufgefaßt. Aus diesen Zeichen setzen wir aber, durch empirische Merkmale geleitet, die einzelnen Dinge zusammen und bestimmen deren Zusammenhänge. Aus diesen Bewußtseinstatsachen bilden wir die Vorstellung entweder eines materiellen Dings, oder, mit Hinzufügung etlicher Analogieschlüsse, einer vernunftbegabten Person. Diese Vorstellungszeichen sind aber jedesmal Merkmale einer konkreten stattgehabten Einwirkung auf das Ich. Und nun soll es auf einmal ein Widerspruch, soll es undenkbar sein, daß das, was erst infolge von Einwirkungen auf das Ich vorgestellt wird, auf das Bewußtsein wirkt?!

Es ist klar, daß das, was in der Empfindung bewußt wird, weder das Ich noch das Außer-uns abbildet, sondern nur eine Relation zwischen beiden darstellt. Wir nannten oben den Empfindungsinhalt ein Zeichen für ein Fremdes. Ganz streng im Sinne von HELMHOLTZ möchten wir dies jedoch nicht aufgefaßt wissen. Wir haben nicht den geringsten Grund, diesen Bewußtseinsinhalt so vorzustellen, als ob er bloß die Natur des wissenden Subjekts widerspiegelt. Nehmen wir das Verhältnis  Ich - Außenwelt  selber als Objekt, so gehört dieses Ich nunmehr als Vorgestelltes doch auch zur Welt, die es vorher unmittelbar in ein Verhältnis zu sich setzte. Es gehören zur ausgebildeten Ichvorstellung sehr viele Vorstellungen, die sich vom leiblichen Dasein gar nicht trennen lassen, dieses im Ich mitbefassen, ja im letzten Grund ist keine einzige Vorstellung, kein Gedanke losgelöst von dieser materiell vorgestellten Unterlage zu begreifen. Ist nun in der entwickelten Vorstellung jene Relation im Prinzip untrennbar, so erst recht in der Empfindung, in der wir prinzipiell gar nicht angeben können, wieviel dem Ich, wieviel der Außenwelt angehört. Wir brauchen in der Vorstellung den Empfindungsinhalt, sobald er nicht ein stärkeres Gefühl enthält, so unmittelbar als zur Außenwelt gehörig, daß das Ich vollkommen dagegen zurücktritt. Erst die Reflexion zeigt uns die Subjektivität auch dieses Inhaltes und eröffnet von Neuem die Frage, was denn der Außenwelt von diesem Inhalt angehören möchte.

Doch vielleicht sind wir auch in dieser Frage so hilflos nicht, als es scheinen möchte. Verschiedene Empfindungen verschiedener Sinne treten zusammen auf, folgen sich regelmäßig, gestatten gemeinsame Beziehungen. Da bezieht sich das entwickeltere Bewußtsein auch auf das Ich zurück, macht es ebenso zum Beziehungspunkt verschiedener Vorstellungen, wie die Außenwelt, und nach und nach sondert sich ein zu diesem im eigentlichen Sinn gehöriger Vorstellungskreis aus. Dem Gesicht erscheint die Hand als Außending, ein Betasten vermittelt die Vorstellung zwischen dem Innen und Außen, Muskelinnvervationsgefühle treten hinzu, und schließlich vollendet sich jenes halb materiell, halb geistig vorgestellte Ganze, das wir unser Ich im weitesten Sinne nennen, dem gegenüber sich das Übrige als Außenwelt abhebt.

Dieses Ich wird nun aber selbst in dieser Welt vorgestellt, und hat seine Relationen in ihr. Einzelne Beziehungen scheinen unregelmäßig und schwankend, andere in allem Wechsel einer strengen Regel zu folgen. Da fange ich an zu vermuten, daß die allgemeinen und jeder Empfindung notwendigen Formen, wie sie die notwendigen konkreten Formen der Beziehung zwischen mir und der Welt in der Empfindung waren, so auch die Formen sind, in denen die Dinge, die ich vorstelle, sich gegenseitig auch außerhalb von mir verhalten, daß also die kausalen und substantiellen Verknüpfungen in Raum und Zeit, wie sie das Bewußtsein mechanisch durch Übertragung des Verhältnisses zum Ich auf das Verhältnis der Vorstellungen untereinander hervorbringt, tatsächlich nicht auf Willkür und Täuschung beruhen. Der Schluß, daß die Dinge untereinander dieselben Beziehungen haben, wie das doch auch als Außending vorstellbare Ich sie zu den übrigen Außendingen hat, dürfte auf nicht zu schwachen Füßen ruhen, und der Einwand, daß diese Außendinge, wie das Ich selber nur Vorstellungen sind, verfängt nicht mehr, wenn die transzendentale Frage der Beziehung auf den Gegenstand in der Empfindung eine konkrete Lösung gefunden hat. Die Aussprüche WUNDTs, daß die "regelmäßige Ordnung eines Mannigfaltigen, das aus einzelnen, selbständig gegebenen realen Objekten besteht", das "was in aller Wahrnehmung sich als feststehend bewährt", "objektiv gewiß" ist, sind demnach nicht bloß aufgrund einer vagen Annahme, sondern eines erkenntnistheoretischen Grundprinzips dahin zu erweitern, daß "objektiv gewiß" soviel wie "transsubjektiv wirklich" bedeutet.

Freilich werden wir da niemals zu einer "absoluten" Gewißheit kommen. In Bezug auf die Beziehungen der Inhalten könenn wir uns immer getäuscht haben, und die Annäherung an die volle Genauigkeit wird der Annäherung an eine vollkommene Ebene zu vergleichen sein, die wir durch die Politur einer Fläche erreichen. Doch was verschlägt das? Unsere Erfahrungswelt baut sich wie eine Pyramide empor, an der sich einzelne Beziehungen ändern, die aber im Grunde immer mehr an Ausdehnung und Festigkeit gewinnt. Die Basis bildet die Empfindung, oder "reine Erfahrung" (51). In ihr findet sich eine Mehrheit von Empfindungen, nur subjektiv zusammengehalten durch die Einheit des Bewußtseins. Ursprünglich jedenfalls von Begehrungen gestachelt und geleitet, erweitert sich unser Bewußtsein dahin, die Empfindungen, zu Vorstellungen umgebildet, gruppenweise zu ordnen, und schließlich in Raum und Zeit ausgebreitet zu erkennen. Da das Bewußtsein das gleiche ist, und die ursprüngliche Beziehung aus uns heraus ebenfalls keine verschiedenen "Außer uns" gibt, so ist es begreiflich, daß die Einordnung in dem einen allumfassenden Raum stattfindet, in dem sich die Dinge befinden. Aber diese Dinge sind nicht, auch nicht in der Vorstellung die gruppierten Empfindungsinhalte selbst, wie die strengen Phänomenalisten zu glauben scheinen. Das ursprüngliche Substanz-Kausalbewußtsein drückt sich immer noch darin aus, daß es sämtliche Inhalte den Dingen als Prädikate beilegt. Löst man diese Prädikate freilich ab, so verschwindet das Ding, weil der Bewußtseinsfaktor schwindet, durch den wir es erkennen; der daraus geführte Beweis der Nichtkeit des Dings, die Gleichstellung mit der transzendentalen Apperzeption beruth auf einer gänzlichen Verkennung der realen Grundlagen jener Beziehung.

Doch auch mit dem bloßen Einordnen in Raum und Zeit sind wir nicht zufrieden. Die Außendinge ruhen nicht im Verhältnis zu uns und das nunmehr zum Satz vom Grund umgebildete Kausalprinzip sucht die Zeichen zu entdecken, die Größen zu bestimmen, nach denen jene Veränderungen einer in den Dingen begründeten Notwendigkeit zugeschrieben werden können. Hier nun gehen die Probleme ins Unabsehbare. Ein gefundener Kausalzusammenhang treibt die Frage nach zehn anderen mächtig hervor, und die Lösungen, bald hypothetisch, bald mathematisch gewiß, sind immer wieder nur Staffeln, auf denen zu neuen Problemen herangeklommen wird. Unendlich in diesem Sinne ist das Feld aller Wissenschaft, aber nicht "absolut" in einem metaphysischen Sinn; immer bedingt, relativ zu uns und zu Anderem. Die Erfahrung in diesem letzten und höchsten Sinn ist selber nur Problem, selber unerfahrbar.

Aber wir sind damit zufrieden, wir wollen das von SCHOPENHAUER so köstlich gegeißelte Absolutum gerne denen überlassen, die zu den von KANT verspotteten metaphysisch hohen Türmen emporklettern möchte; wir wollen nur abwehren, daß "Erfahrung", selber in die Luft gestellt, zu einem theoretisch nichtsbedeutenden Begriff herabsinkt; wir sehen die einzige Möglichkeit hierzu in der Gewißheit des transsubjektiven Gebietes; und für diese Gewißheit finden wir keinen anderen Faktor in unserem Bewußtsein, als die Empfindung.
LITERATUR - Franz Staudinger, Zur Grundlegung des Erfahrungsbegriffs, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 6, Leipzig 1882
    Anmerkungen
    22) MELLIN, Kritisches Wörterbuch, Artikel "Erkenntnis"
    23) das heißt  geistig formal.  Daß der Raum nicht zum  Inhalt  der Dinge gehört, versteht sich.
    24) Vgl. PAULSEN, Versuch einer Entwicklungsgeschichte der kantischen Erkenntnistheorie, Leipzig 1875, Seite 158f
    25) Objektive Realität eines  Gegenstandes  besagt dessen Existenz als Gegenstand, nicht bloß eine Realität im Bewußtsein (vgl. auch Kb 146, 164f, wo die Empfindung die Realität des Gegenstandes verbürgt).
    26) Dies ist der einfache Sinn der kantischen Behauptung, der Verstand schränke die Sinnlichkeit ein. Man darf freilich keine metaphysischen Ungeheuerlichkeiten dahinter suchen. Eine äußerst klare Angabe über KANTs Meinung vom Ding-ansich findet sich: "Über eine Entdeckung", Werke I, ROSENKRANZ und SCHUBERT, Seite 429f. Vergleiche auch RIEHL, Philosophischer Kritizismus I, Seite 423: Kant lehrt angeblich die Existenz des transsubjektiven Dings in der strengsten Bedeutung des Wortes  Existenz
    27) Vgl. E. MONTGOMERY, Die kantische Erkenntnislehre etc., München 1871, Seite 124
    28) So behandelt EUCKEN, "Geschichte und Kritik der Grundbegriffe der Gegenwart" (Artikel  a priori  und  Angeboren)  den Empirismus äußerst geringschätzig, besonders Seite 50, 52f, 65 und öfter. Dem gegenüber vgl. CARL GÖRING, a. a. O., Seite 106f und 384f.
    29) EUCKEN, a. a. O., Seite 39
    30) Vgl. AFRICAN SPIR, Drei Grundfragen des Idealismus, zweiter Artikel, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. IV, Seite 94f
    31) LOTZE, Logik, Seite 479f
    32) Hier ist der zweite Satz keine Folgerung aus dem ersten, der erste vielmehr nur die Veranlassung, an den zweiten zu denken.
    33) WUNDT selber bedarf diese durch "äußeren Zwang" unentrinnbar gemachte Voraussetzung. Vgl. "Logik", Seite 461, und 474f.
    34) Wie diese bloß rezeptive Sinnlichkeit doch eine Synthesis in Raum und Zeit eingeht, in welcher Beziehung die "blinde, aber unentbehrliche Funktion der Seele", "Einbildungskraft genannt, zum Verstand steht, der ihre Synthesis erst auf Begriffe zu bringen hat (Kb 95), inwiefern also die Verstandesbegriffe in jener beruhen und wodurch jene ihre Beziehung auf die Empfindungen findet: das ist mir, wie ich offen gestehe, trotz vieler Bemühung nicht klar geworden. Daß aber der Verstandesbegriff direkt schon zur Bildung der Anschauung mitwirkt (JULIUS JACOBSON, Über die Beziehungen zwischen Kategorien und Urteilsformen, Königsberg 1877, Seite 15f), ist mir gegenüber den ausdrücklichen Erklärungen KANTs, daß diese "blind" sind, daß die Sinnlichkeit des Verstandes in keiner Weise bedarf, mehr als zweifelhaft.
    35) WUNDT, Logik, Seite 460f
    36) WUNDT, Logik, Seite 452
    37) Vgl. LEIBNIZ, a. a. O., Jahrgang VI, Seite 418
    38) Kb 49. Die Formen liegen hiernach a priori im Gemüt  bereit. 
    39) KANT, Werke I, ROSENKRANZ-SCHUBERT-Edition, Seite 445f.
    40) "Objektiv wirklich" könnte auch einen Gedanken, der auf ein Objekt Bezug hätte, bezeichnen. Wir ziehen den Ausdruck "transsubjektiv" für die Welt, auf die wir unsere sinnlichen Vorstellungen beziehen, vor. Als "transzendent" sehen wir nur die Welt an, die auch jenseits der sinnlichen Beziehung und des Erfahrungszusammenhangs mit ihr liegen soll.
    41) ERNST LAAS, Idealismus und Positivismus, Seite 15
    42) ALOIS RIEHL, Der philosophische Kritizismus II, 1. Abteilung. Auch AVENARIUS, "Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes", nimmt die Empfindung als letztes Element an, freilich dort als Element des "Seins", nicht des Erkennens. Diese letzte Seite tritt in einer Äußerung desselben Verfassers, daß die Objektempfindung das Begriffliche schon enthält, hervor (Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 1, Seite 568). In einer freilich unausgeführten Weise stellt M. DROSSBACH ("Über den Ausgangspunkt und die Grundlagen der Philosophie") die Empfindung als "Wirklichkeitserfahrung den aus Vorstellungen gebildeten Erscheinungserfahrungen" gegenüber.
    43) JACOBSON, a. a. O., Seite 6
    44) GRÜNHAGEN-FUNKE, Lehrbuch der Physiologie II, 6. Auflage, Seite 9, 11, 65 und
    45) WUNDT, Logik, Seite 13
    46) vgl. GRÜNHAGEN, a. a. O., Seite 13
    47) WUNDT, Physiologische Psychologie I, 2. Auflage, Seite 274
    48) JACOBSON, a. a. O., Seite 8f
    49) Es würde zu weit führen, hier die Bedeutung des Gefühls in der Empfindung auseinanderzusetzen. Vgl. RIEHL, a. a. O., Seite 36f
    50) Wir können nur beiläufig auf die häufige Verwechslung des Satzes vom Grunde, nach welchem ein vorausgehender  Zustand  als Ursache angesehen wird, mit der Kausalität, die eine  Substanz  als Korrelat verlangt, aufmerksam machen. Vgl. ERNST LAAS, Kausalität des Ich, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. IV, Seite 2f.
    51) RICHARD AVENARIUS, Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes, Leipzig 1876, Seite 43 und 60