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ROBERT REININGER
Kants Lehre vom inneren Sinn
und seine Theorie der Erfahrung

[1/2]

"In Hume sieht Kant den typischen Vertreter eines schrankenlosen, alle eigentliche Wissenschaft vernichtenden Skeptizismus. ... Die Neubegründung der Möglichkeit eines Wissens aus reiner Vernunft ist daher das erste und zunächst auch das einzige Hauptproblem des kritischen Unternehmens. Das Resultat dieser Neubegründung besteht bekanntlich darin, daß die Möglichkeit einer Metaphysik im bisherigen Sinn verneint, die erkenntnistheoretische Dignität der anderen rationalen Wissenschaften aber aufrecht erhalten wird."

"Indem die Sinnlichkeit das ihr Gegebene vermöge ihrer eigentümlichen Organisation umarbeitet und gestaltet, verhält sie sich insofern auch selbst aktiv, hervorbringend, spontan. Es scheint somit keineswegs berechtigt, daß Kant seine Sinnlichkeit und seinen Verstand kurzweg mit Rezeptivität und Spontaneität identifiziert hat."


V o r r e d e

Das vorliegende Werk stellt sich die Aufgabe, die unzweifelhaft vorhandenen Widersprüche und Unklarheiten in KANTs Kritik der reinen Vernunft auf eine bisher nicht beachtete Divergenz ihrer Grundvoraussetzungen zurückzuführen. Es will dann weiterhin versuchen, die kantische Theorie der Erfahrung unter Berücksichtigung ihrer verschiedenen Ausgangspunkte nach jeder ihrer beiden Richtungen selbständig und möglichst widerspruchslos zu entwickeln. Nich in dem vergeblichen Versuch einer apologetischen [Rechtfertigung, Entschuldigung - wp] des Unverträglichen, sondern in der Auswicklung und scharfen Sonderung der so vielfach verschlungenen Gedankenreihen unseres Philosophen erblickt der Verfasser die Möglichkeit, das Wertvolle und Charakteristische derselben zu einem dankbaren Gegenstand philosophischer Untersuchung zu machen. Insofern jene beiden Richtungen der kantischen Erfahrungslehre als in ihrer Art typisch aufgefaßt werden, ist die Absicht dieser Schrift nicht allein eine historisch-kritische, sie will vielmehr auch zeigen, welcher relativ befriedigenden Lösung die Probleme der Erfahrungslehre auf idealistischem Boden überhaupt fähig sind. Diese Endabsicht erforderte es aber, die kantische Darstellung in zahlreichen Punkten im Sinne ihres Urhebers zu ergänzen und weiterzuführen.

Der Plan des Werkes ist zu ausgedehnt, um die überaus reiche Literatur in jedem einzelnen Fall ausdrücklich zu berücksichtigen oder sich überall mit gegenteiligen Ansichten auseinanderzusetzen. Man wird aber ausführliche Literaturangaben umso weniger vermissen, als jeder Kundige in VAIHINGERs im Erscheinen begriffenen, überaus dankenswerten "Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft" über jene ebenso zuverlässige wie erschöpfende Auskunft zu finden weiß.



E i n l e i t u n g

LICHTENBERGs Wort, daß jeder immer nur seinen HOMER, seinen HORAZ und SHAKESPEARE liest, gilt sinngemäß auch von KANT: Jeder liest seinen KANT. Daher gibt es auch fast ebensoviele KANT-Ausleger, als es KANT-Leser gibt. In erster Linie ist naturgemäß das kantische Hauptwerk von diesem Schicksal betroffen. Die "Kritik der reinen Vernunft" ist nicht nur ein Buch voll der tiefsinnigsten und weittragendsten Probleme, welche der Philosophie jemals gestellt worden sind, dieses Buch ist auch selbst ein Problem. Es ist dies nicht nur, weil es zahlreiche Widersprüche, Unklarheiten und Willkürlichkeiten enthält, sondern insbesondere deshalb, weil die meisten der ihm eigentümlichen Probleme in ihm mehr angedeutet als gelöst, die wenigsten von ihnen aber zuende gedacht sind. Größer als bei irgendeinem anderen philosophischen Werk ist daher bei diesem jener Anteil an Denkarbeit, welcher dem Leser zufällt. Aber gerade in diesem ganz eigenartigen Anreiz zu philosophischer Mitarbeit, wie er der Kr. d. r. V. eigen ist, liegt der Schwerpunkt jener eminenten Bedeutung, welche dieselbe für die gesamte Philosophie gewonnen hat. Dadurch, daß sie den selbstdenkenden Leser zwingt, im Verstehen über sie hinaus zu gehen, ist sie die "lebendige Schule der Philosophie" (KUNO FISCHER) geworden und in gewissem Sinne bis zum heutigen Tag geblieben.

Der Streit über das eigentliche Grundproblem und die Grundtendenz der Kr. d. r. V. ist so alt, wie diese selbst. Die kantische Grundfrage: "Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" erschöpft weder die innere Konsequenz seines Reformversuches der Philosophie, noch das tatsächliche Thema der Vernunftkritik. Daß ihr die andere Frage: "Wie sind synthetische Urteile a posteriori möglich?" ebenbürtig an die Seite zu stellen ist, ist seit jeher die fast einstimmige Meinung aller Kantinterpreten gewesen (1). Die Tatsache, daß KANT nicht selbst beide Fragen ausdrücklich und paritätisch [gleichwertig - wp] an die Spitze seines Werkes gestellt hat, läßt von vornherein vermuten, daß dieselben ursprünglich unter einem höheren Gesichtspunkt vereinigt waren und sich erst im Verlauf der Gedankenentwicklung aus diesem von selbst differenziert haben. Diese höhere Einheit beider ist die Frage nach der Möglichkeit einer Erkenntnis im rationalen Sinn überhaupt, d. h. eines notwendigen und allgemeingültigen Wissens. Eine solche "Erkenntnis" kann aus bloßen Vernunftprinzipien entspringen, dann ist sie "rein"; sie kann aber auch Gegebenes zu ihrem Gegenstand haben, dann ist sie "empirisch". In beiden Fällen aber ist ihre "Notwendigkeit" das Kriterium, welches sie von minderwertigen Erkenntnisarten unterscheidet. Eine "Erkenntnis" als solche wird aber weder im einzelnen Fall noch im Ganzen zum Problem werden, wenn ihre Möglichkeit nicht von irgendeiner Seite in Frage gestellt wird. Dies wurde sie aber für KANT einerseits durch den "Skeptizismus", andererseits durch den "Idealismus", als deren typische Vertreter ihm HUME und BERKELEY gelten. HUME ist nach moderner Auffassung Positivist. Vom Standpunkt des Positivismus ist HUME kein Skeptiker; er ist es nur vom Standpunkt des rationalen Denkers. Das, was er bezweifelt, ist die Möglichkeit einer Erkenntnis aus reiner Vernunft. Es gab eine Epoche in KANTs philosophischer Entwicklung, in welcher er selbst einen radikalen Skeptizismus vertreten hat. Die "Träume eines Geistersehers" bezeichnen ihren Höhepunkt. Diese Skepsis richtet sich in erster Linie gegen die dogmatische Metaphysik, welche schon an und für sich durch die Unsicherheit ihrer Resultate Verdacht erwecken mußte. Sie bedroht aber auch andererseits alle anderen rationalen Wissenschaften, insofern sie als einzige Erkenntnisquelle die "Erfahrung" übrig läßt, welche immer nur "problematische", niemals "apodiktische" [unbezweifelbar sichere - wp] Gewißheit gewährt. Dagegen aber erhob sich in KANT, dem mathematischen Naturforscher, eine mächtige Reaktion (2). In HUME sieht er den typischen Vertreter eines schrankenlosen, alle "eigentliche" Wissenschaft vernichtenden Skeptizismus. Man hat sehr zutreffend bemerkt, daß KANT von Natur aus skeptischer veranlagt war, als HUME, und diesem eine Ausdehnung seiner Skepsis zutraut, die ihm ganz fern lag (3). Die Neubegründung der Möglichkeit eines Wissens aus reiner Vernunft ist daher das erste und zunächst auch das einzige Hauptproblem des kritischen Unternehmens. Das Resultat dieser Neubegründung besteht bekanntlich darin, daß die Möglichkeit einer Metaphysik im bisherigen Sinn verneint, die erkenntnistheoretische Dignität der anderen rationalen Wissenschaften aber aufrecht erhalten wird.

Eine Erkenntnis a priori und aus reiner Vernunft ist nur dann und insoweit möglich, als die Gegenstände dieser Erkenntnis ein Besitztum a priori unserer Vernunft sind. Die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori also gründet sich auf die Apriorität oder, was dasselbe heißt, die transzendentale Subjektivität unserer Formen des Anschauens und des Denkens. Indem aber die transzendentale Ästhetik die Idealität von Raum und Zeit "beweist", beweist sie auch zugleich die Phänomenalität unserer gesamten Außen- und Innenwelt: der "transzendentale Idealismus" ist die unvermeidliche Konsequenz der Lehre von der Apriorität unserer Anschauungsformen. Die "Idealismus" war nicht das Ziel der kantischen Untersuchung. Er wurde nur deshalb "in den Lehrbegriff aufgenommen", weil er "das einzige Mittel" war, die "eigentliche Aufgabe" der Vernunftkritik zu lösen, nämlich die "Möglichkeit der synthetischen Erkenntnis a priori" zu beweisen (Prolegomena, § 125). Der Idealismus erscheint somit zunächst nur als eine Art Nebenprodukt des kritischen Unternehmens. Nun besteht aber - nach KANTs Meinung - aller "echte" Idealismus in der Behauptung:
    "Alle Erkenntnis durch Sinne und Erfahrung ist nichts als lauter Schein, und nur in den Ideen des reinen Verstandes und der Vernunft ist Wahrheit." (Prolegomena, § 122)
Der Idealismus, welcher also einerseits als Mittel dienen soll, die Möglichkeit reiner Vernunfterkenntnis zu beweisen, scheint nun von seiner Seite jene Erkenntnis zu gefährden, welche sich auf ein von außen Gegebenes aufbaut, die empirische Erkenntnis oder die "Erfahrung". Dieser Gefahr soll dadurch vorgebeugt werden, daß KANT seinen eigenen Idealismus als einen "transzendentalen" oder "kritischen" näher bestimmt, welcher jenem "echten" Idealismus gerade entgegengesetzt sein soll. Es obliegt aber unserem Philosophen der Beweis, daß mit dem von ihm vertretenen Idealismus die Möglichkeit einer empirischen Erkenntnis zusammenbestehen kann. So ergibt sich aus der Beantwortung der kritischen Grundfrage eine zweite oder Nebenfrage, nämlich die nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a posteriori. Diese letztere ist vom allgemein philosophischen Standpunkt zumindest nicht weniger wichtig, als jene; die bedeutendsten, auch dauernd wertvollsten Gedanken KANTs treten gerade in ihrer Beantwortung zutage. Die Theorie der Erfahrung bildet den Höhepunkt der kantischen Gedankenentwicklung. Es ist aber andererseits klar, daß KANT in gewissem Sinne berechtigt war, diese zweite Frage erst im Laufe seiner Untersuchung aufzunehmen. Ihre Notwendigkeit ergab sich eben erst aus der Beantwortung der "Hauptfrage". Als "echte" Idealisten, d. h. als solche, die einen von dem seinen wesentlich verschiedenen Standpunkt einnehmen, gelten ihm CARTESIUS und besonders BERKELEY. Gegen sie verteidigt KANT die Möglichkeit einer empirischen Erkenntnis von objektiver Gültigkeit, wie er die Möglichkeit einer Vernunfterkenntnis gegen die Einwürfe des Skeptizismus verteidigt. So finden wir das zweifache Thema der Vernunftkritik als zweifache Frontstellung gegen eine zweifache Infragestellung des gesicherten und gewissen Erkennens: In Bezug auf synthetische Urteile a priori gegen Hume, in Beziehung auf synthetische Urteile a posteriori gegen Berkeley. Beide Gegner gelten als typische Vertreter ihrer Geistesrichtung.

Die erste Aufgabe lag KANT ohne Zweifel zunächst viel mehr am Herzen, als die zweite. Sie erscheint ihm um ebenso viel dringender, als ihm HUME gefährlicher erscheint, als der "gute" BERKELEY; von jenem spricht er nie ohne die größte Achtung, von diesem selten ohne eine gewisse Geringschätzung. Bekanntlich hat KANT jede Verwandtschaft mit BERKELEY abgelehnt; als ebenso bekannt kann vorausgesetzt werden, daß er dies mit Unrecht getan hat. In einem wirklichen Gegensatz steht seine Lehre nur mit dem "problematischen" Idealismus des CARTESIUS, nicht mit dem "dogmatischen" des BERKELEY. Der Idealismus KANTs ist, der mit Nachdruck betonten Grundabsicht unseres Philosophen nach, ein "transzendentaler", der sich im Wesentlichen vom empirischen Idealismus dadurch unterscheidet, daß mit ihm der empirische Realismus untrennbar verbunden ist. Diese neue Auffassung des Idealismus wird aber innerlich unhaltbar und wird auch tatsächlich im Laufe der Untersuchung fallen gelassen zufolge der grundsätzlichen Beschränkung der Zeitform auf die inneren Erscheinungen. Im Zusammenhang damit tritt unvermerkt eine Verschiebung der Gesichtspunkte ein, indem dem transzendentalen wieder ein empirischer Idealismus substituiert wird. Die "Hauptfrage" bleibt von dieser innerlichen Wandlung unberührt. Erkenntnis aus reiner Vernunft und empirischer Idealismus bedeuten keinen Gegensatz. Umso einschneidender äußert sich dieselbe in Bezug auf das Problem der Erfahrung. Die kantische Erfahrungstheorie baut sich tatsächlich auf zwei wesentlich verschiedenen Voraussetzungen auf: auf dem gewollten transzendentalen und auf dem aus ihm gewordenen empirischen Idealismus. Infolgedessen leidet sich auch an Widersprüchen, welche keine Kunst der Interpretation aus dem Weg zu räumen vermocht hat. Nur die Berücksichtigung ihrer zweifachen Ausgangspunkte kann den Schlüssel an die Hand geben, sie im Hinblick jedes einzelnen derselben relativ widerspruchslos zu gestalten.


Erster Teil
Kants Lehre von der Sinnlichkeit

I. K a p i t e l
Der Begriff der Sinnlichkeit

1. Die Unterscheidung von Rezeptivität und Spontaneität, von Sinnlichkeit und Verstand, als der "zwei Grundquellen des Gemüts" ist eine fundamentale Voraussetzung der kantischen Erkenntnislehre. Die Rezeptivität unseres Gemüts, Vorstellungen zu empfangen, sofern es auf irgendeine Weise affiziert wird, heißt Sinnlichkeit, dagegen das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen, oder die Spontaneität der Erkenntnis, heißt Verstand (Kr. d. r. V., Seite 82). Rezeptivität und Sinnlichkeit, Spontaneität und Verstand sind paarweise identische Begriffe. (4) Die Sinnlichkeit ist die passive Seite des erkennenden Subjekts, der Verstand die aktive. Das Charakteristische der Rezeptivität oder "Empfänglichkeit" besteht im "Affiziertwerden", in der Fähigkeit, von außen her (nämlich relativ in Bezug auf die Sinnlichkeit) "Eindrücke" auf sich wirken zu lassen. Der Begriff der Rezeptivität würde aber nur dann das Wesen der Sinnlichkeit wirklich erschöpfen, wenn diese empfangenen Eindrücke ungeändert durch das Medium der Sinnlichkeit hindurchgehen würden. Das ist aber nicht der Fall. Dasjenige, was durch die Sinnlichkeit "gegeben" wird, ist nicht mehr dasselbe, was ihr gegeben worden ist. Jenes sind Anschauungen, ja "Gegenstände", dieses ist die bloße "Materie der sinnlichen Erkenntnis", deren "Form" aus dem aufnehmenden Organ stammt.

2. Der Ausdruck "Geben" für die Leistungen der Sinnlichkeit hat bekanntlich von seiten SCHOPENHAUERs die schärfste Verurteilung gefunden. Er nennt ihn "nichtssagend", "wunderlich", "unbestimmt" und "bildlich" (Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, Seite 519, 521 u. a.). Vermutlich hat aber KANT diesen Ausdruck gerade um seiner Unbestimmtheit wegen gewählt. Das "Geben" ist nur der korrelate Begriff zum "Empfangen". Etwas ist mir "gegeben" heißt zunächst nichts anderes, als: Es ist nicht von mir "gemacht", auch nicht von mir "erschlossen", sondern es ist für mich aber ohne mein Zutun da. Damit soll gesagt sein, daß sein Ursprung nicht in ebendemselben gesucht werden darf, dem oder wofür es gegeben ist. Derjenige, dem etwas gegeben wird, verhält sich nicht nur dem Geber, sondern auch dem Gegebenen selbst gegenüber passiv, empfangend, rezeptiv. Dadurch ist nicht ausgeschlossen, daß der Empfangende nicht doch in irgendeinem anderen und neuen Sinn auch der Schöpfer oder zumindest die Veranlassung dessen ist, was ihm gegeben wird (wie das sich selbst affizierende Subjekt). Aber er ist nicht Empfänger und Geber in gleicher Weise, ist es nicht jetzt, oder ist sich zumindest dessen nicht unmittelbar bewußt. Die Frage nach dem "Geber" ist überhaupt eine sekundäre, das Wesentliche in diesem Begriff ist das Bewußtsein der Rezeptivität im "Empfänger". Gegeben ist etwas zunächst nur relativ auf diesen; es könnte aber auch sein, daß über seinen Ursprung überhaupt nichts ausgemacht werden kann; dann haben wir ein absolut Gegebenes. Die durch die Sinnlichkeit gegebenen Anschauungen sind selbst ein relativ Gegebenes für die oberen Erkenntnisvermögen, zunächst für den Verstand. Dieser verhält sich also seinerseits wieder der Sinnlichkeit gegenüber empfangend, rezeptiv. Der Sinnlichkeit selbst sind aber nicht Anschauungen, auch nicht Empfindungen gegeben, sondern nur die "Materie" zu solchen, "das, was der Empfindung korrespondiert" (Kr. d. r. V., Seite 56). Die Empfindungen selbst sind Reaktionen des aufnehmenden Teils unseres Ich auf Eindrücke von außen her, welche also in zweifacher Weise durch die Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit umgestaltet werden: einmal durch die qualitative Eigentümlichkeit jener Reaktion zu Empfindungen, und dann durch die "Formen", in welchen dieselbe stattfindet, zu räumlichen und zeitlichen Anschauungen. Nicht nur diese Formen, auch jene Reaktionsweisen sind in gewissem Sinn a priori und begründen ebenso wie die ersteren die Idealität der Erscheinungen. Absolut gegeben sind aber für uns jene Einwirkungen, welche - unbekannt woher - auf unsere Sinne ausgeübt werden, zumindest soweit sie dem Gebiet des äußeren Sinnes angehören.

3. Indem die Sinnlichkeit das ihr Gegebene vermöge ihrer eigentümlichen Organisation umarbeitet und gestaltet, verhält sie sich insofern auch selbst aktiv, hervorbringend, spontan. Es scheint somit keineswegs berechtigt, daß KANT seine Sinnlichkeit und seinen Verstand kurzweg mit Rezeptivität und Spontaneität identifiziert hat (5). Es bedarf auch der ausdrücklichen Hervorhebung, daß nach der ursprünglichen Fassung der Sinneslehre - wie sie in der Dissertation vom Jahr 1770 und in der transzendentalen Ästhetik vorliegt - "die reinen Formen sinnlicher Anschauungen" selbst als "reine Anschauungen" "im Gemüt a priori bereit liegen"; daß ferner die spätere kantische Lehre, welche auch die Anschauungen des Raumes und der Zeit durch eine verstandesmäßige Synthese aufbauen läßt, mit jener ursprünglichen Auffassung in Widerspruch steht, welche ausdrücklich verbietet, sich den Raum durch "Zusammensetzung" seiner Bestandteile entstanden zu denken (Kr. d. r. V., Seite 59/60).

Die Sinnlichkeit ist nach KANT kein einfaches, sondern ein Doppelvermögen: ein äußerer und ein innerer Sinn. In zweifacher Weise sind diese beiden Zweige der Sinnlichkeit voneinander unterschieden: durch eine zweifache Art von Affektion und durch eine zweifache Art von formaler Beschaffenheit des aufnehmenden Organs. Die Sinnlichkeit als äußerer Sinn wird von "Dingen ansich" affiziert und faßt die Wirkungen dieser Affektion in die Form des Raumes. Die Sinnlichkeit als innerer Sinn wird durch das Gemüt selbst affiziert und ordnet seine Empfindungen in der Zeit. Es unterliegt kaum einem Zweifel, daß KANT in dieser Unterscheidung - vielleicht unmittelbar - dem Beispiel LOCKEs gefolgt ist (6). LOCKE unterscheidet die Gegenstände der Beobachtung in "external sensible objects" und in "internal operations of our minds" (Essay II, 1. § 2). Die äußerlich wahrnehmbaren Dinge werden uns durch "sensation", die inneren Vorgänge in unserem Geist durch "reflection" dargeboten (7). Die letztere, als dem eigentlichen Sinn sehr ähnlich, kann auch "internal sense" heißen. BERKELEY und HUME haben jene Unterscheidung und diesen Ausdruck von LOCKE angenommen. Aus der äußeren Wahrnehmung entsteht die Vorstellung des Raumes, aus der inneren Selbstwahrnehmung die Vorstellung der Zeit (a. a. O., II. 13., II. 14.).
    "Diese Nebeneinanderstellung mag dann dazu beigetragen haben, daß Kant darauf kam, wie den Raum als die Form der äußeren, so die Zeit als die Form der inneren Erscheinungen zu fassen." (Vaihinger, Kommentar II, Seite 127)
Es darf jedoch von vornherein auch der wesentliche Unterschied nicht übersehen werden, welcher zwischen dieser kantischen und der Herleitung LOCKEs von Zeit und Raum besteht. Bei KANT nämlich handelt es ich um die empirisch-reale Zeit selbst, welche auf den inneren, und um den empirisch-realen Raum, welcher auf die äußeren Erscheinungen beschränkt wird, also um die Daseinsformen der empirischen Wirklichkeit. Bei LOCKE hingegen ist die Rede nur von der psychologischen Gewinnung der Zeit- bzw. Raumvorstellung aus den entsprechednen Erscheinungsgebieten, ohne daß damit eine prinzipielle Beschränkung der Zeitform selbst auf den "internal sense" ausgesprochen würde.

4. Abgesehen von allem weiteren, erhebt sich gegen diese Aufteilung von Raum und Zeit an die beiden Zweige der Sinnlichkeit ein gewichtiges Bedenken. Offenbar gehört die Zeit nicht in derselben Weise zum Wesen des inneren Sinns wie der Raum zum Wesen des äußeren. Die Raumform erschöpft das Charakteristische der äußeren Erscheinungen. "Der Begriff außer uns bedeutet nur die Existenz im Raum" (Prolegomena, Seite 85). Der Begriff "in uns" aber, mag man ihn nehmen wie man will, hat mit dem Zeitverhältnis an und für sich nicht das Mindeste zu tun. Er ist der Korrelatbegriff des "außer uns" und bedeutet daher zunächst nur eine "Existenz nicht im Raum", aber nicht eine "Existenz in der Zeit". Es ließe sich ganz wohl ein Bewußtsein seiner selbst, d. h. ein innerer Sinn denken, dem der Charakter der Zeitlichkeit mangelt, aber nicht ein äußerer Sinn ohne Raum. Äußerer Sinn und Raum gehören notwendig zusammen; die Zeit aber ist für den inneren Sinn relativ zufällig. Diese Diskrepanz in der Zusammengehörigkeit von Sinnesgebiet und Anschauungsform findet auch ihren Ausdruck in der "Metaphysischen Erörterung" der Begriffe Raum und Zeit. Die beiden ersten Beweise für die Apriorität des Raumes sind auf der inneren Zusammengehörigkeit von äußerer Erfahrung und Raumanschauung aufgebaut - ("äußere Erfahrung ist selbst nur durch die gedachte (d. h. Raum-)Vorstellung möglich" Kr. d. r. V., Seite 59) - während in der Erörterung des Zeitbegriffs die parallelen Stellen im Hinblick auf seine Beziehung zur inneren Erfahrung durchwegs fehlen. Also auch abgesehen von dem allgemeinen Bedenken, die Zeit ohne weitere Restriktion als "Anschauung" zu bezeichnen, bloß "weil alle ihre Verhältnisse sich an einer äußeren Anschauung ausdrücken lassen" (Kr. d. r. V., Seite 67)(8), versagt auch, hinsichtlich ihrer distinguierenden [unterscheidenden - wp] Bedeutung für die Sinnlichkeit, KANTs durchgängige Gleichstellung von Raum und Zeit.

5. In der Auffassung LOCKEs stehen sich äußerer und innerer Sinn als relativ gleichberechtigte Erkenntnisquellen gegenüber (9). Ohne Zweifel waren äußerer und innerer Sinn auch von KANT ursprünglich als zwei streng geschiedene Sinnesgebiete von paritätischem Erkenntniswert gedacht, beide nur geeinigt durch den gemeinsamen Begriff der Rezeptivität, aber geschieden durch Form und Materie ihre Tätigkeit und Bestimmungen. In der Verteilung und Gegenüberstellung von Raum und Zeit aber als der Formen dieser zwei spezifisch verschiedenen Sinnesgebiete liegt bereits der Keim zu jener Abänderung der kantischen Sinneslehre, welche die ursprüngliche Koordination der beiden Zweige der Sinnlichkeit in eine Subordination [Unterordnung - wp] der äußeren unter den inneren Sinn verwandelt, sowie aller aus dieser Umgestaltung sich ergebenden Konsequenzen für die Theorie der Erfahrung.


II. K a p i t e l
Der äußere Sinn

1. Der äußere Sinn ist jene "Eigenschaft des Gemüts", mittels welcher wir uns "Gegenstände als außerhalb von uns und diese insgesamt im Raum vorstellen" (Kr. d. r. V., Seite 58). In dieser grundlegenden Definition des äußeren Sinnes ist zugleich ein Fundamentalsatz der kantischen Erkenntnislehre ausgesprochen: daß nämlich Dinge "außer uns" - im Sinne von praeter nos [außer uns - wp] - uns jederzeit nur als Dinge im Raum - extra nos [außerhalb von uns - wp] - und nur vermöge unserer Sinnlichkeit gegeben werden können. "Alles, was uns als Gegenstand gegeben werden soll, muß uns in der Anschauung gegeben werden." (Prolegomena, Seite 37) Die räumliche Anschauung ist das Charakteristische des äußeren Sinnes und seiner Bestimmungen. Die Anschauungen, welche uns derselbe liefert, sind teils Anschauungen des Raumes selbst (reine Anschauungen), teils gegenständliche Anschauungen im Raum (empirische Anschauungen). Der Raum ist die Form des äußeren Sinnes und hat außerhalb desselben keine Wirklichkeit. Die r einen Anschauungen stammen daher aus dem äußeren Sinn selbst und sinn ein Besitztum a priori des erkennenden Subjekts. Die empirischen Anschauungen hingegen enthalten außer dem formalen Prinzip a priori noch einen materialen, "gegebenen" Faktor, von dem zunächst nur feststeht, daß sein Ursprung nicht in unserer Sinnlichkeit und unserer intellektuellen Organisation überhaupt gefunden werden kann. Diese "Materie der sinnlichen Erkenntnis" (Kr. d. r. V., Seite 81) besteht aus Empfindungen des äußeren Sinnes, d. h. aus qualitativen Reaktionen desselben auf Eindrücke, die von außen her auf ihn einwirken. Dieses "außen" ist ein transzendentales im Gegensatz zu jenem, in welchem der äußere Sinn selbst seine Eindrücke ordnet, nämlich dem empirischen "außer uns" im Raum. Die Einwirkung, welche der äußere Sinn von transzendentaler Seite her erfährt, heißt deshalb die transzendentale Affektion im Gegensatz zu empirischen, welche unser Körper von körperlichen Dingen erleidet. Jene Eindrücke sind das absolut -, die ihnen entsprechenden Empfindungen das relativ Gegebene für unseren äußeren Sinn; die räumlichen Anschauungen desselben sind das Gegebene für unser Bewußtsein und die weitere denkende Umarbeitung durch den Verstand. Daß durch die Sinnlichkeit uns fertige Anschauungen im Raum, also empirische "Gegenstände" gegeben werden sollen (10), scheint mit einer später vorgetragenen Lehre KANTs in Widerspruch zu stehen, nach welcher es der Einbildungskraft überlassen bleibt, die von den Sinnen gelieferten Eindrücken "zusammenzusetzen" und so "Bilder von Gegenständen" zuwege zu bringen (Kr. d. r. V., Seite 579). Da aber anderwärts die Einbildungskraft selbst ausdrücklich zur Sinnlichkeit gerechnet wird, so können Sinn sensu stricto [im engeren Sinn - wp] und Einbildungskraft als erst später unterschiedene Differenzierungen der ursprünglich als einheitliches Vermögen geltenden Sinnlichkeit angesehen werden (11). Aus anderen Gründen hat SCHOPENHAUER das Gegebensein von Gegenständen durch die Sinnlichkeit auf das Schärfste bekämpft. Daß durch die Sinnlichkeit Gegenstände gegeben werden, ist falsch - sagt er -
    "denn danach wäre der Eindruck, für den allein wie bloße Rezeptivität haben, der also von außen kommt und allein eigentlich gegeben ist, schon eine Vorstellung, ja sogar schon ein Gegenstand ... usw." (12)
Dieser Einwand ist nicht zutreffend. KANT behauptet eben gar nicht, daß jener "Eindruck, der von außen kommt", selbst eine Vorstellung oder gar ein Gegenstand ist. Die kantischen Sätze beziehen sich nicht auf die Empfindung als solche, sondern auf die bereits in die Raum- und Zeitform gefaßte Empfindung, d. h. auf die empirische Anschauung. Eben diese bedeutet aber auch für SCHOPENHAUER den "Gegenstand" (Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, Anhang: Kritik der kantischen Philosophie, Seite 527). Der Unterschied ist nur der, daß SCHOPENHAUER zu dieser Formgebung den Verstand und unbewußte Schlüsse zu Hilfe nimmt, während für KANT Raum und Zeit unmittelbar die Reaktionsformen der Sinnlichkeit auf jene Eindrücke bedeuten. Aber auch sachlich ist KANT gegen SCHOPENHAUER im Recht. Dieser übersieht die Relativität im Begriff des Gegebenseins. Auch nach seiner eigenen Lehre gibt es ein zweifach Gegebenes: Den "Eindruck von außen", welcher für die Sinnlichkeit, und die Empfindung, welche durch die Sinnlichkeit für den Verstand gegeben ist. Nun ist aber dasjenige, was wir in unserem Bewußtseins vorfinden, wenn wir zu philosophieren beginnen, gerade niemals die "bloße Empfindung", die "Modifikation im Sinnesorgan", sondern - nebst anderem - eine Mannigfaltigkeit räumlich und zeitlich bestimmter Empfindungskomplexe, welche wir Gegenstände nennen und zu denen auch unser Leib mitsamt den Sinnesorganen gehört. Vom Standpunkt des Bewußtseins sind nur diese gegeben, raum- und zeitlose Empfindungen aber sind zunächst nur Abstraktionen, welche nur vom Standpunkt der Transzendentalphilosophie als gegeben angesehen werden können.

Nichtsdestoweniger bestehen bei KANT wirklich zwei einander widersprechende Auffassungen dieses Punktes: KANT hat sowohl gelehrt, daß es auf dem Boden der Sinnlichkeit phänomenale Gegenstände gibt, wie daß es keine solche gibt. Die Verschiedenheit dieser beiden Ansichten wird sich als Konsequenz einer zweifachen Auffassung des sinnlichen Erkennens überhaupt erweisen. In jedem Fall aber handelt es sich bei den durch die Sinnlichkeit gegebenen Gegenständen um "Erscheinungen", d. h. um kategoriale noch unbestimmte Gegenstände (13), deren sämtliche Bestimmungen anschaulicher Art sind.

2. Es ist für das Folgende von Wichtigkeit, über das Verhältnis der transzendentalen Affektion zur empirischen und der "Materie unserer sinnlichen Erkenntnis" zu den psycho-physiologischen "Empfindungen" Klarheit zu gewinnen. Es könnte als das nächstliegende scheinen, die Empfindungen des äußeren Sinnes jener "bloßen Empfindung im Sinnesorgan" gleichzusetzen, deren ausschließliches Recht auf den Titel des "Gegebenen" SCHOPENHAUER so nachdrücklich behauptet. Dagegen spricht aber eine sehr einfache Erwägung. Diese Sinnesorgane nämlich, als Theile des menschlichen Leibes, gehören offenbar selbst zu den "gegebenen Gegenständen" im Sinne KANTs und als Objekte wissenschaftlicher Forschung sogar zu den kategorial bestimmten "Gegenständen der Erfahrung" im prägnanten Sinn des Wortes. Es kann aber die allem Empirischen zugrunde liegende Empfindung nicht selbst schon in einem räumlich ausgedehnten Empfindungskomplex entstanden, also nicht eine somatische Funktion sein. Es gibt auf dem Standpunkt der Transzendentalphilosophie keine körperlichen Dinge, welche nicht Erscheinungen des äußeren Sinnes, also nicht selbst aus jenen Empfindungen aufgebaut wären, deren Bedingung sie abgeben sollten. Überdies ist von der Vorstellung physiologischer Prozesse der Begriff der Bewegung und folglich auch der der Zeit nicht zu trennen. In der Empfindung aber, welche "ansich gar keine objektive Vorstellung" ist, wird "weder die Anschauung vom Raum, noch von der Zeit angetroffen" (Kr. d. r. V., Seite 159). Folglich kann sie auch ihrem Ursprung nach nicht lokalisiert oder irgendwie zeitlich bestimmt gedacht werden. Der Stoff der Erfahrung kann nicht selbst wieder durch Erfahrung gegeben sein (14). Eine "Empfindung", welche schlechterdings raum- und zeitlos zu denken ist und doch mehr sein soll, als bloße Abstraktion, ist überhaupt weder vom Standpunkt der Physiologie noch von dem der Psychologie, sondern nur von dem der Transzendentalphilosophie aus zu verstehen. Sie ist nicht in einem empirischen, sondern nur in einem transzendentalem Sinn ein Gegebenes. Sie ist überhaupt nicht als Bewußtseinstatsache gegeben, sondern sie ist in Wahrheit nur - die Triftigkeit der Raum- und Zeitlehre vorausgesetzt - eine denknotwendige Fiktion, um die Entstehung der empirischen Anschauung zu erklären. Die Empfindungen des äußeren Sinnes könnten deshalb auch transzendentale oder - per antiphrasin - "reine" Empfindungen heißen, weil in ihnen nichts, was nicht zur Empfindung gehört, angetroffen wird. Offenbar ist dann aber auch jener Sinn, welcher aufgrund äußerer Einwirkungen diese Empfindungen hervorbringt, in die ihm eigene Form faßt und erst nach diesr zweifachen "Assimilation" jene primären Eindrücke als "Anschauungen" dem Bewußtsein darbietet, nicht identisch mit unseren körperlichen Sinnesorganen noch mit irgendeiner Art von Empfänglichkeit für physikalische oder sonstige empirische Reize. Er ist kein empirisches, sondern ein transzendentales Vermögen. Es fragt sich, ob neben diesem äußeren Sinn in transzendentaler noch außerdem noch ein äußerer Sinn in empirischer Bedeutung anzunehmen ist. Versuche, welche von den Schwierigkeiten der transzendentalen Affektion ausgehend, den äußeren Sinn überhaupt ins Empirische umzudeuten bestrebt sind, bleiben zunächst außer Betracht. Dieselben stürzen sich auch nicht nur, "um die Scylla der transzendenten Affektion zu vermeiden, in die Charybdis der empirischen" (15), sondern stehen auch mit der "beständigen Behauptung der Kritik" im Widerspruch, welche "den Grund des Stoffes sinnlicher Vorstellungen nicht selbst wiederum in Dingen als Gegenständen der Sinne, sondern in etwas Übersinnlichem setzt." (16) Nichtsdestoweniger ist kein Zweifel, daß KANT neben der transzendentalen auch eine empirische Affektion gelehrt hat. Daß er von einer solchen nur an verhältnismäßig wenigen Stellen ausdrücklich spricht, beweist nur, daß er sie zwar als selbstverständlich vorausgesetzt; aber auch, daß er sie in Bezug auf seine transzendentalphilosophische Aufgabe für unwichtig gehalten hat. Die empirische Affektion besteht in der Affektion des empirischen Ich durch Erscheinungen, und zwar hier durch äußere Erscheinungen. Dieses empirische Ich ist aber nicht - wie VAIHINGER meint (17) - mit dem empirischen Ich des inneren Sinnes identisch, sondern ist vielmehr das empirische Ich des äußeren Sinnes: Es ist der "menschliche Körper", der "durch körperliche Dinge" affiziert wird, wie KANT in der Anthrolpologie in pragmatischer Hinsicht, Werke VII, Seite 465, ausdrücklich lehrt, in welcher überhaupt das Kapitel von der empirischen Affektion seine systematische Stelle hat. Auch die Sinne, welche von der empirischen Affektion getroffen werden, sind nicht psychische Vermögen irgendeiner Art, sondern selbst körperliche Dinge; sie sind identisch mit unseren leiblichen Sinnesorganen. Nur von diesen gilt es, daß "äußere Sinne" nur durch Bewegung affiziert werden können (Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Werke IV, Seite 366). Nur zu somatischen Sinnesorganen kann eine "physisch verstandene Sache ansich" "verschiedene Lagen" einnehmen (Kr. d. r. V., Seite 74). Ebenso ist das "Licht, welches zwischen unserem Auge und den Weltkörpern spielt" (Kr. d. r. V., Seite 190) ein äußerliches Phänomen, welches zwischen zwei anderen Erscheinungen eine Verbindung herstellt. Die empirische Affektion ist mit einem Wort nichts anderes, als ein Kausalverhältnis zwischen äußeren Erscheinungen, von denen die eine als Objekt, die andere als Subjekt gilt, wobei letzteres aber weder mit dem transzendentalen Ich nocht mit dem empirischen Ich des inneren Sinnes zusammenfällt, sondern nur als deren Repräsentant innerhalb der Körperwelt gelten kann. Die Frage nach dem Verhältnis von Empfindung zu bewegter Materie ist für die Transzendentalphilosophie ebenso irrelevant, wie die nach dem Verhältnis des "allgemeinen äußeren Sinnes" zu den "fünf speziellen äußeren Sinnen" (Vaihinger, Kommentar II, Seite 124). Jener heißt äußerer Sinn, weil ihm die Form des Raumes eigen ist, diese heißen so, weil sie selbst im Raum sich befinden und von Dingen im Raum affiziert werden.

3. KANT hat gelehrt, daß die primären Eindrücke, welche unser äußerer Sinn empfängt, in der Art zustande kommen, daß derselbe von Dingen ansich affiziert wird. In den kantischen Schriften finden sich so viele Stellen von erfreulicher Klarheit und Bestimmtheit, in welchen diese Affektion durch Dinge-ansich gelehrt wird, daß man VAIHINGER nur beistimmen kann, wenn er sagt, es gehört Mut dazu, "zu behaupten, Kant habe nicht im Ernst von unbekannten Dingen-ansich gesprochen, welche uns affizieren." (Kommentar II, Seite 21) Die Frage ist nur die, ob die transzendentale Affektion durch Dinge-ansich nicht mit anderen Fundamentalsätzen des Kritizismus im Widerspruch steht. Es ist für das Folgende von Wichtigkeit, ob und in welchem Sinn die Lehre von der transzendentalen Affektion mit dem Buchstaben und Geist des kantischen Systems vereinbar ist. Wenn die Dinge ansich uns affizieren, so sind sie die Ursache der transzendentalen Affektion, wie die allem Gegebenen zugrunde liegende Empfindung deren Wirkung ist. Nun kommt - nach der Kr. d. r. V. eigenen Worten - den Kategorien nur eine immanente, niemals transzendente Geltung zu. Folglich kann ein transzendenter Gegenstand (bzw. eine Aktion desselben) weder die Ursache der Affektion sein, noch kann seine Existenz aus dieser erschlossen werden. Wenn "Ding-ansich" einen transzendenten Gegenstand bedeutet, so ist die Lehre von der transzentalen Affektion ohne Zweifel die Achillesferse des kantischen Systems, wie seit JACOBIs und SCHULZEs klassischer Kritik immer wieder behauptet wird. Wenn man ber, wie billig, nicht die einleitenden, sondern die abschließenden Begriffsbestimmungen des Systems zum Maßstab seiner Kritik macht, so braucht die Transzendentalphilosophie an dieser Klippe nicht zu scheitern. Der Ausdruck "transzendentale Affektion" besagt zunächst nichts anderes, als daß die Eindrücke, auf welche der äußere Sinn mit Empfindung reagiert, in keiner Weise auf das erkennende Subjekt zurückgeführt werden können, d. h. daß sie für den äußeren Sinn ein absolut Gegebenes sind. Die metaphysische Gleichung: "Ding-ansich = Ich ansich" bleibt schlechterdings problematisch dabei außerhalb der Diskussion. In dem Urteil aber, welches den Ursprung jener Eindrücke aus uns selbst negiert, ist zugleich schon gesagt, daß dieselben anderswoher stammen müssen (18).

Mit dieser Erkenntnis halten wir unmittelbar an der Schwelle der Transzendenz. Wir überschreiten diese Schwelle noch nicht, wenn wir, dem "Leitfaden der Kausalität" folgend, durch die Frage nach dem Ursprung jener Eindrücke dieses "anderswoher" näher zu bestimmen suchen. Nur die Antwort auf diese Frage ist entscheidend. Dieselbe kann positiv oder negativ ausfallen; sie kann eine Erkenntnis der affizierenden Ursache enthalten wollen, oder sie kann die Möglichkeit einer solchen Erkenntnis verneinen. Nur in jenem Fall steht sie mit dem Geist der Kritik in Widerspruch, nicht in diesem. Der Begriff des "Dings-ansich", welcher an die Stelle jenes "anderswoher" von KANT gesetzt wird, läßt nun tatsächlich eine zweifache Auslegung zu, eine positive und eine negative. Insbesondere in den einleitenden Abschnitten der Vernunftkritik hat das Ding-ansich einen ausgesprochenen gegenständlichen Charakter. Es ist ein wirkliches Ding, gedacht nach Analogie der "Dinge für uns", nur nach Abzug all dessen, was an diesen letzteren als subjektiv erkannt worden ist. Die transzendente Existenz von Dingen ansich gilt so gut, wie als Axiom. In der fortschreitenden Gedankenentwicklung tritt jedoch eine weitgehende Umbestimmung jenes Begriffs ein, welche dahin führt, das "Ding ansich" als "bloßen Grenzbegriff" oder "Noumenon im negativen Verstand" zu bezeichnen, als ein schlechthin unbestimmtes und unbestimmbares "Etwas überhaupt = X (Kr. d. r. V., Seite 219f). Auf diesem Standpunkt ist das Ding-ansich nichts mehr als bloßer Korrelatbegriff der Erscheinung (Prolegomana, Seite 63).

Wenn die Dinge-ansich metaphysische Wesenheiten sind, deren Existenz schon vor dem Schluß aus der transzendentalen Affektion anderwärts feststeht, so wird jenes unbestimmte "anderswoher" durch die Gleichsetzung mit ihnen in einem positiven Sinn bestimmt, und so durch die Angabe einer bestimmten, transzendenten Ursache (Ding-ansich) zu einer gegebenen Wirkung (Affektion) die Grenze der zulässigen Anwendung des Kausalbegriffs tatsächlich überschritten. Bedeutet aber "Ding ansich" einen bloßen Grenzbegriff = X, so steht es mit jenem "anderswoher" erkenntnistheoretisch auf vollkommen gleicher Stufe (19); es ist nur ein anderer Ausdruck für das Ende aller immanenten Erkenntnis und die Unerreichbarkeit aller transzendenten. Ein bloßer Begriff kann nicht wirkliche Ursache der Affektion sein, aber er kann unsere Kausalerklärung als Grenzbegriff abschließen. Es liegt dann wohl ein Kausalschluß vor, aber ein unvollendeter und unvollendbarer. Die erkannte Unmöglichkeit - und zwar nicht eine zufällige oder vorläufige, sondern eine prinzipielle Unmöglichkeit - einer gegebenen Wirklung eine bestimmte Ursache zu setzen, bedeutet nichts anderes, als die Selbstaufhebung dieses sonst so fruchtbaren Denkprinzips im Augenblick seiner versuchten Anwendung auf Transzendentes. Die "Affektion durch Dinge ansich" erscheint dann nur als eine positive Wendung für eine negative Erkenntnis, nämlich für die vom Standpunkt des kantischen Systems nicht anfechtbare Erkenntnis, daß zur gegebenen Wirkung eine Ursache im Immanenten nicht auffindbar ist. "Ding ansich" ist dann nicht mehr als der bloße Korrelatbegriff der Rezeptivität:
    "Indessen können wir" - heißt es Kr. d. r. V. Seite 349 - "die bloß intelligible Ursache der Erscheinungen überhaupt das transzendente Objekt nennen, bloß damit wir etwas haben, was der Sinnlichkeit als einer Rezeptivität entspricht." (20)
Das Entscheidende in unserer Frage bleibt also die Begriffsbestimmung der "Dinge-ansich". Tatsächlich spielt das Ding-ansich im kantischen System eine Doppelrolle: Einmal als "Gegenstand", das anderemal als "Begriff", einmal als Noumenon im positiven - das anderemal als Noumenon im negativen Verstand. Dieser Umstand hängt innig mit der zweifachen Form der kantischen Erfahrungslehre zusammen. Hier genügt der Nachweis, daß nur die negative Fassung des Ding-ansich-Begriffs die Schwierigkeiten der transzendentalen Affektion überwinden kann.

4. Zusammenfassend können wir also den äußeren Sinn definieren als jene Seite unserer Rezeptivität, welche Eindrücke empfängt, von denen nur feststeht, daß sie nicht aus dem erkennenden Subjekt stammen, und auf diese Eindrücke qualitativ durch die transzendentalen Empfindungen, quantitativ durch deren Einformung in die ihm eigene Anschauungsform des Raumes reagiert. Mit doppelter Berechtigung kann also der "äußere Sinn" seinen Namen sichern: Weil er Eindrücke von "außen", wenn auch unbekannt woher, empfängt, und weil er diese Eindrücke in der Form des Raumes ordnet, "in welchem alles außereinander, er selbst der Raum aber in uns ist." (Kr. d. r. V., Seite 599). Das erstere "außen" ist transzendental und bezieht sich auf den äußeren Sinn als rezeptives Organ unseres "Gemüts"; das zweite "außen" ist empirisch und bezieht sich auf den Inhalt des äußeren Sinnes, auf die "empirisch äußerlichen Gegenstände" (Kr. d. r. V., Seite 601). Der äußere Sinn selbst aber mitsamt dem Raum gehört dem erkennenden Subjekt an und ist in einem transzendentalen Sinn "in uns". Daher ist auch die ganze Außenwelt nicht Ding-ansich, sondern eine bloße Erscheinung unseres äußeren Sinnes, wie die transzendentale Ästhetik "unleugbar bewiesen" hat.

LITERATUR: Robert Reininger, Kants Lehre vom inneren Sinn und seine Theorie der Erfahrung, Wien und Leipzig 1900
    Anmerkungen
    1) Vgl. Vaihinger, "Kommentar zur Kr. d. r. V.", Bd. 1, Seite 558.
    2) Die Würde der Mathematik und der reinen Naturwissenschaft stand für Kant wohl immer außer allem Zweifel. Mathematik und reinen Naturwissenschaft sind wirklich; die Frage ist nur die nach ihrer Möglichkeit. (Prolegomena, § 23)
    3) Adolf Stöhr, Analyse der reinen Naturwissenschaft Kants, Wien 1884, Seite 39.
    4) Gelegentlich (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, VII, Seite 451) wird wohl die "receptivitas" in Gegensatz gestellt zur "facultas" überhaupt; doch ist wohl zweifellos auch die Sinnlichkeit als ein "Vermögen" im Sinne Kants aufzufassen (vgl. Vaihinger, Kommentar II, Seite 13)
    5) vgl. auch Jürgen Bona-Meyer, "Kants Psychologie", 1869, Seite 175-177.
    6) Dies nehmen nebst anderen auch Kuno Fischer, Geschichte der neuern Philosophie, Bd. III, Seite 343), Cohen (Kants Theorie der Erfahrung, Seite 332 und Vaihinger, Kommentar II, Seite 127) an.
    7) "All ideas come from sensation or reflection." - Locke, Essay II, Kap. 1, § 2.
    8) In der Dissertation vom Jahr 1770 hieß es: "conceptus temporis tantummodo lege mentis interna nititur, neque est intuitus quidam connatus. [Der Begriff der Zeit beruht ausschließlich auf den inneren Gesetzen des Geistes und ist keine angeborene Intuition. - wp] (Sect. III, § 14, Werke Hartenstein, B. II, 408)
    9) "Two are the fountains of knowledge." - Locke, Essay II, 1, § 2.
    10) Wie von Kant an verschiedenen Orten ausdrücklich gelehrt wird, z. B. Kr. d. r. V., Seite 124, 481, 565 und öfter.
    11) "Die Sinnlichkeit enthält zwei Stücke: den Sinn und die Einbildungskraft." (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Werke Hartenstein, Bd. VII, Seite 465)
    12) Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung, 1859, Bd. I, Seite 520.
    13) Kr. d. r. V., Seite 56. Vgl. auch Vaihinger, Kommentar II, Seite 17
    14) Vgl. Kuno Fischer, Kritik der kantischen Philosophie, zweite Auflage, Seite 167.
    15) Vaihinger, Kommentar II, Seite 51.
    16) Streitschrift gegen Eberhard "Über eine Entdeckung ... etc.", Werke VI, Seite 31
    17) Der Genannte behandelt sehr eingehend und interessant die Frage der empirischen Affektion neben der transzendentalen in den "Straßburger Abhandlungen zur Philosophie", 1884 (Zu Kants Widerlegung des Idealismus), welche uns noch später beschäftigen wird.
    18) Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten", Werke IV (Hartenstein), Seite 299.
    19) Der Ausdruck "anderswoher" ist allerdings um ebensoviel besser, wie der Ausdruck "Ding ansich", als er unbestimmter ist als dieser. Dasselbe gilt von "geben" im Gegensatz zu "affizieren". Der "nichtssagendere" Ausdruck (Schopenhauer) ist hier der passendere.
    20) Mit Recht bemerkt zu dieser Stelle Drobisch ("Kants Ding ansich und sein Erfahrungsbegriff", 1885): "Hier wird dem transzendentalen Objekt kaum mehr als eine bloß nominale, und höchstens nur die konzeptuale Bedeutung eines Gedankendings zugestanden." (Seite 9)