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BENNO ERDMANN
Zur Theorie
der Apperzeption


"Empfindungen sind uns niemals unmittelbar gegeben. Einerseits sind sie stets zu Wahrnehmungsvorstellungen verflochten, andererseits sind sie im entwickelten Bewußtsein von den apperzipierenden psychischen Vorgängen abhängig. Zur reinen Empfindung gelangen wir also nur so weit, als der Weg der Abstraktion führt."

"Die Vorstellungen unterscheiden sich eigentümlich von den Empfindungen. Die Vorstellung des hellsten Glanzes leuchtet nicht, die des stärksten Schalls klingt nicht, die der größten Qual tut nicht weh; bei all dem aber stellt die Vorstellung ganz genau den Glanz, den Klang oder den Schmerz vor, den sie nicht wirklich reproduziert."

"Es gibt in unserem Denken nichts schlechthin Unvergleichliches. Alles ist mit allem wenigstens als Vorgestelltes gleichartig. Das Vorgestellte überhaupt ist also die höchste Gattung. Daß in diesem Begriff von allen Eigentümlichkeiten des Gedachten abgesehen werden muß, folgt aus seiner Natur."

"Das Dasein gibt keinen Vorstellungsinhalt, dessen Fortnahme vom Komplex der Merkmale, die den Gegenstand konstituieren, irgendetwas verloren gehen lassen würde, dessen Zufügung irgendetwas zum Vorstellungsinhalt desselben beifügen würde."

I.

Das Wort "Vorstellung", das im Verlauf dieser Untersuchung vielfach zur Verwendung kommt, hat im wissenschaftlichen Sprachgebrauch bisher keine allgemein geltende Bedeutung gewonnen.

In  weitester  Fassung ist es durch KANT in Umlauf gekommen. Ihm bezeichnete dasselbe nur jedes Bewußtsein, das nicht Gefühl oder Wille ist, er trug auch kein Bedenken, von unbewußten Vorstellungen zu reden, "sofern wir uns doch mittelbar bewußt sein können, eine Vorstellung zu haben, obgleich wir uns ihrer unmittelbar nicht bewußt sind". Für ihn war daher "sich etwas vorstellen" der "erste Grad der Erkenntnis; der zweite, sich mit Bewußtsein etwas vorstellen". Vorstellung also ist "die Gattung überhaupt. Unter ihr steht die Vorstellung mit Bewußtsein" (1). Es sind LEIBNIZ'sche Gedankengänge, denen dieser Sprachgebrauch entstammt. Eben dieselben haben bei HERBART eine ähnlich allgemeine Begrenzung des Begriffs zur Folge gehabt. HERBART unterscheidet "bewußtlose Vorstellungen", d. h. solche, "die im Bewußtsein sind, ohne daß wir uns ihrer als der unsrigen bewußt sind, und "vollständig gehemmte Vorstellungen", die "ganz und gar in ein bloßes Streben vorzustellen verwandelt", die also "kein wirkliches Vorstellen" sind, sondern sich "unter der Schwelle des Bewußtseins" befinden (2). Die letzteren entsprechen somit den unbewußten Vorstellungen KANTs. VOLKMANN bezeichnet dieselben als Vorstellungen, dieselben als Vorstellungen, "die eben nicht wirklich vorgestellt werden". Er findet: "Unbewußtes Vorstellen ansich ist ebenso wenig ein Widerspruch, als unbewußte Vorstellung, denn so wenig eine Vorstellung, weil einmal vorgestellt, immer wirklich vorgestellt bleiben muß, ebensowenig muß das Vorstellen, das, wenn wirksam, jedesmal Bewußtsein ist, auch jedesmal Bewußtes werden." (3) Analog erklärt auch STEINTHAL: "Vorstellungen können auch unbewußt sein ... Bewußtheit ist ein Zustand, in welchen sie geraten können, in welchem sie aber nicht immer sind; sie ist eine Qualität, welche die Vorstellungen unter Umständen, aber nur für kurze Dauer, erst erlangen, welche aber nicht ihrem Inhalt und Wesen ansich zukommt" (4). Auch TETENS übrigens nahm "Vorstellungen ohne Bewußtsein" an (5).

Noch andere Gedankenreihen haben zu einer gleich weiten Fassung geführt. So die noch immer nicht zerstörte Meinung, daß das Bewußtsein als eine Art Behältnis anzusehen sei, in das die Vorstellungen hinein-, aus dem sie wieder heraustreten, als eine Art innerer Sinn, der die unbewußten Vorstellungen zur Wahrnehmung bringt, und ihnen dadurch als eine neue Eigenschaft das Bewußtsein gibt. Anklänge an diese Meinung haben den Sprachgebrauch HERBARTs von einer Schwelle des Bewußtseins möglich gemacht. Auch psychologische Konsequenzen aus den metaphysischen Spekulationen von SCHELLING und SCHOPENHAUER haben zu demselben Ergebnis geführt (6). Ebenso die logische Fassung der unbewußt verlaufenden Vorgänge bei der Sinneswahrnehmung als "unbewußter Schlüsse", die HELMHOLTZ eingeführt, neuerdings jedoch aufgegeben hat; schließlich auch FECHNERs Hypothese von "unbewußten Empfindungen" (7).

In einem  weniger weiten  Sinn ist der Begriff schon innerhalb der Kantischen Schule angewendet worden. Bereits REINHOLD erklärte, daß eine "Vorstellung ..., die nichts und die nicht vorstellt, keine Vorstellung sein" kann (8). Er kehrte damit kritisch zu der Bedeutung des Wortes zurück, die demselben bei seiner Einführung in die wissenschaftliche Terminologie gegeben worden war. Denn in dieser Begrenzung findet es sich bei CHRISTIAN WOLFF, dessen deutsche philosophische Schriften eine der Hauptquellen unserer philosophischen Schriftsprache geworden sind. Er übersetzt das Wort zwar im ersten Register seiner "Vernünftigen Gedanken von Gott usw." durch  idea,  er gebraucht dasselbe jedoch nicht in dem Sinn, den  idea  bei LOCKE und vielfach auch bei DESCARTES hat, als Ausdruck also der Bewußtseinsvorgänge überhaupt, Gefühl und Willen eingeschlossen. Es steht vielmehr abwechselnd mit "Gedanken" nur für die intellektuellen Bewußtseinsvorgänge im engeren Sinne. Innerhalb dieses Gebietes aber wird es für alle Arten gebraucht, auch für Empfindungen (9). Dieser Sinn des Wortes ist gegenwärtig weit verbreitet. Er ist von vielen angenommen worden, die den Bedenken gegen eine Übertragung der Bewußtseinseigenschaften auf das Unbewußte Gehör geben (10).

In einer dritten, noch  engeren  Bedeutung wird das Wort z. B. von ÜBERWEG und WUNDT angewendet. Der erstere faßt Vorstellung als "psychisches Bild invididueller Existenz", gleichviel ob sie auf ein oder eine Gruppe von Individuen geht (11). Ganz ähnlich WUNDT, der unter Vorstellung "das in unserem Bewußtsein erzeugte Bild eines Gegenstandes" versteht. Beide erstrecken den Umfang des Wortes also nicht auf Empfindungen. WUNDT will vielmehr ausdrücklich nur "die ... zusammengesetzten Gebilde, zu denen sich stets die Empfindungen in unserem Bewußtsein verbinden, ... mit dem Namen der Vorstellungen belegen." Daß übrigens WUNDT nach dem Wortlaut der letzteren Definition die reproduzierten Vorstellungen ausschließt, zeigt sich seinem tatsächlichen Sprachgebrauch gegenüber nur als Folge einer nicht ganz präzisen Bestimmung; ebenso sind dies Wendungen wie "unbewußte Zustände der Vorstellungen." (12)

Einer vierten,  engsten  Fassung schließlich hat, wie es scheint, HEGEL das Gepräge gegeben, sofern er die Vorstellung als "erinnerte Anschauung" faßt (13). In diesem Sinn bezeichnet ROSENKRANZ das Vorstellen als "das innerlich gewordene Anschauen, welches der äußerlichen Erregung gar nicht mehr bedarf" (14). Unter anderen hat LOTZE diese Fassung schon in seinen früheren Schriften akzeptiert. In den postumen Grundzügen der Psychologie erklärt er sich mit folgenden Worten: "Vorstellungen, im Gegensatz zu Empfindungen, nennen wir zunächst die Erinnerungsbilder, die wir von früheren Empfindungen im Bewußtsein antreffen. Dies ist in Übereinstimmung mit dem Sprachgebrauch: wir stellen das Abwesende vor, das wir nicht empfinden, empfinden aber das Anwesene, das wir eben deswegen nicht vorzustellen brauchen." Trotzdem behält LOTZE "den ansich widersprechenden Namen unbewußter Vorstellungen bei, um anzudeuten, daß sie aus Vorstellungen entstanden und unter Umständen sich in solche zurückverwandeln" (15). Auch FECHNER gibt dem Wort diese enge Deutung. Ihm sind Vorstellungen im Gegensatz zu den "sinnlichen Phänomenen der Empfindungen, Nachbilder und Gemeingefühle" lediglich die "Erinnerungen, Phantasiebilder und das abstrakte Denken begleitende Schemata" (16). Ebenso will HELMHOLTZ "den Namen der Vorstellung auf das Erinnerungsbild (von Gesichtsobjekten) beschränken, welches von keinen gegenwärtigen sinnlichen Empfindungen begleitet ist" (17), obgleich er gelegentlich die Vorstellung als Gattung zu Wahrnehmung und Erinnerungsbild faßt (18).

Auf den laxen Sprachgebrauch mancher Psychiater, selbst eines so hervorragenden Forschers wie WERNICKE, sei nur hingewiesen. Derselbe bezeichnet einerseits Innervations- [Nervenimpulse - wp]) und Muskelgefühle, andererseits aber auch die mechanischen Residuen der ihnen entsprechenden Bewegungen in der Großhirnrinde als Vorstellungen, letztere als Bewegungsvorstellungen (19).

In der nachfolgenden Untersuchung wird mit dem Wort "Vorstellung" der Begriff zurückgegeben werden, den ihm schon WOLFF beigelegt hatte. Gegen die weitere Bedeutung sprechen alle die Bedenken, welche verbieten, die Merkmale der Bewußtseinsinhalte auf die unbewußten Vorgänge zu übertragen. Ebensowenig scheint es glücklich, die Empfindungen von den Vorstellungen auszuschließen. Empfindungen sind uns doch niemals unmittelbar gegeben. Einerseits sind sie stets zu Wahrnehmungsvorstellungen verflochten, andererseits sind sie im entwickelten Bewußtsein, wie sich genauer zeigen wird, von den apperzipierenden psychischen Vorgängen abhängig. Zur reinen Empfindung gelangen wir also nur so weit, als der Weg der Abstraktion führt. Werden aber die reinen Empfindungen, auch wenn wir diesen Namen auf die apperzipierten Reize beschränken, die allein in Frage kommen können, Objekte des Bewußtseins nur auf diese Weise, so liegt kein Grund vor, ihnen die Bezeichnung als Vorstellungen vorzuenthalten, den man anderen, auf gleiche Art isolierten Bewußtseinsinhalten unbedenklich zugesteht.

Tiefer begründet ist die engste Fassung; zwar nicht durch LOTZEs oben zitierte Berufung auf den Sprachgebrauch der praktischen Weltanschauung, sondern vielmehr durch die Unterschiede, welche die reproduzierten Wahrnehmungsvorstellungen von den ursprünglich gegebenen trennen. LOTZE begründet diesen Unterschied anders, als seine Vorgänger. In seiner letzten Variation schon früh von ihm besonders gegen HERBART gerichteter Ausführung erklärt er: "Die Vorstellungen unterscheiden sich eigentümlich von den Empfindungen. Die Vorstellung des hellsten Glanzes leuchtet nicht, die des stärksten Schalls klingt nicht, die der größten Qual tut nicht weh; bei all dem aber stellt die Vorstellung ganz genau den Glanz, den Klang oder den Schmerz vor, den sie nicht wirklich reproduziert." Die Gültigkeit dieses Widerspruchs gegen eine ebenso alte und verbreitete als wenig untersuchte Meinung von der bloß graduellen Differenz dieser Bewußtseinsinhalte bleibt hier unbeanstandet, so sehr sie in mehrfacher Hinsicht die Kritik herausfordert. Sie bleibt soweit gesichert, daß sie eine besondere Auszeichnung der reproduzierten Bewußtseinsvorgänge zweckmäßig macht.

Dennoch bleibt die Wahl des Wortes "Vorstellung" für diesen Zweck ungeeignet. Die Berufung auf den jetzt herrschenden Sprachgebrauch des täglichen Lebens mag im allgemeinen schwerer wiegen, als der Hinweis auf einen noch schwankenden Sinn der wissenschaftlichen Terminologie. Es ist jedoch fürs erste zu beachten, daß durch jene engste Fassung der ursprüngliche Sinn des ortes, der zur Verwertung desselben als wissenschaftlichen Terminus geführt hat, aufgegeben wird. "Vorstellen" hat ursprünglich, z. B. noch bei LUTHER, den Sinn von  producere, proponere  [vorschlagen - wp],  praesentare, ostendere  [zeigen - wp]; (20) das spätere "Vorstellung" wird mit  repraesentatio, imago, effigies  [porträtieren - wp] übersetzt (21). Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunerts findet es sich auch im ursprünglichen wie metaphorischenn (expositio, expositiuncula) Sinne von "Darstellung". Der Verlust dieses ursprünglichen Sinnes ist zu bedauern, da derselbe unmittelbar aus de Wort herauslesen läßt, was den Empfindungen, Wahrnehmungen, Erinnerungen, Phantasie-, Gesamt- und Allgemeinvorstellungen gegenüber den Gefühlen gemeinsam ist; denn auch dafür bedürfen wir eines Wortes (22).

Wir werden deshalb unter Vorstellungen weiterhin die Bewußtseinsvorgänge verstehen, durch die wir Gegenstände setzen. Gegenstand ist dabei jeder Bewußtseinsinhalt, im weitesten, auch die formalen und materialen Elemente umfassenden Sinne des Wortes, der als solcher vom Subjekt des Bewußtseins unterschieden, vor dasselbe gestellt wird. Er ist das Vorgestellte als solches, der Gegenstand überhaupt im Sinne KANTs, "problematisch genommen und unausgemacht, ob er etwas oder nichts sei" (23). Unverkennbar laufen diese Bestimmungen auf eine Tautologie hinaus: Vorstellung ist Bewußtsein eines Gegenstandes; Gegenstand ist das Vorgestellte. Diese Tautologie ist jedoch unvermeidlich, da sich die Vorstellung nicht definieren läßt. Gegenstand in diesem weitesten Sinn ist logisch genommen die höchste Gattung. Sie kann also nur durch sich selbst bestimmt werden.

Wenn allerdings die Energie einer Polemik einen Maßstab für ihre Berechtigung abgäbe, so wäre die logische Bestimmung einer höchsten Gattung durch die Einwendungen von Logikern wie SIGWART (24) und LOTZE (25) als unzutreffend erwiesen. Der letztere findet in der "gewöhnlichen Meinung", daß das Gesamtsystem unserer Begriffe nach Art der Pyramide "mit einer einzigen Spitze, dem alles umfassenden Begriff des Denkbaren schließt", wenig Witz. Denn "unter das Merkmal des Denkbaren überhaupt fällt alles auf einmal und mit einem Schlag; man kann sich die Mühe sparen, zu diesem Ergebnis erst durch eine pyramidale Stufenleiter emporzuklimmen; zugleich ist in diesem Endglied von allem Inhalt und aller Eigentümlichkeit des Gedachten auf die gründlichste und gedankenloseste Weise abgesehen". SIGWART findet dieselbe Anordnung "von  einer  Spitze, dem Begriff des  on  [Sein - wp] oder des  Etwas  aus, ... nach allen Seiten schief". Sie setze voraus, "daß die Zahl der höheren Gattungsbegriffe viel kleiner sein muß, als die spezielleren". Es gebe jedoch "keine durch die Natur der Begriffe mit Notwendigkeit gegebene Anordnung der Subordinationsfolge"; es hänge ganz von den Verhältnissen der Merkmale ab, "ob die Kombinationen größerer oder geringerer Allgemeinheit zahlreicher sind". Diese Bedenken sind im Recht, so weit sie das Bild eines pyramidalen Begriffssystems treffen. Die geometische Exemplifikation der logischen Beziehungen führt hier wie in allen anderen Fällen, Sphärenvergleichung und Syllogistik nicht ausgenommen, nur zu so hinkenden Gleichnissen, daß die etwa zu gewinnende Veranschaulichung zu teuer erkauft wird. Es ist ferner zuzugeben, daß der Begriff des Gegenstandes überhaupt (der jedoch wohl nicht mit dem älteren Stoischen Begriff des  on  identifiziert werden darf, da nur die spätere Fassung desselben als  to ti  [Was-Sein - wp] sich mit ihm deckt) ganz unbestimmt und insofern leer ist. Es ist schließlich, wenn auch nicht ganz im Sinne LOTZEs, richtig, daß dieser Begriff auch unabhängig von der Annahme einer pyramidalen Begriffsfolge gewonnen werden kann. Die Frage aber nach den höchsten Gattungenn wird durch die Umfangsbeziehungen der Begriffe unumgänglich gemacht. Ein  genus summum  ferner wird gefordert, sobald anerkannt werden muß, daß es in unserem Denken nichts schlechthin Unvergleichliches gibt. Diese Anerkennung aber ist notwendig, da alles mit allem wenigstens als Vorgestelltes gleichartig ist. Das Vorgestellte überhaupt ist also die höchste Gattung. Daß in diesem Begriff von allen Eigentümlichkeiten des Gedachten abgesehen werden muß, folgt aus seiner Natur. Seine Bedeutung ist deshalb ohne Zweifel nur eine geringe. LOTZEs herbe Charakteristik trifft aus diesem Grund nur eine falsche Wertschätzung des Begriffs, nicht diesen selbst.


II.

Aufgabe der nachfolgenden Untersuchung ist es, die Vorgänge zu ermitteln, durch welche in den einfachsten Fällen einmal Wahrgenommenes bei wiederholter Wahrnehmung wiedererkannt wird.

Die Tatsache des Wiedererkennens zeigt sich sowohl an Gegenständen der sinnlichen wie der Selbstwahrnehmung. Sie ist eine Grundbedingung für den Zusammenhang aller Erkenntnis. In die Tierreihe reicht sie für Gegenstände der Sinneswahrnehmung so weit hinab, als sich überhaupt Vorstellungsvorgänge in derselben annehmen lassen.

Aus dieser Tatsache folgt, daß die wiederholte Wahrnehmung, sofern sie zu einem solchen Wiedererkennen führt, durch die frühere mitbedingt ist. Es entsteht also die Frage, welche Bedingungen hier zusammenwirken, und wie der Prozeß dieser Ineinanderwirkung verläuft.

Das so gestellte Problem läßt sich bis auf PLATONs Lehre von der Wiedererinnerung zurückverfolgen. Eine eindringlichere Untersuchung ist ihm jedoch erst zuteil geworden, seitdem die unkritische Neigung, die Erörterung der psychischen Vorgänge schon nach dem ersten Schritt durch die Hypostasierung [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] von Seelenvermögen abzuschließen, ihre nahezu ausschließliche Herrschaft über die Geister verloren hat. Problem aber ist jene Frage trotz der Bemühungen einer ganzen Reihe von hervorragenden Forschern bis zur Gegenwart geblieben. Die Untersuchung macht deshalb eine kritische Rücksichtnahme auf die hauptsächlichsten vorliegenden Lösungsversuch erforderlich. Dieselben sind in den Apperzeptionstheorien von HERBART und STEINTHAL sowie in den Assimilationstheorien von SPENCER und WUNDT gegeben.

Nach dem Voranschreiten HERBARTs, der diesen Prozeß, wenngleich nur für bestimmte Fälle, zuerst einer sorgsamen Analyse unterworfen, und damit allen späteren Forschern die Wege gebahnt hat, wollen wir denselben als  Apperzeption  bezeichnen. Das aus dem Gedächtnis stammende Glied desselben wird Apperzeptionsmasse,  A,  genannt; die Perzeptionsmasse,  P,  bedeutet das durch den neuen Reiz Gegebene. Als apperzipierte Vorstellung,  AP , soll diejenige gelten, die aus dem Zusammenwirken beider entsteht. Diese Bezeichnungen haben nicht den Vorzug sprachlicher Wohlgefälligkeit. Sie müssen sich gefallen lassen, daß man sie "barbarisch" schilt. Dennoch lassen sie sich durch den Terminus "Auffassung", den STUMPF vorgeschlagen hat, nicht "vollkommen ersetzen" (26). Derselbe ließe nicht sprachgemäße Worte für die drei Glieder des Prozesses ableiten. Auch das Wort "Assimilation", das SPENCER zuerst angewandt hat, bietet keinen hinreichenden Ersatz. Überdies klingt es nicht schöner und spricht sich nicht bequemer. Schließlich ist das Festhalten am HERBARTschen Ausdruck dem Herkommen gemäß, das den Entdeckern das Recht einer terminologischen Prägung läßt, sofern sie in ihren Festsetzungen den bestehenden Sprachgebrauch nicht unnötig oder irreführend außer Acht lassen. Dies aber ist im vorliegenden Fall nicht geschehen.

Den Ausgangspunkt unserer Untersuchung bildet als einfachster Fall die Tatsache, daß ein Gegenstand der Sinne bei der zweiten Wahrnehmung unmittelbar wiedererkannt wird, ohne daß das Wort für denselben ins Bewußtsein tritt. Gegeben sei derselbe bei ausgebildetem Bewußtsein durch eine Gesichtswahrnehmung. Durch die Variation der Bedingungen, denen zufolge der Bewußtseinszustand ein schon entwickelter, d. h. über die ersten Wahrnehmungen hinaus gebildeter, das Objekt qualitativ wie intensiv das gleiche, die Wiederholung die erste, das Wiedererkennen ein unmittelbares ist, und schließlich das signifikante Wort nicht ins Bewußtsein tritt, lassen sich die typischen Fälle erschöpfen.

Um den Gefahren zu entgehen, welche die Analyse eines allgemein gehaltenen Falles in sich birgt, wird das Objekt als Bleistift bestimmt, das gestern zuerst und heute wiederum auf meinem Schreibtisch liegend von mir gesehen wird.

Eine Tatsache des Bewußtseins ist die Apperzeption in diesem einfachen Fall nicht.  In dem Abschnitt des Gesichtsfeldes, der nach den obigen Voraussetzungen hier allein in Betracht kommt, findet sich lediglich eine verschiedenfach gefärbte, dreidimensionale Gestalt, die in bestimmter Lage auf einer gefärbten Fläche ruht, und als ein bestimmter Bleistift unmittelbar wiedererkannt wird, ohne daß das Wort "Bleistift" selbst im Bewußtsein ist.  Nur das Produkt der Apperzeption also, der apperzipierte Gegenstand  AP,  ist bewußt. Sowohl die Perzeptionsmasse  P,  als auch die Apperzeptionsmasse  A  sind nicht im Bewußtsein; ebensowenig ist dies einer der Vorgänge, durch die beide ineinander wirken.

Die Annahme eines Apperzeptionsvorgangs ist also, logisch gesprochen, ein Postulat, für das es gilt, die Hypothese zu suchen, die ihm genügt.

Fürs erste beansprucht das eben behauptete Resultat der Analyse der apperzipierten Vorstellung eine Erläuterung und Rechtfertigung. Nirgends lassen sich die Mängel der Selbstbeobachtung, die den unvermeidlichen Ausgangspunkt aller psychologischen Untersuchungen bildet, deutlicher erkennen, als an den Schatten, welche traditionelle Abstraktionen in die Auffassung selbst der einfachsten Bewußtseinsdaten hineinwerfen.

Allgemein ist zu beachten, daß der Akt der Selbstbeobachtung, wie in allen Fällen, so auch hier, das Objekt der Beobachtung, den Bewußtseinsinhalt affiziert [beeinflußt - wp]. Die auf denselben gerichtete Spannung der Aufmerksamkeit regt Vorgänge auf, welche der unbeobachteten Wahrnehmung fehlen.

Dies zeigt sich schon, wenn wir versuchen zu beschreiben, wie der Gegenstand als wiedererkannter zum Bewußtsein kommt. Dieses Wiedererkennen wird hier als ein  unmittelbares  vorausgesetzt. Es soll also erfolgen, ohne daß ein Anlaß vorliegt, den früheren Wahrnehmungszusammenhang in das Bewußtsein ausdrücklich zurückzurufen. So geschieht es in unzähligen Fällen der täglichen Wahrnehmung. Wo die Recognition uns vertraute Objekte betrifft, zeigt unser Bewußtsein nicht die geringste Spur von Erinnerungsvorstellungen aus dem Zusammenhang der früheren Wahrnehmungen, welche die Rekognition erst vermitteln. Solche treten vielmehr erst auf, wenn das Wiedererkennen nicht sofort gelingt, sondern zweifelhaft bleibt. Sie zeigen sich dann als Glieder der durch die früheren Wahrnehmungen gehildeten Assoziationen. Wäre eine solche Vermittlung in allen Fällen notwendig, so müßten bei der wiederholten Wahrnehmung auch der uns bekanntesten Objekte in unserem Bewußtsein drei für die Abstraktion trennbare Glieder gegeben sein. Erstens nämlich wür die Vorstellung des Objekts als eines bestimmten, zur Zeit vorliegenden gegeben sein; dann würden sich die Vorstellungen einfinden, welche irgendwelche Umstände der früheren Wahrnehmung dem Bewußtsein wieder zuführten; schließlich würde aufgrund dieser Reproduktionsvorstellungen das Objekt als das bekannte erkannt werden. Dies aber ist ohne Zweifel nicht der Fall. Es würde auch nicht helfen, die Mittelbarkeit dieser Reproduktion dadurch zu rechtfertigen, daß man behauptete, jene Vorstellungen folgten so schnell aufeinander, daß sie für unser Bewußtsein in die eine resultierende Vorstellung des wiedererkannten Objekts zusammenliefen. Denn dieser Ausweg führt doch lediglich zu dem Zugeständnis, daß uns in den Fällen unmittelbaren Wiedererkennens außer der Vorstellung des Objekts selbst weder die Vorstellung des noch nicht erkannten Gegenstandes, noch auch die Vorstellungen des früheren Wahrnehmungszusammenhangs gegeben werden. Da sie im Bewußtsein fehlen, werden sie auch nicht vorgestellt. Was uns bewußt geschieht, steht hier noch nicht in Frage. Was aber auch so geschehen mag, wir dürfen dasselbe nach den obigen Bestimmungen nicht als Vorstellung in Anspruch nehmen.

Unzulänglich ist hiernach, wenn sie wörtlich verstanden werden darf, die Behauptung LOTZEs, daß die Erkenntnis einer neuen Vorstellung  a  als Wiederholung einer früheren nur möglich ist, "indem das wiederholte  a  nicht nur jenes frühere ihm gleiche, sondern auch die mit ihm, aber nicht mit dem jetzigen, assoziierten  Vorstellungen cd  mit sich führt, als Zeugnisse dafür, daß es bereits früher einmal, aber unter anderen Umständen, Gegenstand der Wahrnehmung gewesen ist" (27). Denn LOTZE deutet mit keinem Wort an, daß er hier dem von ihm zugelassenen, obwohl als ungerechtfertigt erkannten Sprachgebrauch folgt, von "unbewußten Vorstellungen" zu reden.

Gewichtigere Bedenken als diese lassen sich gegen die Unmittelbarkeit des Wiedererkennens längst vertrauter Eindrücke aus den Annahmen herleiten, zu denen DONDERS und nach ihm AUERBACH und von KRIES durch die Resultate ihrer Zeitmessungen psychischer Vorgänge geführt worden sind. Da jedoch die Interpretation jener Vorgänge eine Reihe von Lehrmeinungen voraussetzt, die erst im Laufe dieser Untersuchung bestimmt werden können, sie die Diskussion derselben bis zur Erörterung des Zeitverlaufs der Apperzeption verschoben.

Die Art, wie sich das unmittelbare Wiedererkennen im Bewußtsein geltend macht, ist nicht in allen Fällen die gleiche. Niemals bildet dasselbe einen Bewußtseinsinhalt neben oder nach dem des wiedererkannten Gegenstandes, so lange es ein unmittelbares bleibt. Ein solches zu bleiben hört es jedoch auf, sobald man versucht, es durch Selbstbeobachtung zu fassen. Denn diese macht die Bedingungen des Wiedererkennens, die vorher unbewußt blieben, zu bewußten. Nur mit Hilfe der Erinnerung an den ursprünglichen Bewußtseinszustand, sofern man denselben mit dem durch die Selbstbeobachtung gesetzten vergleicht, und auch dann nur, wenn man sich einigermaßen geübt hat, tritt der skizzierte Tatbestand heraus.

Ebensowenig gelingt es der Selbstbeobachtung, direkt deutlich zu machen, daß das  Wort  für den Gegenstand der Wahrnehmung in vielen Fällen unmittelbaren Wiedererkennens nicht reproduziert wird. Dasselbe fehlt nicht regelmäßig; umso weniger, je seltener der Gegenstand zur Beobachtung gekommen ist; nur ausnahmsweise, wenn irgendein Interesse sich an seine Reproduktion knüpft. Wie Wetterleuchten fährt es in vielen Fällen unbeobachteten Wahrnehmens durch das Bewußtsein. Gebunden aber ist die wiederholte Anschauung des Bekannten an die signifikanten Worte, überhaupt an Worte, durchaus nicht. Auf dem gleichen Weg, durch den wir oben die stets vorhandenen Fehlerquellen der Selbstbeobachtung zuschütteten, läßt sich auch hier konstatieren, daß das Wort bei der Rekognition des Bekannten in der Sinneswahrnehmung, besonders wenn diese ohne ein teilnehmendes Interesse oder eine besonders gespannte Aufmerksamkeit auf ihren Gegenstand verläuft, im Bewußtsein fehlt. Man vergegenwärtige sich nur, was das Bewußtsein bietet, wenn man in schneller Folge und ohne Spannung der Aufmerksamkeit den Blick auf eine Reihe von Objekten richtet, oder wenn man mit möglichst gleichmäßig verteilter Aufmerksamkeit eine Mannigfaltigkeit von Gesichtsobjekten zugleich ins Bewußtsein treten läßt.

Erheblichere Bedenken stellt die traditionelle Analyse der Wahrnehmungsobjekt der obigen Behauptung entgegen, daß in unserem Fall der Gesichtswahrnehmung des Bleistifts die Eigenschaften desselben lediglich durch  Farbempfindungen  gegeben sind. Denn als allgemein zugestanden darf nur angesehen werden, daß diese Eigenschaften der Gesichtsobjekte lokalisierte und objektivierte, d. h. als Eigenschaften von Dingen, nicht als Bewußtseinsbeschaffenheiten gesetzte, Empfindungen sind. In der Tat fehlt die (Vorstellung der) Undurchdringlichkeit, die man als allgemeine Eigenschaft des Körperlichen ohne weiteres hineinzunehmen geneigt ist, nicht immer, obgleich uns das Objekt lediglich durch das Gesicht bewußt wird. Der Anlässe sind mannigfache, durch welche sie, etwa zusammen mit Vorstellungen der Härte, der Sprödigkeit, der Elastizität oder ähnlichen reproduziert werden kann, wo wie in unserem Beispiel die Bedingungen einer erneuten Wahrnehmung fehlen. Denn Undurchdringlichkeit ist eine Vorstellung, durch die wir einen verwickelten Komplex von Tastempfindungen und Muskel-, speziell Innervationsgefühlen als Ursache dieser Gefühle und Empfindungen zu einer Eigenschaft der Körper objektivieren. Auch wenn wir die Undurchdringlichkeit als allgemeine Eigenschaft der Körper denken, also die spezielle Beziehung der Körper auf die durch unseren Körper vermittelten Empfindungen durch die allgemeine Beziehung der Körper zueinander ersetzen, bleibt ihr dieser Bewußtseinsinhalt gewahrt: die allgemeine Beziehung wird nach einer Analogie dieser besonderen gedacht. Die Objektivierung der Undurchdringlichkeit geschieht also aufgrund jener unvermeidlichen und unaufhebbaren Jllusion, durch die wir die Bewußtseinsinhalte, welche durch die sinnliche Wahrnehmung gegeben sind, zu Eigenschaften des von uns verschiedenen Wirklichen machen. Wo daher das in der Gesichtswahrnehmung Gegebene irgendeinen Anlaß bei sich führt, die Erinnerungsvorstellungen aus dem Gebiet des Tastsinns und Muskelgefühls zu reproduzieren, werden auch Undurchdringlichkeit und verwandte Vorstellungen bei Gelegenheit derselben mitauftauchen. Diese Regel des Geschehens trifft jedoch für viele Fälle des Wahrnehmens nicht zu. So wenig nämlich wie wir bei der erneuten Wahrnehmung bekannter Objekte die Worte für dieselben zu reproduzieren pflegen, so wenig bietet auch die Gesichtsanschauung derselben in den meisten Fällen irgendeine Spur von Bewußtseinsinhalten, die anderen Sinnesgebieten, Tastsinn und Muskelgefühl eingeschlossen, entstammen. Jeder Versuch, sich den Bewußtseinsinhalt in solchen Fällen zu verdeutlichen, bestätigt dies, sobald man auszuscheiden versteht, was der Akt der Selbstbeobachtung, auch in dieser Beziehung anfänglich störend, neu hinzubringt.

Raumerfüllung allerdings kommt in unserer Anschauung dem Bleistift wie allen Objekten der Gesichtswahrnehmung unzweifelhaft zu. Was wir jedoch unter den vorausgesetzten Bedingungen als solche im Bewußtsein haben, ist nur die dreidimensionale Begrenzung der Gestalt durch gefärbte Flächen. Das Innere des Körpers pflegen wir nur so weit vorzustellen, als es durch bloßgelegte Flächen zutage tritt. Wo solche fehlen, fehlt auch im allgemeinen die Vorstellung dessen, was sich unter der Oberfläche befindet. Selbst jedoch, wo diese aufgrund früherer gleicher oder nach Analogie ähnlicher Wahrnehmungen aus irgendeinem Grund reproduziert wird, pflegt sie als ein Komplex von Gesichtsvorstellungen gefärbter Flächen im Bewußtsein zu sein. Es sind dann bald wiederum in dreidimensionaler Begrenzung verlaufende Stücke, d. h. Flächen in so einer Anordnung, oder Vorstellungen gefärbter Flächen, die wir je nach früherer Erfahrung in gleicher oder sich verändernder Qualität durch die Tiefendimension hindurchschieben. Jedoch nicht einmal das Bewußtsein pflegt sich mit den Gesichtswahrnehmungen bekannter Objekte einzufinden, daß solche Vorstellungen des Innern von jedem Punkt der Oberfläche aus gebildet werden können. Dasselbe ersetzt nur da, wo es nicht auf die Sorgfalt der Ausführung ankommt, die einzelnen hierher gehörigen Assoziationsreihen. Die Raumerfüllung der Gesichtsobjekte findet demnach in der Tat vielfach ohne Bewußtsein der Undurchdringlichkeit oder verwandter Tastvorstellungen statt, so daß man nicht unpassend von Raumeinnehmung sprechen könnte.

Ähnliches gilt von den Empfindungen der anderen Sinne. Bei der Gesichtswahrnehmung von Zucker z. B. kann uns die Erinnerungsvorstellung an seinen süßen Geschmack bewußt werden. Es braucht dies jedoch nicht zu geschehen, und pflegt nicht der Fall zu sein.

Daß auch hier die Selbstbeobachtung die Entscheidung erst an die Hand gibt, wenn man ausscheidet, was sie selbst hinzubringt, bedarf keines Nachweises mehr.

An diesem ausschließlichen Gehalt von Gesichtsempfindungen, den wir für unseren Fall voraussetzen, wird auch dadurch nichts geändert, daß uns der Bleistift nur als Teilobjekt einer umfassenderen Anschauung bewußt wird. Der Körper, auf dem er ruht, ist uns in gleicher Weise bewußt. Dadurch, daß er auf dieser Unterlage ruhend gesehen wird, ist ebensowenig die Vorstellung der Schwere oder die des Gleichgewichts oder eine ihr verwandte gegeben, als durch die Raumerfüllung die Undurchdringlichkeit. Sie drängen sich leicht zu, und walten vorerst stets, wenn der Versuch der Selbstbeobachtung stört. Sie fehlen jedoch unter den oben angegebenen Bedingungen der Regel nach im Bewußtsein vollständig. Was unbewußt als mitwirkend angsehen werden muß, bleibt wiederum vorerst außer Betracht.

Die Farbempfindungen des Bleistifts und seiner Umgebung sind uns ferner  in einer räumlichen Verteilung  bewußt. Man führt, seitdem LOTZE die Probleme hier richtig gestellt hat, die Lokalisation der Objektpunkte im Gesichtsfeld auf Lokalzeichen zurück.

Über den Ursprung dieser Lokalzeichen herrscht Streit. LOTZE hat die Bewegungsgefühle der Drehungen in Anspruch genommen, durch welche die Reize auf die Zentralgrube des gelben Flecks übergeführt werden; WUNDT ursprünglich die Qualitätsänderungen der Empfindungen auf verschiedenen Stellen der Netzhaut, neuerdings Verschmelzungskomplexe von Netzhaut- mit Tast- Bewegungsempfindungen. HELMHOLTZ hat in der ersten Auflage seiner "Physiologischen Optik" die Beschaffenheit derselben unbestimmt gelassen. Er hält es, nach einer unverändert gebliebenen Äußerung in den "Vorträgen und Reden" zu schließen, auch jetzt noch "für verfrüht, irgendwelche weitere Hypothesen über die Art derselben aufzustellen". Nur gelegentlich hat er es inzwischen für möglich erklärt, daß die Lokalisation der Gesichtsempfindungen auf Intensitätsabstufungen der Empfindungen benachbarter sensibler Fasern zurückzuführen ist. JOHANNES von KRIES und AUERBACH dagegen haben aus ihren Zeitmessungen geschlossen, daß "die Lokalisation nicht aufgrunf von Eigentümlichkeiten der Intensität, des Ansteigens und Absinkens der Empfindung geschieht". Sie halten vielmehr für "die einzig mögliche Form der Lokalzeichentheorie", daß dieselben "qualitative Verschiedenheiten der Empfindung sind, welche den Erregungen der verschiedenen (Tast-)nerven sind." FUNKE hat entgegen diesen allen die Quelle der Lokalzeichen in den zentralen Endstationen gesucht, LIPPS kürzlich eine psychologische Konstruktion derselben aus den "seelischen Grundtatsachen" des Selbsterhaltungs- und des Verschmelzungsstreben der Empfindungen unternommen.

Nicht einmal über die Beschaffenheit der Lokalzeichen herrscht Einstimmigkeit. LOTZE findet in sich beim bewegten Auge "bewußte Empfindungen", beim ruhenden "Erinnerungsbilder", welche den "unausgeführten Bewegungsantrieben" entsprechen. Er erklärt: "Für meine sinnliche Anschauung der gesehenen Punkte  p  und  q  hat die Behauptung, sie seien entfernt voneinander, gar keinen anderen Sinn als diesen, daß eine bestimmte Bewegungsgröße nötig ist, um den Blick von einem auf den anderen zu richten; die verschiedenen Lagen der einzelnen Punkte empfinde ich geradezu als ebenso viele Aufforderungen zur Bewegung." Er ist ferner überzeugt, daß diejenigen, "welche nichts von diesen Bewegungsgefühlen zu bemerken behaupten, ... sich täuschen, und die Gefühle, welche sie wirklich haben, nur nicht als das erkennen, was sie sind." (28) WUNDT jedoch hat dem Vorwurf, daß in diesen Fällen Empfindungen erfunden werden, nur entgegengehalten, daß in seinen komplexen Lokalzeichen "elementare Bewußtseinsvorgänge ... untrennbar verschmolzen" sind; sie gehen "im Produkt, das sie erzeugen, völlig auf, sind überhaupt nicht mehr einzeln unterscheidbar für unser Bewußtsein. Diesem ist nur das resultierende Produkt gegeben, die räumliche Anschauung". "In der unmittelbaren inneren Wahrnehmung" sind un daher die Lokalzeichen "niemals gegeben ..."; sie sind "hypothetische Elemente unserer Vorstellungen ..., die niemals durch ihr direktes Aufzeigen in der inneren Erfahrung, sondern immer nur dadurch legitimiert werden können, daß sie sich zur Erklärung gewisser komplexer Bewußtseinsvorgänge dienlich erweisen". Sie können daher "durch den Hinweis auf die unmittelbare innere Erfahrung ... ebensowenig widerlegt werden, wie die Atome des Physikers oder Chemikers durch den Einwurf, daß noch niemand Atome gesehen hat". WUNDT ist von diesem hypothetischen Charakter der Lokalzeichen sogar so überzeugt, daß er trotz der wiederholten und von ihm selbst mehrfach besprochenen Erklärungen LOTZEs anführt, daß seines Wissens niemand behauptet hat, die Lokalzeichen und Innervationsempfindungen seien unmittelbar so, wie sie zur Erklärung gewisser komplexer Tatbestände vorausgesetzt werden, im Bewußtsein vorhanden" (29). Bei HELMHOLTZ finden sich Ansätze zur zwei entgegengesetzten Bestimmungen. Einerseits sind die Lokalzeichen ihm zufolge "Momente in der Empfindung", oder wie es an anderer Stelle heißt "gewisse Eigentümlichkeiten der Empfindung." Bei der Gelegenheit der Andeutung einer Hypothese über Täuschungen des Augenmaßes geht er sogar von der Möglichkeit aus, daß man "sich die Lokalzeichen der Netzhautfasern als Empfindungen von zwei ... Qualitäten denken" kann. er hat dadurch die Interpretation nahegelegt, daß wir nach dem Ausdruck BOLLs durch sie "die Erregung jedes einzelnen Sehelements als diesem allein eigentümlich zu  empfinden  ... imstande sind." Er erklärt jedoch andererseits ausdrücklich: "Von welcher Art die Lokalzeichen sind, darüber  wissen wir gar nichts;  daß dergleichen da sein müssen, schließen wir eben aus dem Umstand, daß wir Lichteindrücke auf verschiedenen Teilen der Netzhaut zu unterscheiden vermögen." Nur die neuerdings von ihm gelegentlich erwähnte Hypothese, daß die Lokalisation im Tast- wie im Gesichtsraum auf Intensitätsabstufungen der Empfindungen beruhen kann, würde wieder zur Voraussetzung haben, daß jene Zeichen ursprünglich einmal bewußt gewesen sein müssen. (30)

Nicht ganz deutlich ist die Stellung von LIPPS zu dieser Frage, so klar und entscheidend seine Einwürfe gegen die Hypothesen der Bewegungsempfindungen sind. Es sind ihm die Lokalzeichen "erfahrungsgemäße Beziehungen der Eindrücke zueinander oder, wenn man will, von Gewohnheiten derselben sich zueinander zu verhalten", zu denen "schließlich irgendeine subjektive Verschiedenheit der Eindrücke  e1  und  e2  ... genügt." Diese "Beziehungen zwischen den Eigentümlichkeiten der Eindrücke" verschiedener Netzhautstellen werden von LIPPS auch als "die den Netzhautpunkten zugehörigen Eindrücke", die "ein gewissen Vermögen besitzen, sich qualitativ und damit zugleich räumlich voneinander zu sondern", bezeichnet (31).

Gegen alle diese Behauptungen eines mehr oder weniger bestimmten Bewußteins der Lokalzeichen, ja sogar gegen ihre eigenen allgemeinen Aufstellungen sind von KRIES und AUERBACH in einen entscheidenden Gegensatz geraten, ohne allerdings dies selbst zu bemerken. Sie behaupten nämlich (zunächst für den Tastsinn) ganz wie ihre Vorgänger und Nachfolger, "daß die Lokalzeichen in qualitativen Verschiedenheiten der durch die verschiedenen Nerven erregten Empfindungen bestehen", welche den Erregungen dieser Nerven "unabhängig von der Art ihrer Reizung eigentümlich sid", so daß "man sie als spezifische Energien der einzelnen Tastnervenfasern bezeichnen könnte". Ihre Versuche über eine binokulare Entfernungslokalisation beim momentaner Beleuchtung durch einen elektrischen Funken, ganz dasselbe zu sein; woher wir aber wissen, es sei der vordere oder der hintere, vermögen wir nicht ohne weiteres anzugeben." (32)

Prüfen wir gegenüber diesen mannigfachen Interpretationen den Sachverhalt, den wir im entwickelten Vorstellen alle vorfinden, so scheint zweifellos, daß die eben angeführten Beobachtungen von von KRIES und AUERBACH zutreffender sind, als die allgemeinen Behauptungen, in denen sie der Tradition gefolgt sind. Die mannigfach verwickelten Raumbeziehungen, die sich in den Gesichtswahrnehmungen darbieten, welche wir mit wenig gespannter und ungefähr gleichmäßig verteilter Aufmerksamkeit in jedem Zeitelement erhalten können,  zeigen nicht die geringsten Spuren von Empfindungen oder Gefühlen, welche uns als Bedingungen der Lokalisation bewußt wären.  Auch die gespannteste Aufmerksamkeit auf unseren Bewußtseinsinhalt in diesen Fällen läßt von den hunderten von Lokalzeichen, die sich für die Gesamtheit der gleichzeitig erregten Empfindungsbezirke der Netzhaut darbieten müßten - CLAUDE du BOIS-REYMOND hat 74 helle Punktbilder auf 1/100 qmm der Netzhautgrube gezählt -, nicht das Allergeringste erkennen: Die Lokalzeichen der Netzhaut sind im entwickelten Vorstellen für die eben charakterisierten Fälle durchaus  unbewußt.  Es ist deshalb unzulänglich, sie in irgendeinem Sinne schlechtweg für Empfindungen oder Gefühle auszugeben, solange man es mit Recht bedenklich findet, von unbewußten Empfindungen oder Gefühlen zu reden. Ganz ebensowenig aber zeigt das bewegte wie das ruhende Auge unter den oben angegebenen Umständen Erinnerungsbilder an solche Empfindungen oder Gefühle. Der Selbsttäuschung, die LOTZE hier seinen Gegnern vorwirft, ist er vielmehr selbst erlegen. Die Bewegungen, die wir ausführen, um eine Empfindungsgruppe des Gesichtsfeldes auf die Netzhautgrube zu bringen, werden allerdings, wenn sie willkürlich geschehen, immer, wenn unwillkürlich, wenigstens häufig gefühlt. Es sind daher die Bewegungen, durch die wir die Lagen der einzelnen Objektpunkte als Bewegungsaufforderungen empfinden oder (nach LOTZEs Sprachgebrauch) vorstellen. Hier wird die Beobachtung durch die irrigen Voraussetzungen über das, was sie zugunsten einer Hypothese bieten müßte, getrübt.

WUNDT erkennt in seinen verdienstvollen Untersuchungen den hier behaupteten Tatbestand an. Er erklärt aber trotzdem, daß die Lokalzeichen elementare Bewußtseinsvorgänge sind, die uns nur in der Raumvorstellung untrennbar "verschmolzen" gegeben werden. Der Sachverhalt ist jedoch hier ein anderer wie etwa bei den Partialtönen der Klänge. Diese müssen wir als Bewußtseinskomponenten der Klänge anerkennen, weil sowohl eine Analyse der letzteren in dieselben als auch eine Synthese des Klangs aus ihnen zustande gebracht werden kann, während die Raumvorstellung  für unser Bewußtsein  weder in die von WUNDT angenommenen Lokalzeichen zerlegt, noch aus ihnen aufgebaut werden kann. Es kann dies auch nicht daran liegen, daß die Assoziation derselben zu solchen Versuchen zu fest ist. Denn wir können uns all der Empfindungen, die nach WUNDT die Raumvorstellung konstituieren, für sich bewußt werden. Es folgt sogar aus WUNDTs eigenen Annahmen, daß seine Fassung der Lokalzeichen als elementarer Bewußtseinsvorgänge unzulänglich ist, selbst wenn wir ihm ohne weiteres zugeben, daß eine solche psychische Synthese die Raumvorstellung erzeugt, und nicht vielmehr erschleichen läßt. WUNDT selbst muß zugestehen, daß die Raumvorstellung gegenüber den sie erzeugenden Lokalzeichen etwas anderes gibt, ähnlich wie etwa chlorsaures Kalium gegen den es erzeugenden Elementen. Bewußtseinselemente der Raumvorstellung also sind die Lokalzeichen so wenig, wie Kalium, Sauerstoff und Chlor sich in ihren Eigenschaften in jener Verbindung finden, so wenig, wie die Atome sich als Bewußtseinskomponenten eines Sinnenobjekts zeigen. Sie sind und wirken im entwickelten Vorstellen (für den uns vorliegenden Fall) unbewußt.

Sowenig nach dem Obigen die Bedingungen für die räumliche Verteilung der Farbenempfindungen in der Anschauung bewußt sind, so ausnahmslos sind uns die letzteren doch in räumlichen Beziehungen gegeben. Nicht dasselbe gilt von den  Zeitbeziehungen.  Dieselben bilden keinen Bewußtseinsbestandteil der Anschauung. Wir sehen die Objekte der Gesichtswahrnehmung ausnahmslos im Raum, aber nie in der Zeit. Insofern ist die Zeit keine Form der Anschauung. Jede Anschauung ist zwar, wie jede Vorstellung überhaupt, in der Zeitreihe; wir können uns ferner der Einordnung derselben in eine Zeitreihe in jedem Augenblick bewußt werden. Das Bewußtsein dieser Einordnung fehlt jedoch in der Regel bei den einzelnen Wahrnehmungsakten, geschweige daß es so ausnahmslos durch dieselben gegeben würde, wie die räumliche Ordnung. Jede Anschauung füllt sogar, wie die Messungen der Unterscheidungszeiten zweifellos gemacht haben, einen Zeitraum aus. Auch dadurch ist indessen kein Zeitbewußtsein in der Anschauung nachgewiesen. Fürs Erste ist jener Zeitraum, wenn er auch durch die feineren Methoden der psychophysischen Forschung zugänglich geworden ist, doch so gering, daß der Wahrnehmungsakt bis dahin nahezu instantan erschien. Wo für denselben, wie von KANT, ein Zeitraum in Anspruch genommen wurde, waren die Gründe nicht aus einem beobachtbaren Zeitverlauf hergenommen, sondern beruhten auf Voraussetzungen, die für die empirische Psychologie nicht mehr Gegenstand der Diskussion sind (33). Die so vorausgesetzte Augenblicklichkeit der Wahrnehmung war aber wiederum nicht im Wahrnehmungsbewußtsein notwendig anzutreffen, sondern vielmehr nur dann, wenn vorher ein Anlaß gegeben war, die Zeitbeziehungen des Wahrnehmens zu bestimmen. Wir dürfen demnach behaupten, daß in unserem Beispiel, wie bei sehr vielen Wahrnehmungen, die Zeitbeziehungen der Wahrnehmung, des Prozesses wie des Gegenstandes derselben, nicht im Bewußtsein sind.

Dagegen sind uns die räumlich verteilten Empfindungen durch die Wahrnehmung nicht als Bewußtseinsinhalte, sondern als  Eigenschaften  der Gegenstände der Wahrnehmung gegeben. Die Empfindungen also sind, sofern sie lokalisiert sind, zugleich auch zu Eigenschaften von Dingen objektiviert; sie sind eingeordnet in die Beziehung von Ding und Eigenschaft. Die Substanzrelation ist uns allerdings in der Anschauung, etwa unseres Gesichtsobjekts, nicht in gleicher Weise bewußt, wie die Raumbeziehungen. Die letzteren bilden einen selbständigen, für sich isolierbaren Bestandteil unseres Bewußtseinsinhalts. Sie bleiben bestehen, wenn wir von den Empfindungskomplexen absehen, die in ihnen lokalisiert gegeben waren. Was ferner so, übergossen gleichsam mit einem unbestimmten, dunklen Empfindungsinhalt, bestehen bleibt, läßt sich nach jeder Richtung ins Unbegrenzte zur Vorstellung des Raums überhaupt erweitern, zeigt sich also, logisch gefaßt, als Teil des einen, alleinigen, gleichartigen Raums. Die Substanzrelation dagegen ist nicht in dieser Weise abtrennbar. Es ist keine Vorstellung des Dings neben dem Komplex der Eigenschaften in unserer Anschauung enthalten; ebensowenig finden wir eine Vorstellung der Eigenschaften als gemeinsamen Beziehungspunkt etwa für die einzelnen, das Objekt konstituierenden lokalisierten Empfindungen. Die Abstraktion, die von der Einzelvorstellung zum Begriff der Substanzbeziehung führt, ist, wie hier nur anzudeuten ist, ein sehr verwickelter Prozeß als derjenige, den jene Isolierung der Raumvorstellung darbietet. Es gilt dies für die Substanzvorstellung wie für jeden Allgemeinbegriff. Für die erstere speziell ist zu beachten, daß sie sich mit der Beziehung des Ganzen zu seinen Teilen in eigenartiger Weise vermischt. In unserer Anschauung wird das Ding durch den Komplex seiner Eigenschaften repräsentiert, in den meisten Fällen durch diejenigen, welche der Wahrnehmung unmittelbar zugänglich sind, nur unter besonderen Umständen durch solche, die auf dem Weg einer begrifflichen Bestimmung erst erworben sind. Die einzelne Eigenschaft verhält sich also zum Ding selbst insofern wie der Teil zum Ganzen. Es kommt dies auch in den kategorischen Urteilen, deren Prädikat eine Eigenschaftsbestimmung gibt, zum Vorschein, wenn man nur die falsche Subsumtionsbeziehung der Umfangstheorie des Urteils durch die richtige Einordnungsbeziehung der Inhaltstheorie ersetzt. Obgleich jedoch die einzelne Eigenschaft an einem Ding wie ein Teil am Ganzen angeschaut wird, geht die erstere Relation nicht etwa in die letztere auf. Es bleiben vielmehr beide neben oder vielmehr ineinander bestehen; denn der Komplex der Eigenschaften wird nur dadurch zum Ding, daß er in Bezug auf jede einzelne Eigenschaft selbständig, diese letztere dagegen als irgendwie an ihm haftend vorgestellt wird.

Zu anderen Ergebnissen führt die Untersuchung der  Kausalrelation Wir sind uns in der Wahrnehmung eines körperlichen Objekts, speziell in der Gesichtsanschauung etwa des Bleistifts, der Kausalbeziehungen desselben im allgemeinen nicht bewußt, weder derjenigen zu unserem Subjekt, noch derjenigen zu anderen Objekten, diejenigen seiner nächsten Umgebung nicht ausgeschlossen.

Wir sind uns in der Anschauung der räumlichen Verteilung der Empfindungen, die ihrerseits als Eigenschaften angesehen werden, bewußt, bei der Anschauung uns vertrauter Objekte jedoch fehlt jede Spur der Vorstellung etwa, daß dasselbe die Ursache unserer Wahrnehmungsvorstellung ist, eine Tatsache, aus der von Seiten des Empirismus noch gegenwärtig Argumente gegen die aprioristische Auffassung vom Ursprung des Kausalgesetzes hergeleitet werden. Sie fehlt unter diesen Umständen dem erkenntnistheoretisch Gebildeten nicht minder wie dem Ungebildeten. Wir sind uns in der Wahrnehmung nur der wahrgenommenen Gegenstände, eines Unterschiedes dagegen zwischen dem vorgestellten Gegenstand und unserer Vorstellung des Gegenstandes so wenig bewußt, daß nicht geringer intellektueller Bildung bedarf, um denselben überhaupt aufzufinden. Auch dem Kundigen aber geht der erkannte Unterschied im Einzelfall überall verloren, solange nicht die Reflexion ausdrücklich auf denselben gerichtet wird. Schon daraus folgt, daß ein Bewußtsein der Kausalsetzung in der Wahrnehmungsvorstellung im allgemeinen nicht vorhanden sein kann.

Ebensowenig pflegen unsere Anschauungen bekannter Objekte in bekannter Umgebung irgendwelche auf den gegenseitigen Kausalzusammenhang derselben bezügliche Vorstellungsinhalte zu zeigen, selbst dann nicht, wenn dieselben, etwa eine flatternde Fahne, uns gewohnte Bewegungen ausführen.

Was jedoch hiernach in der Anschauung fehlen kann und vielfach tatsächlich fehlt, kann in allen Fällen durch einen einfachen Vorstellungsverlauf zu Bewußtsein gebracht werden. Daraus entspringen, da der Akt der Selbstbeobachtung zum Zweck der Prüfung dieses Punktes solche Vorstellungsverläufe unwillkürlich anregt, die naheliegenden und vielfach verbreiteten Irrtüer, welche die Kausalbeziehungen zu einem Bewußtseinsbestandteil der Anschauung machen. Wir können uns etwa in jedem Augenblick bewußt werden, daß der angeschaute Gegenstand, hier also das Gesichtsobjekt, die Ursache unserer Anschauung ist. Denn dieses Hysteron-Proteron [das Spätere als Früheres - wp] der praktischen Weltanschauung, die unwillkürliche Hypostasierung der objektiven Wirkung zur Ursache, bleibt ja auch für den bestehen, welcher die unvermeidlich Jllusion der Sinneswahrnehmung als solche erkannt hat. In Übereinstimmung ferner damit, daß wir uns dabei zu beruhigen pflegen, das Ding als den Komplex seiner Eigenschaften anzuschauen, können wir uns desselben als einer so vielfältigen Ursache bewußt werden, wie die Wahrnehmung uns von ihm verschiedene sinnliche Eigenschaften vorführt.

Diese Vorstellungsverläufe gehen jedoch über die Grenzen unseres einfachsten Falles hinaus. Für diesen bleibt das Ergebnis bestehen, daß sich in ihm Kausalvorstellungen nicht finden pflegen. Damit ist natürlich über die Abhängigkeit der objektivierten Wahrnehmungsvorstellung von Kausalrelationen überhaupt nichts entschieden. Sie fehlen nur im Bewußtsein. Ob sie überhaupt fehlen, hat die Analyse der Bedingungen der Apperzeptions zu entscheiden.

Paradox klingt die Behauptung, daß wir uns bei der Sinneswahrnehmung auch der  Existenz  der Gegenstände nicht bewußt zu sein pflegen, so wenig wie unserer eigenen Existenz. Und doch gilt hier das Gleiche wie von den Kausalrelationen. Irgendetwas, was als Vorstellung der Existenz zu denken wäre, wird die Selbstbeobachtung, wenn sie die Fehlerquellen nachträglich zuzustopfen weiß, die sie aufschließt, in den Wahrnehmungsvorstellungen bekannter Objekte oder Vorgänge nicht finden. Eine solche Vorstellung ist also nicht  neben  der Vorstellung des Objekts gegeben. Sie ist aber auch nicht  in  der Vorstellung des Gegenstandes gegeben. Hier gelten die Bestimmungen, zu denen schon HUME und KANT geführt wurden, die HERBART später metaphysisch verwertet hat: das Dasein gibt keinen Vorstellungsinhalt, dessen Fortnahme vom Komplex der Merkmale, die den Gegenstand konstituieren, irgendetwas verloren gehen lassen würde, dessen Zufügung irgendetwas zum Vorstellungsinhalt desselben beifügen würde. Man wolle nur, was von jenen Philosophen in logischer und metaphysischer Wendung des Gedankens ausgeführt ist, auf die psychologische Seite der Sache übertragen (34). Die Behauptung, die Vorstellung der Existenz sei zwar nicht als besonderes Bestandsstück, aber doch durch das Ganze der Bestandsstück eines Gegenstandes gegeben, sei also in jenen, nur undeutlich enthalten, verdunkelt lediglich den Tatbestand. Auch eine dunkle Vorstellung ist ein Bewußtseinsinhalt, der als solcher vorzuzeigen wäre. Das Urteil "A existiert" drückt daher ebenso wie die Urteile "A wirkt auf B" oder "A ist von C abhängig" mehr aus, als in der Anschauung unter den besprochenen Voraussetzungen vorgestellt wird. Sie sind Resultate eines Vorstellungsverlaufs, der die Prädikate dem Anschauungsinhalt nachträglich zuführt.

Der Gegenstand der apperzipierten Vorstellung wird schließlich als ein bestimmter  wiedererkannt,  sei es als Exemplar einer bestimmten Gattung, sie es als besonderes, individuell charakterisiertes Exemplar desselben. Diese Rekognition erfolgt nicht nur, wie wir früher sahen, unabhängig von der Erinnerung an die Umstände der früheren Wahrnehmung, sofern sie unmittelbar verläuft, sie tritt auch ein, obgleich weder die Gattungsvorstellung noch das dieselbe bezeichnende Wort sich im Bewußtsein vorfindet. So pflegt es unter den schon mehrfach vorausgesetzten Bedingungen zu geschehen. Auch bildet diese Subsumierung oder Identifizierung nicht irgendwie einen Vorstellungsinhalt neben oder in der Vorstellung des wiedererkannten Objekts. Die Anknüpfungspunkte ferner, von denen aus diese Einordnung sich geltend macht, können durch verschiedene Glieder des Anschauungsinhaltes gegeben sein. Sie kann an ein oder mehrere Merkmale, an die Gesamtheit derselben, aber auch bloß an die (gleichen) Ortsbeziehungen sowie an alle diese Bedingungen zusammen geheftet sein. "Geheftet sein" ist allerdings keine ganz passende Bezeichnung. Denn abtrennbar ist die Einordnung von diesen Vorstellungsinhalten nicht. Die Sprache versagt den Dienst der Bezeichnung dessen, was ohne ihre Hilfe bewußt wird. Die Sache liegt analog wie für die Unmittelbarkeit des Wiedererkennens. Der Gegenstand wird, sofern er rekognosziert wird, zugleich subsumiert, bzw. identifiziert. Diese Einordnung ist nicht ein Bewußtseinsinhalt für sich, nur etwa dunkler oder undeutlicher als das sonst in der Anschauung Gegebene. In und mit der Anschauung ist dieselbe vielmehr so gegeben, daß der Gegenstand, sofern er vorgestellt wird, auch als dieser bestimmte angeschaut wird. Die Urteile, derselbe sei ein Bleistift, oder, derselbe sei mein Bleistift, repräsentieren daher ebenso wie die Urteile über die Existenz, bwz. die Kausalrelationen der Gegenstände nicht den Inhalt der Anschauung, sondern gehen über denselben hinaus, sofern auch ihre Prädikate nicht in der Anschauung für sich bestehende Vorstellungsinhalte sind. Dieses Hinausgehen ist jedoch ein anderes als in jenem Fall. Dort fehlten die Prädikate des Urteils in der Anschauung gänzlich, hier fehlen sie nur als gesonderte Vorstellungen.
LITERATUR Benno Erdmann, Zur Theorie der Apperzeption, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 10, Leipzig 1886
    Anmerkungen
    1) KANTs Werke (Ausgabe HARTENSTEIN) Bd. VII, Seite 445; Bd. VIII, Seite 65; Kr. d. r. V. (B), Seite 376.
    2) HERBARTs Werke V, Seite 18,56, 243, 338. Dementsprechend z. B. auch bei GRIESINGER, Pathologie und Theraphie der psychischen Krankheiten, § 16.
    3) VOLKMANN, Lehrbuch der Psychologie I, Seite 169f
    4) STEINTHAL, Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft, Seite 132
    5) TETENS, Philosophische Versuche I, Seite 265
    6) EDUARD von HARTMANN, Philosophie des Unbewußten, Seite 1f, 62f und öfter.
    7) P. R. SCHUSTER, Gibt es unbewußte und ererbte Vorstellungen, Seite 3f
    8) REINHOLD, Versuch einer Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, Seite 256
    9) Man vgl. a. a. O. § 220, 232, 749; Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes, § 2, 4f. Die obige Ausführung gibt Ergänzungen und Berichtigungen zu der verdienstvollen Arbeit EUCKENs über die "Geschichte der philosophischen Terminologie" (vgl. bes. 129, 133, 209)
    10) Statt vieler seien BRENTANO, Psychologie, Seite 104 und 261f; LIPPS, Grundtatsachen des Seelenlebens, Seite 29 und 179 genannt.
    11) ÜBERWEG, Logik, Seite 92.
    12) WUNDT, Physiologische Psychologie II, Seite 1f; Bd. I, Seite 271; Bd. II, Seite 200.
    13) HEGELs Werke VII, Seite 2 und 323.
    14) ROSENKRANZ, Psychologie, Seite 341. Man vgl. auch DAUB, Philosophische Anthropologie, Seite 191. Der Sprachgebrauch HEGELs führt auf FICHTEs Bestimmung des Begriffs "Bild" zurück.
    15) LOTZE, Grundzüge der Psychologie II, § 1; Metaphysik, 1879, Seite 532 und 523.
    16) FECHNER, Elemente der Psychophysik II, Seite 464
    17) HELMHOLTZ, Physiologische Optik, Seite 435
    18) HELMHOLTZ, a. a. O. Seite 798
    19) C. WERNICKE, Der aphasische Symptomenkomplex, Seite 5f; Lehrbuch der Gehirnkrankheiten I, Seite 199f.
    20) Es fehlt noch nach LEXER im Mittelhochdeutschen. Bei STIELER, Der deutschen Sprache Stammbaum (1691), STEINBACH, Vollständiges deutsches Wörterbuch (1734) in den oben angeführten Bedeutungen. Man vergleiche auch DIETZ' Wörterbuch zu LUTHER und vor allem in GRIMMs Wörterbuch unter "fürstellen". Den Hinweis auf diese Quellen verdanke ich K. WEINHOLD.
    21) FRISCH hat, jedoch ohne Beleg, auch  propositio. 
    22) Ebenso urteilt BRENTANO, Psychologie, Seite 262, Anm.
    23) KANT, Kr. d. r. V., Seite 346
    24) SIGWART, Logik I, Seite 306f
    25) LOTZE, Logik (1874), § 33
    26) CARL STUMPF, Tonpsychologie I, Seite 5
    27) LOTZE, Metaphysik, Seite 527; vgl. auch "Grundzüge der Psychologie", Seite 22, § 7.
    28) LOTZE, Metaphysik, Seite 554f. Neuerdings hat sich MEYNERT ("Psychiatrie", Seite 167), weil er für seinen Zweck "mit dieser Einfachheit ausreicht", der Hypothese LOTZEs angeschlossen.
    29) WUNDT, Physiologische Psychologie II, Seite 62; "Logik" I, Seite 458; "Erfundene Empfindungen", Philosophische Studien, Bd. 2, Seite 298f.
    30) HELMHOLTZ, Physiologische Optik, Seite 530, 541, 571; Reden und Abhandlungen I, Seite 298. - BOLL in DUBOIS-REYMONDs Archiv,1881, Seite 2.
    31) LIPPS, Grundtatsachen des Seelenlebens, Seite 476f; Psychologische Studien, Seite 36f
    32) DUBOIS-REYMONDs Archiv, 1877, Seite 342 und 349f
    33) Die Gründe KANTs liegen in seiner Lehre von der Synthesis, speziell in seiner Annahme, daß die transzendentale Synthesis den inneren Sinn affiziert. Die Behauptung, daß jede Vorstellung als in einem Augenblick enthalten niemals etwas anderes als eine absolute Einheit sein kann (Kr. d. r. V., Beilage II, Seite 94), ist nur eine Konsequenz dieser Annahme. Übrigens behauptet auch KANT gelegentlich: "Die Apprehension bloß mittels der Empfindung erfüllt nur einen Augenblick" (a. a. O. Seite 209).
    34) Man vgl. HUME, Treatise III, sect. 7 (I, Seite 394f der Ausgabe von GREEN und GROSE): "This also is evident, that the idea of existence is nothing different from the idea of any object, and that when after the simple conception of anything wie would conceive it as existent we in reality make no additioin to or alteration on our first idea ..." Analoges bei KANT, Werke II (Ausgabe HARTENSTEIN) Seite 115; Kritik der reinen Vernunft, Seite 626f. Es ist für die Beurteilung des Abhängigkeitsverhältnisses KANTs von HUME von Bedeutung, daß jene Ausführungen des letzteren sich lediglich im Treatise finden, den KANT damals sicher nicht gekannt hat. Die nahezu wörtliche Übereinstimmung zwischen der Erörterung HUMEs und den Betrachtungen KANTs im "Beweisgrund" von 1763, die viel weiter geht als die Anklänge an HUMEs Theorie der Kausalität in den "Negativen Größen", ist ein Argument mehr dagegen, daß KANT damals unter dem bestimmenden Einfluß HUMEs gestanden hat.