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GEORG SAMUEL ALBERT MELLIN
"Anschauung"
Enzyklopädisches Wörterbuch
der kritischen Philosophie

[oder Versuch einer faßlich und vollständigen Erklärung der in Kants
kritischen und dogmatischen Schriften enthaltenen Begriffe und Sätze]


"Wenn ich den Gegenstand anschaue, dann denke ich noch nicht, sondern bekomme bloß eine Vorstellung, von der ich erst durch das Denken verstehe, was sie ist, und die bloße Anschauung ist also blind, d. h. Niemand versteht, was der Gegenstand, den er anschaut, ist, bis er anfängt darüber zu denken."

"Der Satz, zwischen zwei Punkten ist nur eine gerade Linie möglich, gründet sich weder auf den Begriff der Punkte noch der geraden Linie, sondern darauf, daß die Beschaffenheit der reinen Anschauung, die wir Raum nennen, es uns unmöglich macht, mehr als eine Linie von einem Punkt zum andern zu ziehen."

1. Anschauung, sinnliche Vorstellung, intuitive Vorstellung, intuitus, intuition, ist diejenige Art von Vorstellungen, die unmittelbar auf den Gegenstand bezogen wird, oder auch die unmittelbare Vorstellung (Kr. d. r. V. 41)eines Objekts. KANT will sagen, es gibt mehrere Arten und Mittel zu erkennen. Wenn ich nämlich erkennen will, so will ich mir eigentlich eine richtige Vorstellung von einem gewissen Gegenstand machen. Das kann nur dadurch geschehen, daß mir jemand die Merkmale des Gegenstandes angibt. Der Gegenstand, den ich erkennen wir, sei z. B. die Stadt Magdeburg, so kann ich mir dadurch eine Erkenntnis derselben erwerben, daß ich mir aus einem Buch, oder aus Jemandes Erzählung, die Lage derselben denke, daß sie, so lang als sie ist, dicht am linken oder westlichen Ufer der Elbe von Norden nach Süden liegt, etwa von Abend nach Morgen halb so breit als lang ist, eine breite Straße hat, die von Mittag nach Mitternacht durch die ganze Stadt läuft, sie in zwei Teile teilt, und an jedem Ende von einem Tor begrenzt ist, usw. Um nun diese Beschreibung zu verstehen, muß ich wieder wissen, was Ufer, Norden, Süden usw. heißt, und mir den Sinn dieser Worte denken. Mit all diesen Worten verbinde ich nun bloß Gedanken, z. B. mit dem Wort Süden, daß es die Gegend des Himmels ist, wo die Sonne auf unserer Seite des Äquators im Mittag steht, so denke ich mir die Gegenstände, welche diese Worte ausdrücken durch Begriffe, welche mir zusammen einen Begriff von der Stadt Magdeburg geben. Oder, ich mache mir mit meiner Einbildungskraft ein Bild vom Ufer eines Flusses (der Elbe), ein Bild von der Mittagsseite, und der Länge einer Stadt, usw. Dann stelle ich mir die Stadt Magdeburg in der Phantasie dar. Das sind Arten und Mittel, sich eine Erkenntnis von Magdeburg zu verschaffen. Nun gibt es aber noch eine Art, die beste und sicherste, nämlich hinzureisen und die Stad selbst zu sehen. Das gibt eine Erkenntnis von Magdeburg unmittelbar vorgestellt. In den vorigen Arten der Erkenntnis stellte ich mir Magdeburg durch allerhand Mittel vor, nämlich durch Begriffe und Bilder, die ich mir davon machte, hier aber, wenn wir die Stadt sehen, fällt Vorstellung und Gegenstand zusammen, beides ist völlig eins, zwischen dem Gegenstand, Magdeburg, und meiner Erkenntnis davon, ist nicht noch ein Mittel, etwa Begriffe und Bilder der Phantasie, welche machen müßten, daß meine Erkenntnis von Magdeburg mit dieser Stadt übereinstimmt, sondern beides ist eins: wir stellen und die Stadt nicht erst durch einen Begriff, sondern ohne alle Vermittlung, folglich unmittelbar auf den Gegenstand, nämlich die Stadt, bezieht. Es ist hier kein Unterschied weiter zwischen Magdeburg als meiner Vorstellung und Magdeburg als Gegenstand meiner Vorstellung. Noch ist zu bemerken, daß ich zwar ein Beispiel gewählt habe, bei welchem von der Anschauung durch den Sinn des Gesichts die Rede war, allein, obwohl das Wort Anschauung vom Sehen hergenommen ist, so bedeutet es doch nicht bloß Vorstellungen durch das Gesicht, sondern alle die sinnlichen Vorstellungen, in denen sich der Gegenstand unmittelbar darstellt, es sei nun, daß wir ihn sehen, oder auch hören, riechen, schmecken, oder fühlen oder uns auch nur seiner als einer unserer Vorstellungen im Gemüt bewußt sind. Die Ausdünstungen der Rose, die ich rieche, wären mir auch die Augen verbunden, schaue ich durch den Sinn des Gehörs usw.

2. Anschauung ist die Vorstellung, die nur durch einen einzigen Gegenstand (ein Individuum) gegeben werden kann, und ist einzeln (individuell). Da in der Anschauung der Gegenstand selbst sich uns darstellt, so kann dieselbe Anschauung uns nicht durch einen anderen Gegenstand bewirkt werden. Bei einem Begriff ist das anders, wenn wir uns durch Erzählungen und Beschreibungen anderer einen Begriff von der Stadt Magdeburg machen, so kann dieser Begriff nie so genau und vollständig werden, daß sich nicht noch eine zweite Stadt denken läßt, die gerade alle Merkmale dieses Begriffs auch in sich vereinigt. Allein die Anschauung der Stadt Magdeburg kann nur diese Stadt selbst und allein geben, denn gäbe sie eine andere Stadt, so können wir uns zwar irren, und sie für die Anschauung von Magdeburg halten, wie KONSTANTINs Soldaten Konstantinopel für Rom gehalten haben, aber es wäre dennoch nicht wirklich die Anschauung von Magdeburg, sondern dieser anderen Stadt. Der Gegenstand gibt die Anschauung, heißt: ich kann sie entweder nicht wie meine Gedanken nach Willkür in mir hervorbringen, oder ihr doch nicht eine willkürliche Beschaffenheit geben; sondern es ist in derselben alles so beschaffen, daß es nicht von mir abhängt, den Gegenstand, den ich in der Anschauung vor mir habe, entweder anzuschauen, oder doch durch den Verstand willkürlich zu bestimmen, wie er in allen Stücken beschaffen sein soll.

3. Anschauung ist das, was als Vorstellung, vor aller Handlung irgendetwas zu denken, vorher gehen kann, oder diejenige Vorstellung, die vor allem Denken gegeben sein kann.

Ehe ich mir einen Gegenstand denke, oder ihn mir in Gedanken vorstelle, konnte er sich noch vorher meinen Sinnen darstellen und meine unmittelbare Vorstellung werden. Noch eine andere Vorstellung aber als die Anschauung kann vor dem Denken des Gegenstandes nicht in mir sein. Wenn ich mir Begriffe oder Bilder oder Zeichen von einem Gegenstand mache, so gehört dazu, daß ich denke, mein Denkvermögen zum Denken handeln lasse. Aber wenn ich den Gegenstand anschaue, dann denke ich noch nicht, sondern bekomme bloß eine Vorstellung, von der ich erst durch das Denken verstehe, was sie ist, und die bloße Anschauung ist also blind, d. h. Niemand versteht, was der Gegenstand, den er anschaut, ist, bis er anfängt darüber zu denken. So ist also die Anschauung eine Vorstellung, die nicht nur allem Denken eines Gegenstandes vorhergehen kann, sondern auch eine notwendige Beziehung hat auf das: Ich denke, in demselben Subjekt, darin sie angetroffen wird (Kr. d. r. V. 67) (siehe "Apperzeption).

4. Durch Anschauung wird aber der Gegenstand nur als Erscheinung gegeben. Die Anschauung ist nämlich die unmittelbare Vorstellung eines Gegenstandes. In Gedanken kann ich nun noch die Anschauung von dem Gegenstand, den ich anschaue, unterscheiden, aber mit meinen Sinnen kann ich das nicht, da ist beides Eins. Wenn ich die Stadt Magdeburg vor mir sehe, in ihren Straßen herumwandle, ihre Häuser mit meinen Händen fühle, die Stimmen ihrer Einwohner höre usw., so kann ich zwar meine Sinne vor allen Eindrücken verschließen, und mir nun durch meine Einbildungskraft alles, was ich sehe, fühle und höre, noch einmal bildlich vorstellen, allein das ist nicht mehr die Anschauung der wirklichen Stadt Magdeburg, sondern die eines Bildes der Stadt Magdeburg in meinem Innern, oder meines inneren Zustandes. Solange ich aber die wirkliche Stadt Magdeburg oder Teile derselben, anschaue, kann ich nicht diese Anschauung, diese sinnliche Vorstellung, von der Stadt selbst in der Anschauung trennen. Beides ist Eins. Es fragt sich nun, ist der Gegenstand, den ich unter dem Namen der Stadt Magdeburg anschaue, und den ich mir durch meinen Verstand jetzt so denken will, daß ich ihn nicht mehr anschaue, alsdann noch wirklich so, wie ich ihn angeschaut habe? Findet sich, gesetzt daß die Stadt Magdeburg nicht mehr angeschaut würde (abstrahiert jetzt von ihren Einwohnern), gerade ein solcher Gegenstand wirklich vor, so daß ihn auch Gott selbst und alle lebenden und erkennenden Wesen (außer den Menschen) auf die dieses Wesen eigene Art zu erkennen, dennoch ebenso finden müßten, als wir? Kurz: ist das Magdeburg, das wir anschauen, ein Ding-ansich? Die Antwort ist: Nein. Es ist eine Erscheinung. Denn unsere Anschauung derselben ist eine sinnliche Vorstellung, welche zwar entwas enthält, was nicht aus uns herrührt, sondern in unsere Vorstellung hineinkommt, wir wissen nicht wie, oder woher, aber dieses Etwas (das Empirische) ist so modifiziert durch das, was unser eigenes Erkenntnisvermögen beim Anschauen hinzutut, daß wir von der ganzen Anschauung nicht mehr sagen können, daß ein solcher Gegenstand, als uns in derselben dargestellt wird, auch außerhalb des Wirkens unseres Anschauungsvermögens vorhanden ist. Ja, wir können nicht einmal in Gedanken dieses Etwas (das Empirische) von dem trennen, was das Erkenntnisvermögen in der Anschauung hinzutut. Wir können uns das, was das Erkenntnisvermögen hinzutut, besonders denken, aber jenes Etwas nicht. Die Stadt Magdeburg nimmt z. B. einen bestimmten Raum ein, existiert für die anschauenden Menschen in einer bestimmten Zeit, aber Raum und Zeit sind etwas, was das Erkenntnisvermögen zur Anschauung der Stadt Magdeburg hinzutut. Das Bestimmte im Raum und in der Zeit hingegen, oder daß Magdeburg in Niedersachsen liegt, gerade jetzt existiert usw., und das, was den Raum und die Zeit erfüllt, die Materie, rührt nicht vom Erkenntnisvermögen her; denn es ist zufällig und könnte auch anders sein, und man kann es nicht a priori erkennen. Denkt nun aber allen Raum und alle Zeit weg, nämlich logisch, oder abstrahiert davon (denn mit der Einbildungskraft sie wegdenken, ist nicht möglich), so ist auch das Bestimmte des Raums und der Zeit, und die Materie, die sie erfüllt, nicht mehr denkbar (siehe "Absonderung"). Was wir also anschauen, sind nicht Dinge ansich, sondern Erscheinungen (das ist, Gegenstände, von deren Beschaffenheiten wir vieles unserem Erkenntnisvermögen zuschreiben müssen), die wir nur als Gegenstände anschauen und denken können, die aber, wenn sie sich uns nicht in der Anschauung vorstellen und vom Verstand gedacht werden, nicht so vorhanden sind, da sie zum Teil ihren Grund in unserem Erkenntnisvermögen haben. (Kr. d. r. V. 125)

Wenn wir also unser Subjekt, oder auch nur die subjektive Beschaffenheit der Sinne überhaupt, aufheben könnten, so würden damit auch alle sinnlichen Beschaffenheiten, alle Verhältnisse der Objekte in Raum und Zeit verschwinden, daß sie als Erscheinungen nicht ansich, sondern nur in uns, als Wirkungen unserer Anschauungsfähigkeit oder Sinnlichkeit, als Anschauungen, zu denen nur ein Stoff gegeben ist, und denen der Verstand einen Gegenstand setzt, existieren. (Kr. d. r. V. 59)

A n m e r k u n g : So unmöglich es ist, von Gott zu reden und ihn zu denken, ohne auch nicht die feinste menschliche Vorstellung einzumischen; ebenso unmöglich ist, von den Gegenständen der Anschauung, oder den Erscheinungen zu reden, und sie den Dingen-ansich gegenüber zu stellen, ohne etwas aus unserem Erkenntnisvermögen, etwas von menschlicher Vorstellung dem Ding-ansich beizumischen, z. B. ohne die Worte außerhalb, vorhanden sein, finden usw. zu gebrauchen, die sich doch alle wieder auf Erscheinungen beziehen. Daher rührt der ewige Streit zwischen den Dogmatikern und den Kritikern, oder denen, die da behaupten, die Dinge sind außerhalb von uns so vorhanden, wie sie uns in die Sinne fallen, und wir erkennen sie, sobald wir die sinnlichen Vorstellungen auf deutliche Begriffe bringen, und denen, welche das Erkenntnisvermögen als eine der Quellen dieser Gegenstände betrachten, und behaupten, sie sind, so wie wir sie anschauen, bloß etwas in unserem Subjekt Befindliches. Es reicht zu wissen, wovon wir bei dem Gebrauch obiger Worte abstrahieren müssen, so wie wir wissen, wovon wir abstrahieren müssen, wenn wir sagen: Gott sieht uns.

5. Die Anschauung ist also ein Element unserer Erkenntnis, so daß Begriffe, ohne ihnen auf einige Art korrespondierende Anschauung, keine Erkenntnis abgeben können. wir haben (oben 1) gesehen, daß alles Denken als Mittel auf Anschauungen abzweckt. Ein Denken also, das keinen Gegenstand hat, der angeschaut werden kann, oder doch einmal angeschaut werden könnte, zweckt auf nichts ab und ist leer, es erzeugt Begriffe, die aber keinen Inhalt haben, weil aller Inalt, aller Stoff zu Begriffen, nur durch Anschauungen gegeben wird. Der Gegenstand eines solchen Begriffs ist entweder wieder ein Begriff, und dann gilt von diesem Begriff dasselbe, oder ein Bild der Phantasie, dann ist dieses Bild die Vorstellung einer Anschauung durch die Einbildungskraft. Ein Begriff ohne allen Gegenstand ist aber leer und eine bloße Verneinung (nihil privativum), er sagt bloß aus, was ein Ding nicht ist, aber nie, was es ist. Nur ein Begriff mit einem Gegenstand ist etwas Reelles (ens reale). Es gibt also eigentlich keine Erkenntnis ohne Anschauung (Kr. d. r. V. 74). Wir können daher auch Gott nicht erkennen, denn der Gegenstand, den wir unter dem Begriff Gott denken, kann nicht von uns angeschaut werden, weil er kein sinnlicher Gegenstand, keine bloße Erscheinung ist. Daher rührt es, daß alles, was wir von Gott sagen können, eigentlich lauter Verneinungen sind, z. B. er ist ein Geist, d. h. hat keinen Körper, er ist allmächtig, d. h. seine Macht ist unbeschränkt usw. (Kr. d. r. V. 71)

6. Die Fähigkeit anzuschauen, oder Anschauungen dadurch, daß uns etwas affiziert, oder Eindrücke (Empfindungen) in uns hervorbringt, zu bekommen, heit die Sinnlichkeit. Durch das bloße Denken können wir vornehmlich keine Anschauungen, sondern bloß Begriffe hervorbringen, sonst könnten wir die Gegenstände selbst hervorbringen, denen unsere Begriff korrespondieren, welches uns unmöglich und unbegreiflich ist. Unser Verstand ist also kein Vermögen der Anschauung, er kann nur denken, und muß die Anschauung in den Sinnen suchen, und wir können unabhängig von unserer Sinnlichkeit (Anschauungsfähigkeit) keiner Anschauung teilhaftig werden (Kr. d. r. V. 92). Alle Anschauungen beruhen auf Affektionen, d. h. darauf, daß etwas Einfluß auf unsere Sinnlichkeit hat, wodurch Empfindung entsteht, die den Stoff zur Anschauung gibt. Auf solche Eindrücke gründen sich alle unsere Anschauungen, und da die Rezeptivität dieser Eindrücke, oder die Fähigkeit sie anzunehmen, die Sinnlichkeit heißt, so sind auch alle unsere Anschauungen sinnlich (Kr. d. r. V. 93), und müssen folglich etwas von der Beschaffenheit der Sinnlichkeit an sich haben, daher können die Gegenstände der Anschauungen nicht für Dinge-ansich gelten, sondern sind nur Erscheinungen (Kr. d. r. V. 323). Der Verstand, oder das Vermögen der Begriffe, ist ein nichtsinnliches Erkenntnisvermögen, das aber das sinnliche voraussetzt. Gesetzt, es gäbe ein nichtsinnliches Erkenntnisvermögen, das kein sinnliches voraussetzt, folglich den Gegenstand seines Erkennens selbst hervorbrächte, so wäre das ein Verstand, welcher anschaut und seine Anschauung wäre eine nichtsinnliche, rationale, intellektuelle oder Verstandesanschauung, die wir Gott beilegen müssen. Aber von der Möglichkeit und Beschaffenheit eines solchen anschauenden Verstandes haben wir nicht einmal eine Vorstellung. Wir haben jetzt nur gesagt, was er nicht ist, nämlich ein Verstand, der nicht durch Begriffe, sondern durch Anschauung oder unmittelbare Vorstellung erkennt, und folglich nicht so ist, wie der unsrige. Aber ein solcher Verstand wird von uns nicht angeschaut, sein Begriff entsteht nur dadurch, daß die Beschaffenheit des unsrigen verneint wird, folglich ist der Begriff desselben eigentlich leer, eine bloße Verneinung (nihil privativum) (Kr. d. r. V. 312)

7. Hätten wir also keine Sinnlichkeit, so könnten wir nicht zum Anschauen affiziert werden, wir könnten nicht anschauen, und erhielten keine Gegenstände der Erkenntnis (siehe "Sinnlichkeit"). Der Verstand kann zwar denken, aber was sollte er denken, wenn nicht durch die Sinnlichkeit Gegenstände gegeben wären? Denn wenn der Verstand denkt, so stellt er sich entweder geradezu (direkt) einen gewissen Gegenstand durch seine Merkmale vor, d. h. er macht sich einen Begriff von ihm; oder die Begriffe, die er denkt, beziehen sich auf einem Umweg (indirekt), durch Merkmale, die wieder Begriffe sind, doch zuletzt auf Anschauung, z. B. wenn wir uns etwas denken, was uns noch nicht vorgekommen ist, so sind uns doch die einzelnen Merkmale in einzelnen Anschauungen vorgekommen, oder wir denken uns das Gegenteil von dem, was in einer Anschauung vorkommt. Das Letzte könnten wir nun nicht, wenn wir nicht dasjenige in einer Anschauung gefunden hätten, dessen Gegenteil wir uns nun denken. Da wir nun bloß durch Sinnlichkeit Gegenstände erhalten, so bezieht sich all unser Denken zuletzt auf unsere Sinnlichkeit, oder zweckt als Mittel auf die Anschauungen ab, um diese Produkte unserer Sinnlichkeit zu verstehen und zu begreifen. Der Zweck des Denkens ist nämlich nichts anderes, als sich das durch Begrife zu denken, oder in Gedanken vorzustellen, was sich uns durch unsere Sinne unmittelbar vorstellt, oder was wir anschauen, weil wir es erst dann verstehen, d. h. die Ursachen, die Wirkungen, den Zusammenhang, die Beschaffenheit davon einsehen. Und wir würden durch die Begriffe nichts begreifen, wenn ihnen nicht Anschauungen zugrunde lägen.

8. Die Anschauungen sind aber entweder empirisch oder rein. Eine empirische Anschauung ist eine solche, welche sich auf den Gegenstand durch Empfindung bezieht. Die Anschauung der Stadt Magdeburg ist empirisch, denn ich kann diese Anschauung nicht durch mich selbst haben, sondern es muß eine Einwirkung auf meine Sinnlichkeit vorhergegangen sein, ehe der Gegenstand, die Stadt Magdeburg, vn mir angeschaut werden kann. Diese Wirkung nun schreibe ich dem Gegenstand zu, und sage, er fällt mir in die Sinne, obwohl ich weiß, daß nur etwas darin, nämlich das Empirische (das Zufällige und Besondere) in mir gewirkt wird, das Übrige aber aus mir selbst entspringt. Durch beides aber wird die Anschauung möglich, der mein Verstand dann einen Gegenstand setzt, welcher daher nur Erscheinung und nicht Ding ansich ist, und der, weil das objektiv oder in allen Menschen so ist, auch von Jedermann die Stadt Magdeburg genannt wird. Bei der empirischen Anschauung wird folglich die Sinnlichkeit so affiziert, daß dadurch eine beständige Veränderung in ihrem Zustand bewirkt wird. Diese Wirkung nämlich, die den Zustand des Erkenntnisvermögens beständig verändert, heißt eben Empfindung (Kr. d. r. V. 34). Diese empirischen Anschauungen sind die Data zur möglichen Erfahrung (Kr. d. r. V. 298)

9. Es gibt aber auch nichtempirische Anschauungen, oder solche, in denen nichts, was zur Empfindung gehört, angetroffen wird, und das sind solche, die bloß aus der Anlage des Gemüts herrühren, bei Gelegenheit der Empfindung gewisse sinnliche Vorstellungen aus sich selbst zu erzeugen, welche der Empfindung die Form geben, oder die Empfindungen ohne daß sich der Verstand das Gegenteil dieser Vorstellungen, oder die Empfindungen ohne sie gar nicht als möglich denken kann. Da bei diesen Vorstellungen keine Veränderungen des Gemüts oder Erkenntnisvermögens vorkommt, indem der Grund dieser Vorstellungen im Gemüt selbst liegt, so findet bei denselben keine Empfindung eines Gegenstandes statt, indem sie das sind, worin sich die Empfindungen ordnen, oder was ihnen die Form gibt. Ich erfahre hier nicht etwas, sondern die Vorstellung ist, wo ich mich auch hinwende, wenn ich mir nur derselben bewußt werden will, immer da, und eine solche nicht empirische Anschauung heißt auch eine reine Anschauung oder eine Anschauung a priori, z. B. wenn ich mir Magdeburg wegdenke aus dem Raum, den es einnimmt, so bleibt noch der Raum übrig, den es erfüllt, und diesen Raum kann ich nicht mit wegdenken, er gehört nämlich zu meinem Gemüt, und wird von demselben erzeugt, sobald ich äußere Gegenstände anschauen will (Kr. d. r. V. 34).

10. Mit allen empirischen Anschauungen ist auch immer eine solche reine Anschauung unzertrennlich verknüpft. Jeder Körper muß sich in einem Raum befinden, jeden Gedanken muß ich in der Zeit haben. Ich mag hingehen oder mich hindenken, wohin ich will, so bin ich immer mitten im Raum und in der Zeit. Diese reinen Anschauungen sind folglich die reinen Formen aller empirischen Anschauungen, oder ich kann nicht anschauen, ohne daß die Empfindung sich in jene reine Anschauung, als ihr Gewand kleidet, eine Zeit und einen Raum erfüllt, und mit Zeit und Raum umgeben ist. Da wir nun diesem Raum und dieser Zeit nicht entlaufen können; da sie uns wie unser Schatten begleiten, und wir sie durch keine Anstrengung der Denkkraft, selbst nicht der dichtenden Phantasie, aus unserem Erkenntnisvermögen verbannen können; da wir überdem ihre Beschaffenheit, ohne sie erst an den empirischen Anschauungen zu untersuchen, a priori als notwendig und allgemeingeltend angeben können: so sind Raum und Zeit, oder die reinen Anschauungen in Raum und Zeit, als Teile derselben, Formen unseres Erkenntnisvermögens, worin sich das Mannigfaltige aller Erscheinung in gewisse Verhältnisse ordnen muß, und dann in dieser Gestalt angeschaut wird. Wenn also die Anschauung nichts als die Form von Verhältnissen, nicht aber die Materie, die sich in diese Verhältnisse ordnet, enthält, so ist sie rein und die bloße Form der empirischen Anschauung, welche nichts vorstellt, als die fortdauernde Einwirkung des Gemüts auf sich selbst, um die Anschauungen zu formen. Die transzendentale Ästhetik ist die Wissenschaft von der Möglichkeit solcher reiner Anschauungen (siehe "Ästhetik", "Raum", "Zeit").

11. Obgleich es nun, wie wir gesehen haben, die Sinnlichkeit ist, welche anschaut, so ist sie es doch nicht allein, welche die Anschauung hervorbringt. KANT hat unter allen Philosophen zuerst die sehr zusammengesetzte Operation des Erkenntnisvermögens bei der Anschauung, die es hervorbringt, zerlegt. Ich will hier einen Versuch machen, diese Operation, nach allen ihren Teilen deutlich darzustellen. Das erste, was sich hierbei denken läßt, ist, daß die Sinnlichkeit, oder die Fähigkeit sinnliche Eindrücke zu erhalten, affiziert wird. Wenn ich z. B. die Anschauung eines Hauses erhalten soll, so kan nich das nicht willkürlich bewirken, ich kann nicht machen, daß zugleich, wenn ich will, ein Haus vor mir wirklich dasteht. Daher sagt KANT, der Gegenstand muß mir gegeben werden, d. h. das Ding, was ich Haus nenne, ist nicht ein Werk meines Erkenntnisvermögens, sondern, wenn ich es in einer wirklichen Anschauung vor mir haben soll, so muß
    a) der Gegenstand, oder das, was in der Anschauung vorgestellt wird, das Gemüt (das die Vorstellungen zusammensetzende und zu einer Vorstellung verknüpfende Vermögen) affizieren, die Anschauung des Hauses muß mit einem Eindruck auf mein vorstellendes Vermögen verknüpft sein, dessen ich mir bewußt werden kann;

    b) der Gegenstand muß durch diesen seinen Eindruck auf das Gemüt mir gegeben werden; woher oder wodurch, das ist gänzlich unbegreiflich, denn das zu begreifen, würde neue Eindrücke erfordern, von denen wieder die Frage sein würde, wo ist der Gegenstand her, der sie macht, und so ins Unendliche.
Die Wirkung des Eindrucks, die der Gegenstand auf das Gemüt macht, heißt die Empfindung. Diese Empfindung kommt nun einzeln in uns, wir empfinden nicht etwa mit einem Mal all das, was wir in der Anschauung eines Hauses anschauen, sondern wir empfinden es teilweise nacheinander. Jede Empfindung erfüllt nämlich einen Moment der Zeit (einen sehr kleinen Zeitteil), da nun die Zeitteile aufeinander folgen, so müssen notwendig auch die Empfindungen, die zu einer Anschauung nötig sind, und den Inhalt derselben ausmachen, aufeinander folgen. Diese Empfindungen kommen folglich nach und nach in den Sinn, und dieses Hineinkommen der einzelnen, an und für sich nicht zusammenhängenden Empfindungen in den Sinn nennt KANT die Synopsis des Mannigfaltigen durch den Sinn. Sollen nun diese ansich unzusammenhängenden Empfindungen eine Anschauung geben, so müssen sie miteinander verknüpft werden. Dieses kann nun der Sinn nicht, sondern hier geht schon das Geschäft des Verstandes an. Der Verstand bewirkt nämlich das, was Synthesis der Apprehension heißt, und im Artikel "Apprehension" beschrieben ist; ferner die Synthesis der Reproduktion (siehe Artikel "Apprehension"). Wenn ich aber durch die Einbildungskraft die bereits gehabten Empfindungen reproduziere (sie durch die Einbildungskraft mir wieder darstelle), um die neuen Empfindungen mit ihnen zu verbinden, so muß ich sie auch für diejenigen Empfindungen wieder erkennen, die ich bereits gehabt habe, und dies heißt die Synthesis der Rekognition. Hierdurch entsteht nun nach und nach das Bild eines Hauses, das ich in der Anschauung vor mir habe, dessen ich mir teilweise in den einzelnen Empfindungen bewußt wurde, und mir nun als eines einzigen Ganzen bewußt bin, welches die Einheit der Synthesis durch die Apperzeption heißt (siehe Artikel "Apperzeption"). Diese Einheit denkt sich nun der Verstand durch den Begriff eines Gegenstandes, und von diesem Gegenstand sind wir eben genötigt zu gestehen, er affiziere unser Gemüt und sei uns gegeben, weil wir nicht die Schöpfer der Empfindungen in den Zeitmomenten sind, aus welchen wir die Anschauung zusammensetzen. So gehört also zu jeder empirischen Anschauung
    a) Affizierung des Gemüts (mittels der Sinnlichkeit)
    b) gegeben Empfindung (mittels der Sinnlichkeit)
    c) Synopsis durch den Sinn (mittels der Sinnlichkeit)
    d) Synthesis der Apprehension (mittels der Einbildungskraft)
    e) Synthesis der Reproduktion (mittels der Einbildungskraft)
    f) Synthesis der Regognition (mittels der Einbildungskraft)
    g) dadurch bewirkte Einheit der Synthesis der Apperzeption
Den Unterschied zwischen empirischen und reinen Anschauungen in Anbetracht dieser Operation siehe Artikel "Apprehension".

12. Man kann die Anschauungen nun auch nach den zweierlei Sinnesarten, dem äußeren und inneren Sinn, in äußere und innere einteilen. Alles, was im Raum ist, gibt äußere Anschauungen, und der Raum, als die Bedingung a priori aller äußeren Erscheinung und als die Form aller äußeren Anschauung. Innere Anschauungen sind diejenigen, die im inneren Sinn sind, die gar nicht räumlich sind, und die wir nur als Veränderungen in uns wahrnehmen, z. B. Gedanken, Bilder der Einbildungskraft, selbst die Begriffe, insofern sie als Objekte neuer Vorstellungen Erscheinungen sind und insofern nicht gedacht, sondern, als Wirkungen der Denkkraft, angeschaut werden. Die Zeit ist die reine Form dieser inneren Anschauungen,m und selbst eine innere Anschauung, denn sie ist nicht räumlich und wird nur als in uns vorgestellt. Sie ist aber nicht bloß Bedingung der inneren Anschauungen, sondern auch der äußeren, denn alle äußeren Erscheinungen sind zu irgendeiner Zeit. Da nämlich die Anschauungen überhaupt eigentlich im Gemüt oder Wirkungen des Erkenntnisvermögens, d. h. Vorstellungen sind, sie mögen äußere oder innere sein, so müssen die äußeren Anschauungen zugleich die Form des inneren Sinnes annehmen, und daher ihre Gegenstände, oder die äußeren Erscheinungen auch in der Zeit sein (Kr. d. r. V. 50). Alles Äußere ist auch innerlich, das ist kein Widerspruch, weil Äußeres nur heißt, was im Raum ist und der Raum selbst, der diese Vorstellung des Äußeren möglich macht, Inneres aber, was lediglich Wirkung des Erkenntnisvermögens ist. Daher ist alles Äußere auch ein Inneres, aber nicht umgekehrt. Das Innere hat nämlich zweierlei Bedeutung. Einmal steht es dem Äußeren kontradiktorische entgegen, und insofern kann nicht beides zugleich stattfinden. Hiernach teilt man die Anschauungen in äußere und innere ein, von denen die letzteren keine Gestalt haben. Zweitens steht es auch dem nicht von unserem Erkenntnisvermögen gewirkten Ding entgegen (siehe Artikel "Außer mir"). Man diese letztere die transzendentale, die erstere die empirische Bedeutung nennen. Im transzendentalen Sinn sagen wir, das Gemüt wird von etwas Unbekannten außerhalb desselben affiziert, im empirischen aber sagen wir, die Gedanken sind in uns, und die Stadt Magdeburg außerhalb von uns, da die letztere doch in einem transzendentalen Sinn ebenfalls in uns ist (siehe Artikel "Inneres"). Man kann sich aber auch räumliche Gegenstände durch die Einbildungskraft im Gemüt vorstellen. Diese Bilder der Phantasie stellen Gestalten dar, obwohl sie selbst als bloß im inneren Sinn befindlich keinen Raum einnehmen, uns also keine Gestalt haben (Kr. d. r. V. 51).

13. Man kann endlich die Anschauung noch einteilen in abgeleitete (intuitus derivatus) und ursprüngliche (intuitus originarius). Die erstere ist diejenige, welche einen Gegenstand haben muß, von dem sie abgeleitet ist, oder durch den sie möglich wird; die andere wäre diejenige, welche den Gegenstand möglich macht, welche das Ding ansich, nicht so wie es erscheint, sondern so wie es ist, anschaut. Die letztere wäre eine nichtsinnliche Anschauung, sie müßte mit dem Ding-ansich eins sein. Eine solche Anschauung, die aber, ohne daß eine Rezeptivität vorher affiziert würde, anschaut, würde ihren Gegenstand erschaffen, und eine Anschauung sein, so wie sie Gott haben muß. Ursprüngliche Anschauungen sind also eben das, was auch intellektuelle oder nichtsinnliche Anschauungen heißen, und abgeleitete sind identisch mit sinnlichen Anschauungen (Kr. d. r. V.).

14. Die Anschauungen sind nun diejenigen Vorstellungen, welche synthetische, d. h. solche Urteile möglich machen, durch welche man ein Prädikat mit dem Subjekt verbindet, das nicht im Begriff des Subjekts liegt. Wenn ich z. B. urteile, der Tisch ist rot, so liegt dieses Prädikat rot nicht im Begriff des Tisches, denn das Ding kann gar wohl ein Tisch sein, ohne daß es gerade rot ist; es gibt auch schwarze Tische. Daß ich also urteile, der Tisch ist rot, das macht mir nicht der Begriff möglich, sondern daß ich ihn als rot anschaue. Und so gründen sich auch synthetische Sätze a priori auf die reinen Anschauungen Raum und Zeit. Der Satz, zwischen zwei Punkten ist nur eine gerade Linie möglich, gründet sich weder auf den Begriff der Punkte noch der geraden Linie, sondern darauf, daß die Beschaffenheit der reinen Anschauung, die wir Raum nennen, es uns unmöglich macht, mehr als eine Linie von einem Punkt zum andern zu ziehen. Alle Linien, die wir uns nämlich durch die Einbildungskraft zwischen zwei Punkten vorstellen, fallen zusammen, und sind nur eine und dieselbe Linie. Diese Unmöglichkeit, uns mit aller Anstrengung der Einbildungskraft zwei verschiedene gerade Linien zwischen zwei Punkten vorzustellen, macht es uns nun möglich, zu urteilen: zwischen zwei Punkten ist nur eine gerade Linie möglich (Kr. d. r. V. 73)

15. Anschauungen verständlich machen, heißt, sie unter Begriffe bringen. Wenn ich z. B. einen Tisch vor mir habe, und noch nicht über ihn nachgedacht, sondern ihn, auch mit Bewußtsein, nur erst gesehen habe, so weiß ich noch nichts von ihm, ich habe dann noch nicht einmal den Gedanken gehabt, es ist was da, denn ich habe noch gar keinen Gedanken gehabt. Wenn ich nun aber anfange zu denken, ich habe ein Ding vor mir, das hat eine viereckige, drei Fuß [1 Fuß = 28,812 cm - wp] lange und ebenso breite Fläche, die einen 6 Linien [1 Linie = 2 mm - wp] dicken Körper begrenzt, den man das Blatt nennt; dieses Ding hat 4 Füße und ist das Werk eines Tischlers und soll dazu dienen, andere Dinge darauf zu setzen oder zu legen: dann wird mir die Anschauung verständlich, ich habe sie auf Begriffe gebracht, und verstehe nun, was es für ein Ding ist, das ich vor mir sehe. Kleine Kinder fragen oft, wenn sie etwas sehen, das ihnen noch nicht vorgekommen ist, was ist das?, weil sie noch keinen Begriff von dem Gegenstand haben, den sie anschauen, sie wollen, man soll ihnen die Anschauung auf Begriffe bringen, und sie ihnen dadurch verständlich machen (Kr. d. r. V. 75).

16. Es fragt sich nun noch, schauen alle erkennenden Wesen so an wie wir? Diese Frage kann zweierlei heißen, entweder, sind alle erkennenden Wesen an gewissen Bedingungen der Anschauungen gebunden, können sie nicht anders anschauen als so, daß das, was sie anschauen, immer nur Erscheinungen sind, nie Dinge ansich? (Kr. d. r. V. 43) so ist die Antwort: allerdings; denn ohne alle Bedingungen anschauen, heißt aus sich selbst hervorbringen oder erschaffen, welches für bedingte Wesen, d. h. solche, die nicht der Schöpfer selbst, sondern sowohl ihrem Dasein, als auch ihrer Anschauung nach abhängige Wesen sind, ein Widerspruch ist. Es kann aber obige Frage auch heißen: sind alle erkennenden Wesen an die menschlichen Bedingungen gebunden, welche unsere Anschauungen einschränken, und für uns allgemeingültig sind, nämlich an Raum und Zeit? so ist die Antwort: darüber können wir gar nicht urteilen. Es ist gar nicht nötig, daß wir die Anschauungsart im Raum und in der Zeit auf die Sinnlichkeit des Menschen einschränken (Marginalien I, 79); es mag sein, daß jedes endliche denkende Wesen hierin mit dem Menschen notwendig übereinkommen muß (wiewohl wir dieses nicht entscheiden, und eine solche Notwendigkeit auf keine Weise begreifen können, indem diese Verstandesgesetze voraussetzen, und also die Beschaffenheit eines Dings ansich nach den Gesetzen der Erscheinungen bestimmen würde); so würde sie doch um dieser Allgemeingültigkeit willen nicht aufhören Sinnlichkeit und eine einschränkende Bedingung zu sein (Kr. d. r. V. 72). Andere Formen der Anschauungen als Raum und Zeit können wir uns auf keinerlei Weise erdenken und faßlich machen, aber, wenn wir es auch könnten, so würden sie doch nicht zur Erfahrung als der einzigen Erkenntnis gehören, worin uns Gegenstände gegeben werden (Kr. d. r. V. 283).

LITERATUR: Georg Samuel Albert Mellin, Enzyklopädisches Wörterbuch der kritischen Philosophie, Bd. 2-1, Jena und Leipzig 1799