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OSCAR EWALD
Die Deutsche Philosophie
im Jahre 1908


"Riehl interpretiert Kant gleichwohl in einer Richtung, die in bestimmter Hinsicht subjektivistisch genannt werden muß, dem  historischen  Kant aber ohne Zweifel näher kommt als der strenge Logismus der Marburger Schule. Raum und Zeit sind nicht lediglich objektive Quellen und Instanzen mathematischer Erkenntnisse, sondern Formen der sinnlichen Auffassung - Arten, in denen die menschliche Sinnlichkeit auf die Eindrücke der äußeren Dinge reagiert. Und die transzendentale Apperzeption bedeutet nicht in erster Linie den allgemeinen, abstrakten Begriff einer objektiven Gesetzlichkeit, sie bedeutet zunächst dies: daß der Stoff der sinnlichen Anschauung in die Einheit des menschlichen Bewußtseins aufgenommen werden muß und erst durch diese Aufnahme die Form der objektiven Einheit und Gesetzmäßigkeit empfängt."

Zur Charakteristik der philosophischen Literatur des vergangenen Jahres in Deutschland möchte ich zunächst bemerken, daß sie im Allgemeinen die Richtungslinien verfolgt, die ihr durch den früheren Stand der Probleme vorgezeichnet waren. Und so bietet die deutsche Philosophie in den letzten Jahren das Bild einer kontinuierlichen und eindeutigen Entwicklung. Ich kann meine Analyse der geistigen Situation und die Versuche, Perspektiven für die zukünftige Gestaltung zu entwerfen, die ich in meinen beiden früheren Jahresberichten unternahm, im Ganzen bestätigt finden. Wenn ich dort die Auffassung vertrat, daß der Entwicklungsgang der neuesten deutschen Philosophie eine Reproduktion der idealistischen Weltanschauung darstelle, und den Parallelismus im Einzelnen nachwies, so kann ich diese Beziehung auch jetzt aufrecherhalten und an ihr die zeitgenössische Produktion orientieren. Wenn ich ferner im vorigen Jahresbericht hervorhob, daß sich nach und nach eine Klärung vollzieht, daß der phantastische und mystische Zug schwindet, daß sich die Fesseln der Tradition lockern, so vollzieht sich diese Wendung zur Selbständigkeit neuerdings mit größerer Intensität. Man darf an diese Wandlung die Hoffnung knüpfen, es werde die deutsche Philosophie, nachdem sie sich durch die innige Berührung mit der großen Vergangenheit gekräftigt und bereichert hat, nunmehr durch keine fremden Attraktionen gestört, wiederum ihre eigenen Bahnen wandeln.

Diese Entwicklung wird vielleicht durch den internationalen Charakter der modernen Forschung gefördert, durch den gegenseitigen Austausch geistiger Energien, der am sichersten jeder Isolierung und Einseitigkeit vorbeugt. Seinen Ausdruck findet derselbe nicht allein in einem gesteigerten Verkehr, den die philosophischen Revuen anbahnten, sondern auch in den Kongressen, die durch die Unmittelbarkeit von persönlicher Diskussion und Mitteilung die geistige Gemeinschaft in noch weitaus stärkerem Maß fördern.

Dies bezeugte der  dritte internationale Kongress für Philosophie,  der im vergangenen Herbst vom 31. August bis zum 5. September 1908 auf deutschem Boden in Heidelberg unter dem Präsidium WINDELBANDs tagte. In seiner Begrüßungsrede betonte WINDELBAND mit Recht, daß eben der ungeheure äußere Aufschwung aller zivilisatorischen Kräfte, die riesige Entfaltung der technischen Energien, als notwendige Ergänzung die Vertiefung in die letzten inneren Ziele und Gründe des Seins fordert, wenn nicht der ganze Aufwand den Charakter einer blinden Sinnlosigkeit, eines schwankenden Ungefährs tragen soll. Die Mitarbeit des Philosophen beschränkt sich auf die Formung und Ausgleichung der Gedanken, in denen jene Kulturideale ihren Ausdruck finden, in ihrem Zusammenschluß zu einem einheitlichen Weltbild zu einer einheitlichen Lebensansicht. Daher rührt der erkenntnistheoretische Grundzug der modernen Philosophie, der indessen den Zusammenhang der  Erkenntnis  und der  Realität  keineswegs löst. "Man denkt nicht über das Verhältnis des Bewußtseins zum Sein, ohne über das Sein selber zu denken: und in diesem Sinne gibt es keine Erkenntnistheorie, die nicht eine Metaphysik bedeutet. Deshalb ist die Untersuchung dieser Beziehungen in der Form einer  Revision des Wahrheitsbegriffs  überall auf der Tagesordnung der heutigen Philosophie und wir begrüßen es mit Dank, daß wir mehr als eine Gelegenheit haben sollen, darüber unsere Gedanken auszutauschen." Sodann wies WINDELBAND darauf hin, daß gerade für den Philosophen die Möglichkeit einer persönlichen Wechselwirkung von großem Wert ist, da jede Weltanschauung neben ihrer sachlichen Bedingtheit auch den Ausdruck einer Individualität bietet. "Wir wollen keine Synode und kein Konzil sein, das irgendwelche Lehren dogmatisch festlegt. Wir treten zusammen, um miteinander die Motive zu wägen, wir wollen im persönlichen Austausch lernen, allen gerecht zu werden, wir erwarten, daß sie gerade im Gegenstz gegeneinander sich stärken und schleifen werden, und daß in diesem Wechselspiel der Persönlichkeiten ein jeder einen Schritt vorwärts gewinne auf dem Weg, dessen Ziel im Unendlichen liegt." An der Rede WINDELBANDs ist vor allem der Hinweis auf die organische Verbindung von Erkenntnistheorie und Metaphysik von prinzipieller Bedeutung. Er hat die Situation der gegenwärtigen Forschung richtig erfaßt und es entsprach ihm auch der äußere Gang des Kongresses. Abermals ist dadurch bestätigt worden, daß das metaphysische Interesse durch das erkenntnistheoretische nicht verdrängt, sondern gekräftigt wurde. (1) WINDELBAND hat diesem Gedanken auch in seinem gehaltvollen Vortrag "Über den Begriff des Gesetzes" Ausdruck gegeben. Die Befreiung des Gesetzesbegriffs vom Anthropomorphismus und seine transzendentale Begründung bei KANT darf dem Subjektivismus nicht Vorschub leisten. Es wäre undenkbar, daß wir mit diesem Begriff Ordnung in unsere Wahrnehmung bringen und sie zur Erfahrung erheben, wäre nicht schließlich die Ordnung im Wesen der Dinge selber enthalten. WINDELBANDs Interpretation des Gesetzesbegriffs nimmt hier eine unverkennbare Wendung zum Realismus. Im Anschluß daran gibt er eine gedrängte Kritik des Erscheinungsbegriffs. Während man denselben bisher  qualitativ  verstanden hat und dementsprechen zwischen Erscheinung und  Ding-ansich  eine prinzipielle Scheidung vornahm, geht die Entwicklung der modernen Erkenntnislehre darauf aus, dieses Verhältnis zu einem  quantitativen  umzudeuten: Die erscheinende Welt wird als eine  Auswahl  der ansich seienden Welt betrachtet. Wie jede Wahrnehmung eine Auslese aus den Möglichkeiten der Empfindung, wie jeder Begriff eine Auslese aus den Möglichkeiten der Wahrnehmung bietet, so ist auch jede Theorie unter einem bestimmten Erkenntniszweck eine Auslese des Gegebenen. Diesen interessanten Gedankengang, der in einem bestimmten Sinn eine Synthese KANTs und FECHNERs bedeutet, wird WINDELBAND wohl in seiner angekündigten Monographie über den Begriff des Gesetzes allseitig zum Abschluß bringen. Im übrigen nähert sich auch WINDELBANDs Theorie der  Wahrheit  hier jenem Gesichtspunkt, den ich im vergangenen Jahresbericht als charakteristisch für die gegenwärtige Richtung des Denkens hervorhob und dem wir auch andere Philosophen, wie vor allem SIMMEL, zustreben sehen. Der absolute Gegensatz von Erkennen und Sein wird zugunsten einer Auffassung preisgegeben, die in der Erkenntnis bloß  eine  Seite der Welt erblickt,  neben  Religion, Moral und Kunst: all das sind Deutungsmöglichkeiten einer ansich unerschöpflich reichen, vieldeutigen Wirklichkeit. Unzweifelhaft berührt sich diese Auffassung auch mit der Position NIETZSCHEs, die von er herkömmlichen Skepsis darin abweicht, daß sie nicht die Möglichkeit eines Erkennens überhaupt, sondern die eines  eindeutigen  Erkennens in Abrede stellt.

Wie bedeutsam das Wahrheitsproblem in seiner Mittelstellung zwischen Erkenntnistheorie und Metaphysik ist, bewährte sich auch darin, daß seine Diskussion im Mittelpunkt des Kongresses stand. Den unmittelbaren Anstoß hierzu gab der Vortrag, den Professor JOSIAH ROYCE in der ersten allgemeinen Sitzung über den  Pragmatismus  hielt: "The problem of truth in the ligt of recent research". Der berühmte Gelehrte charakterisiert in einigen Strichen die drei Wahrheitsbegriff, den instrumentalistischen, den individualistischen und den absoluten Wahrheitsbegriff. Der erstere betrachtet die Wahrheit als ein Ergebnis biologischer Anpassungstendenzen, der zweite als einen Ausfluß individueller Willkür, der dritte als einen ewigen, überpersönlichen, im Wesen des logischen Geistes begründeten Zusammenhang, für den die Grundsätze der Logik und der Mathematik bürgen. ROYCE suchte nunmehr eine Synthese dieser drei Gesichtspunkte zu vollziehen, indem er die absolute Wahrheit zwar anerkennt, sie aber nicht intellektualistisch, sondern voluntaristisch deutet, als Form und Wesen des Willens. Dermaßen will er den  Transzendentalismus  zum  Pragmatismus  umbilden, die Erkenntnistheorie mit der Willenspraxis aussöhnen. Es leuchtet ein, daß dieser Gedankengang sich innig mit dem  Neufichteanismus  berührt, der gegenwärtig in Deutschland seinen Einfluß übt. Beiden ist gemeinsam, daß sie die Ansprüche der reinen Logik, absolute und ewige Werte zu produzieren, anerkennen, die in sich selber autonome und souveräne  Totalität  des Logischen aber wieder als Äußerung eines überindividuellen  Willens  fassen, daß sie mithin das Logische selber als Ausdruck und Symbol einer metaphysischen Wesenheit betrachten. In dieser Gestalt hätte der Pragmatismus demnach kaum den Widerspruch der reinen Logiker herausfordern könenn. Dadurch aber, daß andere seiner Anwälte in seiner Formulierung auf den instrumentalistischen und biologischen Wahrheitsbegriff zurückgingen, wurde die Opposition der aprioristischen Richtung entfesselt und es vereinigten sich sämtliche Gruppen des Neukantianismus und Neufichteanismus zur Bekämpfung dieser Position, die die Grundsätze des Erkennens in subjektive Relativitäten aufzulösen droht. Die Diskussionen hierüber bildeten wohl den inneren Höhepunkt des Kongresses und entschieden zugunsten der aprioristischen Richtung, die auch ROYCE vertreten hatte.

Man kann dieses Ergebnis als einen Sieg der deutschen Philosophie bezeichnen; denn diese hat in ihrer Tiefe stets die Idee des Apriorismus bewahrt, dem Eindringen all jener pragmatistischen, empiristischen und psychologistischen Theorien gegenüber, die namentlich in England durch den Darwinismus und Evolutionismus zur Vorherrschaft kamen. Freilich hat es auch in Deutschland nicht an derartigen Unterströmungen gemangelt, die zeitweise sogar an die Oberfläche dranen. AVENARIUS' und MACHs Philosophie der reinen Erfahrung war wohl ein energischer Versuch, die Erkenntnislehre als ein Stück Biologie zu behandeln. Denn als geheimste Triebfeder der logischen Funktionen erschien hier das Motiv der Selbsterhaltung gesetzt und in seinem Dienst das Prinzip der Ökonomie, das Prinzip des kleinsten Kraftmaßes. Auch der Empiriokritizismus war eine Form - und vielleicht die bedeutsamste - der pragmatistischen Lehre. Aber all diese mehr oder weniger geistreichen Versuche blieben unterwegs. Zu stark war in Deutschland die Macht des Rationalismus, als daß sie das Feld hätten behaupten können. Die Opposition gegen die Psychologismus, die mit wachsender Intensität einsetzte, brach ihren Einfluß. Immer deutlicher trat zutage, daß der Pragmatismus, der schließlich darin gipfelt, daß er die logischen Gesetze aus den Gesetzen des psychischen Seins deduziert, daß er den Geist als einen Teil der Natur behandelt, sich in einem  Zirkel  bewegt. Denn auch die  Naturgesetze  sind nichts schlechthin Gegebenes, sondern etwas, das der logische Geist in die unvollkommenen Daten der Erfahrung hineinträgt, so daß mit der Sanktion und Souveränität des Logischen auch  ihre  Bedeutung in Frage gestellt erscheint.

Auch sonst bot der Kongress, der sich in sieben Sektionen gliederte: 1. Geschichte der Philosophie, 2. Allgemeine Philosophie, Metaphysik und Naturphilosophie, 3. Psychologie, 4. Logik und Erkenntnistheorie, 5. Ethik und Soziologie, 6. Ästhetik, 7. Religionsphilosophie, reiche Anregungen. Eine geistvolle, gehaltreiche dialektische Entwicklung der Ästhetik gab BENEDETTO CROCEs Vortrag "L'intuizione pura e il carattere lirico dell' arte" in der zweiten allgemeinen Sitzung. Auch in der Behandlung dieses Problems bediente sich der italienische Denker der Methode, die er in seinem vortrefflichen Buch über HEGEL darlegte. Die Definition der Ästhetik schreitet über These und Antithese zur Synthese: sie soll die einseitigen Standpunkte als ihre Momente enthalten.

In der dritten allgemeinen Sitzung zeichnete BOUTROUX in gedrängter Zusammenfassung die wesentlichen Richtungslinien der französischen Philosophie seit 1867. Damals erlosch die eklektische Philosophie und an ihre Stelle traten zwei neue Richtungen, die metaphysische und die experimentelle. Der charakteristische Grundzug der neuesten Philosophie ist einerseits eine Trennung der philosophischen Disziplinen, der Logik, der Psychologie, der Soziologie von der Metaphysik, andererseits die metaphysische Vertiefung dieser Disziplinen selber. Dem Andenken DAVID FRIEDRICH STRAUSS' war ein interessanter und gründlicher Vortrag von HEINRICH MAIER gewidmet, der namentlich sein Verhältnis zum Materialismus berücksichtigte. Auch die kürzeren Referate in den Sektionen förderten schätzenswertes Material zutage.

Es verdient noch eine besondere Erwähnung, daß Professor DEUSSEN, der berühmte Indologe,, in der zweiten allgemeinen Sitzung seine eben vollendete Geschichte der indischen Philosophie nebst Anhang über China und Japan dem Kongress überreichte, indem er in einigen ausdrucksvollen Worten auf die Bedeutung hinwies, die die Geschichte der Philosophie im Allgemeinen und die der brahmanischen und buddhistischen Lehre im Besonderen besitzt. Man hat die Geschichte der Philosophie mit Recht als den Generalbass der Weltgeschichte bezeichnet. Während die griechische Philosophie aber bereits eine erschöpfende Darstellung gefunden hat, ist ein solche, wie DEUSSEN hervorhob, für die indische bisher noch nicht erschienen. Der ausgezeichnete Gelehrte gab hierauf eine kurze Übersicht seiner Schrift, die den großen ersten Band der "Allgemeinen Geschichte der Philosophie" abschließt. Dieser gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil enthält die Philosophie der  Veden  bis auf die  Upanischaden,  der zweite Teil die Philosophie der  Upanischaden,  der dritte nunmehr veröffentlichte Teil die nachvedische Philosophie der Inder, die epische Philosophie, den Buddhismus, und die verschiedenen Systembildungen, unter denen der Vedanta des CANKARA die wichtigste ist. Besonderes Interesse weckt hier die Behandlung des Buddhismus, in dessen Wertung DEUSSEN die richtige Mitte einzuhalten bestrebt ist, umso höheres Interesse, als buddhistische Einflüsse die moderne Weltanschauung stark durchsetzen und daher die Würdigung des Originals eine entschiedene Rückwirkung üben muß. DEUSSEN ist überall bemüht, in den ursprünglichen Geist der Systeme einzudringen und ihn von den mannigfaltigen Trübungen und Veränderungen durch die späteren Kommentare zu reinigen. Seine Darstellung will eine solche sein, die wohl der Ergänzung, nicht aber der Berichtigung zugänglich ist. Sicherlich ist dieses Unternehmen, das uns wohl zum erstenmal die indische Gedankenwelt in ihrer Fülle und Tiefbohrung erschließt, von hoher Bedeutung. Die Geschichte der Philosophie, die bisher nicht hinter THALES zurückzugehen pflegte, erfährt dadurch eine außerordentliche Erweiterung, die auch auf manche Probleme, zumals solche der Metaphysik, klärend wirken muß. das Verhältnis der Erscheinungswelt zum Absoluten, des empirischen Subjekts zum intelligiblen, der Zusammenhang des intelligiblen Subjekts mit dem Ding-ansich, all diese Fragen, die für die größten Repräsentanten der antiken und der modernen Philosophie eine außerordentliche Tragweite gewannen, hat die indische Weltanschauung mit einer unvergleichlichen Kühnheit und Prägnanz zu beantworten gesucht.

Der philosophische Kongress in Heidelberg hat in mancher Beziehung den eminenten Einfluß des deutschen Geistes bewiesen. Wenn das Wahrheitsproblem in dem Mittelpunkt der Diskussion trat, wenn in seiner Behandlung der Pragmatismus dem Rationalismus weichen mußte, so hat diese Entscheidung wie schon die Wahl des Problems die Fernkraft der deutschen Idealphilosophie bezeugt, die heute nicht bloß auf ihrem eigenen Boden neu erstanden ist, sondern sich auch die fremden Einflüsse zu assimilieren vermag. Gleichwohl war der Charakter des Kongresses ein streng internationaler. Beinahe sämtliche Kulturvölker waren in hervorragenden Gelehrten vertreten. Und ein wahrhaft kosmopolitischer Sinn beseelte die Teilnehmer, die darin wetteiferten, das Bewußtsein der kulturellen Gemeinschaft, wie es sich ja vor allem in Kunst und Weltanschauung äußert, dem nationalen Sonderinteresse gegenüber hervorzuheben. Den Höhepunkt erreichte diese Stimmung, als der bekannte Forscher XAVIER LEÓN das Wort ergriff und in schwungvoller Rede zur Errichtung eines FICHTE-Denkmals aufforderte. Die Wirkung dieser Rede war eine außerordentliche: auch die Vertreter der deutschen Philosophie wiesen nun wiederholt auf den engen Zusammenhang hin, in dem die Entwicklung der letzteren mit der Geschichte des französischen Denkens steht. Namen wie POINCARÉ, BOUTROUX, BERGSON beweisen, daß dieser Zusammenhang gerade in der Gegenwart wieder ein sehr intimer geworden ist.

Dieses Gefühl einer unzertrennlichen kulturellen und geistigen Gemeinschaft ist sicherlich ein moralischer Erfolg des Kongresses, der hinter seinen theoretischen Ergebnissen nicht zurücksteht. Die Aufgabe eines Kongresses ist es ja nicht, die Teilnehmer von der Alleinberechtigung eines Standpunktes zu überzeugen, sondern die Möglichkeit einer gemeinsamen Verständigung über die prinzipiellen Probleme zu bieten, innerhalb deren sich dann die verschiedenen Theorien besser durchdringen, aber auch deutlicher gegeneinander begrenzen können. Gegensätzlichkeiten sind in der Philosophie stets ein Ferment fruchtbarer Entwicklung gewesen. Worüber aber in einem bestimmten Maße Einhelligkeit herrschen muß, das ist die Auswahl der Probleme, das ist die Vorstellung von den letzten Zielen und Voraussetzungen des Philosophierens überhaupt. daß wir diesem Zustand langsam näher rücken, habe ich in meinen Jahresberichten zu zeigen gesucht. Daß die Konzentration noch lange nicht vollendet ist, kann freilich ebensowenig geleugnet werden.

Der Kongress hat die Macht des  Neukantianismus  nach außen bewiesen, wo es sich um die Abwehr gegnerischer Angriffe handelt. Aber auch im Innern hat die Bewegung nichts an Einfluß eingebüßt. Während des vergangenen Jahres brachten die "Kantstudien" wieder eine Reihe interessanter und gehaltvoller Aufsätze, die für uns vornehmlich soweit in Betracht kommen, als sie methodologische oder erkenntnistheoretische Prinzipienfragen erörtern. In einer gründlichen und gediegenen Untersuchung "Heinrich Gomperz' Weltanschauungslehre" wendet sich Professor AUGUST MESSER egen den Versuch des genannten Philosophen, eine neue Methode, die "pathempirische", einzuführen. Er weist nach, daß dieselbe mit ihrer Ableitung der reinen Erkenntniswerte aus Gefühlen eine Wendung zum Psychologismus vollzieht. Dieser Vorwurf, den MESSER in einer sehr subtilen und präzisen Argumentierung zumal mit dem Hinweis darauf begründet, daß GOMPERZ zuwenig zwischen dem subjektiven Erfassen der Erkenntniswerte, der Substanz, der Relation, der Identität, und ihrer objektiven Bedeutung unterscheidet, ist in dieser Strenge dem zweiten Band der "Weltanschauungslehre", der "Noologie" gegenüber, von der ich später noch ausführlicher sprechen werde, nicht mehr aufrechtzuerhalten. "Kant in ultramontan- und liberal-katholischer Beleuchtung" lautet ein Aufsatz BAUCHs, der sich mit zwei Repräsentanten dieser beiden religiösen Richtungen beschäftigt. Den ultramontanen Standpunkt weist BAUCH mit großer Entschiedenheit zurück, den liberalen charakterisiert er als eine Halbheit, sofern er einerseits über den Konfessionalismus hinwegstrebt, andererseits aber dem Dogma eine absolute Bedeutung, nicht die einer bloß historischen Erscheinungsform zuerkennt. Auch der liberale Katholizismus vermag sich nicht vom Prinzip der Autorität zu emanzipieren. Wohl räumt BAUCH ein, daß auch der konfessionelle Protestantismus noch nicht die bedingungslose Unterordnung unter das reine Vernunftprinzip vollzogen habe, sofern er eben Konfession ist, sich an ein historisches Glaubensbekenntnis bindet. "Allein der große Unterschied ist doch der, daß im protestantischen  Prinzip  die Idee der unsichtbaren religiösen Gemeinschaft selbst eben zum Prinzip erhoben wird." BAUCH unterscheidet zwischen der Idee des Protestantismus und ihrer historischen Realisierung: lediglich die erstere legt er seiner Beurteilung und Wertung der gegnerischen Standpunkte zugrunde. Erkenntnistheoretische Grundfragen behandelt HÖNIGSWALD bemerkenswerten Aufsatz "Zum Begriff der kritischen Erkenntnislehre", der zu einer Schrift von UPHUES "Kant und seine Vorgänger" Stellung nimmt. HÖNIGSWALD beleuchtet in erster Linie das Verhältnis der Erkenntnistheorie zur Metaphysik und weist den Versuch einer metaphysischen Anwendung der Kategorien zugunsten einer immanenten Theorie der Erfahrung zurück. In tiefgreifender und gründlicher Analyse enthüllt er den Fußpunkt der hierauf Bezug nehmenden Kontroverse. Der metaphysische Standpunkt, den UPHUES einnimmt und dem nach der Charakteristik HÖNIGSWALDs auch BOLZANO und MEINONG nahe kommen, trennt die Gültigkeit der Kategorien von ihren Anwendung, er betrachtet sie daher als absolute metaphysische Wahrheiten, während der streng transzendentale Standpunkt ihre Gültigkei mit ihrer Anwendbarkeit auf die Erfahrung identifiziert. - Auch im vergangenen Jahr sind Ergänzungshefte der "Kantstudien" erschienen. Ich nenne "Kants Lehre von inneren Sinn in der Kritik der reinen Vernunft" von FRANZ RADEMAKER und "Kants Stil in der Kritik der reinen Vernunft" von ERNST FISCHER, "Vergleich der Methoden Kants und Hegels auf Grund ihrer Behandlung der Kategorien der Quantität" von JOHN M. O'SULLIVAN. Zu den Quellen des Neukantianismus führt uns RIEHLs umfassendes Werk "Der philosophische Kritizismus zurück, dessen erster Band "Geschichte des philosophischen Kritizismus" in Leipzig erschienen ist. Nach des Verfassers eigener Erwähnung deckt sich nicht viel mehr als ein Drittel des alten Textes mit dem neuen. Allein das gedankliche Leitmotiv, die  realistische  Interpretation KANTs, die Betonung der Abhängigkeit aller Erfahrung von den äußeren Dingen soll in der neuen Auflage noch stärker zum Ausdruck kommen. Als den ersten kritischen Philosophen betrachtet RIEHL LOCKE, während er DESCARTES noch zu den dogmatischen Denkern rechnet. Hierin setzt er sich in einen entschiedenen Gegensatz zur Marburger Schule, die, was neuerdings aus CASSIRERs "Erkenntnisproblem" ersichtlich wird, zu einer umgekehrten Wertung neigt. In HUME erblickt er weit eher den Begründer des modernen Positivismus als einen Vertreter der Skepsis. Beide englische Philosophen werden einer gründlichen und tief eindringenden Untersuchung gewürdigt. In der Darstellung der HUMEschen Lehre ist besonders die Beurteilung seiner Stellungnahme zur Mathematik von Interesse. Sehr einleuchtend weist RIEHL nach, daß HUME nicht die Wahrheit der mathematischen Sätze als solcher, sondern die Berechtigung ihrer Anwendung auf die Objekte der Erfahrung angezweifelt hat. Und man kann sich angesichts der neuesten Diskussionen die Frage vorlegen, ob durch KANT wirklich die definitive Erledigung dieses großen Problems erfolgt ist. Die Entwicklungsgeschichte und Vollendung der kritischen Philosophie bildet den Höhepunkt und den Abschluß des Buches. Hier wendet sich RIEHL inbesondere gegen zwei Interpretationen der transzendentalen Methodologie: gegen die psychologistische und die idealistische. Die Psychologie, so führt er aus, umfaßt bloß einen Teil, den inneren Teil der Erfahrung: es kann demnach das ganze System der Erfahrung nicht auf sie gegründet werden. Ebenso unhaltbar ist das idealistische Vorurteil. KANT hat im Unterschied von BERKELEY niemals an der realen Existenz äußerer Dinge gezweifelt, er hat sie sogar zur Grundlage seiner Lehre gemacht; denn mit der Annahme eines Ding-ansich wird auch der Begriff der Erscheinung gegenstandslos. Der transzendentale Idealismus behauptet lediglich die Idealität des reinen Raumes und der reinen Zeit. Er behauptet, daß diese Anschauungsformen die Reaktion des Bewußtseins auf die Einwirkung der äußeren Dinge bezeichnen: in dieser Einwirkung der äußeren Dinge ist aber ihre Existenz schon vorausgesetzt. Für beide Thesen findet RIEHL zahlreiche historische Bestätigungen im neuerdings erschlossenen Quellenmaterial. Mit dem Grundsatz HUMEs, den Gebrauch der Vernunft nicht über das Feld der Erfahrung zu erweitern, verband KANT den von HUME noch nicht erfaßten Grundsatz, das Feld der Erfahrung nicht für dasjenige zu halten, das sich in den Augen der Vernunft selber begrenzt. Die allgemeine Richtung des Kritizismus charakterisiert RIEHL abschließend mit dem Satz: "Die Kritik der reinen Vernunft bejaht das Metaphysische, sie verneint die Metaphysik." Sie ist ihrem Wesen nach auf die Erkenntnis gerichtet und nicht auf die Existenz.

So entschieden RIEHL den Psychologismus zurückweist, er interpretiert KANT gleichwohl in einer Richtung, die in bestimmter Hinsicht subjektivistisch genannt werden muß, dem  historischen  KANT aber ohne Zweifel näher kommt als der strenge Logismus der Marburger Schule. Raum und Zeit sind nicht lediglich objektive Quellen und Instanzen mathematischer Erkenntnisse, sondern Formen der sinnlichen Auffassung - Arten, in denen die menschliche Sinnlichkeit auf die Eindrücke der äußeren Dinge reagiert. Und die transzendentale Apperzeption bedeutet nicht in erster Linie den allgemeinen, abstrakten Begriff einer objektiven Gesetzlichkeit, sie bedeutet zunächst dies: daß der Stoff der sinnlichen Anschauung in die Einheit des menschlichen Bewußtseins aufgenommen werden muß und erst durch diese Aufnahme die Form der objektiven Einheit und Gesetzmäßigkeit empfängt. RIEHL ist strenger Neukantianer: er wahrt im übrigen das Gleichgewicht des Subjektiven und Objektiven und verwirft auf das Entschiedenste jene einseitige Belastung des Subjekts, deren sich die großen Nachfolger KANTs schuldig gemacht haben. Daher steht er auch FICHTE und dem Neufichteanismus abwehrend gegenüber.

Der  Neufichteanismus,  der auf RICKERT und WINDELBAND zurückgeht, hat auch in MÜNSTERBERG einen interessanten Vertreter gefunden. Deuteten bereits seine psychologischen Schriften darauf hin, so ist seine "Philosophie der Werte", die im vergangenen Jahr in Leipzig erschien, ein in großen Dimensionen angelegtes Unternehmen, die grundsätzliche Position FICHTEs zu erneuern. Das Buch gliedert sich in zwei Teile, deren erster eine Theorie, deren zweiter ein System der Werte entwickelt. Der erste Teil erledigt die Prinzipienfragen mit großer Klarheit. Sehr schön wird hier die Grenzlinie zwischen Wert und Wirklichkeit gezogen: es gehört dieses Kapitel wohl zum Besten, was über das schwierige Problem bisher gesagt worden ist. Von besonderer Wichtigkeit ist der Umstand, daß MÜNSTERBERG den Begriff der Natur, der Realität, hier auch auf die psychischen Phänomene, die Innenwelt, ausdehnt. Die Psychologie leidet an einem eigenartigen Schwanken in der Bestimmung ihrer Aufgabe. Die Deutung des inneren Zweckes und der Absicht des Seelenlebens, seine intentionale Charakteristik gehört nicht zur Psychologie. Die Verwirrung beider Gebiete, der kausalen und der voluntaristischen Psychologie, verdunkelt das Verhältnis von Wert und Wirklichkeit. Für die kausale Psychologie, die die inneren Erlebnisse in ihre Elemente zerlegt wie die äußeren Körper, gibt es nichts, dem unmittelbar ein Wert zugeschrieben werden könnte: nicht einmal das  Wertgefühl  selber, denn letzteres ist im objektiven Natursystem eine ebenso wertfreie Erscheinung wie ein Unwertgefühl. "Die Welt als physisch-psychische Natur gedacht, ist grundsätzlich wertfrei, gleichviel ob in einem Molekülgeschiebe menschliche Organismen erhalten werden oder zugrunde gehen, ob in den Menschenverbänden Freude und Leid, Wert- oder Unwertgefühle durch die Seele gehen. Im Reich der Physik und Psychologie ist dies das letzte Wort." Aber weder Physik und Psychologie erschöpft den vollen Gehalt der Wirklichkeit. Vielmehr ist der bloße Umstand, daß es eine Physik und eine Psychologie gibt, Beweis für das Dasein eiens selbständigen Wertgebietes. Denn beide bezeichnen eine willkürliche Umformung der unmittelbaren Realität unter wertenden Gesichtspunkten. Indem das Gefüge pysikalischer und psychologischer Inhalte als wertfrei gedacht wird, gewinnt das Denken selber den Charakter einer intellektuellen Bewertung. Scheinbar paradox formuliert: die Wertfreiheit beweist den Wert. Sodann zeigt MÜNSTERBERG, daß es im Begriff des Wertes enthalten ist, ein unbedingter, absoluter Wert zu sein, daß sich mithin die relativistischen, evolutionistischen und pragmatischen Werttheorien als unhaltbar erweisen. Ihnen muß sich die Welt in einen Traum auflösen. Denn alles Streben nach logischen, ethischen, religiösen und ästhetischen Werten erhebt sich über die persönliche Sphäre, in ein übersinnliches, wiewohl nicht metaphysisches Gebiet. Was den menschlichen Willen an den Wert bindet, ist weder ein Müssen noch ein Sollen. Die Werte ingesamt werden von einem  reinen Wollen  getragen, das sich nicht auf die eigene Persönlichkeit bezieht sondern sich ihrer bloß als eines Hilfsmittels für die Sache der ewigen Wirklichkeit bedient. Der Wille zum Wert ist ein absoluter, eindeutiger, aber auch reiner Wille, der nicht von Lust und Unlust abhängt. Am Beispiel des Verbrechers sucht MÜNSTERBERG nachzuweisen, daß im letzten Grund auch der Wille des bösen Menschen auf das Gute gerichtet ist. Eine psychologische Analyse der Willenshandlung zeigt, daß dieselbe gar nicht vom Zweck der Lust bestimmt wird, die Willensbefriedigung ist von Lust und Unlust überhaupt nicht abhängig. Und es gibt einen grundsätzlichen Willensakt überpersönlicher Art: der Wille zur  Selbstbehauptung der Welt.  Der Wille, daß es eine Welt gibt, daß unser Erlebnisinhalt mehr als Erlebnis, mehr als Traum und Chaos ist. "Daß die Erfahrung nicht bloß ein persönliches Erlebnis, sondern eine in sich gültige überpersönliche Welt sei, das ist weder eine Wahrheit noch eine Schönheit noch eine Pflicht noch ein heiliges Gut, denn alle Wahrheiten, Schönheiten, Pflichten und Heiligkeiten der Welt sind notwendig selbst abhängig von der Forderung, daß es eine Welt gibt". Als die einzelnen Richtungen dieses Grundwerts ergeben sich: die Erhaltngswerte, die Übereinstimmungswerte, die Betätigungswerte, die Vollendungswerte. Innerhalb der bezeichneten vier Richtungen unterscheiden wir noch die unmittelbaren Lebenswerte und die zweckbewußten Kulturwerte. Und innerhalb sämtlicher Gruppen wieder die Beziehung auf die Außenwelt, die Innenwelt und die Mitwelt. Dieses System der logischen, ästhetischen, ethischen und metaphysischen Werte behandelt der zweite Teil der Schrift, der in die Lehre von den Grundwerten, dem Weltall, der Menschheit und dem Über-Ich mündet und eine Weltanschauung der absoluten Tat, einen energetischen Optimismus begründen will. Das Über-Ich, der Allwille stellt die höchste Position dar, zu welcher der wollende und schaffende Geist vordringen kann. In ihm sind die Widersprüche und Gegensätze, die das individuelle Dasein zerklüften, überwunden und zur Einheit erklärt. Die Verwirklichung des Willens ist seine unaufhörliche Steigerung. Hier gibt MÜNSTERBERG dem Evolutionismus unleugbar eine tiefere Fassung. Nicht die neu erreichte, nicht die spätere Stufe ist wertvoller als die frühere. Sondern lediglich der Übergang von der einen Stufe zur anderen, die Steigerung selber ist das schlechthin Wertvolle. "Der Wert liegt in der Steigerung des Wollens, aber der Wert selber wird dadurch nicht gesteigert." So ist der Wert in jedem Zeitpunkt voll und ganz verwirklicht. Es ist dies wohl die einzige Möglichkeit, den Evolutionismus davor zu bewahren, in eine wüste Folge und Flucht von Zuständlichkeiten auszuarten, in der schließlich nichts mehr Wert hat als der abstrakte Begriff der Zukunft. Der Wert darf nicht zu einer bloßen Funktion des Werdens herabsinken, sondern im Gegenteil die Entwicklung ist lediglich als die Form zu betrachten, in der das ewige innere Wertbewußtsein seine Verwirklichung findet.

Nicht allein im System der Werte, in der Ableitung der Ethik tritt MÜNSTERBERG als ein Anhänger und Erneuerer FICHTEs hervor, sondern vor allem in der erkenntistheoretischen Begründung des Wertbegriffs. Die Lehre vom reinen Wollen, vom Willen zur Selbstbehauptung der Welt, weist, bei aller Selbständigkeit ihrer Ausführung, auf FICHE zurück. Es ist in ihr nämlich im Prinzip derselbe Schritt über KANT hinaus vollzogen, den FICHTEs Philosophie bezeichnete. Für KANT war die Realität in ihrer Seinsfülle ein ewig Fremdes, gewesen, das der menschliche Geist bloß dadurch zu bemeistern vermochte, daß er es in intellektuelle Formen zwang. Seinem inneren Wesen kam er damit nicht näher, und gerade KANTs Ethik und Freiheitslehre gipfelt im Gedanken einer völligen Isolierung des intelligiblen Subjekts, seiner völligen Losreißung von allem Fremdstoff der Natur. FICHTE dagegen wollte das Nicht-Ich, das für KANT eine unüberwindliche  Grenze  gebildet hatte, vom Standpunkt des Ich aus begreifen, indem er es zu einer notwendigen Funktion des Ich machte, indem er es als seine Schöpfung ansah: damit war der dualistische Gegensatz beider Welten überwunden. Streift man von diesem Gedankengang das metaphysische Motiv ab, so findet man seine innerste Triebfeder in der Lehre vom Willen zur Selbstbehauptung der Welt wieder.

Vom Geist FICHTEs beeinflußt ist auch da interessante Werk JONAS COHNs "Voraussetzungen und Ziele des Erkennens", Leipzig 1908. Aber FICHTEs Einfluß macht sich hier zunächst weniger in ethischer als in allgemein logischer Hinsicht fühlbar. So in der Lehre vom erkennenden Ich, das JONAS COHN ähnlich wie RICKERT als ein überindividuelles Ich betrachtet. Im Erkennen strebt das individuelle Ich danach, den Standpunkt dieses überindividuellen Ichs zu erklimmen. Das überindividuelle Ich ist aber weder eine metaphysische Realität noch ein bloßer Bezugspunkt, sondern der Inbegriff der konstitutiven Erkenntnisformen. Die Befreiung von den Bestandteilen des individuellen Ich ist die Aufgabe der Erkenntnis. Soweit der Mensch diese Aufgabe löst, nähert er sich dem überindividuellen Ich. Darauf führt der Verfasser in einer sehr gehaltreichen Analyse des Urteils, die auch das Wesen der Frage und anderer intellektueller Funktionen behandelt, den Nachweis, daß alles Erkennen ein Urteilen ist. Hieran schließt sich eine Untersuchung über die Natur und die Arten der Relation. Sodann ein längerer Abschnitt über mathematische Gegenstände, der den Begriffen der Zahl, des Raumes und den geometrischen Axiomen gewidmet ist. Es folgt ein sehr bemerkenswertes Kapitel über die Stetigkeit und die Antinomien des Unendlichen, in dem der Verfasser interessante Analysen des Raums und der Zeit gibt und sich um die Klärung und Lösung der in diesen Begriffen gelegenen Schwierigkeiten bemüht, worunter die bedeutendste die Vorstellung einer vollendeten Unendlichkeit ist. Die Wurzel dieser Antinomien ist die Tendenz, die Welt als Ganzes zu denken. Die weiteren Erörterungen beschäftigen sich mit den Begriffen der Existenz und Wirklichkeit und mit den Prinzipien der Kategorienlehre. Auch um die wechselseitige Abgrenzung von Psychologie und Logik bemüht sich der Verfasser. Von der Logik muß der leitende Wert der Wahrheit selber untersucht werden. Psychologie dagegen ist die nachkonstruierende Darstellung des auf das individuelle Subjekt bezogenen Erlebniszusammenhangs mit der Absicht, ihn überindividuell erkennbar zu machen. Den Abschluß der Schrift bildet der Übergang zum System der Werte. Auch hier nimmt JONAS COHN dem Neufichteanismus sowie dem Neuhegelianismus gegenüber eine freiere, kritische Stellung ein. Er ordnet die Logik nicht der Ethik unter, aber auch nicht der Logik die Ethik. Das blinde Subsumtionsschema verwirf er überhaupt: es handelt sich zwischen den beiden Wertgebieten vielmehr um ein Verhältnis wechselseitiger Ergänzung. Ähnlich in Religion und Ästhetik. Das unmittelbare Erlebnis, das die Weltanschauung kennzeichnet, weist vom Philosophen auf den Künstler hinüber. Und so ist es auch hier der Name GOETHEs, der die Richtung einer so großen Weltanschauung bestimmen soll.

Dasselbe Motiv, das FICHTE über KANT hinausführte, wies von FICHTE zu SCHELLING hinüber. Die materielle Welt der äußeren Natur sollte nicht mehr als bloße Grenzvorstellung begriffen, als ein ewig Fremdes, das dem Menschengeist unfaßlich bleibt. FICHTE hatte den Anfang gemacht, indem er es als eine notwendige Schöpfung des Ich bezeichnete. Allein dies war nicht mehr als ein Anfang. Wohl war die Natur nicht mehr wie bei KANT als eine unüberwindliche  Grenze  gedacht. Aber sie behielt auch für FICHTE noch den Charakter einer  Schranke,  die sich das absolute Ich setzt, um sie zu überwinden. Das Ganze der Natur blieb immer noch einseitig auf das Subjekt bezogen und so wurde diese Weltanschauung ein großartiger Anthropomorphismus, der das Ideal des reinen Erkennens nicht zu erreichen vermochte. Die Natur in ihrer Innerlichkeit, in der Fülle ihrer individuellen Erscheinungsformen, konnte auf diesem Weg nicht bemeistert werden. Erst SCHELLING löste sie aus dieser anthropomorphistischen Verkettung, indem er Subjekt und Objekt als gleichberechtigte Emanationen des Absoluten betrachtete und dermaßen auch den Aufbau des natürlichen Seins in seiner immanenten Logizität und Notwendigkeit zu begreifen strebte. das Ausgehen vom Absoluten, vom Walten der reinen Idee ist ihm mit HEGEL gemeinsam: worin beide sich voneinander unterscheiden, das ist viel weniger die Stellung des Problems als die methodologische Richtung seiner Behandlung. SCHELLING baut im letzten Grund auf die Intuition, HEGEL auf die logische Triebkraft der Dialektik.

Unter den modernen Richtungen steht, wie ich wiederholt ausgeführt habe, die Schule HARTMANNs der Weltansicht SCHELLINGs am nächsten. Denn auch hier bildet ein Absolutes, ein Natur und Geist umfassendes Weltprinzip, das Unbewußte, die eigentliche Basis. ARTHUR DREWS, von dessen neuesten Schriften im vergangenen Jahresbericht die Rede war, hat diesen historischen Zusammenhang auch mit Nachdruck hervorgehoben. Es kommt auch im zweiten Band eines von DREWS herausgegebenen Sammelwerks "Der Monismus" zum Ausdruck, dessen ersten Band ich schon im letzten Jahr besprochen habe. Der zweite Band ist historisch und enthält Aufsätze von LIEBERT, MARIE JOACHIMI, OTTO WEISS, MAX WENTSCHER, WILHELM von SCHNEHEN, OTTO BRAUN, und was besonderes Interesse verdient, eine Studie von ALMA von HARTMANN betitelt: "Eduard Hartmanns konkreter Monismus", in der der Zusammenhang zwischen dem Monismus des Unbewußten und der Identitätsphilosophie SCHELLINGs offenkundig wird. ALMA von HARTMANN führt aus, daß HARTMANNs Weltanschauung kein abstrakter Monismus ist, der in einem einheitlichen Urprinzip des Seins alle Mannigfaltigkeit ausschließt, sondern eben ein konkreter Monismus, der in dieses Urprinzip schon die Gegensätze, zumindest der Anlage nach, aufnimmt, um sie gerade in der übergreifenden Welteiniheit zu versöhnen. Er vermag daher allen Seiten der Realität gerecht zu werden und die in ihm geborgenen Widersprüche zu lösen, wogegen der abstrakte Monismus sich zu willkürlichen und einseitigen Disjunktionen genötigt findet: Materie  oder  Geist, Wille  oder  Vorstellung. So entstehen die unzulänglichen materialistischen und spiritualistischen, voluntaristischen und intellektualistischen Systeme, die ein Stück der Wirklichkeit künstlich zum Inbegriff alles Realen erweitern. Der konkrete Monismus soll dagegen im Urgrund der Dinge selber die  Synthese  aller Gegensätze anbahnen: so ist das Unbewußte bei HARTMANN die Einheit von Wille  und  Vorstellung. Dieses synthetische Prinzip des konkreten Monismus weist unleugbar auf HEGEL zurück; ein Zusammenhang, der auch sichtbar wird, wenn man sich die Erneuerung HEGELs durch BENEDETTO CROCE und dessen kontrastierende Gegenüberstellung des abstrakten und konkreten Geistes vor Augen hält. ALMA von HARTMANN sucht eine kurze Zusammenfassung der Philosophie des Unbewußten zu geben: dem Monismus ihrer Metaphysik entspricht ein  erkenntnistheoretischer  Dualismus. HARTMANN unterscheidet nachdrücklich zwischen dem erkennenden Subjekt und einem Objekt, das zum Gegenstand der Erkenntnis wird, und lehnt die Verknüpfung beider in einer Bewußtseinseinheit, die seitens der Immanenten und Phänomenalisten vollzogen wird, mit Entschiedenheit ab. Dieser transzendentale Realismus, dessen Terminologie übrigens keine sonderlich gute ist, nimmt gegenwärtig ein recht isolierte Stellung ein. Die metaphysische und realistische Annahme eines Ding-ansich außerhalb des Bewußtseins ist von den meisten Denkern unserer Zeit der idealistischen Weltansicht preisgegeben worden. Wo sich, wie bei WUNDT und RIEHL, Ansätze zum Realismus finden, dort figuriert die Existenz eines Dings-ansich bloß als Grenzpunkt des Erkennens, wogegen es HARTMANN zur Grundlage und Voraussetzung des Erkenntnisaktes selber gemacht wurde. Denn während die Vertreter des Idealismus den Begriff der Kausalität auf die Verbindung der Phänomene einschränken, (2) lehrt HARTMANN die transzendente Kausalität. Es erscheint ihm mit dem wahren Begriff des Wirkens unmittelbar gegeben, daß sich dasselbe auf eine metaphysische Wirklichkeit erstreckt, daß sich in ihm nicht bloß ein äußerer, gleichsam linearer Zusammenhang der Phänomene, sondern eine unsichtbare, innere Wirksamkeit, ein rein intensiver Konnex erschließt, der seinen sichtbaren Ausdruck in einem unleugbar metaphysischen  Kraft begriff findet. Die Phänomenalisten müssen daher den Kraftbegriff eliminieren oder zu einem bloßen Symbol der zeitlichen Zusammengehörigkeit bestimmter Erscheinungskomplexe verdünnen, sowie KANT die Kausalität als die ideale Gesetzlichkeit der Sukzessionen definiert hat; sie müssen mit einem Wort bestrebt sein, alles Dynamische in ein Mathematisches zu transformieren. HARTMANN dagegen erblick als Vertreter des Dynamismus gerade im Kraftbegriff den Schlüssel des Wirkens und gelangt so zu einem metaphysischen Realismus. So wenig einen diese Position befriedigen vermag, diskutabel bleibt sie sicherlich. Denn das Problem der Außenwelt, das in ihr abermals zur Geltung gelangt, ist durch den Bewußtseinsidealismus, den die Neukantianer und Neufichteaner im Allgemeinen vertreten, kaum zu einer befriedigenden Lösung gediehen. Im individuellen Bewußtsein kann ja der Ausgangspunkt nicht genommen werden, da man sonst den Konsequenzen des Solipsismus und Jllusionismus schwerlich entrinnen kann. Es muß deswegen ein allgemeiner Begriff des Bewußtseins sein: ein generelles, ein universales Bewußtsein, das  Bewußtsein überhaupt.  Dieser Begriff kann entweder  metaphysisch  oder  logisch  erfaßt werden, als reales Weltbewußtsein oder als bloße Abstraktion von den individuellen Bewußtseinsformen, als abstrakter Gattungsbegriff des Bewußtseins. Die modernen Idealisten entscheiden sich, da sie jede Metaphysik, auch die spiritualistische, die zu BERKELEY zurückführt, beharrlich meiden, zumeist für die zweite, rein logische, rein erkenntnistheoretische Fassung. Dann ist aber nicht einzusehen, wie das Außenweltproblem auf diesem Weg seiner Entscheidung näher gebracht werden soll. Wenn die Außenwelt nichts als Bewußtseinsinhalt ist, dann muß sie als Funktion, wenn auch keineswegs als Produkti des Bewußtseins betrachtet werden. Die Außenwelt ist aber eine konkrete Realität: demnach muß dasjenige, dem sie funktional zugeordnet wird, seinersetis wiederum ein Konkretes, Reales sein. Denn eine Realität kann nicht Funktion eines bloßen Begriffs sein. Die Außenwelt in ihrer konkreten Lebendigkeit kann daher nicht zu einer Funktion einer so abstrakten Vorstellung wie der des "Bewußtseins überhaupt" gemacht werden. Sie kann auch nicht Funktion des individuellen Bewußtseins sein, da umgekehrt die Bedingungen des individuellen Bewußtseins im Organismus zu suchen sind, demnach in einem Stück Außenwelt. Sie könnte daher einzig und allein als Funktion eines metaphysischen Weltbewußtseins angesehen werden, eine Konsequenz, vor der, wie ich bereits erwähnt habe, die meisten Idealisten zurückschrecken, die aber neuerdings LIPPS in seiner Naturphilosophie zog. Weist sie der Bewußtseinsidealismus zurück, dann setzt er sich den Angriffen des metaphysischen Realismus aus, den wir von HARTMANN und seiner Schule vertreten finden. Allerdings bleibt es fraglich, ob die Lücke, die hier im empirischen Weltbild durch die mangelnde Zuordnung seiner Inhalt zu einem bewußten Subjekt entsteht, gerade von einem so problematischen Begriff, wie dem des Dings-ansich ausgefüllt werden muß. HARTMANN hat dann auch gelegentlich für den Begriff des Dings-ansich den der objektiven Erscheinung eingesetzt. Keineswegs steht es nämlich fest, daß Bewußtseinsidealismus und Phänomenalismus Wechselbegriffe sind. Denn der Begriff des Phänomens muß sich nicht mit dem des Bewußtseinsinhaltes decken, er kann vielmehr einen größeren Umfang als der letztere besitzen. Von seiner Definition und Bestimmung hängt, wenigstens für das Außenweltproblem, die Entscheidung zwischen Realismus und Idealismus ab. Wenn er genügend weit gefaßt wird, sodaß die Bewußtseinsphänomene als ein bloßer Spezialfall erscheinen, dann ist es möglich, die Objektivität und Gesetzmäßigkeit, die empirische Realität der Außenwelt zu wahren, ohne zu einem  deus ex machina  [Gott aus der Maschine - wp], zu einem Weltbewußtsein als subjektiver oder zu einem Ding ansich als objektiver Ergänzung der individuellen Bewußtseinsfragmente zu greifen.

Nicht allein das Verhältnis der Erkenntnistheorie, sondern auch das der Ethik und Religionsphilosophie zur Metaphysik des Unbewußten bestimmt dieser Aufsatz im Sinne eines konkreten Monismus. Gerade der Pessimismus soll die höchste Instanz des Ethischen sein, sofern er die absolute Überwindung des individuellen Egoismus durch die Hingabe an das Erlösungsziel des Weltprozesses ermöglicht.
LITERATUR - Oscar Ewald, Deutsche Philosophie im Jahre 1908, Kant-Studien, Bd. 14 , Berlin 1909
    Anmerkungen
    1) Dies habe ich schon in meinem vorigen Jahresbericht hervorgehoben.
    2) RIEHL nimmt eine Mittelstellung ein: er schränkt mit KANT den  Grundsatz  der Kausalität auf die Phänomene ein, während der  Kausalitätsbegriff  auf Phänomene und Dinge-ansich anwendbar sein soll.