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Philosophische Studien [1/3]
Vorwort Zwei Strömungen kennzeichnen die Philosophie der Gegenwart. Einerseits sucht eine positivistische und phänomenalistische Richtung die Wahrheit als etwas Relatives, vom Erkennenden und seiner besonderen Art irgendwie Abhängiges aufzufassen und zu begründen, andererseits will eine teilweise auf KANT oder auf FICHTE sich berufende Gruppe die Wahrheit als etwas Absolutes dartun. Relative oder absolute Wahrheit: um dieses geht der Kampf in der Philosophie unserer Zeit, und die deutsche Philosophie der letzten Jahre führt insbesondere den Kampf gegen die Relativierung und für die Absolutierung der Wahrheit. Man meint diesen Streit ausfechten zu können auf dem Boden der Erkenntnistheorie; und doch ist hier eine Überwindung des Relativismus und Psychologismus eine Unmöglichkeit, weil eben die Erkenntnistheorie infolge ihres Ansatzes, der zweierlei voneinander Geschiedenes (Erkennendes und das für die Erkenntnis Richtunggebende) setzt, selbst in ihrer sublimiertesten Gestalt zu Schwierigkeiten, deren man Herr werden möchte, gerade hinführt. Nur die grundwissenschaftliche Betrachtung der Welt wird die Schwierigkeiten heben können, darum aber ist auch Erkenntnistheorie, die ja aus diesen nicht heraus, sondern vielmehr in sie hinein führt, nimmermehr Grundwissenschaft. Dieses letzte gilt nur von der besonderen Erkenntnistheorie, die sich offen im psychologischen Fahrwasser bewegt, sondern auch von der anderen, die dem Psychologismus den Krieg erklärt und in einem "transzendenten Sollen" oder in einem "Idealen" als einem vom Erkennenden Geschiedenen die Lösung sucht. Mit Hauptvertretern der letzten Art, die nicht nur die neuesten, sondern auch, wie ich hoffe, die letzten Versuche, durch die Erkenntnistheorie hindurch ans Ziel zu gelangen, angestellt haben, und zwar dies einerseits im Gewand der "Wissenschaftslehre", andererseits in dem der "reinen Logik", beschäftigt sich das vorliegende Werk. JOHANNES REHMKE Einleitung 1. Die Untersuchung, die ich hiermit der Öffentlichkeit übergebe, ist aus Überlegungen über die Frage entstanden, wie man eine wissenschaftliche Ethik begründen könnte. Meine Absicht war ursprünglich, eine neue Grundlegung dieser Disziplin zu versuchen. Ich sah aber bald, daß der Weg dazu keineswegs frei lag. Denn meine Auffassung von der Moralwissenschaft fußt auf der Überzeugung, daß man überhaupt kein Recht habe, von einer sogenannten Allgemein gültigkeit des Guten zu reden. Der moralisch Wertende beansprucht für seine Handlungen bzw. Zwecksetzungen eine solche Gültigkeit, eine derartige Geltung durchaus nicht. Das Sittliche ist allerdings etwas Wertvolles. Eine Allgemeingültigkeit des Wertvollen gibt es jedoch nicht. Etwas Wertvolles, das für alle Menschen, geschweige den für jedes Bewußtsein gilt, kenne ich nicht. Gerade hierin aber fand ich die in gewissem Sinne maßgebenden philosophischen Richtungen der Gegenwart gegen mich. Die herrschende kritische Philosophie weiß natürlich genau, daß Handlungen, die tatsächlich von allen als gut oder sittlich geschätzt werden, schwerlich zu finden sind. Von einer allgemeinen Geltung des Sittlichen in diesem Sinne will sie auch nichts wissen. Gleichwohl meint sie, daß es ohne eine Allgemeingültigkeit des Guten keine Ethik gäbe. Gälte das Moralisch-Wertvolle nicht für alle, dann wäre es mit der Ethik aus. Es ist also gerade dasjenige, was ich als etwas Falsches betrachten wollte, die notwendige Voraussetzung für das Bestehen fast der ganzen gegenwärtigen Moralwissenschaft. Ich wollte die Ethik als eine Wissenschaft von etwas Seiendem begründen. Nun meint die zeitgenössische kritische Philosophie, die Ethik kann nur als eine Disziplin vom Sollen gefaßt werden. Wohlgemerkt handelt es sich dabei nicht um das Sollen als ein Stück des Wirklichen, sondern um etwas diesem begrifflich Entgegengesetztes. Nicht nach dem, was ist, fragt die "kritische", die "moderne" Moralwissenschaft, sondern nach dem, was sein soll. Wäre die Aufgabe der Ethik ausschließlich auf die Klärung dessen, was ist, beschränkt, dann wre sie nichts mehr und nichts weniger als ein Bruchstück der Psychologie, der Kulturgeschichte, der Soziologie, oder wie KANT sagt, der Anthropologie, wäre aber keine Ethik mehr. Man glaubt sogar, daß wir dann vor etwas noch Schlimmerem ständen, daß wir dann nicht mehr imstande wären, das "Tatsachengebiet" der Moralwissenschaft voll abzugrenzen. Diese Ansicht ist meines Erachtens gänzlich irrtümlich. Sie beruht vor allem auf einer Mißdeutung der Aufgaben der gegenwärtigen Psychologie, ferner aber auch - auf einer Unklarheit über die Struktur des wissenschaftlichen Tuns. Freilich ist hier nicht der passende Ort, die Selbständigkeit einer "realistischen" Ethik zu verteidigen und zu begründen. Ich wollte nur den Weg beschreiben, auf dem ich zur vorliegenden Untersuchung kam. Eine Ethik, die das Sittliche - als das Gesollte - dem Wirklichen entgegensetzt und ohne eine Allgemeingültigkeit des Moralischen nicht bestehen kann, setzt natürlich von vornherein voraus, daß es etwas Objektiv-Gültiges und Absolut-Wertvolles gibt. 2. Die Problemstellungen der Ethik, die ich schildern wollte, wissen von einem absolut Wertvollen nichts. Sie schließen sogar die Allgemeingültigkeit eines Wertvollen völlig aus. Deshalb mußte ich entweder keinen Anstand nehmen, die Objektivität des Moralisch-Wertvollen für Dichtung zu erklären und zur Tagesordnung überzugehen, oder trotz der vorherrschenden Abneigung gegen kritische Auseinandersetzungen meiner ethischen Arbeit eine erkenntnistheoretische (richtiger: grundwissenschaftliche) und logische voranschicken, die den Zweck verfolgt, meiner Grundlegung einer Moralwissenschaft den Weg zu ebnen. Diesen Zweck zu erreichen ist ungemein leicht und zugleich sehr umständlich. Leicht ist es insofern, als die Allgemeingültigkeit des Moralischen, von der die Neukantianer bis zum Überdruß reden, ein durch nichts bewiesenes Gerede ist. Auf den ersten Blick klingt meine Behauptung seltsam, sie ist es aber keinesfalls. Allerdings findet sich ein Argument, eine Analogie, die diese Allgemeingültigkeit darzutun glaubt. Ihren deutlichsten Ausdruck findet sie in den Sätzen, die RUDOLF STAMMLER an die Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung richtet: Die Moralanschauungen, behauptet Ihr, sind geschichtlich immer verschieden und von wechselnder Sozialwirtschaft bedingt,
Was diese Analogie voraussetzt, ist klar: die prinzipielle Gleichsetzung der Objektivität der Wissenschaft mit der der Moral. Mit anderen Worten, sie setzt das Demonstrandum voraus. Ich betone entschieden, daß die ganze Kantische, sogenannte "transzendentale" Methode auf dieser willkürlichen und hinfälligen Analogie beruth. Man sagt, wenn ich etwas für sittlich gut halte, so erhebe ich damit den Anspruch, daß es etwas "Objektives", für alle Gültiges sei. Ohne diesen Anspruch wäre das moralische Werten unbegreiflich. Ebenso steht es mit jedem Erkennen, auch mit der wissenschaftlichen Erkenntnis. Wenn ich etwas für wahr halte, so will ich damit zugleich sagen, daß es so ist, daß es etwas Objektives, für alle Gültiges ist. Diese Argumentation ist ja bekannt. Sie beweist aber nicht das, was sie beweisen soll. Daß ich, indem ich etwas für wahr halte, einen "Anspruch auf Allgemeingültigkeit" erhebe, ist richtig. Das heißt jedoch nur, ich betone die Wirklichkeit von etwas Gehabtem. Es ist wahr, daß das Haus brennt, heißt: in Wirklichkeit brennt es; es ist wahr, daß es einen Gott gibt, will sagen: in Wirklichkeit gibt es einen Gott; es ist nicht richtig, daß NAPOLEON in Paris starb, heißt, in Wirklichkeit ist er nicht in Paris gestorben. Und "wirkliches" nennen wir dasjenige, was in seinem Bestehen von uns, vom Bewußtsein unabhängig ist. - Nun drücke ich, indem ich etwas für gut halte, auch etwas Objektives, ein von mir Unabhängiges aus. Wo steht aber geschrieben, daß diese "Unabhängigkeit" und diese "Objektivität" denselben Sinn wie Wirkliches haben? Eine gewisse Analogie zwischen Erkennen und Werten besteht ohne Zweifel. Und die große Bedeutung KANTs für das Wertproblem überhaupt liegt nach meiner Ansicht im besonderen Nachdruck, mit dem er diese Analogie betont hat. Doch sein Parallelismus zwischen Erkennen und Werten geht zu weit, da er in dem offenbaren Anspruch auf mehr als individuelle Geltung - den jeder moralisch und ästhetisch Wertende erhebt - einen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit sieht: ein Verfahren, das weder irgendwie gerechtfertigt noch tatsächlich richtig ist. Die orthodoxen Kantianer haben in dieser Richtung nichts Neues gebracht. Sie wiederholen nur immer das Dogma des Meisters; es scheint in der Tat sehr einleuchtend, und im Anschluß daran suchen sie dann - soweit sie Ethik treiben - das "Sittengesetz" festzustellen und zu formulieren, natürlich nicht als das Gesetz von etwas Seiendem, sondern von dem, was sein soll. - So einfach steht es indessen nicht. Wenn ein Reichsdeutscher z. B. in einem Krieg mit einem Nachbarland gewisse Handlungen für seine sittliche Pflicht hält, so trägt er sicher die Überzeugung in seiner Brust, daß diese nicht nur für ihn wertvoll, sondern etwas "Objektives" sind: er erhebt den Anspruch auf mehr als individuelle Geltung, er fordert von den kämpfenden Kameraden seiner Nation: "du sollst" das und das tun. Allein es wäre ein Ungedanke, wollte man behaupten, er erhebe den Anspruch, sein Zweck oder das von ihm Gewollte gelte für jedes Bewußtsein: auch für den Feind oder gar für die Wilden Zentralafrikas. Eine gewisse "Objektivität" liegt in jedem sittlichen Werturteil verborgen. Diese "Objektivität" aber hat mit der der Wirklichkeit, von der beim Erkennen die Rede war, nicht das Geringste zu tun. Diese moralische "Objektivität" zeigt lediglich, daß jedes sittliche Bewußtsein eine Gemeinschafts bewußtsein ist. Demnach hat auch der "Anspruch" des sittlichen Bewußtseins in demjenigen Gemeinschaftswesen, das aus ihm spricht, fühlt, denkt und will, seine Grenzen. Da nun fast die ganze gegenwärtige Ethik von der tatsächlich falschen und nicht recht durchdachten Voraussetzung ausgeht, daß jedes moralische Werturteil den Anspruch auf allgemeine Gültigkeit erhebt, so stellt sich ihre normative Problemstellung kurz so dar: Jeder sittliche Mensch erhebt für seine Zwecksetzungen einen Anspruch auf Objektivität oder Allgemeingültigkeit. Doch nicht in allen Fällen ist dieser Anspruch berechtigt. Demgemäß ist es Aufgabe der Ethik, die formalen Bedingungen ausfindig zu machen, unter denen dieser Anspruch objektiv berechtigt wäre, unter denen also eine Handlung wahrhaft sittlich, für alle moralischen Menschen gültig, oder eine gute Tat wäre. Mit einer Bloßstellung dieser schiefen Problemstellung konnte ich mich unmöglich begnügen. Es würde mir zwar von meinem Standpunkt aus nicht schwer fallen, die Oberflächlichkeit der Analogie, auf der sich die kritische normative Ethik aufbaut, zu zeigen; damit ginge aber das Hemmnis, das die herrschende Auffassung der Ethik über meinen Weg legt, noch lange nicht in die Brüche. Denn es bliebe immer noch die große prinzipielle Frage ungelöst: Ist es möglich, etwas Wertvolles als Allgemeingültiges zu begründen? Auf welchem Weg man zu dieser Frage kommen würde, ob durch eine Analogisierung der ethischen Grundfragestellungen mit denen der Seinslehre oder einfach durch eine ethisch gefärbte Erkenntnistheorie - ist ziemlich nebensächlich. Es handelt sich um das Problem an und für sich, jenseits aller Erkenntnistheorie, Ästhetik oder Ethik. Wäre es möglich, diese soeben formulierte Frage mit überzeugenden Gründen bejahend und sinnvoll zu beantworten, dann wäre die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Ethik auf dem Boden der Allgemeingültigkeit des Moralisch-Wertvollen nicht ausgeschlossen, und meine Absicht, der wissenschaftlichen Disziplin von der Moral den einzig möglichen Weg zu bahnen, vereitelt und kompromittiert. Das Studium der zeitgenössischen Philosophie zeigt in der Tat, daß heutzutage zwei Versuche vorliegen, die die oberflächliche Analogie, die seit den Zeiten KANTs mitgeschleppt wird, überwinden und auf solche Weise eine eigentliche Begründung der Objektivität - im Sinne der Allgemeingültigkeit - des Wertvollen geben wollen. Der eine dieser Versuche bewegt sich fast ausschließlich auf dem Terrain der Erkenntnistheorie und Logik, der andere - mehr auf dem der Ethik. Die konsequenteste Form hat der erste der beiden beim sogenannten teleologischen Kritizismus, besonders bei HEINRICH RICKERT gefunden, der zweite - in den Werken eines der tiefsten Köpfe der neuesten deutschen Philosophie, WILHELM SCHUPPEs. Das sind bekannte Namen. In der Hauptfrage, die uns hier angeht, bilden sie die beiden Ränder einer Kluft. RICKERT sucht die Allgemeingültigkeit des Wertvollen als die eines Aufgegebenen zu begründen: SCHUPPE wird dagegen durch den Geist seines ganzen philosophischen Aufbaus zu der Meinung geführt, das (Moralisch-) Wertvolle könne nur durch etwas mit dem Bewußtsein schlechthin Gegebenes sichergestellt werden. Die Allgemeingültigkeit des Wertvollen als die eines Aufgegebenen und Gegebenen - wo wollte ich ursprünglich diese "erkenntnistheoretische" und logische Wegräumung (zu meiner "Grundlegung") betiteln. Weil nun der erste dieser beiden Versuche (ich meine das Allgemeingültige als das Aufgegebene) auf dem Boden der Erkenntnistheorie und Logik, der zweite (der SCHUPPEs) - in der Domäne der Moralwissenschaft liegt, so konnte die Behandlung des zweiten nicht ohne die Vorwegnahme gewisser Kapitel meiner ethischen Untersuchung vor sich gehen. Deswegen beschloß ich, hier, als besondere abgeschlossene Monographie, nur meine Erörterung über die Begründung der Allgemeingültigkeit des Wertvollen als der eines Aufgegebenen zu veröffentlichen. Der Kern dieser Arbeit stellt zugleich eine ausführliche Kritik des modernen Psychologismus überhaupt dar. Daß dieses "zugleich" kein Zufall ist, wird man aus dem vorliegenden Buch leicht entnehmen. Ich hoffe bald imstande zu sein, auch meine "Grundlegung der Ethik" dem Druck zu übergeben. Die beiden Schriften bilden eine Einheit. Die vorliegende ist gleichsam eine grundwissenschaftliche und logische Vorbereitung für die zweite. Seiendes und Gültiges 3. Ein absolut Wertvolles, das für alle gilt, sagten wir, gibt es nicht. Was heißt das? Zuerst natürlich: es gibt nichts, was von allen wirklichen Menschen oder meinetwegen von jedem Bewußtsein notwendig als wertvoll anerkannt wird. Nur dies kann der nächstliegende Sinn der Allgemeingültigkeit des Wertvollen sein. Mithin, wendet der Gegner ein, fassen Sie das Allgemein gültige als eine Wirklichkeit und vermissen dann den Beweis, daß es etwas Wirkliches sei. Das geht jedoch nicht. Ihre Aufgabenstellung ist falsch, denn die Theoretiker der Allgemeingültigkeit gehen gerade vom Gegensatz zwischen dem Seienden und dem Gültigen aus. Das objektiv, bzw. das absolut Gültige als solches ist nicht, wohl aber gilt es: das Moralisch-Allgemeingültige ist keine Wirklichkeit, es ist ein Sollen für uns. Fordert man nun den Nachweis, daß das Sollen Sein ist, so ist das ein widersinniges Verlangen. Selbstverständlich, fügt unser Gegner hinzu, habe ich nie die Absicht gehabt, zu bestreiten, daß das Gesollte kein Seiendes sei; mehr sogar: gerade im klaren Auseinanderhalten dieser zwei Gebiete - Gesolltes und Seiendes - liegt meine Hauptstütze. So sprachen die älteren Kantianer. "Du glaubst zu schieben, und du wirst geschoben!" Und weshalb das? Weil man den Geist der "kritischen" Philosophie nicht versteht. Und das heißt weiter, weil man kein Dualist ist. Zwischen Gegebenem und Aufgegebenem besteht ein Abgrund - so lehrt diese Philosophie. Man sieht ihn nicht - und stürzt hinein. Hierin liegt das Tragische für den, der wagt, gegen sie ins Feld zu ziehen. In der heftigen Polemik, die das berühmte Buch STAMMLERs "Wirtschaft und Recht" zwischen Marxisten und Kantianern vor einigen Jahren hervorgerufen hat, war der oben skizzierte Abgrund das hauptsächliche Argument. Man kann nicht das Ideal aus der Wirklichkeit ableiten. Von dem, was ist, können wir keineswegs ableiten, was sein soll. (3) Daraus, daß z. B. eine soziale Formation als "historisch-notwendige" bewiesen ist, können wir nicht den Satz ableiten: weil sie sein muß, deshalb sollen wir nun auch nach ihrer Verwirklichung, das will hier besagen, nach Beschleunigung ihres Eintritts streben. Demzufolge ist es aufgrund des Gegebenen unmöglich, das Aufgegebene zu verstehen, auf dem Boden des Naturgesetzlichen unmöglich, das Normative zu begründen. Aus dem Gegebenen kann niemals die Geltung der Norm verstanden werden. Auf solche Weise urteilend kommen normative Ethiker, die unter dem mächtigen Einfluß des Platonisch-Kantischen Dualismus stehen, zu dem Satz, daß Sein und (objektives) Sollen zwei Sphären sind, die sich nie wechselseitig dienlich sein können, die selbständige "Gesetzmäßigkeit" haben. Damit scheint auch die Ethik als die Wissenschaft von dem, was sein soll, sichergestellt. Die selbstverständliche Annahme dieser Beweisführung ist augenscheinlich: das Gesollte als ein Gegensatz zum Seienden, das Gültige - zum Wirklichen. Diesen Gegensatz hat jedoch niemand begründet. Wollte man am erwähnten "Anspruch auf allgemeine Geltung" erinnern, so hört damit nicht nur der Ernst, sondern am Ende auch der Spaß auf. 4. Es gibt Denker, die behaupten, diese Kluft sei schon im weitsichtigen griechischen Altertum bemerkt worden. Gegenüber HERAKLIT, der lehrte, daß alles fließt, sich verändert, und daß es nichts Beständiges, nichts Ewiges gibt, steht aufrecht die Gestalt des großen Idealisten PLATO. Er hat angeblich als erster den Relativismus für alle Zeiten überwunden mit seiner Lehre von den Ideen, mit seiner Entdeckung des zeitlos Gültigen, dessen wahrhafte Bedeutung von ihm zuerst bemerkt und in hervorragender Weise gewürdigt wurde. Die Ideen sind nicht, sie gelten. So lautet die Interpretation, die HERMANN LOTZE dem Platonismus gegeben hat.
Was BOLZANO und HUSSERL von der Objektivität des Wahren sagen, steht in nächster Verwandtschaft mit demjenigen, was KANT und die Neukantianer von der Objektivität des Moralischen versichern. Das wahrhaft Sittliche bleibt ein solches, auch wenn von ihm in Wirklichkeit Tausende und Millionen keine Ahnung haben oder es nicht anerkennen wollen. Seine Geltung ist frei von den Fesseln des Seienden. Es ist zur Regelung der moralisch lebenden Wesen prädestiniert, ist aber nicht, es gilt nur. Freilich besteht zwischen BOLZANO und KANT, wie wir sehen werden, ein erheblicher Unterschied in den Problemstellungen ebensogut wie in ihren Lösungen. Hie wird das Gültige an das "Bewußtsein überhaupt" geknüpft, dort ist von einer solchen "Abstraktion" keine Rede. Für die Kantianer ist das zeitlos Gültige selbst und wesentlich etwas Normatives, es hat den Charakter von Vorschriften. Für BOLZANO und HUSSERL, ist das die Objektivität Verleihende rein theoretischer Art. Es gilt, gleichwohl ist es an und für sich noch nicht ein Normatives; es kann zwar ein solches werden, in seinem Begriff liegt dies jedoch nicht. Die Gültigkeit des Sittengesetzes ist bei KANT und bei seinen Anhängern die eines Gesollten, bei BOLZANO-HUSSERL hat das "Sollen" mit der latenten Geltung des "Idealen" nichts zu tun. Was alle diese Richtungen in Anbetracht unserer Aufgabe beachtenswert macht, sind ihre Versuche, etwas Objektives als Nichtseiendes - wohl aber Geltendes - zu begründen. Wäre die Deutung, die oben LOTZE dem Platonismus gab, zutreffend, so müßten wir gestehen, daß der neueste Kurs der Mode in der gegenwärtigen Philosophie ist: die Auferstehung des Platonismus.
1) RUDOLF STAMMLER, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung, 2. Auflage 1906 2) THEODOR LIPPS, Die ethischen Grundfragen, 1899, Seite 2f und 110 3) KANT, Kritik der reinen Vernunft, Reclam, 277f 4) HERMANN LOTZE, System der Philosophie I, Seite 503, vgl. auch Seite 537 - 560 5) EDMUND HUSSERL, Logische Untersuchungen I, Seite 128 und 129f 6) BERNHARD BOLZANO, Wissenschaftslehre, Sulzbach 1837, 4 Bände. |