tb-1O. EwaldWindelbandJ. Baumannvon LasaulxE. Loewenthal     
 
ARTHUR RICHTER
Grundlegung einer Geschichte
der deutschen Philosophie

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"Das Christentum führte im  Glauben  ein neues  Erkenntnisprinzip  des Übersinnlichen ein. Daß das Wesen Gottes unausforschbar ist für die rein rationale Erkenntnis wird durch den Glauben ganz und voll erkannt. Der Glaube dient also zur Ergänzung des Nichtwissens. Andererseits dient der Glaube dem Wissen zur Grundlage. Er geht als dieses Fundament dem Wissen voran. Es wird damit in der religiösen Erfahrung ein empirisches Element als Grundlage der Erkenntnis anerkannt und damit behauptet, daß alles Wissen durch das Sein und Leben und eine unmittelbare Mitteilung und Offenbarung des erkennbaren Objekts an das erkennende Subjekt bedingt ist."

"Die bewußte Aufstellung wirklicher Wissenschaft ist die weltgeschichtliche Tat der Griechen. Sie stellten die Elemente der Ontologie fest, sie entdeckten die Formen des Wissens, namentlich Urteil und Schluß, wie die Methoden der Definition und Einteilung der Begriffe und das Beweisverfahren der Lehrsätze. Auch in der  Ethik  schufen die Griechen die  Grundlagen  der Sittenlehre, der Politik, der Pädagogik und Ästhetik. Aber sie irrten darin vollkommen, daß sie das Wissen allein als tatbegründend ansahen und meinten, daß, wer die wahre Erkenntnis hat, auch im Besitz des richtigen Handelns ist. Sie verwechselten das Gute und das Schöne miteinander."


I.
Der allgemeine Grundcharakter
der Philosophie der Deutschen

Die Entwicklung der deutschen Philosophie, als einer eigenartigen wissenschaftlichen Weltanschauung, begann erst, als der Trieb zu wissenschaftlicher Systembildung bei den übrigen europäischen Nationen, den Italienern, Franzosen, Niederländern, Engländern, bereits fast gänzlich erloschen war. - Wenn wir in diesem Sinne von einer deutschen Philosophie reden, so besitzen wir dieselbe erst seit LEIBNIZ. Sie beherrscht die Entwicklung des nationalen deutschen Geisteslebens im 18. und 19. Jahrhundert und währt in ihrer Wirkung auch noch in der Gegenwart fort.

Es schließt das aber nicht aus, daß die Deutschen in eigenartiger Weise reproduzierend nicht auch in den früheren Jahrhunderten, ja seit Beginn der deutschen Kultur an den philosophisch-wissenschaftlichen Bestrebungen der anderen Völker teilgenommen hätten, so daß man geglaubt hat, den deutschen Genius durch die philosophische Begabung im allgemeinen in seiner Eigentümlichkeit hinreichend im Unterschied von anderen Nationalitäten charakterisieren zu können. Es fragt sich nun, welches sind in dieser tausendjährigen Geistesentwicklung die allgemein und nicht nur für ihre besondere Periode gültigen Kennzeichen  deutscher  philosophisch-wissenschaftlicher Bildung und Produktion. - Wir brauchen dabei nicht auf einen Vergleicht der deutschen Philosophie mit der sogenannten Philosophie des Altertums, d. h. der Weltweisheit des Orients, der Philosophie der Hellenen und dem Eklektizismus der Römer zurückzugreifen. Mit der orientalischen Weisheit hat die gesamte Philosophie der Deutschen keinen Zusammenhang und kein näheres inneres Verhältnis und erst einzelne Erscheinungen im 19. Jahrhundert erinnern uns an die Lehren des Orients, wie an seinen besonderen Stellen nachgewiesen werden kann. Näher sind die Beziehungen der deutschen Philosophie zur Philosophie der Griechen, wie überhaupt der Genius des deutschen Volkes dem Genius des Hellenischen verwandt ist. Dem Einfluß der griechischen Weltweisheit verdankt die deutsche Philosophie vornehmlich ihren wissenschaftlichen Charakter. Es wird sich jedoch  innerhalb  des deutschen Geisteslebens bei näherer Beleuchtung des Protestantismus und seines Verhältnisses zum Humanismus die Stelle ergeben, an der auch von den Beziehungen der deutschen Philosophie zur griechischen gehandelt werden kann. Den Römern verdanken wir die Übermittlung der Reste der antiken Bildung, aber auch nicht viel mehr, als diese Fragmente.

Wir bewegen uns also bei einer Charakteristik der deutschen Philosophie gleich ganz auf dem Boden des Mittelalters und der Neuzeit, d. h. der  christlichen Zeit. 

Und daraus leiten wir auch sogleich einen allgemein gültigen Grundzug der gesamten deutschen Philosophie ab. Die Philosophie der Deutschen trägt als Grundzug den  christlichen  Charakter an sich. Die Ausbildung einer christlichen Philosophie gehört mit zum historischen Beruf der Deutschen für das Christentum. Man fasse dabei das Wort "christlich" nur in einem großen welthistorischen Sinn und nicht in dem engen einer einzelnen Partei auf.

Das neue Prinzip, das in die griechisch-römische Welt eintritt, ist das Christentum. Es ist zunächst kein philosophisches Prinzip, sondern eine Lebensmacht  praktischer,  religiös-ethischer Natur, obwohl es auf einem Bewußtsein beruth. Dieses Bewußtsein ist das Bewußtsein von der wesentlichen Gottessohnschaft des Erlösers und der durch den Glauben an ihn vermittelten Gotteskindschaft seiner Anhänger. Das Christentum ist Heilslehre und Heilswirkung für alles Vorhandene, das in seinem damaligen natürlichen Zustand verdorben und dem Untergang verfallen war, aber durch innere Umgestaltung und Wiedergeburt so erneuert werden kann, daß es erhalten bleibt. Das Christentum bringt somit eine Wiedergeburt des Lebens, durch eine Wiedergeburt des Willens nämlich des auf Gott, als den Gott der Gnade, bezogenen geheiligten Willens, die teleologische Weltbetrachtung und den Glauben. Dadurch wird es zunächst zu einer weltumgestaltenden  Kraft.  Als diese Kraft gibt es sich aber zur Wissenschaft von vornherein eine ganz andere Stellung, als die Religion der Heiden. Die mythische Religion der Völker kann die Wissenschaft nicht ertragen, sondern wird durch dieselbe vernichtet und aufgeflöst. Im Christentum liegt aber nicht allein die Kraft, die Irrtümer der heidnischen Wissenschaft aus dem eigenen Bewußtsein heraus zu widerlegen, sondern es vermag auch homogene Elemente der griechischen Wissenschaft an sich heranzuziehen und die Tradition der antiken Philosophie an die Neuzeit zu übermitteln und im Bunde mit ihr das eigene christliche Bewußtsein wissenschaftlich zu entwickeln.

Es fördert eine eigene  wissenschaftliche Theologie  zutage, in welcher der Inhalt des Christentums in der wissenschaftlichen Form des dialektischen Beweises zum Vortrag gebracht wird. Als Ideal aller Wissenschaft erscheint die  Theologie  in ihrer doppelten Gestalt als Apologetik [Rechtfertigung - wp], dem heidnischen Bewußtsein gegenüber, und als Dogmatik; sie ist zunächst die Wissenschaft schlechthin. Im Mittelalter werden zunächst alle übrigen Erkenntnisse und Wissenschaften der Theologie untergeordnet, sie werden nur Hilfsmittel zu ihrer Ausbildung. Die Philosophie gewinnt zunächst eine theologische Tendenz und dadurch verlieren die Wissenschaften nicht nur die ihnen gebührende selbständige Stellung, sondern es wird auch ein unstatthafter Dualismus geistlichen und weltlichen Wissens geschaffen, der innerhalb des Christentums selbst wieder eine Reform der ursprünglich geschaffenen theologischen wie wissenschaftlichen Zustände nötig machte, die freilich an der Substanz des  ursprünglichen  Christentums nichts ändert, sondern sie nur reiner herausstellte, wohl aber eine andere Stellung von Theologie und Wissenschaft zur Folge hatte.

Was nun die substantiellen christlichen Grundideen betrifft, so führte das Christentum zunächst im  Glauben  ein neues  Erkenntnisprinzip  des Übersinnlichen ein. Daß das Wesen Gottes unausforschbar ist für die rein rationale Erkenntnis wird durch den Glauben ganz und voll erkannt. Der Glaube dient also zur Ergänzung des Nichtwissens. Andererseits dient der Glaube dem Wissen zur Grundlage. Er geht als dieses Fundament dem Wissen voran. Es wird damit in der religiösen Erfahrung ein empirisches Element als Grundlage der Erkenntnis anerkannt und damit behauptet, daß alles Wissen durch das Sein und Leben und eine unmittelbare Mitteilung und Offenbarung des erkennbaren Objekts an das erkennende Subjekt bedingt ist. - Wir erkennen demnach nun das sogenannte Gegebene.

In  metaphysischer  Hinsicht bringt das Christentum erst die Idee des  absoluten  Ich eines vollkommenen  Gottes  zur Anerkennung durch die gesamte Menschheit. Dieser Got ist der eine, geistige, persönliche, lebendige, vollkommene, selige. Er ist die Allmacht, Weisheit, Liebe.

In die Lehre von der Welt führt das Christentum die Lehre von der Schöpfung ein, zu der ethische Motive führten und welche den Ursprung, wie das Ziel des Sichtbaren im Unsichtbaren sucht. Das Christentum negiert also die  Emanationslehre,  die  hylozoistische  Entwicklungslehre und den mechanischen und atomistischen  Naturalismus. 

Diese geschaffene Welt ist nach christlicher Idee in ihrem Vermögen und ihrer Bestimmung  gut,  und wenn sie auch durch die Sünde und das Übel verdorben ist, so sind doch die Anstalten zu ihrer Wiederherstellung in den ursprünglich guten Zustand getroffen worden. Den Weltlauf beherrscht als erhaltende und regierende Gewalt eine nach sittlichen  Zwecken  wirkende und alles dazu hinausführende Vorsehung. Der  Pessimismus  bleibt ausgeschlossen. Die  anthropologische Idee  des Christentums lehrt den Menschen als gottähnliches, geistiges Wesen erkennen, dessen Seele wesentlich  unsterblicher  Natur ist.

Der Mensch hat seine Grundbestimmung in der Praxis, in der Betätigung des durch die Beziehung auf Gott geheiligten Willens. Man kann sagen, daß auf dem praktischen christlichen Beruf erst die Anerkennung der gesamten christlichen Auffassung von Gott und Welt beruth, weil letztere jenem zur unerläßlichen Grundlage dient, so daß die christliche Erkenntnis aus der christlichen Lebensweise hervorwächst, wie andererseits in Wechselwirkung auch die christliche Lebensweise aus der christlichen Erkenntnis hervorgeht. In der  praktischen  Philosophie bildet nun im Christentum die Idee der sittlichen Freiheit, wie einer Vollkommenheit gleich der Vollkommenheit Gottes die Hauptgrundlage. Das höchste sittliche  Gut  ist für den Christen ein jenseitiges und besteht in der Seligkeit, die diesseitigen  Weltgüter  werden im Verhältnis zu jenem jenseitigen in ihrem Wert bestimmt. Die  Tugend  beruth auf der Gesinnung und besteht nicht in der äußeren Werktätigkeit.  Liebe, Glaube  und  Hoffnung  erscheinen als die besonderen christlichen Tugenden, auch die Gerechtigkeit im christlichen Sinne ist weniger ein Erwerb durch eigenes Verhalten und eigene Tätigkeit, als vielmehr eine unverdiente Zurechnung. Der  Pflichtbegriff  entwickelt sich im Christentum vorzugsweise in der Gestalt der  Gewissens und  Liebespflicht,  die Berufs- und Rechtspflicht wächst erst daraus hervor.

Vor allen Dingen zeigte aber das Christentum seine weltüberwindende Macht in praktischer Hinsicht darin, daß es durch die Idee der Gotteskindschaft in einem Gottesreich aller Gläubigen die Schranken niederriß, welche das Altertum zwischen den Nationen, den Ständen und den Geschlechtern aufgerichtet hatte. Nun wurde der Idee der einen Menschheit die Bahn eröffnet und die Weltgeschichte begann ihren universal-historischen Gang als Geschichte der Menschheit zu nehmen. - Damit wurde erst der Wissenschaft die  Philosophie der Geschichte  geschaffen, welche den Gang der Geschichte nach sittlich-teleologischen Grundsätzen erforscht und darstellt. Die Völker werden darin als Glieder und Stufen im Entwicklungsgang der Menschheit betrachtet, die nach festen sittlichen Gesetzen fortschreitet. Das einseitige Nationalitätsprinzip erscheint nur durch ein universales Humanitätsprinzip im christlichen Sinne überwunden.

Die neue Erkenntnis des geheiligten sittlichen  Willens  als Einzelwille, Volkswille und Wille der Menschheit ist mit einem Wort der Kern der christlichen praktische Philosophie, ja der ganzen christlichen Philosophie.

Diese christlichen Ideen erschienen nun im Mittelalter, d. h. in der patristischen, scholastischen Zeit und in der Zeit der Mystiker in unvollkommener wissenschaftlicher Gestalt. Theologie und Philosophie hatten ihre Grenzen nicht fest und richtig bestimmt und flossen unklar ineinander über. Die Philosophie bestand dabei nur in der Reproduktion von Fragmenten antiker Wissenschaftsbildung, es fehlt aber an selbständiger neuer Wisenschaftsbildung. Die besonderen Wissenschaften kamen der Theologie gegenüber nicht zu ihrem Recht und ihrer Selbständigkeit; im Dualismus von Geistlichem und Weltlichem kamen sie zu kurz und konnten nicht die ihnen eigentümliche Methode ausbilden. Wissenschaft und Leben, wie die Wissenschaften untereinander bildeten kein einheitliches System. - Daher bedurfte es einer Reformation, welche bei Wahrung der Substanz und einer reineren Herausstellung der christlichen Idee, doch das Verhältnis von Theologie und Wissenschaft, wie von Wissenschaft und Leben neu ordnete. Es geschah dies in der Zeit der Renaissance durch die deutsche Kirchenreformation und den Humanismus, und in dieser Hinsicht kann man der deutschen Philosophie neben dem allgemein  christlichen  den  protestantische  Charakter beilegen. Erläutern wir diesen Begriff. Das evangelische Christentum konserviert zunächst in wissenschaftlicher Hinsicht alle auseinander gesetzten christlichen Grundideen. Freilich erforscht es dieselben gründlicher und genauer aus den Quellen der heiligen Schrift unmittelbar, während sich das Mittelalter mit der abgeleiteten und trüben Quelle der Tradition begnügt hatte; auch lernte die Reformationszeit durch die humanistischen Studien in der philologischen Methode die richtige  wissenschaftliche  Methode zur Erforschung sprachlicher und geschichtlicher Gegenstände kennen. - Nicht minder wie das formale Prinzip der Reformation wurde auch das materiale Prinzip derselben, die Rechtfertigung durch den Glauben, von wichtiger Bedeutung für die Erforschung der wahren christlichen Ideen, weil darin ein Maßstab für die Beurteilung der überlieferten Dogmen gewonnnen war. - Vollkommen änderte aber die Reformation das Verhältnis von Theologie und Philosophie zueinander. Die unklaren Vermischungen beider Gebiete, die in der Patristik, Scholastik und Mystik geherrscht hatten, wurde beseitigt, und die Philosophie, wie die Wissenschaft überhaupt, gewann eine unabhängige Stellung über die Theologie, der sie bis dahin vorwiegend hatte dienen müssen. In der  Philologie  wurde eine der positiven Wissenschaften wirklich ausgebildet, und mit ihrer Hilfe auch ein philosophisches Schulsystem geschaffen. - Allerdings trug dieses noch keinen eigentlich nationalen Charakter an sich, denn die schöpferische wissenschaftlich-philosophische Kraft der Deutschen war noch nicht zur Reife gediehen, sondern gab sich nur in unreifen Produkten Ausdruck. Es bestand nur in einer Reproduktion der griechischen Philosophie und ihres  reichsten wissenschaflichen  Systems, nämlich der Philosophie des ARISTOTELES. Immerhin wurde diese aber einerseits rein von theologischen Zusätzen, doch andererseits auf  christliche  und  deutsche  Art reproduziert. - Es führt uns das auf die Beleuchtung des Verhältnisses der deutschen Philosophie zur antiken Philosophie, wozu hier erst der richtige Ort gegeben ist.

Die deutsche Philosophie besitzt in allen Perioden ihrer Geschichte ein  positives Verhältnis zur griechischen Philosophie  und betrachtet die letztere nicht nur als ihre Voraussetzung, sondern als einen ihrer integrierenden Bestandteile. Die ganze deutsche Philosophie durchzieht ein Prozeß und ein Streben nach ein vollkommenen Wiedererzeugung und Ausgestaltung der antiken Wissenschafts- und Humanitätsidee im christlichen und deutschen Geist.

Im Mittelalter hatten die Deutschen zunächst die griechische Philosophie nicht in ihrem vollen Bestand und ihrer richtigen gesetzmäßigen Entwicklung kennengelernt. Ein kleiner Abhub alter Philosophie, den die spätere römische Zeit für Schulzwecke zurecht gemacht hatte, war das Erste, was Deutsche davon kennen lernten. Es folgte dann im weiteren Verlauf des Mittelalters das Bekanntwerden eines größeren Bestandes, namentlich der aristotelischen Philosophie durch eine methodisch unzureichende Tradition, doch es fehlten die Vollständigkeit der Kenntnis, die Kenntnis der Entwicklung und der philologisch-historischen Methoden. In und seit dem Beginn der Neuzeit sind diese Desiderata [Sehnsüchte - wp] ergänzt worden und unsere Kenntnis der Geschichte der griechischen Philosophie ist eine immer  vollkommenere  und  vollständigere  geworden. Die griechische Philosophie bleibt ein Ferment, wie in aller, so auch in der deutschen Philosophie, doch nur  ein Ferment.  Es ist vollkommen unphilosophisch und ungeschichtlich, sie, wie bisweilen geschehen ist, statt als Entwicklungsgeschichte der Philosophie in ihrem werdenden Anfang, als die Philosophie überhaupt in ihrer Vollendung anzusehen. Die griechische Philosophie ist national-griechisch, sie trägt den Charakter des griechischen Volkes und Lebens an sich. Sie gehört demnach einer bestimmten Periode der Geschichte an und kann weder in unserer Zeit, noch in einer anderen völlig erneuert werden; sie stimmt nicht mehr, wie sie doch sollte und müßte, mit unserem häuslichen, öffentlichen und religiösen Leben, nicht mit dem Zustand unserer Wissenschaft und Literatur, mit einem Wort: nicht mit unserer Weltansicht überein. Sie ist nur ein Surrogat für eine noch mangelnde oder nicht mehr vorhandene nationale Philosophie. PLATO und ARISTOTELES, der eine mehr der Religion, der andere mehr der Wissenschaft zugeneigt, mögen wie für die Jugend der Menschheit, so für die Jugend in der Schule gelten, aber es ist ungeschichtlich und unphilosophisch, die platonische oder aristotelische Philosophie kritiklos als wahre Philosophie geltend zu machen.

Was nun im Besonderen die Vorzüge und Mängel der griechischen Philosophie in ihrem Verhältnis zur deutschen Philosophie betrifft, so trägt jene den Charakter der ursprünglichen Erfindung und Entstehung an sich, sie hat die Probleme des Denkens entdeckt und zusammengestellt. Sie ist die Entwicklungsgeschichte der Philosophie. Die deutsche Philosophie hat dagegen im Kritizismus ein neues philosophisches Grundprinzip von reformatorischer Bedeutung aufgestellt und hat als Aufgabe, das System der Philosophie zur Vollendung zu bringen.

In  logischer  Hinsicht ist die Wissenschaft in ihrem Unterschied von Phantasie, religiöser Vorstellung und populärer Ansicht erst durch die Griechen verwirklicht worden. Die bewußte Aufstellung wirklicher Wissenschaft ist die weltgeschichtliche Tat der Griechen. Sie stellten die Elemente der Ontologie fest, sie entdeckten die Formen des Wissens, namentlich Urteil und Schluß, wie die Methoden der Definition und Einteilung der Begriffe und das Beweisverfahren der Lehrsätze. Sie gewannen einen Begriff von Wissenschaft und Philosophie. Aber sie brachten weder die Philosophie überhaupt, noch die Logik zu einem systematischen Abschluß, so daß in späterer Zeit irrtümlich die sogenannte formale Logik als die gesamte Logik angesehen werden konnte. - Ihnen war die Philosophie irrtümlich die ganze Wissenschaft; sie unterschieden nicht zwischen der Philosophie und den besonderen Wissenschaften, es mangelte noch an der Ausbildung dieser besonderen Wissenschaften der Mathematik, Natur- und Geschichtswissenschaft und ihren besonderen Methoden, ihnen fehlte der Kritizismus und die Wissenschaftslehre. Anstelle eines einheitlichen zweiten Teils im System der Philosophie schufen sie eine fragwürdige Doppelgestalt in der kritiklosen Aufstellung einer sogenannten  Metaphysik  und einer rein  rationalen Physik.  - Sie bildeten als getrennte Systeme die hylozoistische Evolutionslehre, die mechanische Automistik und die teleologische organische Naturbetrachtung aus. Sie lehrten einen Optimismus der Weltansicht. Aber ihnen fehlte die richtige, auf Erfahrung und Induktion beruhende Naturwissenschaft, die systematische Ausgleichung jener Prinzipien der Naturbetrachtung, auch machten sie in der Lehre von der Ewigkeit der Materie und der Welt ein mit den christlichen Ansichten unverträgliches Prinzip geltend. Auch in der  Ethik  schufen die Griechen die  Grundlagen  der Sittenlehre, der Politik, der Pädagogik und Ästhetik. - Aber sie irrten darin vollkommen, daß sie das Wissen allein als tatbegründend ansahen und meinten, daß, wer die wahre Erkenntnis hat, auch im Besitz des richtigen Handelns ist. Sie verwechselten das Gute und das Schöne miteinander und es fehlte ihnen an der richtigen Gotteserkenntnis und der religiösen Ethik. Indem nun das Reformationszeitalter sich diese philosophische Bildung der Griechen aneignete, machte es einen wichtigen Schritt über das Mittelalter hinaus und erwarb allerhand sehr wichtige Vorzüge der deutschen Wissenschaft. Aber es nahm ebenso viele Mängel mit in Kauf und leitete nun einen Dualismus und Kampf seiner Vorzüge und Mängel, einen Kampf zwischen Philosophie und exakter Wissenschaft ein, der bis in die Neuzeit bestehen blieb und auch jetzt noch auf seinen Ausgleich wartet.

Vor allem blieb erforderlich, daß die Alleinherrschaft der klassischen Philologie gebrochen und die Philosophie aus ihrem philologischen Bann erlöst wurde. Dazu gehörte mit der Entwicklung der nationalen Sprache und Literatur auch die Entwicklung einer eigenartigen nationalen deutschen Philosophie, dazu gehörte die selbständige Entwicklung der Wissenschaften der Mathematik, der Naturwissenschaft und der Geschichtswissenschaft. - Damit berühren wir zugleich neue charakteristische Merkmale der neueren deutschen Wissenschaftsbildung und Philosophie. Zu beachten ist dabei, daß die charakteristischen Merkmale der deutschen Philosophie in geschichtlicher Reihenfolge nacheinander auftreten, um dann bleibend und dauernd zu werden. - Es ergibt das die eigentümliche Erscheiung, daß die Reihenfolge der charakteristischen Merkmale dem geschichtlichen Entwicklungsgang der deutschen Philosophie entspricht. Ziemlich gleichzeitig nun mit dem Beginn einer wirklich  wissenschaftlichen deutschen  Philosophie treten als konstant bleibende Merkmale in derselben auf die Wechselbeziehung der Philosophie zur neubegründeten Mathematik und zu den exakten Naturwissenschaften und die Ausbildung der deutschen Philosophie in deutscher Sprache mit national-deutschem Gepräge.

Die Wechselbeziehung zur Mathematik und zu den Naturwissenschaften fördert zunächst einen Gegensatz philosophischer Denkweise zutage. Auf der einen Seite den  Rationalismus  und die apriorische Konstruktion aus angeborenen Ideen, auf der andern den Empirismus und Sensualismus, auf der einen Seite ein formales, auf der anderen Seite ein materiales Element, auf der einen Seite eine neue Metaphysik mit ihren Ideen von Gott, Welt und Seele, auf der andern die induktiven Naturwissenschaften und die empirische Psychologie. Beide entgegengesetzten Richtungen vereinigen sich aber darin, daß sie einem in mechanischer und atomistischer Weltansicht befangenen Naturalismus das Wort reden, welcher sich als Atheismus den überlieferten christlichen Grundideen gegenüberstellt. Der deutschen Philosophie fiel nun die Aufgabe zu, sich einmal jene entgegengesetzten Richtungen anzueignen und dann dieselben zu vermitteln. So sucht die deutsche Philosophie von Anfang an zwischen Rationalismus und Empirismus, zwischen Formalismus und Materialismus, zwischen Metaphysik und empirischer Psychologie, zwischen Mechanismus und organischer Teleologie, zwischen Naturalismus und Supranaturalismus, zwischen Atheismus oder Pantheismus und Theismus zu vermitteln. So kommt unter gleichzeitiger Entwicklung der Nationalliteratur und erster Anwendung der deutschen Sprache für die gelehrt-wissenschenschaftliche Darstellung ein erstes deutsches Schulsystem aus den widerstrebendsten Elementen, antiken, mittelalterlichen und modernen zusammen, das zunächst den Geist der deutschen Nation in seine Fesseln schlägt, aber auf die Dauer seiner heterogenen Elemente wegen nicht haltbar bleibt. Es macht eine gründliche Reformation notwendig, wobei sämtliche bisherigen Elemente in einen Schmelztiegel geworfen werden, um umgestaltet daraus hervorzugehen. Die deutsche Philosophie empfängt nun durch KANT den  kritischen Charakter,  über dessen Natur freilich noch bis auf unsere Zeit gestritten wird, da aus seiner Wurzel die verschiedensten, widerstreitenden Systeme und Weltansichten hervorgegangen sind, auf deren abschließendes Resultat wir noch alle hoffen. Wir können jedoch den  allgemeinen  Charakter der deutschen Philosophie nach KANT näher dahin präzisieren, daß sie die Ausbildung eines vollständigen Systems der Philosophie, die  ethische  Weltansicht dem Naturalismus der außerdeutschen Nationen gegenüber begründet und die Geschichte der Philosophie als eine historisch-kritische Disziplin ausgestaltet. Auf KANT fällt dabei das Verdienst, daß er in  logischer  Hinsicht den Kritizismus begründet hat, d. h. diejenige Weltansicht, welche aufgrund einer Untersuchung über das Erkenntnisvermögen Gegenstand, Formen und Grenzen der Philosophie bestimmt und dadurch den Anstoß gibt, diese Untersuchung in einer Wissenschaftslehre auf alle Wissenschaften auszudehnen. - In  metaphysischer  Hinsicht beseitigt KANT die alte Metaphysik und führt statt dessen die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaften ein. - In  ethischer  Hinsicht sucht er den Naturalismus durch den Rigorismus der Pflichtenlehre zu überwinden und verhilft der ethischen Betrachtung der Geschichte zum Sieg. - Unter seinen Nachfolgern geht die deutsche Philosophie durch eine Verbindung kritischer Grundgedanken mit vorkritischen Standpunkten in eine Vielgestaltigkeit sich bestreitender Systeme auseinander, es lassen sich jedoch darin gewisse Tendenzen als allgemeiner Charakter der neuesten deutschen Philosophie in ihrem Unterschied von der Philosophie anderer Nationen deutlich erkennen. Das Zielstreben der deutschen Logik verneint die formale, eigentlich empirische subjektive Logik als Vollbegriff der logischen Wissenschaft, wohl aber nimmt sie einen formalen Teil die Lehre vom Denken, seinen Gesetzen und Formen wie von den Methoden, den induktiven, deduktiven und systematischen in sich auf. Die deutsche Gesamtlogik ist nicht die metaphysische Logik, welche die falsche Identität des Begriffs und der Realität, statt ihrer Analogie und Harmonie lehrt, wohl aber erkenntnis sie die Ontologie als Lehre vom Seienden der objektiven Gesetze, der Denkbarkeit der Dinge und den Kategorien als integrierenden Teil der Logik an. Die deutsche Logik will kritische Erkenntnistheorie im Sinne einer allgemeinen Wissenschaftslehre sein, welche zwischen Rationalismus und Empirismus, zwischen Dogmatismus und Skeptizismus richtig unterscheidet und dieselben wieder vermittelt. Doch ist auch wiederum nicht die Erkenntnistheorie (am wenigsten die empirische) die ganze Philosophie. Die Logik entwickelt sich vielmehr als erster Teil der Philosophie in drei Abschnitten:
    a. dem  formalen  Teil derselben: Die Lehre vom Denken, von den Denkgesetzen und Denkformen, von der Ontologie und den Methoden;

    b. dem  realen  Teil: Die Lehre vom Erkennen, d. h. von der Sensation, Reflexion und Spekulation in seiner prästabilierten Harmonie mit den objektiven realen Prinzipien der Wissenschaften;

    c. dem  finalen  Teil: Die Lehre vom Wissen, welche den allgemeinen Begriff der Wissenschaft, die Unterscheidung der Wissenschaften und den Begriff der Philosophie umfaßt.
Was diesen allgemeinen Begriff der Philosophie betrifft, so ist nach allgemein deutscher Anschauung die Philosophie nicht Wissenschaft des Absoluten oder absolute Philosophie. Letztere proklamierte eine unstatthafte Tyrannei der Philosophie gegenüber den positiven Wissenschaften, und der spekulativen Theologie gegenüber der historischen Theologie, die zu einem Emanzipationskampf führte, bei dem schließlich die positiven Wissenschaften und die historische Theologie siegten und die Philosophie unterlag. - Noch weniger ist die Philosophie in rein formalistischer Auffassung nur Bearbeitung der Begriffe, wobei wiederum der Unterschied zwischen der Philosophie und den übrigen Wissenschaften wegfällt. Die Philosophie ist vielmehr.

Wissenschaftslehre,  welche formal und material die Prinzipien der Wissenschaft überhaupt und die besonderen Wissenschaften im Einzelnen behandelt und sich dadurch in das richtige Verhältnis zu allen Wissenschaften setzt. Die Philosophie erscheint damit selbst als Wissenschaft von strengem Charakter, aber auch unabhängig und selbständig gegenüber der Theologie und Philologie, der Mathematik und den Naturwissenschaften. Ihr Wissensideal ist formal und material ein anderes als das dieser Wissenschaften. Die Philosophie ist  wissenschaftliche Naturansicht  durch Untersuchung der Grundprinzipien der Naturwissenschaft und sie ist schließlich  Weisheitslehre.  Sie huldigt als solche nicht dem Atheismus, Materialismus und Naturalismus, auch nicht dem Pantheismus, sondern behauptet den Standpunkt des christlichen Theismus. Die kantische Philosophie huldigt nicht der Revolution und der ungeschichtlichen Reaktion, sondern dem geschichtlichen, sittlichen Fortschritt.

Die deutsche Philosophie entwickelt sich als System in der Dreigliedrigkeit: die allgemeine Wissenschaftslehre (Logik), die Anfangsgründe der Naturwissenschaften (philosophische Physik) und die Grundlegung der Sitten und der Geschichte (Ethik).

Im Besonderen haben die Deutschen die  Geschichte der Philosophie  ausgebaut und damit ihrer ganzen Philosophie einen universalistischen und historischen Charakter gegeben. Sie betrachten jedoch die Geschichte der Philosophie nicht als integrierenden Bestandteil des philosophischen Systems, sondern als eine historische Disziplin, bei der der Begriff der Geschichte das  genus proximum  [nächsthöherer Gattungsbegriff - wp] , der Begriff der Philosophie die  differentia specifica  [unterscheidendes Merkmal - wp] ausmacht. Den Gegenstand der Geschichte der Philosophie bildet daher auch nicht die systematische Entwicklung der Philosophie, sondern ihre objektive, zeitliche Entwicklung; ihrer Methode nach duldet die Geschichte der Philosophie als Wissenschaft also weder die a priorische Konstruktion ihrer Tatsachen, noch den rohen, nackt gelehrten Empirismus. Sie folgt vielmehr der philologisch-historisch-kritischen Richtung, ihrer Periodenteilung nach folgt sie in gleichem Pulsschlag der Gesamtentwicklung der Völker und der Menschheit auf kulturgeschichtlichem und politischem Gebiet. - Erst die Neuzeit und in ihr die Deutschen haben diese Wissenschaft vollkommen ausgebildet. Was den zweiten Hauptteil der philosophischen Wissenschaft betrifft, so hat die Entwicklung der deutschen Philosophie jede  Metaphysik  durch  Kritik  beseitigt, sowohl die Metaphysik im Sinne des FICHTE-, SCHELLING-, HEGELschen Idealismus wie auch im Sinne des HERBARTschen Realismus. So überspannt die eine ist, so grillenhaft erscheint die andere. Auch widerstreitet der deutschen Philosophie die Substituierung rein empirischer Naturwissenschaft als Ersatz für die sogenannte Naturphilosophie als sogenannter Naturalismus oder Monismus. Der zweite Teil der Philosophie behandelt vielmehr die Prinzipien der Naturwissenschaften gesondert in drei Gebieten:
    a. das mechanische: die Begriffe Zahl, Raum, Zeit, Stoff und mechanische Bewegung;

    b. das physiologisch-biologische: den Begriff des Lebens, der Empfindung, freien Bewegung, des Wachstums, der Fortpflanzung, des Organismus;

    c. das psychologische: den Begriff der Seele, des Denkens, Fühlens, Wollens, der geschichtlichen Entwicklung.
Weder alle drei, noch je zwei dieser Gebiete sind zu konfundieren, vielleicht ist aber eine höhere, alles umfassende Grundquelle für sie zu suchen, auch in den Begriff der  Entwicklung  ist eine Spezifikation einzuführen, welche die Ausgleichung der dynamisch-teleologischen und der mechanischen Naturansicht ermöglicht und die Stufenreihe der Wesen begreiflich macht.

In  ethischer  Hinsicht ist für die deutsche Philosophie das idealistisch-sittliche Streben derselben charakteristisch, das den Egoismus und Eudämonismus des Naturalismus und den irrigen Supranaturalismus durch einen wahren Supranaturalismus zu überwinden strebt. Dieser stellt durch das Prinzip der Freiheit und der Pflicht den Willen als unabhängig von Naturprinzipien dar, schafft damit die Grundlagen einer eigentlichen Sittenlehre, begründet dem sogenannten Naturrecht gegenüber die ethische Rechtsansicht und löst der  Naturgeschichte  der Menschheit gegenüber das Problem der Geschichte in einem ethischen Sinn.

Die  ethische  Pädagogik tritt der naturalistischen Erziehungslehre gegenüber, in der Ästhetik wird die nackte Formästhetik durch den Nachweis des inneren Verhältnisses der Güte und Schönheit überwunden, in religiöser Hinsicht wird das Übergewicht der ethischen Religion über die Naturreligion hervorgehoben und das Problem einer christlichen Glaubensphilosophie wieder in Angriff genommen. Darin gipfelt schließlich die ethische Tendenz der deutschen Philosophie. Somit wird der Rigorismus einer rein rationalen Ethik, ebenso wie die reine Ästhetik innerhalb der Sittenlehre beseitigt und durch eine universelle Sittenlehre überwunden, und der allgemeine ethische Charakter des gesamten Systems der deutschen Philosophie nach KANT mehr durch die Tendenz und das Zielstreben, als durch die momentanen Leistungen der einander gegenüberstehenden, sich kritisch zersetzenden Richtungen bezeichnet. Innerhalb dieser gegensätzlichen Bestrebungen legen wir zwar Gewicht auf eine  Harmonie  der philosophischen Natur- und Geschichtsansicht, betonen aber dabei als das Übergewicht den Wert der sittlichen Weltansicht. Wir haben die gleich große Leistungsfähigkeit der Deutschen auf dem Gebiet der Geschichte der Philosophie, der philosophischen Kritik und der philosophischen Systembildung in allen Disziplinen als charakteristisch hervorgehoben und bezeichnen es als eine der edelsten und fruchtbarsten wissenschaftlichen Aufgaben, dem theologischen, wissenschaftlichen und ethischen Endziel der deutschen Philosophie entgegen zu streben. - Nur so wird das Wort vom philosophischen Beruf und Ruhm der Deutschen als einer Nation von Denkern zur Wahrheit.
LITERATUR - Arthur Richter, Grundlegung einer Geschichte der deutschen Philosophie, Philosophische Monatshefte, Bd. 23, Heidelberg 1887