cr-2WeltanschauungDie ReligionWissenschaft und Macht     
 
PAUL DEUSSEN
Naturwissenschaft,
Philosophie und Religion


"Materialismus, Nihilismus und Determinisums sind somit die unabweisbaren Resultate der empirischen Weltanschauung. Wenn sich das religiöse Bewußtsein gegen sie mit aller Gewalt sträubt und in aller Zukunft sträuben wird, so geschieht dies aus dem dunklen Gefühl heraus, daß die zum vollen Materialismus als ihrer notwendigen Konsequenz hinstrebende empirische Anschauung der Dinge und alle ihr dienenden empirischen Wissenschaften nicht die volle Wahrheit besitzen, nicht imstande sind, über das eigentliche und innerste Wesen der Dinge die tiefsten und letzten Aufschlüsse zu geben. Dieses dunkle Gefühl zum Licht wissenschaftlicher Klarheit und Überzeugung erhoben zu haben, ist das unsterbliche Verdienst der Kantischen Philosophie."

Seitdem KOPERNIKUS durch sein 1543 erschienenes Werk,  De orbium coelestium revolutionibus,  über unser Sonnensystem die heliozentrische Anschauung aufstellte oder vielmehr erneuerte, ließ sich für ein konsequentes Denken der mittelalterliche Gottesbegriff nicht mehr aufrechterhalten. Die Welt bestand nicht mehr aus Himmel und Erde, sondern an deren Stelle erstreckte sich nach allen Seiten der unendliche Raum und in ihm war nur das, was ihn erfüllte.

Daß der Raum unendlich ist, kann von denen, welche nicht von Vorurteilen beherrscht sind, nicht bezweifelt werden. Überall ist der Raum, es gibt nichts, was außerhalb desselben wäre, alles, was überhaupt existiert, muß notwendigerweise im Raum existieren. Es kann dieses aber nur, sofern es einen Raum erfüllt; das den Raum Erfüllende aber heißt Materie. Es ist dies die genaueste Definition, die sich von der Materie geben läßt. Hiernach muß alles, was existiert, materiell sein, die Materialität, d. h. die Raumerfüllung, ist die einzige Form, in welcher die Dinge für uns existieren können. In der Tat kann niemand ernstlich daran denken, daß er im ganzen Universum, in allen Nähen und in allen Fernen, je etwas anderes antreffen könnte, als den leeren Raum und in ihm nur und allein die zu Sonnen und Planeten, leuchtenden und beleuchteten Körpern geballte Materie. Durch diese Anschauung wird das Dasein Gottes zur Unmöglichkeit. Vordem suchte man dasselbe zu beweisen. Nachdem KANT diese Beweise zertrümmert hatte, tröstete man sich mit der Behauptung, daß sich doch auch das Gegenteil nicht beweisen lasse. Es steht aber vielmehr so, daß sich vom empirischen Standpunkt sehr wohl beweisen läßt, daß es keinen Gott gebe, keinen geben könne. Damit war das höchste Gut dem religiösen Bewußtsein geraubt und, wie es schien, unwiederbringlich verloren.

Nicht anders war es mit dem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele. Die Natur in ihrer nicht mißzuverstehenden Sprache sagt es deutlich und naiv aus, daß wir alle durch Zeugung und Geburt aus dem Nichts, welches wir vorher waren, zu einem Etwas geworden sind, und daß wir durch den Tod aus diesem Etwas in jenes Nichts zurückkehren. Was werden wir alle nach 100 Jahren sein? Nicht mehr und nicht weniger, als was wir vor 100 Jahren gewesen sind, d. h. empirisch betrachtet, nichts. Die Unsterblichkeit der Seele schien auf dem Standpunkt der modernen Weltanschauung unrettbar verloren zu sein.

Nicht besser stand es mit dem dritten und letzten unter den höchsten Gütern der Menschheit, mit der Freiheit des Willens und der nur unter ihrer Voraussetzung möglichen Moralität. Es gibt ein Gesetz, welches alles Werden in der Welt mit ausnahmslosem Zwang beherrscht, das Gesetz der Kausalität, welches besagt, daß jede Wirkung in der Welt mit Notwendigkeit erfolgen muß, sobald die entsprechende Ursache in der Vollzähligkeit ihrer Bedingungen vorhanden ist. Zu diesen Wirkungen gehören auch alle menschlichen Handlungen. Sie alle sind das Produkt zweier Faktoren, von subjektiver Seite eines bestimmten Charakters, von objektiver Seite der auf ihn einwirkenden Motive. Ob der Charakter des Menschen wandelbar sei oder nicht, kommt hierbei von objektiver Seite der auf ihn einwirkenden Motive. Ob der Charakter des Menschen wandelbar sei oder nicht, kommt hierei nicht in Betracht. Es genügt festzustellen, daß diese beiden Faktoren, der Charakter und die Motive, als die Ursachen der Handlung, ihrer Wirkung, wie jede Ursache der Wirkung, zeitlich vorangehen, somit im Augenblick der Handlung schon der Vergangenheit angehören, folglich nicht mehr in unserer Hand sind.

Materialismus, Nihilismus und Determinisums sind somit die unabweisbaren Resultate der empirischen Weltanschauung. Wenn sich das religiöse Bewußtsein gegen sie mit aller Gewalt sträubt und in aller Zukunft sträuben wird, so geschieht dies aus dem dunklen Gefühl heraus, daß die zum vollen Materialismus als ihrer notwendigen Konsequenz hinstrebende empirische Anschauung der Dinge und alle ihr dienenden empirischen Wissenschaften nicht die volle Wahrheit besitzen, nicht imstande sind, über das eigentliche und innerste Wesen der Dinge die tiefsten und letzten Aufschlüsse zu geben.

Dieses dunkle Gefühl zum Licht wissenschaftlicher Klarheit und Überzeugung erhoben zu haben, ist das unsterbliche Verdienst der Kantischen Philosophie. Man kann sagen, daß sie in wissenschaftlicher Form dasselbe aussprach, was alle religiösen Lehrer der Menschheit intuitiv ergriffen hatten, man könnte sagen, daß diese alle unbewußte Anhänger der noch gar nicht vorhandenen Kantischen Philosophie gewesen seien.

Wie gelangte KANT zu seinen großen Entdeckungen? Er bemerkte, wie von jeher der menschliche Geist sich nicht an der empirischen Anschauung genügen ließ, wie er, sehnsüchtig und eines höheren Ursprungs sich bewußt, über alle Erfahrung hinausging, um zu solchen Heilswahrheiten, wie sie das Dasein Gottes, die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit des Willens sind, zu gelangen. Diese Vorstellungen nannte KANT, weil sie alle Erfahrung übersteigen  transzendent,  und die Aufgabe, welche er sich stellte, zu prüfen, ob die menschliche Vernunft solche transzendenten Objekte mit wissenschaftlicher Sicherheit erweisen könne, nannte er eine  transzendentale.  Zu diesem Zweck unternahm er in der Kritik der reinen Vernunft eine tiefdringende Analysis nicht nur dieser, sondern des ganzen menschlichen Erkenntnisvermögens, welches er nach einer althergebrachten, aber unhaltbaren Einteilung in Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft zerlegte, und nun nacheinander die Kräfte dieser verschiedenen Erkenntnisvermögen und ihre Tragweite untersuchte. Das Ergebnis dieser Analysis war vorauszusehen. Es bestand in dem klaren Nachweis, daß alle unsere Erkenntniskräfte nur imstande sind, den von der äußeren und inneren Wahrnehmung gelieferten Stoff in sich aufzunehmen und zum Ganzen der Erfahrung zu verweben, daß sie aber nun und nimmer dazu ausreichen, über die Erfahrung hinauszugehen und das zu erkennen, an welchem uns mehr als an allem anderen gelegen ist.

Soweit war das Ergebnis der Kantischen Kritik ein negatives. Aber indem KANT die alten und morschen Lehrgebäude der rationalen Psychologie, Kosmologie und Theologie zertrümmerte, wuchs ihm unter den Händen eine neue positive Erkenntnis hervor, die er vielleicht selbst nicht erwartet hatte, deren Tragweite er jedenfalls noch nicht zu ermessen imstande war. Es kommt uns dabei vor, (wenn es erlaubt ist, einen von GOETHE am Schluß des  Wilhelm Meister  geprägten Ausdruck auf KANT anzuwenden), wie SAUL, der Sohn des KIS, welcher von seinem Vater ausgesandt wurde, die Eselinnen zu suchen und eine Königskrone fand. Indem nämlich KANT den menschlichen Intellekt mit einer nie vorher dagewesenen Penetration und Besonnenheit analysierte, indem er ihn wie ein Uhrwerk in seine Teile zerlegte und die Bedeutung seiner Teile sowie ihr Zusammenwirken im wesentlichen richtig bestimmte, machte er zu seiner und der Welt Überraschung die größte Entdeckung, welche je auf dem Gebiet der Philosophie gemacht worden ist. Es stellte sich nämlich bei seiner Zergliederung des Bewußtseins heraus, daß gewisse Grundelemente des Universums, welche wir von Haus aus vermöge der Naturbestimmung unseres Intellektes für ewige, den Dingen ansich zukommende Bestimmungen halten, nicht dieses sind, sondern vielmehr angeborene Funktionen unseres Intellekts. Diese Bestandstücke der realen Welt, welche KANT als bloß subjektive Formen der Erkenntnis nachwies, sind: 1. der Raum; 2. die Zeit; und, wenn wir von den von KANT mit Unrecht in diesen Zusammenhang hereingezogenen abstrakten Kategorien absehen, 3. die Kausalität, nebst der ihr als objektives Korrelat entsprechenden Substantialität. Diese Lehre von dem nur vorstellungsartigen Charakter, oder kurz gesagt, von der Idealität des Raumes, der Zeit und der Kausalität wurde von KANT nicht nur als eine Behauptung vorgetragen, sondern durch eine Reihe von Beweisen erhärtet, welche wir für ebenso unumstößlich halten wie die Beweise der Mathematik. Es würde zu weit führen, hier diese Beweise der Reihe nach vorzutragen, und nur als eine Probe ihrer Überzeugungskraft mag das folgende dienen. Ich kann alles aus der Weg wegdenken, nur nicht den Raum, ich kann mir nie eine Vorstellung davon machen, daß kein Raum sei, obwohl ich mir ganz wohl vorstellen kann, daß keine Körper in demselben angetroffen würden. Dieser Tatbestand, von dem sich jeder in jedem Augenblick und immer wieder aufs neue überzeugen kann, läßt gar keine andere Erklärung zu, als diese, daß der Raum nicht zu den Dingen, wie sie an sich bestehen mögen, gehört, sondern vielmehr meinem Vorstellungsvermögen als dessen angeborene Funktion anhaftet; denn von diesem, und von diesem allein, kann ich mich niemals losmachen. Soviel als eine Probe der Kantischen Beweise. Im übrigen müssen wir die Bekanntschaft mit ihnen voraussetzen (1) und wollen uns hier nur mit den Folgerungen beschäftigen, welche diese Beweise für das religiöse Bewußtsein haben.

Die nächste Folgerung ist, daß die Welt, wie sie als ein räumlich ausgebreitetes, zeitlich verlaufendes und durch die Kausalität im größten wie im kleinsten geregeltes Ganze sich darstellt, nur in einem Bewußtsein wie dem meinigen existiert, daß sie aber ansich, das heißt unabhängig von meinem Bewußtsein, raumlos, zeitlos und kausalitätslos ist, ein Zustand, von welchem unser ein für allemal an die genannten Formen gebundenes Bewußtsein sich keine Vorstellung machen kann. Dieser Fundamentalsatz der Kantischen Philosophie, daß die Welt, wie wir sie kennen, nur Erscheinung, nicht Ding ansich ist, erneuerte in wissenschaftlicher Form das, was die ahnungsvollen Stimmen früherer Weisen nur intuitiv zu erfassen und auszusprechen wußten; und wenn die Inder diese Welt für eine bloße Maya erklären, wenn PLATON sie für eine Welt der Schatten hält, so spricht sich in diesen und ähnlichen Behauptungen dieselbe Wahrheit in unbewiesener Form aus, welche KANT durch seine Beweise zur wissenschaftlichen Evidenz erhob und dadurch zum ersten Mal in der Weltgeschichte den höchsten religiösen Überzeugungen der Menschheit eine unerschütterliche Grundlage bereitete. Worin diese besteht, läßt sich mit wenigen Worten zeigen.

Wir sahen vorher, wie durch die Unendlichkeit des Raumes und durch die Unmöglichkeit, daß etwas anders existieren kann, als indem es einen Raum erfüllt, das Dasein Gottes ausgeschlossen war. KANT beweist uns, daß die ganze räumliche Ausbreitung der Welt nur ein subjektives Phänomen ist und eröffnet dadurch die Möglichkeit, daß hinter dieser räumlichen Weltordnung eine andere, göttliche Ordnung der Dinge besteht, von der wir uns freilich, solange wir an unsere Erkenntnisorgane gebunden sind, nicht die mindeste Vorstellung zu machen vermögen.

Die Unsterblichkeit der Seele, diese höchste Hoffnung des Menschenherzens, wurde seit PLATONs Zeiten immer wieder durch Beweise zu stützen gesucht, welchen jedoch die Natur selbst durch ihre Aussagen über Tod und Verwesung jede Glaubwürdigkeit benahm. Durch KANT wissen wir jetzt, daß der Mensch als Erscheinung den Gesetzen der Zeit unterliegt, mithin wie alles einen Anfang in der Zeit und ein Ende in der Zeit hat, daß er hingegen seiner ansich seienden Wesenheit nach zeitlos ist, daß somit alles Anfangen und Endigen für diese seine ansich seiende Natur keine Gültigkeit haben. Die Unsterblichkeit ist daher nicht zu denken als eine Fortdauer in der Zeit, sondern als ein Heraustreten aus dem ganzen, phantasmagorischen Zyklus der Zeitlichkeit in das Gebiet des Zeitlosen, über welches unserem an die Zeitlichkeit gebundenen Erkennen jede Vorstellung versagt bleibt.

Nicht weniger wichtig als Gott und Unsterblichkeit ist für das religiöse Bewußtsein die Überzeugung von der Freiheit des Willens. Denn der einzige Weg, unserer ewigen Bestimmung entgegenzureifen, ist das moralische Handeln; Moralität aber setzt die Freiheit des Willens voraus und ist ohne sie unmöglich. Auf empirischem Standpunkt ist die Freiheit nicht zu retten, denn die Kausalität beherrschaft alles Endliche mit ausnahmslosem Zwang. Aber auch die Kausalität ist, wie KANT bewiesen hat, nur eine unserem Intellekt anhaftende Vorstellungsform. Für unsere Vorstellung erfolgen alle unsere Handlungen aus ihren Ursachen mit Notwendigkeit, und dennoch sind sie, wie das Bewußtsein der Verantwortlichkeit bezeugt, nur die im kausalen Zusammenhang der Erscheinungen auftretenden Äußerungen eines ansich freien Willens. Die empirische Notwendigkeit und die metaphysische Freiheit bestehen in jeder einzelnen Handlung zusammen. Empirisch ist unser Handeln unfrei, das ist ganz gewiß, ebenso gewiß wie die Tatsache, daß dieser Tisch vor mir steht; ebenso gewiß, aber auch nicht gewisser. Und wie dieser Tisch nach seiner räumlichen Ausbreitung in Breite, Höhe und Länge nur Erscheinung ist und als Ding ansich ganz anderen, uns unbekannten Gesetzen unterliegt, so gehört auch die so oft bewiesene Unfreiheit des Willens nur der großen Weltillusion an, in welcher wir befangen sind, solange wir leben. Aber die Zeit wird für jeden von uns kommen, wo wir Raum, Zeit und Kausalität wie ein veraltetes Kleid abwerfen und zu unserer ewigen Bestimmung eingehen werden, welche das religiöse Bewußtsein vorausahnt und in mancherlei Bildern sich vorzustellen versucht, welche aber für das wissenschaftliche Denken durch die Kantische Philosophie ebenso vollkommen sichergestellt ist, wie sie andererseits vollkommen unerkennbar bleibt und bleiben mußte, um die alle egoistischen Hoffnungen verbietende Reinheit des moralischen Handelns zu wahren.
LITERATUR - Paul Deussen, Naturwissenschaft, Philosophie und Religion in Max Frischeisen-Köhler [Hg], Weltanschauung, Berlin 1913
    Anmerkungen
    1) Die genauere Ausführung der hier in Frage kommenden dreimal sechs Beweise für die Apriorität des Raumes, der Zeit und der Kausalität findet sich in des Verfassers "Elementen der Metaphysik", 4. Auflage, Leipzig 1907, Seite 27 - 40.