cr-4ra-1ra-1F. MauthnerH. J. StörigK. VorländerG. Störring    
 
CARL GRUBE
Berkeleys Nominalismus
[ 3/8 ]

"Alle Gebildeten und noch mehr die Ungebildeten führen oft allgemeine Urteile und überhaupt stehend gewordene Wortverbindungen rein gewohnheitsmäßig und fast ohne Bedeutungsbewußtsein an."

§ 11.BERKELEY beginnt seine Untersuchung des Wesens der abstrakten Begriffe mit der Frage nach der Abstraktionsfähigkeit der Menschen. Die Menschen besitzen die Gabe, nicht nur die wahrgenommenen Dinge sich vorzustellen, sondern auch gewisse einzelne Teilen der Vorstellung gesondert zu betrachten und willkürlich zusammenzusetzen; so kann man sich, nachdem man einen Menschen wahrgenommen hat, einzeln seinen Kopf, Hand usw. ins Gedächtnis zurückrufen, andererseits sich einen Mann mit zwei solchen Köpfen vorstellen.

Aber was man sich auch immer für eine Hand, Kopf usw. vorstellen mag, so muß dieser Hand oder diesem Kopfe eine bestimmte Gestalt und Farbe zukommen; man kann sich nicht gesondert Gestalt ohne Farbe oder Farbe ohne Gestalt vorstellen. Man kann also nicht diejenigen Eigenschaften voneinander durch Abstraktion trennen oder gesondert betrachten, welche nicht möglicherweise gesondert existieren können; daher ist es unmöglich, einen allgemeinen Begriff durch Abstraktion von dem besonderen zu bilden.

Ebensowenig kann man sich - was LOCKE behauptet - ein Dreieck vorstellen, das weder schiefwinklig, gleichseitig, gleichschenklig noch ungleichseitig, sondern alles und zum Teil nichts hiervon wäre. Daß man aber trotzdem so lange an die Existenz allgemeiner Begriffe und Vorstellungen geglaubt hat, kommt vom sprachlichen Ausdruck her; denn man nahm an, jeder Name habe oder solle doch eine einzige, feste Bedeutung haben.

Daher glaubte man denn, es gäbe gewisse, abstrakte Ideen, welche die wahre und unmittelbare Bedeutung eines jeden Gemeinnamens ausmachten, und man wurde in diesem Glauben noch bestärkt durch die Erkenntnis des hohen Wertes dieser Abstraktionen, durch welche allein alle Erkenntnis und Beweisführung möglich ist. Jedoch man hat sich täuschen lassen; vielmehr gibt es im Geiste gar keine solchen abstrakten Vorstellungen angeknüpft an Gemeinnamen, sondern alle Gemeinnamen bezeichnen unterschiedlos eine große Zahl einzelner Ideen, deren jede der Gemeinname als Zeichen anregt, und sind daher allgemein.

Doch könnte man sagen:
    "Wenn alle Dinge individuell sind, wie kommen wir denn zu allgemeinen Ausdrücken?"
und man könnte glauben, die Worte wären darum allgemein, weil sie zu Zeichen allgemeiner Ideen gemacht werden. Es soll auch nicht geleugnet werden, daß es allgemeine Ideen gibt, sondern nur, daß es abstrakte, allgemeine Ideen gibt. Nicht durch Abstraktion, sondern dadurch, daß eine Idee, die an und für sich betrachtet individuell ist, alle anderen Einzelideen derselben Art vertritt, wird die Einzelidee allgemein, und der Allgemeinname ist nicht dadurch allgemein, daß er Zeichen einer allgemeinen Idee ist, sondern weil er unterschiedslos eine große Zahl von Einzelideen bezeichnet.

Der Satz: "Die Veränderung der Bewegung ist proportional der ausgeübten Kraft" oder "was Ausdehnung hat, ist teilbar" ist jedesmal von Bewegung und Ausdehnung im allgemeinen zu verstehen. Dennoch folgt nicht, daß man sich eine abstrakte Idee von Bewegung ohne bewegten Körper oder eine bestimmte Richtung und Geschwindigkeit, noch daß man sich eine abstrakte Idee der Ausdehnung bilden müsse, die weder Linie, noch Fläche, noch sonst was sei, sondern es liegt im Satze nur, daß, welche Bewegung ich auch immer betrachten mag, eine schnelle, eine langsame oder eine andere, oder welche Ausdehnung ich auch ins Auge fasse, eine Linie oder Fläche, es das betreffende Axiom gleichmäßig bewahrheitet.

Ebenso ferner wie in der Geometrie die wirkliche Linie dadurch, daß sie als Zeichen dient, allgemein wird, so ist der Name "Linie", der an sich partikular ist, dadurch, daß er als Zeichen dient, d.h. verschiedene, einzelne Linien unterschiedlos bezeichnet, allgemein. Eben weil die Allgemeinheit nicht in einem absoluten, positiven Wesen oder Begriffe von irgend etwas, sondern in der Beziehung steht, in welcher etwas zu anderem Einzelnen steht, welches dadurch bezeichnet oder vertreten wird - darum werden die Namen der Begriffe, die ihrer Natur nach partikular sind, allgemein, indem sie mehrere einzelne Dinge bezeichnen.

In der Vorstellung des Sprechenden ist beim Gebrauche eines Allgemeinnamens stets eine Einzelvorstellung; wer vom Dreieck spricht, denkt sich doch ein bestimmtes, einzelnes Dreieck, dessen Vorstellung nur insofern allgemein ist, als es alle anderen Dreiecke vertritt.

Man kann ein Dreieck z.B. nur als Dreieck betrachten, ohne auf die besonderen Eigenschaften der Winkel zu achten, aber das beweist nicht, daß man sich die abstrakte Idee eines Dreiecks bilden kann.

Aber es ist auch eine Bedeutungsvorstellung nicht immer nötig; selbst bei den strengsten Gedankenverbindungen brauchen nicht Namen, die etwas bedeuten und Ideen vertreten werden können, im Geiste dieselben Ideen zu erwecken. Denn meistenteils werden die Gemeinnamen beim Lesen und Sprechen gebraucht wie die Buchstaben in der Algebra, wo zwar durch jeden Buchstaben eine bestimmte Quantität bezeichnet wird, aber es zum Zwecke des richtigen Fortganges der Rechnung nicht erforderlich ist, daß bei jedem Schritte jeder Buchstabe die bestimmte, von ihm vertretene Quantität ins Bewußtsein treten lasse.

§ 12. So hat BERKELEY mit Bewußtsein den psychologischen Nominalismus erklärt. Es ist BERKELEYs großes Verdienst, auf die Grenzen der Abstraktion hingewiesen zu haben und auf die Unmöglichkeit des Abstrahierens von begrifflichen Teilen der Vorstellung, vorausgesetzt, daß "Abstrahieren" soviel bedeutet als gesondert vorstellen. Also: "von dem Körper die Farbe abstrahieren" heißt "eine Vorstellung der Farbe ohne Körper sich bilden".

So gefaßt können wir BERKELEYs Ansicht nur billigen: eine Farbe, die ich mir vorstelle, bedeckt immer eine gewisse Fläche und ein Dreieck, welches ich mir vorstelle, hat immer ein bestimmtes Verhältnis der Winkel und Seiten. Dann fragt sich freilich sofort, wie denn diese Fläche, die ich bei jeder Farbe vorstelle, wie denn das Dreieck, das ich beim Namen "Dreieck" in mir bild, bestimmt sei. Darauf bleibt BERKELEY die Antwort schuldig, erst HUME geht näher auf dieselbe ein.

BERKELEY hat folgendes Kriterium für die Möglichkeit der Abstraktion: daß man nicht diejenigen Eigenschaften voneinander durch Abstraktion trennen könne, welche nicht möglicherweise gesondert existieren könnten. Hiermit spricht er allerdings die Unmöglichkeit der gesonderten Vorstellung von Begriffsteilen aus, aber er setzt zugleich der Abtrennung von Vorstelllungsteilen überhaupt Schranken, die er nicht ziehen durfte.

MEINONG hat besonders noch darauf hingewiesen, daß die Konsequenz jenes BERKELEYschen Kriteriums auch wäre, daß wir völlig außerstande wären, die Idee eines Gegenstandes vor der einer ganz bestimmten Umgebung zu abstrahieren. Daß wir dennoch diese Fähigkeit besitzen, führt MEINONG gewiß mit Recht auf unser Vermögen, gewisse Teile der Wahrnehmung stärker, ja fast ausschließlich zu beachten, zurück.

Kann man aber auch die Aufmerksamkeit ausschließlich auf begriffliche Teile richten? Sicher ist, daß dieses auch in gewissem Maße möglich ist, aber so ausschließlich, wie ich beim Anblick eines Menschen z.B. dessen Kopf betrachten kann, vermag ich niemals z.B. bei einem Hause nur die Farbe zu beachten; ich kann lange und aufmerksam den Kopf eines Menschen anschauen, ohne nachher vielleicht zu wissen, wie der ganze Mensch gekleidet war, aber es ist unmöglich, daß ich nach aufmerksamer Betrachtung der Farbe eines Hauses nicht auch des Hauses selbst mich deutlich erinnere.

Daher stimmen wir BERKELEY soweit bei, daß Begriffsteile nicht getrennt vorgestellt, somit keinee selbständigen, abstrakten Vorstellungen gebildet werden können; und wir halten es auch für einen ungemein richtigen Einblick in das Denken des Menschen, wenn BERKELEY der Sprache die Hauptschuld an der Enstehung des Glaubens, es gäbe abstrakte Vorstellungen, zuschreibt und darauf hinweist, daß hinter den allgemeinen Namen eben keine direkt entsprechende Vorstellung stehe, eine Bemerkung, die wir uns weiter unten zunutze machen werden.

Wie erklärt nun aber BERKELEY positiv die allgemeinen Ideen, allgemeinen Namen und ihr gegenseitiges Verhältnis? Hier gebührt MEINONG das Verdienst, auf eine Lücke der BERKELEYschen Theorie hingewiesen zu haben. "Es steht", sagt er,
    "der allgemeine Begriff wie das allgemeine Wort in gleicher Weise denselben partikulären Ideen als deren Zeichen gegenüber. Aber wie verhalten sich allgemeines Wort und allgemeiner Begriff zueinander? Sie sind nicht identisch, denn die allgemeine Idee ist es ja, wie gesagt wurde, ihrer Natur nach den partikulären Ideen gleichartig, die sie vertritt - nicht so das allgemeine Wort. Dieses ist aber auch nicht ein Zeichen für die allgemeine Idee, denn es bezeichnet alle partikulären Vorstellungen derselben Art unterschiedslos."
In der Tat scheinen bei BERKELEY allgemeine Namen und allgemeine Vorstellungen in gar keinem Verhältnisse zueinander zu stehen. Mit Recht weist MEINONG die Deutung KUNO FISCHERs zurück; daß die Worte Zeichen allgemeiner Vorstellungen seien, welche selbst wieder Zeichen für eine Reihe gleichartiger Vorstellungen seien.

Es ist unleugbar, daß bei BERKELEY ebensowohl die allgemeinen Namen wie die allgemeinen Begriffe eine Anzahl partikulärer Ideen bezeichnen. Aber allgemeine Vorstellung und allgemeine Namen stehen diesen partikularen doch nicht so gleich gegenüber, wie MEINONG meint, denn die allgemeine Vorstellung ist ja nach BERKELEYs Ansicht nur gelegentlich allgemein, d.h. wenn sie nämlich andere gleichartige vertritt, was sie aber nicht immer tut, dagegen ist der allgemeine Name seinem Zweck und Wesen nach immer und notwendig allgemein.

Es ist also BERKELEYs Meinung, daß eine bestimmte, partikulare Idee den Allgemeinnamen begleitet, so daß, wenn man z.B. von einem "Baum" redet, jeder sich einen bestimmten Baum vorstellt. In der Tat wird bei einem Gattungsnamen irgend ein der Vorstellung zufällig nahe liegendes Einzelding der Gattung vorgestellt; ich kann mir einen Schimmel, den ich besitze, ebensowohl vorstellen, wenn ich vom "Pferde" rede, wie wenn ich direkt von "meinem Schimmel" spreche.

Aber wie kann ohne große Nachteile für das abstrakte Denken die Vorstellung eines Einzeldinges statt einer allgemeinen Vorstellung eintreten?

Diese Frage übersah BERKELEY, denn er verfiel in dieselbe Unklarheit, wie HOBBES, zu glauben, ein Name könne zweierlei bezeichnen. Er bedenkt nicht, daß, wenn ich mir bei einem Namen eine Einzelvorstellung vorstelle, der Name eigentlich nur diese Vorstellung bezeichnet und nicht zugleich unterschiedslos viele, und daß die Möglichkeit, den Namen auch anderen ähnlichen Vorstellungen beizulegen, eben auf eine besondere Vorstellung des Dinges hinweist.

BERKELEY übersah jedoch diese Folgerung, weil er das Wesen der Allgemeinheit zu oberflächlich auffaßte; freilich bemerkte er im gewissen Sinne richtig, daß die Allgemeinheit nur durch eine Beziehung zustande kommt; aber mit Unrecht glaubt er, dies geschehe durch eine Beziehung zwischen vielen Einzeldingen.

So wäre ein Name, der rein äußerlich wie eine Klammer vielerlei Dinge zusammenfaßte, dadurch noch nicht allgemein, sondern nur kollektiv, aber weil der Allgemeinname, wie wir bei HOBBES sahen, diese Einzeldinge nur insofern zusammenfaßt, als sie gewisse Eigenschaften gemeinsam besitzen, so ist er eben darum allgemein und kann zugleich jedem Einzelding der Gattung beigelegt werden, weil die Eigenschaften, welche er bezeichnet, in jedem Einzelding der Gattung vorhanden sind.

Es liegt also - gewissermaßen gerade umgekehrt als wie BERKELEY glaubte - die allgemeine Geltung des Namens nicht im Namen selbst, sondern in den Einzeldingen begründet, dagegen beruht die allgemeine Geltung der jedesmal vorgestellten partikularen Idee auf dieser selbst, beziehungsweise auf der Art, wie sie vorgestellt wird, weil man in ihr nur die wesentlichen Merkmale besonders beachtet.

Daß BERKELEY dieser Vorgang keineswegs unbekannt war, zeigen einige seiner Bemerkungen, aber er wandte demselben nicht die Beachtung zu, welche derselbe wohl verdiente; und so bleibt denn von der ganzen Theorie BERKELEYs nur der eine Satz bestehen, daß ein Allgemeinname von einer Einzelvorstellung begleitet wird.

§ 13. Endlich erwähnt auch BERKELEY jenen Vergleich des Denkens mit dem Rechnen, welchen wir schon bei HOBBES antrafen, doch findet BERKELEY eine  Ähnlichkeit  beider besonders in dem Gebrauche der Zeichen ohne stete Vergegenwärtigung ihrer Bedeutung.

In der Tat erfolgt beim schnellen Sprechen keineswegs eine vollkommene Vorstellung der Wortbedeutungen; wenige abstrakte Beziehungen, nur die wesentlichsten Züge der Vorstellungen treten hervor; alle Gebildeten und noch mehr die Ungebildeten führen oft allgemeine Urteile und überhaupt stehend gewordene Wortverbindungen rein gewohnheitsmäßig und fast ohne Bedeutungsbewußtsein an.

Daß aber selbst bei den strengsten und schwierigsten Gedankenverbindungen diese Unklarheit der Vorstellungen, dieses Operieren fast mit bloßen Namen ebenfalls meistenteils statthabe, können wir nicht zugeben. Hier scheint vielmehr MaRTY im Rechte zu sein, wenn er ausführt:
    "Die Meinung, man könne beliebig in Worten ohne Anschauungen denken, ist am gefährlichsten gerade auf philosophischem Gebiete. Weil die hierher gehörigen Begriffe in sich selbst schwer faßbar sind, macht sich naturgemäß gerade hier am meisten das Wort neben ihnen breit und ist die Neigung  aus Worten ein System zu bereiten  größer als anderswo.

    Da aber die Terminologie zugleich nirgends weniger exakt und scharf, überhaupt weniger der mathematischen ähnlich ist als gerade im Gebiete der Metaphysik und Psychologie, so ist der Boden für ein symbolisches Denken hier weniger günstig als irgendwo, und nirgends kommt es so sehr darauf an, daß der Forscher die Bedeutung jedes  terminus,  mit dem er umgeht, sich in den konkreten Erfahrungen, aus denen der betreffende Begriff abstrahiert ist, lebendig vergegenwärtige."
LITERATUR: Carl Grube, Über den Nominalismus in der neueren englischen und französischen Philosophie, Halle 1889