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PAUL FERDINAND LINKE
Der Recht der Phänomenologie
[eine Auseinandersetzung mit Theodor Elsenhans]
[1/2]

"Als im zweiten Drittel des vorigen Jahrhunderts der gesunde Menschenverstand gegen die Begriffsdichtungen des absterbenden romantischen intellektualismus zu rebellieren begann, war es das Losungswort Erfahrung, das alle schaffenden Geister zu fruchtbarer wissenschaftlicher Arbeit rief. Wir verdanken dieser Periode unendlich viel: einen Aufschwung der Erfahrungswissenschaften, wie er in der gesamten Geschichte des menschlichen Geisteslebens ohnegleichen ist. Gleichwohl ist die Erkenntnistheorie, die aus diesem Losungswort entsprungen ist, schief und einseitig; ihr Grundgesetz erklärte, alles Wissen überhaupt entstammt bloß der Erfahrung, der Induktion. In jener Zeit des Empirismus bekam das Wort Erfahrung in der Gelehrtensprache jenen eigentümlichen Bedeutungswert, der alles Nicht-empirische gleichsam als ein Übersinnliches, Unmögliches und damit Unvernünftiges brandmarkte, indem man als den Gegensatz der Erfahrung eben jene alten romantischen Begriffsspielereien, jene ausschweifenden Spekulationen verband."

Will man die Bedeutung, die der phänomenologischen Betrachtungsweise für die Philosophie und Psychologie der Gegenwart zukommt, ganz sachlich und ohne Vorurteil zur Geltung bringen, so wird es vielleich gut sein, sich zunächst ein wenig an ihrer Geschichte zu orientieren: denn sie hat eine Geschichte, so jung sie ist.

Es ist nämlich gar nicht ohne Weiteres richtig, das Jahr 1913, in dem das "Jahrbuch" (1) zum ersten Mal erschien, als das Geburtsjahr der Phänomenologie anzusetzen - oder besser und genauer: es ist nur in dem Sinne richtig, in dem man auch das Jahr, in welchem die erste Pädagogik oder die erste Logik geschrieben wurde, als das Geburtsjahr der Erziehungskunst ansehen oder der Wissenschaft ansehen oder in dem man etwa sagen könnte, die Kunst des Gesangs sei durch den ersten Meister, der sie methodisch zu lehren vermochte, ins Leben gerufen worden.

Denn es macht natürlich einen gewaltigen Unterschied aus, eine bestimmte Methode - das Wort im weitesten Sinn genommen - praktisch anzuwenden, implizit zu üben, sogar virtuos zu üben, und andererseits dieselbe Methode explizt herauszuheben, zu begründen, Einsicht in alle ihre Teile zu gewinnen, sie schließlich darzustellen und - als explizite Methode - anderen zu vermitteln. Mit anderen Worten: mag logisch genommen die so gefaßte Methode noch so sehr das Primäre sein, praktisch gilt sicher in weitem Umfang das gerade Gegenteil.

Dabei ist es aber gewiß eine Sache äußerer Zufälligkeiten und deshalb vollkommen gleichgültig, ob - wie meist - der Heraushebende und Darstellende ein anderer ist als der praktisch Ausübende, oder ob beide so zu sagen durch eine Personalunion verbunden sind - wie dies eben für die Phänomenologie zutrifft.

Eins jedoch ist sicher: eine bestimmt geartete Methode - oder, da man mit dem Wort Methode gern die bereits abstraktiv herausgehobene Methode bezeichnet - ein bestimmt geartetes Verfahren ist in dem Augenblick realisiert, in dem es zu ersten Mal angewandt wird - und so ist dann das wahre Geburtsjahr der Phänomenologie das Jahr 1901: das Erscheinungsjahr des zweiten Bandes der "Logischen Untersuchungen" (2).

Fügen wir gleich hinzu: sie war schon damals - wenn sie auch gewiß an tatsächlichem Umfang und noch mehr an Bewußtsein der in ihr liegenden Möglichkeiten inzwischen beträchtlich gewachsen ist - in den eigentlich entscheidenden Punkten die Phänomenologie von heute (3)

Freilich: gesehen wurde sie im allgemeinen noch nicht so, ja man fühlte meist nicht einmal das Besondere und Neue in der methodischen Eigenart der HUSSERLschen Untersuchungen.

Eine kleine Gruppe von Forschern machte allein eine Ausnahme, und es ist sehr bezeichnend, daß diese Gruppe sich der Hauptsache nach aus Schülern von THEODOR LIPPS zusammensetzte und also mit jenem merkwürdigen Mann in engstem geistigen Zusammenhang stand, der sich selbst noch mehr als anderen als ein fanatischer Verfechter der Universalität der empirischen Psychologie und der Methode der Selbstbeobachtung vorkam, während seine bleibenden Leistungen nur aus einer ihm selbst unbewußten, aber gleichwohl ausgeprägt vorhandenen Kampfesstellung gegen diese Methode richtig einzuschätzen sind. Kein Wunder, daß bei den Anhängern dieses Mannes das unmittelbarste Verständnis für die einschneidende Kritik zu finden war, die HUSSERL an den wissenschaftlichen Vorurteilen seiner Zeit geübt hat.

Dabei bot sich aber folgendes Problem dar: mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit hatte HUSSERL bewiesen, daß Logik nicht auf Psychologie gegründet werden kann (4), zugleich aber hatte er doch selber - eben im zweiten Band seiner Untersuchungen - begonnen, dieser Wissenschaft eine eigene Begründung zu geben und zwar anhand von Betrachtungen, die nicht nur im Sinne von LIPPS, sondern auch nach HUSSERLs damaliger eigener und freilich sehr vager Terminologie als psychologische zu gelten hat. Merkwürdigerweise entging damals vielen das ganz Selbstverständliche: daß diese Bezeichnung nur eine Verlegenheitsbezeichnung war und allein sein konnte, ein Ausdruck, der aus der bisherigen Terminologie übernommen war, weil das neue Wort zumindest in der späteren speziellen Bedeutung noch nicht zur Verfügung stand. Wäre es anders gewesen, so hätte ja der Autor dem eigentlichen Sinn und Ziel seiner Untersuchungen selbst entgegengearbeitet, vielmehr: er hätte beides geradezu zerstört.

Trotzdem gibt es auch heute selbst unter denen, die die Unmöglichkeit jeder rein psychologisch fundierten und also "psychologistischen" Logik ganz klar erkannt zu haben scheinen, noch einige, die es nicht widerspruchsvoll finden, Forschungen nach Art der HUSSERLschen für echte empirisch-psychologische zu halten (5).

Welcher Art aber - so lautete nun das Problem - waren diese Forschungen jetzt wirklich? HUSSERL hat bald die Antwort gegeben - freilich zunächst noch nicht öffentlich, sondern in vorsichtiger Zurückhaltung im Kreis seiner Anhänger: und in gemeinsamer Arbeit mit ihnen erwuchs aus mannigfachen Diskussionen der Kern der neuen Lehre, für die allmählich der Name Phänomenologie in Aufnahme kam und die dann erst so viele Jahre später in den gedankenreichen "Ideen" ihres Begründers zu einem literarischen Ausdruck gelangte.

Dabei war es ganz unvermeidlich, daß diese Arbeit um ein gutes Stück mehr wurde als nur eine Darstellung des allen Phänomenologen gemeinsamen Gehaltes der Lehre, denn eine solche würde heute wohl noch keinem der selbst beteiligten Forscher möglich sein; sondern, indem der Autor zugleich in seiner Weise versuchte, diesen Gehalt von letzten Gründen aus zu begreifen, erhielt das Werk zugleih ein stark individuelles Gepräge: d. h. wir erfahren aus ihm vor allen Dingen und in erster Linie, wie HUSSERL die Phänomenologie selbst sieht. Dieses allerdings erfahren wir auf das Genaueste und Gründlichste.

Nun hat aber wiederum gerade HUSSERL selber hervorgehoben, daß die Phänomenologie seiner Darstellung eine anfangende Wissenschaft ist und erst die Zukunft lehren kann, wieviel von den Ergebnissen seiner Analyse sich für immer erhalten wird. Mit anderen Worten: er stellt seine Anregungen so bewußt und ausdrücklich wie möglich zur literarischen Diskussion: die Auseinandersetzungen, die vor dem Erscheinen des Jahrbuhcst nur innerhalb eines kleinen Kreises von Forschern stattfinden konnten,müssen sich nunmehr vor dem Forum der gesament wissenschaftlichen Öffentlichkeit fortsetzen.

Denn die wissenschaftliche Diskussion ist mit dem Wesen der Phänomenologie auf das Engste verknüpft - sie weiß aus ihrer Geschichte, wieviel sie ihr zu danken hat.

Von diesem Gesichtspunkt aus erscheint die klare und gründliche Kritik, die THEODOR ELSENHANS jüngst an der Phänomenologie geübt hat, noch verdienstvoller als sie ohnehin schon wäre (6).

Zugleich mag es das jeder sachlichen Diskussion immanente Bedürfnis nach möglichst vielseitiger Beleuchtung der Probleme rechtfertigen, wenn hier zunächst ein Autor das Wort ergreift, der von empirisch-psychologischen Fragestellungen aus zur Phänomenologie gelangt ist und dessen Stellung darum einem empirischen Forscher gegenüber von vornherein einige Hoffnung auf Verständigung zuläßt.

Natürlich soll damit der prinzipielle Gegensatz der beiderseitigen Standpunkte so, wie sie jetzt bestehen, gewiß nicht verwischt werden: das Gegenteil ist unser Ziel; und deshalb sei hier sogleich mit aller Schärfe der Gedanke formuliert, in dem wir nicht nur den bei weitem wesentlichsten der ganzen in Frage gezogenen Betrachtungsweise erblicken, sondern in dem wir uns zugleich mit HUSSERL vollkommen solidarisch fühlen.

Dieser Gedanke besagt, daß die Phänomenologie nach Aufgabenbereich und Methode als nicht-empirische Disziplin zu gelten hat und daß innerhalb des ihr eigentümlichen irrealen und ideellen Gebietes evidente Einsichten von apodiktischer Gewißheit möglich sind, die sie unter anderem befähigen, auch die Grundlagen der empirischen Psychologie abzugeben.

Es ist eben gerade dieser Gedanke, den ELSENHANS gründlich und mit Entschiedenheit bekämpft hat: es soll aber auch allein die Verteidigung dieses und nur dieses Gedankens sein, auf die es bei den folgenden Ausführungen abgesehen ist. Ich denke, es wird die Übersichtlichkeit und Klarheit unserer Auseinandersetzungen wesentlich erleichtern, wen wir uns gemeinsam vornehmen, alles andere als vorläufig nebensächlich beiseite zu lassen.


I. Was heißt Erfahrung?

ELSENHANS findet einen der unzweifelhaft schwächsten Punkt der Phänomenologie in der Vereinigung zweier Behauptungen:
    "der einen, daß es sich dabei um die Erfassung von Gegebenheiten handelt und der anderen, daß dieses Verfahren selbst doch von jeglicher Erfahrung losgelöst sein soll." (7)
Meiner Meinung nach ist gerade umgekehrt dieser Punkt einer der stärksten in der HUSSERLschen Position, ja noch mehr: er ist der eigentlich starke Punkt der ganzen Phänomenologie der Punkt, an dem ihrer Bedeutung in erster Linie hängt und der zugleich besonders eng mit einem Sachverhalt verknüpft ist, mit dessen klarer Erfassung das Verständnis der neuen Betrachtungsweise steht und fällt.

Denn in diesem fraglichen Punkt liegt die Möglichkeit verankert, einen Jahrhunderte alten verworrenene Sprachgebrauch, der an die Worte Empirie und Erfahrung geknüpft ist, endlich zu überwinden.

Auch außerhalb der HUSSERLschen Schule ist Einsicht in die Verworrenheit dieses Sprachgebrauchs vorhanden und das Bedürfnis nach seiner Überwindung allmählich fühlbar: ich möchte mich dafür auf einen Forscher berufen, dessen wissenschaftliche Vergangenheit - er ist ein Schüler JODLs - ihn gewiß nicht in den Verdacht bringt, von vornherein für die Phänomenologie voreingenommen zu sein und der zudem noch deutlich genug seinen Gegensatz zu HUSSERLs Anschauungen hervorgehoben hat.

In seiner "analytischen Psychologie" betont SCHMIED-KOWARZIK (8) sehr eindringlich, daß die wissenschaftliche Literatur das Wort Erfahrung in zwei ganz verschiedenen Bedeutungen gebraucht: einmal bildet es einfach den Gegensatz zu Spekulation, genauer zu konstruierender, d. h. unwissenschaftlich, unkritisch verfahrender Spekulation, sodann aber heißt es im allein echten Sinn seiner ursprünglichen Bedeutung soviel wie Wirklichkeitserkenntnis aufgrund von Wahrnehmungen und Beobachtungen. Während die erste, weitere Bedeutung gewissen historischen Zufälligkeiten ihre Entstehung verdankt, entspricht die zweite nicht nur allein dem Sprachgebrauch, sondern ist auch wissenschaftlich die einzige, die sich ohne Unzuträglichkeiten durchführen läßt. Nämlich: als im zweiten Drittel des vorigen Jahrhunderts
    "der gesunde Menschenverstand gegen die Begriffsdichtungen des absterbenden romantischen intellektualismus zu rebellieren begann, war es das Losungswort Erfahrung, das alle schaffenden Geister zu fruchtbarer wissenschaftlicher Arbeit rief. Wir verdanken dieser Periode unendlich viel: einen Aufschwung der Erfahrungswissenschaften, wie er in der gesamten Geschichte des menschlichen Geisteslebens ohnegleichen ist. Gleichwohl ist die Erkenntnistheorie, die aus diesem Losungswort entsprungen ist, schief und einseitig; ihr Grundgesetz erklärte, alles Wissen überhaupt entstammt bloß der Erfahrung, der Induktion. In jener Zeit des Empirismus bekam das Wort Erfahrung in der Gelehrtensprache jenen eigentümlichen Bedeutungswert, der alles Nicht-empirische gleichsam als ein Übersinnliches, Unmögliches und damit Unvernünftiges brandmarkte, indem man als den Gegensatz der Erfahrung eben jene alten romantischen Begriffsspielereien, jene ausschweifenden Spekulationen verband."
Im lebendigen deutschen Sprachgebrauch bedeutet Erfahrung dagegen immer und überall
    "ein aus der Fülle der Wirklichkeitsbeobachtungen geschöpftes steigerungsfähiges Wissen: das Alter besitzt gewichtigere Erfahrung als die Jugend, denn es hat mehr erlebt; aber auch wer viel in der Welt herumgekommen ist, gilt als besonders erfahren. Die Erfahrung wächst als mit der Zahl der Wahrnehmungen ... Erfahrungssätze können allemal eingeleitet werden: soviel wir bisher wahrgenommen haben ..."
Mit diesen Ausführungen, in deren letztem Satz - nebenbei ganz den sonstigen Anschauungen des Verfassers entsprechend - ja übrigens KANT zu Wort kommt, ist genau das ausgesprochen, woran auch dem Phänomenologen gelegen ist, wenn er das erfahrungsmäßig Gegebene vom Gegebenen überhaupt abtrennt. Erfahrungsmäßig gegeben ist stets ein "hic et nunc" [hier und jetzt - wp] Vorhandenes, d. h. ein Teil der konkreten udn von uns unmittelbar empirischen Forschers, dergleichen wirkliche Teile oder "Stücke" der Welt, sei es einzeln, sei es als Allgemeinheiten (als Arten und Gattungen) zu erforschen, um sie in immer steigendem Maß genau und, sofern dies ihrer Natur gemäß ist, schließlich durch eine "exakte" Gesetze zu bestimmen.

Um aber solche Bestimmungen möglich zu machen, bedarf es unter allen Umständen der Kenntnis dessen, wodurch bestimmt wird, der Bestimmungsmittel oder, wie man in der bekannten höchst vagen und deshalb unter allen Umständen zu verwerfenden Terminologie sagt, der "Begriffe": auch sie müsen irgendwie "angetroffen werden", müssen irgendwie vorfindlich oder "gegeben" sein: und es ist zumindest nicht von vornherein ausgemacht, daß dieses Gegebene ebenfalls ein erfahrungsmäßig Gegebenes ist, d. h. ein konkretes Stück der wirklichen Welt oder auch ein abstrakter Teil eines solchen als seine Beschaffenheit als Vorgang an ihm, als spezifisch ihm zugehörige Zuständlichkeit.

Denn es ließe sich doch auch sinnvoll sagen, daß ein Gegebenes denkbar wäre, das von Anbeginn, d. h. so genommen, wie es sich, an und für sich und auch für uns, sobald wir es nur eben zu beachten gelernt haben, unmittelbar gibt, gar nicht als ein solches wirkliches Weltstück oder ein an ihm unabtrennbar haftendes Moment, also jedenfalls nicht als reale Tatsache in Betracht käme, sondern als irreal und ideell ("eidetisch" im Sinne HUSSERLs), und daß es nur die gerade ganz überwiegend auf jene realen Tatsachen gerichtete, dem täglichen Leben mit den meisten Wissenschaften gemeinsame Einstellung wäre, welche diese Art Gegebenheit mehr oder weniger verdeckt. Die Überwindung dieser Einstellung und des natürlichen hanges zu ihr wäre dann in erster Linie zu fordern, um für die phänomenologische Betrachtungsweise Platz zu schaffen.

So ist es nun in der Tat: und hat man das einmal erkannt, so hat man auch begriffen, um was es sich bei der Phänomenologie handelt. Freilich, um es zu erkennen, ist zweierlei erforderlich: Man darf sich erstens nicht durch eine einseitige und willkürliche Terminologie die Einsicht dafür verschließen. Man muß sich zweitens und vor allem klar sein, daß die Idee im einem echten Sinn, das "Eidos" HUSSERLs, durch keinerlei "Abstraktion" oder sonst einen "Denkprozeß" aus den realen (physischen oder psychischen) Tatsachen entstehen kann, und daß Ideen dieser Art von Allgemeinheiten empirisch-realer GEgenstände, ja in gewissem Sinn von Allgemeinheiten überhaupt (9) toto coelo [völlig absolut - wp] verschieden sind.

Da beides für ELSENHANS nicht zutrifft, ist es notwendig, des Näheren darauf einzugehen.

Zunächst also: der heutige wissenschaftliche Sprachgebrauch der Worte Empirie und Erfahrung ist alles andere eher als klar und eindeutig. Das war schon der Sinn der Ausführungen SCHMIED-KOWARZIKs: natürlich läßt sich streiten, ob die Konfusion wirklich erst aus dem zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts stammt - meiner Meinung nach ist sie schon um einiges früher anzusetzen -, das aber ist richtig, daß der natürliche Sprachgebrauch (und zwar, wie mir scheinen will, keineswegs bloß der deutsche) diese Unklarheit nicht kennt: für ihn ist "Erfahrungen machen" durchaus nicht soviel wie Erfassen und bewußtes "Haben eines irgendwie Anzutreffenden oder Gegebenen im weitesten Sinne (10), sondern nur das eines hic et nunc Gegebenen - höchstens über den tatsächlichen Gebrauch der Zahl Π, nicht aber über sie selbst lassen sich Erfahrungen machen.


II. "Empirisch" und "Gegeben".
Historisches und Prinzipielles zur Terminologie.

Man wird es nun sicherlich als eine für alle wissenschaftliche Forschung höchst beachtenswerte Regel gelten lassen, niemals ohne Not vom natürlichen Sprachgebrauch abzuweichen. Nur meint man vielleicht, es sei nicht minder bedenklich, eine nun einmal geführte und verbreitete Terminologie wieder abzuändern. Das würde aber doch selbst unter der Voraussetzung wirklicher objektiver Vorzüge dieser Terminologie nur dann richtig sein, wenn sie bewußt und auf Gründe hin eingeführt wäre: in unserem Fall gilt ganz und gar das Gegenteil. Es handelt sich nämlich um eine Nachlässigkeit, die nur deshalb eingerissen ist, weil die direkte Orientierung an den letztenendes maßgeblichen literarischen Quellen nicht mehr genügend gesucht wurde - sehr zum Schaden des philosophischen Sprachgebrauchs. Maßgebend für die literarische Orientierung wird hier aber vor allem der Forscher sein müssen, der das Problem der Erkenntnis zum ersten Mal in entscheidender Weise und mit Gründen, die für die Folgezeit bestimmend wurden, als ein Problem der Erfahrung zu erweisen gesucht hat: JOHN LOCKE.

Auf den ersten Anblick scheint nun freilich gerade die Interpretation der LOCKEschen Anschauungen denen zur Seite zu stehen, die "gegeben überhaupt" mit "erfahrungsmäßig gegeben" terminologisch gleichsetzen. Denn für LOCKE stammt doch eben alles Wissen aus dem erfahrungsmäßig Gegebenen: er erkennt faktisch eine andere Quelle überhaupt nicht an.

So ist es nun allerdings: aber es ist doch leicht zu sehen, daß für eine rein terminologische Frage gerade das keinesfalls in Betracht kommen darf. Denn das Problem der Erkenntnis ist als Problem der Erkenntnisquelle bei LOCKE eine reine quaestio facti. Er sucht zu beweisen, daß für die Gewinnung unserer Erkenntnis tatsächlich keine andere Quelle besteht; er sagt aber keineswegs, daß eine etwaige hypothetisch angenommene "Erkenntnis", die nicht aus dieser Quelle stammt, oder für die die Frage nach ihr ohne Bedeutung wäre, nicht mehr sinnvoll Erkenntnis genannt werden darf. Mit anderen Worten: er ist durchaus nicht der Meinung, daß ein mögliches Vorfindliches, das etwas anderes wäre, als eine in der Weise seiner "Ideen" durch sensation oder reflection vermittelte Bewußtseinstatsache eine Widersinnigkeit einschlösse. Die Art seines Kampfes gegen die angeborenen Ideen wäre sonst ganz unverständlich. Denn überall besteht das Ziel von LOCKEs Vorgehen nur darin zu zeigen, daß solche Ideen und der consensus omnium, der sie charakterisieren soll, tatsächlich nicht vorkommen, genauer: daß die Bewußtseinstatsachen nicht vorkommen, in denen sie vorliegen müßten und aufgrund deren sie beweisbar wären. Bei Kindern und Idioten sind sie nicht aufzufinden und was man seiner Meinung nach sonst noch zur Verteidigung dieser Annahme anführen kann, ist unzulänglich (11).

In ganz analoger Weise wird etwa ein Mineraloge zu zeigen suchen, daß die exakt mathematische Würfelgestalt sich bei keinem einzigen Kristall wirklich vorfindet oder ein Skeptiker der Sittengeschichte, daß es Aufrichtigkeit und selbstlose Nächstenliebe niemals bei den Menschen wirklich gegeben hat. Denn man wird doch wohl nicht behaupten wollen, es sei damit gemeint, daß eine Würfelgestalt, die Aufrichtigkeit oder Nächstenliebe etwas Widersinniges sind. Im Gegenteil: nur weil es sich hier um an und für sich sinnvolle Gegenstände handelt, hat die Leugnung ihres realen Vorkommens für uns überhaupt ein Interesse. Der Sinn aber, nicht das Dasein ist es, woraus der Forscher auf jedem Gebiet ganz naturgemäß terminologisch anknüpft und notwendig anknüpfen muß - mag er sich nun dessen explizit bewußt sein oder nicht. Der Mathematiker bilden den Terminus "Rotationsellipsoid" ganz unabhängig von der Frage, ob ein solches Gebilde irgendwo vorkommt, und genau so ist für die Prägung der Worte Aufrichtigkeit und Nächstenliebe von vornherein nichs anderes entscheiden als nur, daß diese Tugenden vorkommen können - was hier wiederum lediglich einen umschreibenden Ausdruck für die Orientierung am Sinn bedeutet.

Nur sinnlose (genauer sinnwidrige, widersinnige) (12) Worte, nicht aber solche, denen nichts Real-tatsächliches entspricht, müssen aus dem wissenschaftlichen Sprachgebrauch entfernt werden. Hätte LOCKE oder einer seiner Nachfolger den Beweis erbracht, daß ein Gegebenes, das nicht erfahrungsgemäß, d. h. als ein "Wirkliches", als eine singulär-individuelle Tatsache oder gar spezielle Bewußtseinstatsache vorliegt, in der der Tat ein sinnloses Wort ist, dann, aber auch nur dann, bestände das Recht und sogar die Pflicht, den natürlichen Sprachgebrauch im Sinne einer Identifizierung von empirischer Gegebenheit mit Gegebenheit überhaupt zu erweitern.

Nun kann jedoch davon gewiß nicht die Rede sein; ja, es gilt sogar für LOCKEs positive Behauptungen eher das Gegenteil: sofern sich nämlich - wie neuerdings ERNST CASSIRER (13) hervorgehoben hat - bei ihm zumindest Ansätze finden, die die Erfahrung als sensation und reflection in einem gewissen, wenn ich auch selbst schwerlich klar bewußten Gegensatz zur Intuition als der Grundlage des allgemeinen Wissens zu bringen.

Aber es kommt auf LOCKEs Stellung zur Tatsachenfrage überhaupt gar nicht an; denn seine Terminologie, die hier allein interessiert, ist in unserer Frage so eindeutig wie möglich: Erfahrung ist sensation und reflection: in beiden aber liegen direkte und indirekte Wirkungen der "Dinge" auf das Bewußtsein vor und damit singulär-individuelle Bewußtseinstatsachen, unter Umständen vielleicht sogar durch das Bewußtsein zu neuen Bewußtseinstatsachen zusammengefügt, aber darum doch nach wie vor solche Bewußtseinstatsachen bleibend.

Der Erfahrung jedoch steht der Möglichkeit nach ein anderes gegenüber, ein anderes, dessen tatsächliche Unhaltbarkeit freilich der Autor, weil es ihm nur in der Gestalt einer ideae innatae [angeborene Ideen - wp] und noch dazu unter dem Gesichtspunkt einer besonders fragwürdigen Interpretation bekannt war, sehr leicht erweisen konnte, für dessen Sinn und Denkbarkeit aber dadurch noch gar nichts entschieden war. Daß faktisch eine Art und Weise des Erfassens existiert, in welcher ein seinem Wesen nach Außertatsächliches angetroffen wird oder gegeben ist, behauptet der Gegner LOCKEs, während er selbst es verneint. Beide rechnen aber mit einem solchen Gegebensein als einer diskutablen und sinnvollen Möglichkeit.

Man kann nicht sagen, daß sich bei den Nachfolgern LOCKEs die Sachlage wesentlich geändert hätte: nur wird eben die Leugnung des faktischen Bestehens eines nicht-empirisch Gegebenen immer selbstverständlicher - aber doch gewiß nur in dem Sinne, in welchem etwa einer in atheistischen Gedankengängen aufgewachsenen Generation die Leugnung des Daseins Gottes immer selbstverständlicher wird: und das ist natürlich an und für sich etwas ganz anderes, als wenn jemand den Begriff "Gott" für widersinnig hält und also den Gebrauch des entsprechenden Wortes terminologisch unzulässig findet. Natürlich fehlt sehr häufig die klare Einsicht in die Voraussetzungen der eigenen Terminologie, und sie sind ja auch in der Tat durchaus nicht leicht zu erringen, zumal für den Empiristen selber: denn die für jede Art Empirismus besonders charakteristische Tendenz besteht ja gerade darin, die Frage nach dem Sinn durch die Tatsachenfrage zu verdrängen: die quaestio facti dominiert und sucht an die Stelle anderer Fragen zu treten, von denen die kantische quaestio juris nur ein Beispiel bildet. Damit ist aber gerade die Quelle verschüttet, die für alle terminologische Orientierung die allein maßgebende sein kann: in der Tat wurde sie verschüttet und als ganz natürliche Folge mußte nun die oben erwähnte Nachlässigkeit entstehen, die - bei dem gewaltigen Einfluß des Empirismus gewiß begreiflich - zu jener beklagenswerten Verdrängung des gesunden Sprachgebrauchs geführt hat, die bis heute in der Wissenschaft Verwirrung stiftet.

Allerdings sagen wir hier mit dem Wort Wissenschaft vielleicht doch ein wenig zuviel: es darf im Grunde nur heißen: in der Philosophie und Psychologie und überhaupt überall da, wo man Anlaß hat, Theorien über die Wissenschaften zu bilden. Innerhalb des praktischen Betriebes der Einzelwissenschaften sind die fraglichen Schädigungen, wenn sie überhaupt vorhanden waren, wohl nie sehr grob hervorgetreten: kein theoretisch unvoreingenommener Arithmetiker wird, auch wenn er sich, wie seine Wissenschaft das oft genug erfordert, in Induktionen bewegen, darum die Meinung haben, daß er Beobachtungen oder sonstwie Erfahrungen macht und sich also in die wissenschaftliche Schicht etwa der Chemie, der Biologie oder der Geschichte begeben hat, während wiederum der Vertreter dieser Wissenschaften, selbst wo er deduktiv verfährt, die empirischen Grundlagen seiner Forschungen nicht vergessen wird.

Auch hier also bedeutet Empirie eine ganz bestimmte Art des wissenschaftlichen Verfahrens, nicht aber jedes (oder doch jedes nicht-deduktive) wissenschaftliche Verfahren überhaupt.

Allerdings pflegt man sich nun in der Regel so radikal nicht zu gerieren [in gewisser Weise aufzutreten - wp]: man erkennt vielmehr meist den nicht-empirischen Charakter einiger Wissenschaften wie vor allem der Mathematik bereitwillig an, sieht ihn aber, wie dies auch ELSENHANS in vermeintlich strengem Anschluß an KANT tut, nicht im "Gegebenen", sondern in etwas, das man glaubt, zu allem Gegebenen in einen Gegensatz bringen zu können, wie etwa die Form oder "die Verbindung einer synthetischen Funktion mit der Anschauung". (14) Als ob nicht auch diese Verbindung und diese Funktion, da wir ja doch von ihr Bestimmtes wissen und es in gültigen Aussagen niederlegen können, für uns irgendwie vorhanden, irgendwie auffindbar oder vorfindlich sein müßte.

Nimmt man also das Wort "gegeben" in dem weiten Sinn, in dem der Phänomenologe es nun einmal nimmt und zu nehmen ein Recht hat, so muß durchaus gesagt werden, daß auch das Moment, das den nicht-empirischen Charakter der Mathematik ausmacht, als gegeben zu gelten hat.

Oder will man doch auch das Recht dieses Wortgebrauchs ernsthaft in Frage stellen? Das wäre allerdings eine neue Nuance des Streites: denn, was wir bis jetzt zu zeigen suchten, war ja nur: daß es durchaus im Sinne einer jeden vernünftigen Terminologie gelegen ist, von einem nicht-empirisch, nicht erfahrungsgemäß Vorfindlichen zu reden - nunmehr denken wir uns dem auch noch die Behauptung entgegengestellt: es dürfe das so Vorfindliche auf keinen Fall ein Gegebenes genannt werden.

Es handelt sich also wiederum um eine rein terminologische Angelegenheit: sobald wir aber nur eben, wie das unsere Betrachtung fordert, diesen terminologischen Gesichtspunkt allein gelten lassen, müssen wir auch hier hervorheben, daß es nirgends eine wissenschaftliche Tradition gibt, die verbietet, das Wort "gegeben" im Sinne von "vorfindlich überhaupt" zu gebrauchen und damit die Wortverbindung "empirisch gegeben" für etwas Anderes und Wichtigeres anzusehen als bloß eine pleonastischen [mit einem anderen Wort dasselbe sagen - wp] Ausdruck.

Auch KANT, der freilich dazu neigt, vom Gegebenen ausschließlich im Sinne eines empirisch Gegebenen zu reden, hat doch zunächst ausdrücklich hervorgehoben, daß er es außer auf wirkliche, auch auf eine mögliche Erfahrung bezieht (15), sodann aber zeigen manche seiner Sätze, daß es ihm prinzipiell - wohlgemerkt: wir sprechen nur vom Terminologischen - durchaus auch in einem anderen und weiteren Sinn verwendbar erscheint (16). Schon die einfache Tatsache, daß KANT zumeist und z. B. auch an der von ELSENHANS selbst herangezogenen Stelle (17) vom empirisch Gegebenen redet statt von einem Gegebenen schlechthin, beweist meines Erachtens aufs Beste, daß für ihn beides durchaus nicht per definitionem identisch ist: denn es wird doch wohl auch sonst niemandem einfallen, beispielsweise in Quadrat, sobald es einmal als gleichseitig definiert ist, noch späterhin expressis verbis als "gleichseitig" oder gar pleonastisch als "gleichseitiges Quadrat" zu bezeichnen.

Man sagt vielleicht, es sei nicht richtig, bei KANT gerade die Terminologie so sehr auf die Goldwaage zu legen: denn man wisse doch zur Genüge, daß der Mangel eindeutiger Termini eine nicht wegzuleugnende Schwäche des großen Mannes bedeutet. Das ist nun wohl freilich richtig - dann aber sollte man sich eben terminologisch überhaupt nicht auf KANT berufen.

Und sachlich? Sachlich genommen kennt KANT nun ganz gewiß ein "Gegebenes" nicht-empirischer Art in unserem weiten Sinn aufs Beste: denn er nimmt sein a priori nicht nur unzweifelhaft in der Bedeutung von etwas, worüber sich gültige Aussagen machen lassen, sondern er spricht auch ausdrücklich und ohne Vorbehalt von einem Angetroffenwerden der reinen, nicht-empirischen Anschauung (18).

Natürlich denken wir nicht daran, nun etwa das nicht-empirisch Gegebene im phänomenologischen Sinn genau mit dem a priori der transzendentalen Ästhetik zu identifizieren oder auch nur auf die gleiche Stufe zu stellen. Das nicht-empirisch Gegebene der Phänomenologie scheint uns ein bedeuten weiterer Begriff zu sein als das a priori der reinen Anschauung und das kantisch Apriori überhaupt.

Das hindert nun allerdings nicht, daß zwischen beiden höchst wichtige Beziehungen bestehen: und es ist eine bedeutsame und zugleich dringende Aufgabe, im Einzelnen diesen Beziehungen nachzugehen (19) - wie wir auch überhaupt der Meinung sind, daß sich die phänomenologische Betrachtungsweise nicht nur mit vielen der fruchtbarsten und wertvollsten Gedanken der kantischen Philosophie auf das Beste verträgt, sondern daß sie sogar befähigt ist, diese Gedanken, wenn auch zum Teil von anderen Voraussetzungen aus, eine neue und vertieftere Grundlage zu geben. Ohne Verschiebungen in den herrschenden Ansichten - und sicherlich oft selbst sehr wesentliche Verschiebungen - wird es dabei freilich nicht abgehen: aber nur der wissenschaftliche Philister, der sich einredet, allein und endgültig im Besitz der Wahrheit zu sein, könnte am Ende das anders wünschen wollen (20).

Aus diesem Grund wird es aber in jedem Fall gut ssein, die Phänomenologie nicht von vornherein mit einer kantisch gefärbter Brille zu betrachten, sondern sich zu bemühen, sie zunächst schlicht-sachlich als das zu nehmen, was sie nach Methode und Aufgabe allein sein will: als Phänomenologie.


III. Die falschen Abstraktionstheorien
und die Allgemeinheit der Idee
(21)

Wir kommen zum zweiten, ungleich wesentlicheren Punkte: man verschließt sich den Zugang zur Phänomenologie vor allem durch falsche empirische Abstraktionstheorien.

Bekanntlich ist es das Ziel dieser Theorien, das Allgemeine dadurch verständlich zu machen, daß man es als ein irgendwie modifiziertes empirisch Einzelnes zu begreifen sucht: daß man es als mit anderen Worten seinem eigentlichen Wesen nach für nichtig erklärt. Während für den Phänomenologen alles Allgemeine im Eidetisch-Ideellen gründet, beruth es für den Empiriker auf singulär-individuellen Tatsachen und genauer Bewußtseinstatsachen: ja es entsteht sogar genetisch aus ihnen - durch einen besonderen "Verallgemeinerungsprozeß". (22)

Man hält also zunächst an der alten LOCKEschen Ansicht fest, nach der alles, was existiert, allein als Einzeltatsache, als singulär-individuelles Etwas existieren kann (23), während das, was wir allgemein nennen, diesen Charakter nur dadurch erhält, daß es erstens auf dem Gebiet der - ansich natürlich ebenfalls singulär-individuellen - "Vorstellungen" angehört und daß zweitens diese Vorstellungen durch eine Heraushebung und ausschließliche Beachtung der mehreren von ihnen gemeinsamen Bestandteile (24) befähigt werden, die singulär-individuellen Gegenstände zu allgemeinen Gruppen (as it were in bundles) zusammenfassen. (25)

Diese LOCKEschen Gedanken pflegen dann mehr oder weniger mit der BERKELEY-HUMEschen Repräsentationstheorie, die ja im Grunde selbst nur eine kritische Fortsetzung LOCKEs ist, vereinigt und anhand von Ergebnissen der modernen Psychologie erläutert zu werden.


A. Die Verschwommenheitstheorie

Hören wir hierüber unseren Autor selbst.
    "Die Beobachtung ergibt zunächst" - so lesen wir in seinem Lehrbuch der Psychologie (26) -, "daß zumindest als repräsentierende Einzelvorstellung nicht irgendeine völlig bestimmte, auf einen individuellen Gegenstand bezügliche Vorstellung dient, sondern daß dieselbe immer von einer auffallenden Unbestimmtheit ist ... Ist das frische Erlebnis der Wahrnehmung selbst vorüber, so beginnen die Züge des Bildes bereits undeutlicher zu werden, und darin liegt schon ein erster Keim der Verallgemeinerung. Je größer der Abstand von der Wahrnehmung, desto weiter geht dieses Verblassen, und wenn nicht erneute Wahrnehmung das Gedächtnis unterstützt, so machen es nur die Hilfsmittel der Sprache und des Denkens möglich, die individuellen Unterschiede festzuhalten. Der hierin liegende Faktor der Verallgemeinerung läßt sich daher auch besonders da beobachten, wo Sprache und Denken noch wenig entwickelt sind, beim Kind und beim Naturvolk. Was dem Kind beim Beginn des Sprechenlernens vom einzelnen gesehenen Objekt haften bleibt, kann nur ein rohes und verwaschendes Abbild des Dings sein, in welchem nur die hervorstechendsten Züge, wie in einer rohen Zeichnung erscheinen; sodaß wir meist gar nicht wissen können, welches Bkld jetzt das Kind eigentlich mit dem gehörten Wort verknüpft hst."
Demnach läge also die Allgemeinheit in der Unbestimmtheit und dem (wie an derselben Stelle noch ausdrücklich gesagt wird) in der Unbestimmtheit sich aussprechenden Verlust an individueller Abgrenzung. Diese Unbestimmtheit wird nun weiter als Unbestimmtheit der Vorstellungen bezeichnet: indessen, wie alle Worte auf -ung, (27) ist das Wort Vorstellung mehrdeutig: es kann bekanntlich sehr vieles besagen, zumindest aber zweierlei: erstens das Vorgestellte, den vorgestellten Gegenstand, zweitens aber die Änderung des Bewußtseinszustandes, des erlebenden Subjekts, welche dadurch vor sich geht, daß das Gegebensein des betreffenden Gegenstandes irgendwann einmal stattfindet, d. h. also den Akt oder das Erlebnis des Vorstellens. Welches von beiden ist gemeint? Der Akt? Aber es gibt keinen rechten Sinn von einem Verblassen und gar von einem Mangel an individueller Abgrenzung beim Vorstellungsakt der Rose zu reden: eher gilt dies von der Rose selbst. Aber auch sie steht schwerlich als wirkliche Rose in Frage, sondern höchstens als "bloß" vorgestellte Rose, ohne Rücksicht auf ein möglicherweise vorhandenes reales Korrelat. Das wäre nun offenbar noch etwas sehr wesentlich anderes als ein etwaiges Vorstellungsbild: denn ein Bild würde natürlicherweise gerade das Bestehen eines solchen Korrelates voraussetzen, zudem es noch außerdem in der besonderen Beziehung stehen müßte, die wir eben durch die Worte "abbilden" und "Bild sein" bezeichnen. Indessen scheint nun gerade dieses - wie wir später (28) noch sehen werden - außerordentlich mystische Vorstellungsbild dem Wortlaut nach die Bedeutung des Wortes Vorstellung abzugeben, die dem Autor in erster Linie vorschwebt: denn er spricht mehrfach ausdrücklich von Bildern. Und doch kann man daran wiederum irre werden: denn, da dem Bild die Beziehung auf das - ganz gleich, ob wirkliche oder nicht wirkliche - abgebildete Objekt wesentlich ist, so muß auch das Bild, dem funktional Allgemeinheit zukommt, durch diese Beziehung gekennzeichnet sein; nur eben geht sie nicht auf ein einzelnes Objekt, sondern auf eine Gruppe von solchen: auf eine Art oder Gattung "gleicher" Objekte. Das heißt aber: die "abbildende", repräsentierende Funktion muß sich im Falle all dessen, was Verallgemeinerung genannt werden kann, erweitern: gerade von dem Gesichtspunkt aus, von dem die fragliche Theorie das Problem des Allgemeinen sieht, ist zu fordern, daß das Bild nicht nur ein einzelnes Objekt darstellt, sondern deren mehrere, und daß wir ihnen dieses anmerken. Uns scheint aber, daß das Verblassen und Unbestimmtwerden des Bildes dazu nicht das mindeste leistet. Gewiß, man kan sagen: das Vorstellungsbild verliert, wie eben andere Bilder auch, mit der Zeit an Deutlichkeit und damit an individueller Abgrenzung: worauf es aber allein ankommt, ist doch der Verlust der Individualität: der aber hat mit dem Verlust individueller Abgrenzung gerade so viel und so wenig zu tun, wie etwa der Verlust der nationalen Abgrenzung mit dem der Nationalität. Der Kurzsichtige sieht die Bäume des nahen Waldes verschwommen: der einzelne Baum ist nicht scharf von seiner Umgebung (z. B. dem benachbarten Baum) abgegrenzt: er hat aber damit gewiß nicht an Individualität verloren, es sist nicht etwas Nicht-Individuelles an die Stelle eines Individuellen getreten. Natürlich gilt dasselbe von Bildern jeder Art. Ein Bild mit sehr verschwommenen Konturen ist doch in jedem Fall immer noch die Darstellung von etwas Individuellem - nur daß sich vielleicht nicht genau feststellen läßt, welches jeweils das Individuelle ist und wo das eine Dargestellte aufhört und das andere beginnt. Vielleicht ist die Verschwommenheit so groß, daß ich überhaupt nichts Bestimmtes dargestellt zu finden vermag - ich nehme nur Farbenkleckse wahr: dann aber hat das "Bild" natürlich auch aufgehört, ein Bild zu sein, allgemein oder ideell geworden ist es auch jetzt noch nicht: denn die Farbenkleckse sind nicht weniger individuell, sind jedes für sich ein einzelnes, in der Zeit dauerndes Etwas, und dasselbe gilt natürlich von dem Untergrund, auf dem sie sich befinden.

Und ferner: auch von einer ganz und gar verschwommenen "Vorstellung", von einer Vorstellung, der jede nur denkbare "individuelle" Bestimmtheit fehlt, kann ich doch wieder verallgemeinern reden: ja, ich tue es gerade jetzt, indem ich doch von einer solchen Vorstellung überhaupt, nicht von dieser oder jener einzelnen rede. Wie wird nun ihre Verallgemeinerung erreicht? Durch eine Verschwommenheit höherer Ordnung? Ich sehe keinen anderen Ausweg.

Es gibt eben überhaupt keinen Ausweg aus einer Theorie, die allen Ernstes, um mit ERNST CASSIRER (29) zu reden, "die glückliche Gabe des Vergessens" zur Grundlage der Lehre von den allgemeinen Gegenständen macht: sie ist so ungeeignet wie möglich, die wahre Natur des Allgemeinen und Ideellen und die wichtige Rolle, die es in allem geistigen Leben spielt, verständlich machen, und führt - was speziell das Denken betrifft - in der Tat "zu dem seltsamen Ergebnis, daß alle logische Arbeit, die wir an die gegebene Anschauung wenden, nur dazu dient, sie uns mehr und mehr zu entfremden. Statt zu einer tieferen Erfassung ihres Gehaltes und ihrer Struktur würden wir nur zu einem oberflächlichen Schema kommen, in welchem alle eigentümlichen Züge des besonderen Falles ausgelöscht waren." (30)


B. Die Verdichtungstheorie und die
Theorie der Aufmerksamkeit.

ELSENHANS hat jedoch noch eine zweite Theorie, der Verallgemeinerung, die ganz anders orientiert ist, wenn er sie auch nur als ein bloßes weiteres "Moment im Verallgemeinerungsprozeß der Vorstellungen" einführt, nämlich:
    "die zunehmende Verstärkung (Verdichtung) der gleichen, und die zunehmende Abschwächung der ungleichen Einzelmerkmale der vorgestellten Objekte bei wiederholter Wahrnehmung, ein Vorgang, den wir uns am einfachsten veranschaulichen können an der sogenannten Durchschnittsfotografie. Die Gesichter einer Kompanie Soldaten, die demselben Volksstamm angehören, werden nacheinander auf dieselbe Platte fotografiert, so daß die Umrisse sich möglichst decken. Im dadurch entstehenden Durchschnittsbild sind die gemeinsamen Züge erhalten, die individuellen Verschiedenheiten ausgelöscht."
Ohne Zweifel hat diese Theorie einen Vorzug vor der ersten: die vorstellende Funktion ist jetzt von vornherein mit einer Gruppe von Einzelgegenständen in Beziehung gebracht, das "allgemeine" Vorstellungsbild tritt als Summationsphänomen auf: es stellt die Gesamtheit der Merkmale dar, in denen mehrere Individuen einander gleich sind. Dabei haben wir hier unter Vorstellungsbild ganz offenbar selbst ein vorgestelltes Individuum zu verstehen, nur eben ein typisches Individuum, typisch für eine Anzahl anderer, die es "repräsentiert" und dadurch miteinander zu einer Einheit verbindet.

Man sieht, es sind hauptsächlich LOCKEsche Gedanken, an welche diese Lehre anknüpft. Aber es kommt auch BERKELEY in Betracht.

Zunächst freilich liegt es nahe, BERKELEY dagegen in Anspruch zu nehmen. Denn da das Allgemeine, wie es nun einmal besteht und jedermann bekannt ist, ganz offenbar sehr oft die Vereinigung von Merkmalen verlangt, denen es wesentlich ist, an einem konkreten Individuum nicht zusammen vorhanden zu sein, so ergeben sich notwendig Widersprüche, wenn wir das Wesen des Allgemeinen nun doch in einem, sei es auch noch so "typischen" repräsentierenden Individuum dieser Art ausgedrückt sehen sollen. Auch der Soldat, als Allgemeinheit genommen, ist doch schließlich bald blond, bald braun, bald schwarz und nicht ein Mittleres von allen dreien, wie es die Durchschnittsfotografie aufweist: er steht also mit dem allgemeinen Dreieck ganz auf gleicher Stufe.

ELSENHANS wird die Berechtigung dieses Einwands anerkennen, und wohl vor allem, um ihm zu begegnen, spricht er noch von einem dritten "Faktor der Verallgemeinerung": der Heraushebung einzelner Merkmale durch Interesse und Aufmerksamkeit. Ich kann die einzelnen Soldaten nur hinsichtlich der Merkmale betrachten, die nicht von Individuum zu Individuum differieren: auch von ihnen übermittelt mir die jeweilige Wahrnehmung
gewisse einzelne, unter sich doch nicht ganz gleiche Bilder: auch sie werden sich summieren und dabei ebenfalls das in ihnen Gleiche verstärken, das Ungleiche abschwächen. So wird auch hier die Aufnahme in die Gemeinvorstellung möglich:
    "die Auswahl durch Aufmerksamkeit und Interesse beschränkt nur von Anfang an den ganzen Prozeß auf gewisse Bestandteile der Einzelvorstellungen".
Demnach haben wir nach ELSENHANS den eigentlichen Faktor der Verallgemeinerung offenbar in dem zweiten Moment zu erblicken: im Typisierungsprozeß. Und es ist wahr: falls dies richtig ist, verschlägt auch der vom Autor ausdrücklich angeführte Einwand HUSSERLs nichts: das ausschließliche Achten auf ein bestimmtes Merkmal hebt die Individualität des Beachteten nicht auf. Gewiß! solange sie überhaupt noch da ist; ist sie aber erst einmal beseitigt - wie dies ja eben durch den fraglichen Typisierungsprozeß geschehen soll - dann wird man natürlich auch der Beachtung einzelner Merkmale eine Bedeutung für die Verallgemeinerung überhaupt (die leistet der Typisierungsprozeß!), wohl aber für das Zustandekommen dieses oder jenes speziellen Allgemeinen, das sonst problematisch bleiben würde.


C. Das "erste Allgemeine. Lotzes Irrtum.
Gleichheit in Identität fundiert.

Deshalb ist die Frage, an der jetzt ganz allein gelegen ist, diese: ob der Typisierungsprozeß oder irgendein anderer ihm analog gedachter Vorgang wirklich imstande ist, diese Verallgemeinerung begreiflich zu machen. Ehe man jedoch versucht, hierauf eine Antwort zu geben, wird man sich darüber klar werden müssen, was eigentlich dasjenige ist, zu dem wir das Allgemeine in einen Gegensatz bringen und auf das sich also der Verallgemeinerungsprozeß erstrecken würde. Wir nannten es das Tatsächliche und meinten damit das in einem prägnanten Sinn Tatsächliche: das Singulär-Individuelle.

Es kommt nun aber, wenn man das Problem des Allgemeinen richtig sehen will, alles darauf an, daß man nicht Momente, die in Wahrheit für das Allgemeine wesentlich sind, schon unversehens in die Beispiele mit hinein nimmt, an denen man sich gerade die Eigenart des Individuellen und Tatsächlichen klar machen will.

Die Sprache erschwert es uns hier ganz außerordentlich zur Klarheit zu kommen. Wenn etwa der Ausdruck vorliegt: "diese bestimmte Rotschattierung, wie ich sie an dem soeben von mir benutzten Löschblatt vorfinde". Wie leicht werde ich verleitet, in ihm ein unzweideutiges und ganz typisches Beispiel repräsentiert zu finden für etwas, das jeglichem Allgemeinen auf das Handgreiflichste entgegengesetzt ist - ein gefährlicher Irrtum!

Kein geringerer aber als LOTZE ist diesem Irrtum verfallen, wenn ihn auch seine starken logischen Interessen bewahrt haben, darüber zu einem Anhänger der üblichen empiristischen Abstraktionstheorien zu werden.

LOTZE kennt als "erstes" Allgemeines (31) bekanntlich erst das auch schon von der Sprache allgemein genannte Rot, Süß und Warm überhaupt, das er zum Vergleichen in eine wesentliche Beziehung bringt und dem er ganz ausdrücklich die besondere Schattierung der Röte, die einzelne Eigenart der Süßigkeit und den bestimmten Grad der Wärme gegenüberstellt.

Das ist nun offenbar falsch. Die große Kluft, die Individuelles und Nicht-Individuelles scheidet, findet sich schon früher und hat mit der Tatsache des Vergleichens im Grunde garnichts zu tun. Das, was die Worte "diese bestimmte Rotnuance" besagen, ist bereits allgemein oder, wie wir besser und weniger mißverständlich sagen müssen: ideell.

Das kann die Sprache immerhin einigermaßen verdeutlichen: ich kann etwa von der Rotnuance an diesem meinem Löschblatt reden, und werde dann wohl zumeist auf ein echtes individuelles Rot gerichtet sein (32), auf die Rotnuance als Beschaffenheit dieses einen einmal in der Welt vorhandenen Löschblatts, die ein "Moment" an ihm und nur an ihm ist. Sie nimmt, so wie sie ist teil an allen Schicksalen des Blattes: sollte es etwa verbrennen, so wird alles, was ihm an Eigenschaften in diesem Sinn zukommt, vernichtet sein: seine Gestalt, seine Größe, seine Farbe - d. h. also auch die bewußte Rotnuance.

Oder aber ich rede von dem Rot, welches wie dieses ist, das jetzt an meinem Löschblatt vorliegt, von der Rotnuance, wie diese hier, und unterstreiche dabei das Wie. Nunmehr ist diese Farbe, so vielfältig sie auch bestimmt und so unmittelbar anschaulich sie auch vorliegen mag, nicht mehr als ein Individuelles gemeint: sondern sie ist ganz im Gegenteil vielmehr gerade das, was dieses eine Löschblatt mit vielen seinesgleichen gemeinsam haben kann und oft auch wirklich hat - gleicht jetzt hole ich aus dem Kasten meines Schreibtisches noch drei andere Blätter hervor, die genau ebenso gefärbt sind, d. h. also doch wohl: die dieselbe Farbe "haben". Von Gestalt, Größe und allen sonstigen Eigenschaften könnte selbstverständlich das ganz Entsprechende in Frage kommen.

Man darf darauf nicht erwidern, es sei hier in Wahrheit nicht Identität gemeint, sondern Gleichheit. Denn Gleichheit "ist" Identität, d. h. sie schließt immer und notwendig Identität ein. Gleichheit ist eine Relation und bezieht sich wie jede Relation auf mehrere Glieder: gleich sind verschiedene Gegenstände in einer gewissen Hinsicht, genauer gesagt: sie sind gleich oder stimmen überein in oder in Bezug auf etwas: das Etwas, worin sie gleich sind, ist ihnen - in einer bestimmten Weise genommen - gemeinsam, es ist für sie als ein und dasselbe vorhanden.

Und diese Gemeinsamkeit und Identität bedeutet hier nichts anderes als sonst auch und als das sie z. B. in der Rede von zwei Häusern, die die Zwischenmauer, zwei Grundstücken, die den Besitzer, zwei Ländern, die den König oder die Regierung gemeinsam haben, für jedermann deutlich hervortritt. Der Unterschied ist nur, daß es in unserem Fall "Merkmale" oder richtiger unselbständige Momente, abstrakte Teile sind (oder doch zunächst zu sein scheinen), von denen eine Gemeinsamkeit ausgesagt wird. Ausgesagt aber wird sie ohne allen Zweifel: es ist einfach widersinnig, von einer Gleichheit zu reden, die nicht die Gemeinsamkeit eines "Momentes" oder auch einer einheitlichen Gruppe von Momenten voraussetzt. Was sollte es auch heißen, von zwei Menschen, zwei Bergen, zwei Büchern oder zwei anderen individuellen Gegenständen schlechthin und ohne nähere Angabe zu sagen: sie sind gleich? Ich muß doch wohl hinzufügen, ob sie in ihrer Gestalt, ihrer Größe, ihrer Farbe oder sonstwelchen Eigenschaften oder Eigenschaftsgruppen gleich sind: und ich habe dann ein Recht zu behaupten, daß sie etwa, wie die bewußten Löschblätter, im Hinblick auf ihre Farbe genau übereinstimmen, wenn sie, was eben die Farbe anbelangt, in ganz derselben Weise bestimmt, durch dieselbe am wahrgenommenen Gegenstand selbst erschaubare Eigenschaft charakterisiert sind: durch diese eine gerade so beschaffene Rotnuance.

Nun sieht man aber sofort: die Eigenschaften oder Momente, von denen hier eine Gemeinsamkeit ausgesagt wird, können unmöglich mit den am individuellen Gegenstand individuell vorhandenen Momenten zusammenfallen. Diese individuellen Momente sind etwas, das als Zweiheit, Dreiheit, Vierheit usw. vorliegt: die zwei, drei, vier tatsächlich vorhandenen Farben sind zwei Farbindividuen, die wohl gleich sein können, aber nicht identisch, die aber, sofern sie gleich sind, die Identität der einen nicht-individuellen Farbbestimmung voraussetzen, die ihnen beiden gemeinsam ist (33). Offenbar haben wir in dergleichen nicht-individuellen Bestimmungen oder Momenten das allein echte "erste" Allgemeine vor uns, dasjenige, worin alles, was sonst allgemein genannt wird, gründet: das Ideelle. Ihm steht das Zeitlich-Einmalige gegenüber, das, dem es wesentlich ist, irgendwann in der Zeit festzuliegen, während bei allem Ideellen feste zeitliche Bestimmungen (da diese es ja offenbar zu einem Einmaligen machen und so in seinem Wesen vernichten würden) von vornherein widersinnig sind: die Rotnuance, die mehreren roten Individuen als ideelle Bestimmung gemeinsam sein kann, läßt sich ebensowenig als entstehend und vergehend denken wie die Zahl Π oder die Wahrheit (34).

Man sieht jetzt deutlich, was jede Theorie der Verallgemeinerung eigentlich leisten muß: sie hat, ausgehend vom Individuellen zu zeigen, wie es zu überwinden ist; die Kluft, die das Individuell-Einmalige, das Zeitlich-Tatsächliche vom Nicht-Individuellen, "Zeitlos"-Ideellen trennt, gilt es zu überbrücken.

Muß noch ausdrücklich gesagt werden, daß der fragliche Typisierungsprozeß dieser Aufgabe nicht gewachsen ist? Nur wer die "Allgemeinheit" des Typus, des Durchschnittsindividuums mit der echten Allgemeinheit der Idee, die viel besser überhaupt Idealität genannt wird, verwechselt, kann dieser Meinung sein. Denn das Durchschnittsindividuum ist natürlich ebensogut Individuum wie jedes nicht-durchschnittliche individuelle Etwas. Dabei macht es nichts, ob ich es mir als "Bild" denke oder nicht. Das Bild ist sogar in einem doppelten Sinn individuell: erstens sofern es ein Individuum darstellt oder eine natürlich ebenfalls individuelle Mehrheit von Individuen, zweitens, sofern es als dieses eine bestimmte Bild der Welt des individuellen Daseins angehört.

Das durchschnittliche und - was ja keineswegs zusammen zu fallen braucht - das normale (35) typische Individuum können allerdings insofern allgemein genannt werden, als sie die Eigenschaften einer Reihe unter sich mehr oder weniger ähnlicher Individuen mit einander vereinen: nur ist diese Vereinigung von Eigenschaften etwas, das nur durch eine ganz sekundäre Beziehung mit unserer logisch und überhaupt philosophisch grundlegend wichtigen Allgemeinheit im Sinne der Idee etwas zu tun hat. Denn die Vereinigung einer Mehrheit von Eigenschaften durch Zusammenfassung und Vergleichung gehört gar nicht wesentlich zur Idee, zum Eidos, zur ideellen "Eigenschaft" oder "Bestimmung", wie wir es genannt hatten. Nicht diese Vereinigung, sondern die Unmöglichkeit, Prädikate, die ein zeitliches Festliegen voraussetzen, sinnvoll auf sie anzuwenden, ist das wahre Kennzeichen aller ideellen Bestimmungen wie auch aller Kombinationen von ihnen, d. h. aller Ideen überhaupt und so der Wurzel all dessen, was in einem philosophisch relevanten Sinn allein den Namen eines Allgemeinen führen darf.

Sehr deutlich zeigt sich das schon darin, daß eine Vereinigung von Eigenschaften oft genug das gerade Gegenteil einer Verallgemeinerung bedeutet: das Quadrat z. B. ist offenbar die Vereinigung des gleichseitigen und des rechtwinkligen Parallelogramms, aber gerade darum weniger allgemein als jede einzelne dieser geometrischen Ideen.

Vor allem aber haben unsere Betrachtungen selbst ergeben, daß der Weg, der zum Ideellen führt, überhaupt nicht der der Vereinigung und Vergleichung ist. Mein Löschblatt ist durch die bewußte Rotnuance ideel bestimmt und bleibt es, ganz gleich, ob noch andere Löschblätter oder sonstige Gegenstände, die sich durch dieselbe Bestimmung auszeichnen, irgendwann und irgendwo vorhanden sind oder nicht. Genauso, wie die später gemeinsame Mauer der beiden Häuser schon bestehen kann, ehe das zweite Haus gebaut ist, genauso bedarf es auch für die später gemeinsame Farbbestimmung durchaus nicht von vornherein eines zweiten gleichfarbigen Gegenstandes, und die Heranziehung eines solchen diente uns nur dazu, durch eine Analyse der spezifischen Art der hier in Frage stehenden "Gemeinsamkeit" die ideelle Natur jener Bestimmung zu erweisen: gerade in der Unabhängigkeit vom Dasein jeder Individualität, die, wie wir noch sehen werden, nicht gleichbedeutend mit Konkretion ist (36) liegt das Geheimnis ihres Verständnisses.

Andererseits gilt nun das Umgekehrte: haben wir einmal die Besonderheit aller ideellen Bestimmungen richtig eingesehen, so können wir aufgrund ihrer nun allerdings ohne Schwierigkeit die Bildung von Arten und Gattungen verständlich machen: durch die Idee unserer Rotnuance ist zugleich die Gesamtheit aller - sei es nun realen oder nicht-realen - Gegenstände eindeutig umgrenzt, die für uns als durch sie bestimmt gekennzeichnet sind und die erst eigentlich als echte Allgemeinheiten, als Gesamtheiten der echten, d. h. empirische vorfindlichen Individuen bezeichnet werden dürfen. (37)

Ich denken, der fundamentale Unterschied von Idealität und Individualität und damit zugleich die Unmöglichkeit, jene auf diese zurückzuführen, ist klar geworden: der Weg zur Erreichung des Ideellen führt nicht durch die Erfassung des Individuell-Tatsächlichen hindurch: er bedarf mit anderen Worten nicht der Empirie als Voraussetzung.

Damit ist die Bahn zur Phänomenologie frei geworden.


IV. Die "kopernikanische Wende" der
Phänomenologie.

Wenn sich nun in der Tat das Ideelle und Allgemeine nicht aus dem Individuellen verstehen läßt und hartnäckig allen Reduktionsversuchen widerstrebt, so ist der Verdacht nicht abzuweisen, daß hier vielleicht ein bloßes Scheinproblem vorliegt. Am Ende ist das Ideelle seiner Natur nach bereits ebenso unmittelbar gegeben wie das Individuelle.

Und es läßt sich nun zeigen, daß es sich in der Tat so verhält; ja, wir behaupten noch mehr: das eigentlich unmittelbar Vorfindliche ist gerade der Hauptsache nach nur das Ideelle, genauer: es ist nichts Individuell-Tatsächliches unmittelbar gegeben außer dem Vorfinden selbst, dem Akt, in dem oder durch den etwas gegeben ist (38).

Wir kehren also die gewöhnliche Meinung genau um und verfahren mithin nicht anders, als einst in der Astronomie KOPERNIKUS verfuhr und später in bewußter Anlehnung an ihn auf philosophischem Gebiet KANT - nach seiner eigenen, wohlbekannten Bemerkung. Dabei liegt auf der Hand, daß die Beziehungen unseres Verfahrens zu KANTs "kopernikanischer" Tat um ein großes Stück inniger sind, als sie es in Anbetracht des tertium comparationis [Drittes zum Vergleich - wp] an und für sich zu sein brauchten. Es handelt sich um immerhin etwas mehr als eine bloße Analogie, und wir wollten nicht unterlassen, das hier hervorzuheben, wenn wir auch auf der anderen Seite betonen müssen, daß wir weit davon entfernt sind, den Sinn der kantischen Wendung durch den der phänomenologischen interpretieren oder gar korrigieren zu wollen. Vor allem bezieht sich unsere kopernikanische Wendung keineswegs auf das Erkenntnisproblem allein - wie auch überhaupt die Phänomenologie ihrer Natur nach darauf abzielt, zwar auch, aber nicht nur einen Unterbau der erkenntnistheoretischen Bestrebungen abzugeben. Sie ist, wenn man das Wort Erkenntnistheorie gattungsmäßig als die Gesamtheit der herrschenden oder bisher herrschend gewesenen Erkenntnistheorien versteht, in der Tat vorerkenntnistheoretisch - auch (und nicht zuletzt) in dem Sinne, daß ihre Hilfe den Erkenntnistheoretiker jeglicher Observanz zu der so notwendigen (39) Vermeidung von Unklarheiten und Mehrdeutigkeiten in der Darstellung seiner Gedanken anzuleiten vermag.

Dabei hebe ich noch Folgendes hervor: am ausgesprochensten wird die Phänomenologie immer denen als vor- und deshalb insofern unerkenntnistheoretisch orientierte Wissenschaft vorkommen müssen, die der Erkenntnistheorie eine Beziehung zur Feststellung des Realitätsgehaltes des sogenannten naiven Weltbildes - sei es im Sinne einer Korrektur, sei es im Sinne einer Rechtfertigung - mehr oder weniger ausdrücklich zuweisen wollen (40), und deren Auffassung im extremsten Fall die Folgende ist:
    Die Welt, die sich der naiven Auffassung als eine Gesamtheit farbiger, tönender, in mannigfacher Weise geformter und geordneter Dinge darstellt, wird allmählich in wichtigen Beziehungen als "subjektiv" bedingt erkannt, zuerst in der Weise der sogenannten sekundären Qualitäten und dann später in anderen, ihnen aber analog zu denkenden Stücken.
Wir wollen nun nicht untersuchen, inwieweit eine solche Betrachtung allgemein mit Recht eine erkenntnistheoretische (und überhaupt eine philosophische) genannt werden kann: ganz sicher ist sie jedenfalls als empirische gekennzeichnet; sie verwertet die Ergebnisse mannigfacher Wahrnehmungen und Beobachtungen, um aufgrund ihrer festzustellen, daß gewisse Bestimmungen, die wir zunächst den uns umgebenden individuell-tatsächlichen Dingen und Geschehnissen zuweisen, in Wahrheit nicht ihnen, sondern einem anderen, ebenfalls Individuell-Tatsächlichen zugesprochen werden müssen - d. h. also: sie verfährt letztenendes nicht anders als die naive Weltauffassung selbst. Auch diese legt ja der individuell-tatsächlichen Welt allerlei Bestimmungen bei: denn daß es sich hier um Bestimmungen von teilweise anderer Art handelt, kann natürlich keinen wesentlichen Unterschied ausmachen.

Nun ist aber doch wohl klar, daß ich, um den Dingen Bestimmungen beilegen zu können, diese schon irgendwie "haben" muß, und es muß ihnen, indem ich sie habe, notwendigerweise eine Bedeutung zukommen, ein Sinn. Im Haben solcher sinnhaltiger Bestimmungen liegt dann offenbar das Primäre, die wesensnotwendige Voraussetzung jener anderen, sei es nun naiven oder wissenschaftlichen, in jedem Fall aber empirischen Betrachtungsweise. Wenn ich diesem jetzt vor mir liegenden individuell-tatsächlichen Etwas die Bestimmungen rot und rechteckig beilege, so ist es für den Sinn, den ich dabei mit diesen Bestimmungen verbinde, ganz gleichgültig, ob das als rot und rechteckig Charakterisierte bloß für mein Bewußtsein "da" ist oder ob es auch abgesehen von meinem Bewußtsein (also in einer in dieser Hinsicht "transzendenten" Welt (41) real existiert. Ja, noch mehr: es ist hierfür sogar irrelevant, ob überhaupt eine "transzendente" Welt besteht, ja ob von ihr zu reden selbst nur einen Sinn hat.

Hier also ist der Punkt, an dem die neue Anschauungsweise einsetzt: dem so oder so zu bestimmenden Individuell-Tatsächlichen tritt jetzt die nicht-individuelle Bestimmung selbst gegenüber, das Bestimmungsmittel, als sinnhaltiges "zeitloses" "Moment", als ideelle "Beschaffenheit", wenn man dieses Wort dafür gebrauchen will.

Früher pflegt man nun freilich den fundamentalen Gegensatz beider Betrachtungsweisen auf überraschend einfache Weise zu überbrücken oder doch zu verwischen: man faßte nämlich die fraglichen Bestimmungsmittel als "allgemein" im Sinne von empirischen Arten und Gattungen und demgemäß aufgrund der herrschenden Lehre als Allgemeinvorstellungen und Begriffe, zu denen man dann auf einem wiederum empirischen Weg der generalisierenden Abstraktion gelangen sollte. So glaubte man, alle hier in Frage stehenden Probleme als Probleme der bald mehr logisch, bald mehr psychologisch gefaßten Begriffsbildung (oder gar genetisch-kausalen Begriffsentstehung) abtun zu können. Wer aber, wie wir, sich von der Haltlosigkeit der empirischen Abstraktionstheorien überzeugt hat, muß zu einem anderen Ergebnis gelangen: vor allem wird er sich hüten, alles, worüber sich sinnvolle Aussagen machen lassen, von vornherein in die beiden Gebiete der physischen und psychischen Wirklichkeit aufzuteilen. (42) Tatsächlich geschieht das bis heute fast allgemein - höchstens, daß man das "Logische" noch als etwas Besonderes neben ihnen anerkennt, das man freilich selten wirklich klar umgrenzt, dafür aber umso öfter mit allem Möglichen zusammenwirft, das mit Logik nichts anderes zu tun hat, als daß es eben weder physisch noch psychisch wirklich vorhanden ist.
LITERATUR Paul F. Linke, Der Recht der Phänomenologie, Kant-Studien, Bd. 21, Berlin 1917
    Anmerkungen
    1) Jahrbuch für Philosophie und philosophische Forschung, Bd. I, Halle a. s. Saale 1913.
    2) EDMUND HUSSERL, Logische Untersuchungen, Bd. 2, 1901
    3) Selbstverständlich wird man unter den dem Husserlschen Ideenkreis nahestehenden Forschern (neben Twardowski, Ehrenfels u. a.) stets auch Meinong und seine Mitarbeiter nennen müssen: indessen sind die für die neue Richtung entscheidenden Gedanken doch erst von Husserl ausgesprochen worden - so nahe ihnen in einzelnen Punkten auch die vor dem Erscheinen von Husserls "Logischen Untersuchungen" veröffentlichten Anfänge der "Gegenstandstheorie" wohl kamen. Es ist also durchaus anders, als es Ewald (Kant-Studien XX, Seite 41) hinstellt. Bei Meinong fehlt ganz und gar die Herausarbeitung des Begriffs der Idee, des "Eidos": nicht Meinong war es, der die empiristischen Abstraktionstheorien überwand.
    4) a. a. O., Bd. 1, Halle a. d. Saale 1900.
    5) Das gilt selbst von einem Husserl vergleichsweise so nahe stehenden Forscher wie August Messer. Vgl. "Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 22 und 31; ferner Messer, "Psychologie", Stuttgart und Berlin 1914. - - - Eine eingehende Auseinandersetzung mit den von Messer gegen die eidetische Phänomenologie gerichteten Angriffen und dem von ihm vertretenen Standpunkt der empirisch-deskriptiven Phänomenologie findet sich in einer größeren, selbständig erscheinenden Arbeit von mir, die den "Psychologismus" in der modernen Psychologie behandeln und besonders an der modernen experimentellen Untersuchung des Problems der Bewegungswahrnehmung exemplifizieren wird. Vgl. auch meinen Aufsatz im 2. (noch nicht erschienenen) Band des Husserlschen Jahrbuchs.
    6) Theodor Elsenhans, Phänomenologie, Psychologie, Erkenntnistheorie, Kant-Studien, Bd. XX, Seite 224f.
    7) a. a. O. Seite 236
    8) Schmied-Kowarzik: Grundriß einer neuen analytischen Psychologie, Leipzig 1912, Seite 38f. Natürlich ist der Standpunkt des Verfassers, der den von ihm (in vielen Einzelheiten durchaus richtig gesehenen) Gegensatz von empirischer und nichtempirischer Forschung als einen bloß methodischen betrachtet, nicht der unsrige.
    9) Vgl. dazu Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie, Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Halle a. d. Saale, 1913, Bd. 1, I, Seite 25f.
    10) Natürlich ist "Erfahrungen machen" hier die sprachliche Wendung, die allein in Frage kommt, nicht "in Erfahrung bringen" und "erfahren", das vielmehr oft nur das Verständnis gehörter oder gelesener Worte bezeichnet.
    11) Besonders charakteristisch hierfür: Essay I, 4, § 2.
    12) Widersinn ist nicht Unsinn; vgl. dazu "Logische Untersuchungen II", Seite 326.
    13) Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Berlin 1911, Bd. 2, Seite 185f.
    14) a. a. O. Seite 232
    15) Kr. d. r. V. (Kehrbach) Seite 154.
    16) a. a. O., Seite 154 und 162
    17) a. a. O. Seite 555 (bei Elsenhans zitiert a. a. O. Seite 237).
    18) a. a. O. Seite 53. Natürlich wollen wir den Inhalt dieser Stelle darum nicht auch im Übrigen unterschreiben.
    19) Einen ersten Anfang dazu macht die Arbeit von Arnold Metzger, "Untersuchungen zur Frage der Differenz der Phänomenologie und des Kantianismus". Diese gründliche Arbeit, eine zum Teil auf meine Anregungen zurückgehende Jenaer Dissertation, die sich vornehmlich mit dem Standpunkt Rickerts und vor allem Lasks auseinandersetzt, unterstreicht den Gegensatz der beiden großen philosophischen Richtungen sehr stark, wie mir heute scheinen will, zu stark.
    20) Soweit es sich um die Abgrenzung eines nichtempirischen wissenschaftlichen Verfahrens vom empirischen handelt, können und müssen schon jetzt Kantianer und Phänomenologen weite Strecken gemeinsam gehen: man vergleiche dazu die Ausführungen von Bruno Bauch ("Studien zur Philosophie der exakten Wissenschaften", Heidelberg 1911, Seite 76f) "Zum Problem der allgemeinen Erfahrung" mit denen des Textes.
    21) Zu diesem ganzen Abschnitt vergleiche man Husserls "Logische Untersuchungen II", besonders Abschnitt II, Seite 106f.: Die ideale Einheit der Spezies und die neueren Abstraktionstheorien. Doch ist dabei hervorzuheben, daß Husserl nach seinen eigenen Bemerkungen (a. a. O. Bd. I, Seite Xf) die dort vertretenen Anschauungen in den Einzelheiten nicht mehr aufrecht erhält (was z. B. von der Auffassung der Bedeutungsintensität der Akte als Identität der Spezies sicherlich gelten wird). So sah sich der Autor in einigen und vielleicht wichtigen Punkten zu einer selbständigen Weiterführung der Husserlschen Forschungen genötigt, über die er zu anderer Gelegenheit ausführlicher zu berichten hofft. Vgl. übrigens auch Linke, Die phänomenale Sphäre und das reale Bewußtsein, Halle/Saale 1912.
    22) Elsenhans, Lehrbuch der Psychologie, Tübingen 1912, Seite 205.
    23) LOCKE, a. a. O. III, 3, 6.
    24) a. a. O. III, 3, 9.
    25) a. a. O. III, 3, 20.
    26) Theodor Elsenhans, Lehrbuch der Psychologie, Seite 201. Das Innenzitat bei Sigwart, Logik I, Seite 52. Sigwart ist übrigens oft viel weniger psychologistisch.
    27) Was auch sonst genugsam hervorgehoben wurde, vgl. z. B. Rickert, Zur Lehre von der Definition, 1915, Seite 29.
    28) a. a. O. Seite 219.
    29) Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin 1910, Seite 23
    30) Cassirer, a. a. O. Seite 24
    31) Lotze, Logik I, 1, §§ 12f, zweite Auflage (Misch-Ausgabe, 1912), Seite 27f. Etwas näher kommt er unserer Anschauung a. a. O. III, 2, § 314f, Seite 507
    32) Genauer: auf etwas, das mir im unmittelbaren Eindruck als echtes individuelles Rot erscheint.
    33) Diese "Fundierung" aller Gleichheit in Identität habe ich bereits vor dem Erscheinen der "Logischen Untersuchungen" in meiner Doktordissertation (Wundts "Philosophische Studien, Bd. XVII, Seite 668) gegen Meinong hervorgehoben: allerdings noch ganz in psychologischer Fassung. Sie ist aber von prinzipieller Wichtigkeit: denn von hier aus sieht man die Unentbehrlichkeit der "Idee". Theodor Ziehen ("Erkenntnistheorie" 1913, Seite 417 A) bestreitet sie und glaubt umgekehrt, die reine Idee (bzw. Spezies) aus der Gleichheit ableiten zu können. Ich frage: kennt Ziehen irgendeine Gleichheit von Individuen, die etwas anderes wäre als die Gleichheit in einer bestimmten Hinsicht? Und wenn nicht, was versteht er unter einer solchen Hinsicht, wenn nicht eine reine Idee oder ein ideelles Moment oder Quale? Ich weiß, Ziehen fürchtet die "Mystik" der reinen Ideen. Indessen wird er diesen Vorwurf gegen die hier gegebene Darstellung gewiß nicht erheben könenn und mag besonders Seite 201f nachlesen.
    34) Wohl zum ersten Mal hat Wilhelm Schuppe dieses echte erste "Allgemeine" gesehen: vgl. besonders dessen "Erkenntnistheoretische Logik", 1878, Seite 169f.
    35) Über Normalität und Typus vergleiche man die weit über das behandelte Spezialgebiet bedeutungsvollen Untersuchungen von William Stern, "Die differentielle Psychologie" in ihren methodischen Grundlagen, Leipzig, 1911, Seite 155f. - - - Ich benutze gern die Gelegenheit auf diese Ausführungen hinzuweisen, weil sie ein gutes Beispiel dafür abgeben, daß prinzipielle Untersuchungen, selbst im Hinblick auf die angewandte Psychologie, sobald sie nur klar und gründlich durchgeführt werden, ganz von selbst auf Fragestellungen führen, die mit empirischer Psychologie ebensowenig zu tun haben wie mit Logik, umso mehr aber mit Phänomenologie: die Art und Weise, in der Stern die psychische Normalität abzugrenzen sucht, kann dies jedermann deutlich machen.
    36) Was Elsenhans zu verkennen scheint: a. a. O., Seite 233. Vgl. dazu weiter unten.
    37) und zu denen auch z. B. das Haus, die Katze usw. gehören. Vgl. meine oben erwähnte Arbeit über den Psychologismus.
    38) Im Prinzip ist dieser Gedanken schon ausgesprochen in meiner Schrift "Die phänomenale Sphäre und das reale Bewußtsein", Halle a. S. 1912, die die Ausführungen des Textes überhaupt in wichtigen Punkten ergänzt.
    39) Das ist mit Bezug auf die Bemerkung August Messers (meine oben erwähnte Arbeit über den Psychologismus.
    38) Im Prinzip ist dieser Gedanken schon ausgesprochen in meiner Schrift "Die phänomenale Sphäre und das reale Bewußtsein", Halle a. S. 1912, die die Ausführungen des Textes überhaupt in wichtigen Punkten ergänzt.
    39) Das ist mit Bezug auf die Bemerkung August Messers ("Über Grundfragen der Philosophie der Gegenwart", Kant-Studien Bd. XX, Seite 301) gesagt.
    40) und zu denen auch Elsenhans gehört. Vgl. Kant-Studien, a. a. O., Seite 270.
    41) Diese Transzendenz ist natürlich eine ganz andere als die von August Messer in seinem Auseinandersetzungen mit Bruno Bauch (Kant-Studien, Bd. XX, Seite 300) erwähnte. Messer hebt an anderer Stellte (Kant-Studien, Bd. XX, Seite 76f) die "Evidenz" des Glaubens an die Realität der Außenwelt hervor: selbstverständlich hätte das seinen guten Sinn nur für die Erkenntnispraxis, für die Erkenntnistheorie aber gewiß nicht. Hier ermöglicht gerade der methodische Zweifel den Zugang zu einer eigenartigen Schicht von Einsichten, eben den phänomenologischen. Ohne in einen Widersinn zu verfallen, kann ich mir vorstellen, daß den von mir wahrgenommenen Qualitäten des Blattes, auf das ich jetzt schreibe, kein als "wirklich" vorhanden nachweisbares Blatt-Individuum entspricht, während ich am Bestehen der Qualitäten selbst als bloßen (ein konkretes Ganzes bildenden) Qualitäten nicht sinnvoll zweifeln kann. Will Messer das bestreiten? Dann dürfte er von all dem, was man "Sinnestäuschungen" zu nennen pflegt, nicht mehr ernsthaft reden. Vgl. den über "Täuschungen" handelnden Abschnitt der oben erwähnten sowie Abschnitt V - VII dieser Arbeit, ferner auch Geysers Bemerkungen über Messer, "Logik" 1909, Seite 23.
    42) Darüber, daß dies unzulänglich ist, können uns schon alle Fiktionen belehren: eine Märchenfigur, z. B. der gestiefelte Kater, ist doch - sobald ich mich nur entschließe, ihn so zu bestimmen, wie ich ihn schlicht meine - offenbar nichts Wirkliches. Trotzdem ist er doch auch als Nicht-Wirkliches eben ein Kater mit Pfoten, Fell und allen Prädikationen eines Katers. Prinzipiell ist zu vergleichen: Linke, "Die phänomenale Sphäre", besonders Abschnitt II.