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PAUL FERDINAND LINKE
Grundfragen der Wahrnehmungslehre

"Die enge ... Orientierung an der Sinnesphysiologie ... ließ Empfindung und sinnliche Wahrnehmung als das Gegebene, das mit den vollends unproblematisch erscheinenden Reizen durch eine strenge Konstanzbeziehung Verknüpfte und daher psychologisch Einfachste erscheinen, das die sichere Grundlage alles Übrigen abgeben konnte."

"Die alte Psychologie ... war in den Problemzusammenhang der Physiologie und damit weiter überhaupt in den der naturwissenschaftlichen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen hineingestellt und hatte die Grundlagen ihrer Begriffsbildung von diesen Wissenschaften übernommen. Sie war damit der Mühe enthoben, besondere auf die Herbeischaffung eines für ihre spezifischen Ziele geeigneten begrifflichen Materials gerichtete Überlegungen anzustellen, die ihren eigentlichen Untersuchungen hätten vorausgehen müssen."

"Wir nehmen nun einmal durchaus keine Schwingungsvorgänge wahr, wenn wir Töne wahrnehmen. So nehmen wir auch keine Farben im physikalischen Sinn wahr, wenn wir Farben empfindend wahrnehmen und analog sind die physikalischen Gerüche von den psychologisch in Frage kommenden zu unterscheiden; von Geschmack, Wärme usw. gilt ganz dasselbe."


Einleitung
Psychologie, "Gegenstandstheorie"
und "Phänomenologie". Ziel der Arbeit.

Gewisse konkrete Fragestellungen der experimentellen Forschung, von denen bald die Rede sein wird, sind der Anlaß gewesen, daß grundlegende Fragen der Wahrnehmungspsychologie in letzter Zeit zum Gegenstand sehr lebhafter literartischer Erörterungen geworden sind. Im Hinblick auf eben diese konkreten Fragestellungen wollen wir im Folgenden das gesamte Wahrnehmungsproblem einer prinzipiellen Untersuchung unterwerfen. Gewisse Einschränkungen, die sich daraus ergeben, sollen sogleich hervorgehoben werden.

Was mach die Besonderheit der "sinnlichen" Wahrnehmung aus? Lange hat man dieser Frage kein spezielleres Interesse zugewandt, sie schien in der Hauptsache beantwortet. Die sinnliche Wahrnehmung galt als ein mehr oder weniger modifizierter Komplex von Empfindungen oder doch als etwas auf Empfindungen Aufgebautes, in ihnen Fundiertes oder wie man es sonst ausgedrückt hat.

Heute nun beginnt die schon früher von einigen wenigen geäußerte Anschauung, daß die so gefaßte sinnliche Wahrnehmung sehr fragwürdiger Natur ist, auch in der herrschenden Psychologie an Boden zu gewinnen. Und so ist nun die sinnliche Wahrnehmung samt den Empfindungen in dem Maße zum Problem geworden, als sie aufgehört hat der selbstverständliche Ausgangspunkt der Forschung zu sein.

Tatsächlich ist sie aber doch sehr lange Zeit hindurch ein solcher Ausgangspunkt gewesen. Die enge und in mancher bedeutsamen Hinsicht fruchtbare Orientierung an der Sinnesphysiologie, gestützt durch die alten der sensualistischen Philosophie entstammenden Traditionen des Empirismus, ließ "Empfindung" und "sinnliche" Wahrnehmung als das Gegebene, das mit den vollends unproblematisch erscheinenden "Reizen" durch eine strenge "Konstanzbeziehung" Verknüpfte und daher psychologisch Einfachste erscheinen, das die sichere Grundlage alles Übrigen abgeben konnte.

Je mehr sich nun aber die Psychologie als selbständige Wissenschaft fand und "reine" Psychologie zu werden begann, mußte das anders werden.

Indessen ist der Übergang aus der alten Situation in die neue bei weitem nicht so einfach, als ihn sich die meisten zu denken scheinen.

Zunächst wäre es ja ein Wunder gewesen, wenn die langjährige Orientierung an der Sinnesphysiologie nicht Denkgewohnheiten erzeugt hätte, die sich auch nach der prinzipiellen Gewinnung des neuen Standpunktes geltend machen mußten und deren Überwindung keine leichte Aufgabe bedeutete. Vor allem aber ist mindestens von vornherein unwahrscheinlich, daß der neue Standpuknt durch eine einfach Negierung des alten erreicht werden kann, sondern es liegt viel näher anzunehmen, daß er eine besondere Vorarbeit nötig macht, die ihre eigenen Fragestellungen enthält und vielleicht letzte prinzipielle Probleme berühren muß, deren Klarstellung erst ein fruchtbares Weiterarbeiten auf dem neuen Forschungsweg ermöglicht.

Denn man bedenke: die alte Psychologie - mochte sie sachlich noch so sehr im Unrecht sein - hatte methodologisch genommen einen entschiedenen Vorzug: sie war in den Problemzusammenhang der Physiologie und damit weiter überhaupt in den der naturwissenschaftlichen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen hineingestellt und hatte die Grundlagen ihrer "Begriffsbildung" von diesen Wissenschaften übernommen. Sie war damit der Mühe enthoben, besondere auf die Herbeischaffung eines für ihre spezifischen Ziele geeigneten "begrifflichen" Materials gerichtete Überlegungen anzustellen, die ihren eigentlichen Untersuchungen hätten vorausgehen müssen.

Es ist klar, daß nun, indem die Loslösung von der Physiologie erfolgt, sich auch das Bedürfnis nach einer derartigen "begriffsanalytischen" Arbeit - ich gebrauche absichtlich ein inkorrektes Wort, dafür aber sofort verständliches und in diesem Zusammenhang auch ausreichendes Wort - mehr und mehr einstellen muß. Und man kann es in jedem Fall als ein erfreuliches Zeichen der Zeit betrachten, wenn man an die psychologischen Problem in steigendem Maß unter diesem Gesichtspunkt herantritt. Freilich hindert das nun leider noch nicht, daß man oft durchaus verkennt, um was es sich hierbei eigentlich handelt. Man scheidet die "begriffsanalytische" Arbeit nicht reinlich von derjenigen einer empirischen Beschreibung der vorliegenden Phänomene und psychologischen Tatsachen (die man oft ebenfalls nicht auseinanderhält) und vermengt beides wiederum mit den viel weitergehenden Aufgaben einer "reinen" Psychologie.

Derjenige, der im Prinzip am klarsten erkannte, worauf es ankommt, 'EDMUND HUSSERL, vermochte leider an keinem typischen, die zurzeit herrschende Psychologie wirklich treffenden Beispiel die Besonderheit aufzuweisen, die seine "Phänomenologie" von der empirischen Deskription der Phänomene unterscheidet, und manche neueren Untersuchungen, die aus seiner Schule stammen, sind in der Tat nichts anderes als empirisch-deskriptive Forschungen: gerade die Arbeit, die nach außen hin die stärkste Wirkung geübt hat, war eine mit echten empirischen und induktiv-experimentellen Untersuchungen eine deutliche Verwandtschaft zeigende Weiterführung und Vertiefung 'HERINGscher Gedankengänge. Kein Wunder, daß hier die Gegner der 'HUSSERLschen Richtung von vornherein gewonnenes Spiel hatten!

Und doch ist damit die Sache noch nicht erledigt: eine sehr einfach Überlegung kann sofort klar machen, daß die letzten Intentionen 'HUSSERLs in einer ganz anderen Richtung liegen müssen. Man orientiere sich nur an den allgemein anerkannten Leistungen dieses Forschers. Niemand zweifelt heute mehr daran, daß ein logisches Gesetz - der Satz des Widerspruchs etwa oder das dictum de omni et nullo [Satz von allem und keinem - wp] nicht psychologisch und am allerwenigsten natürlich empirisch-psychologisch begründbar ist. Es ist aber nicht minder gewiß, daß dieser Satz - genauer der Sachverhalt, der in ihm ausgedrückt ist - gedacht und überhaupt irgendwie psychisch erfaßt oder erlebt werden kann. Dann ist das Erlebnis oder Akt, in dem er erfaßt wird, selbstverständlich ein möglicher Gegenstand der empirischen Psychologie: so muß es ja wohl sein, wenn anders die Psychologie überhaupt das ist, als was sie doch, wenn nicht ausschließlich, so doch gewiß in erster Linie zu gelten hat, die Wissenschaft von den Bewußtseinsgeschehnissen.

Es kann also der genannte Akt oder das Erlebnis, in welchem der Gegenstand 3 oder der Sachverhalt 3 + 2 = 5 erfaßt wird, empirisch-psychologisch untersuchen. Diese Tatsache aber hindert natürlich nicht im Geringsten, daß das Gegenständliche dieses Aktes außerpsychisch ist, und zugleich ist klar, daß dieses Außerpsychische nontwendig zum Psychischen des Aktes in irgendeiner gesetzmäßigen Beziehung stehen muß.

Dies offenbart sich zunächst in der - wenn man will - banalen Tatsache,, daß die psychische Aktualisierung der Zahl 3 notwendigerweise die Aktualisierung eben der Zahl 3 sein muß und keiner anderen, daß folglich keine einzige durch das aktualisierende Erlebnis der Zahl 3 zugeschriebenen mit den dieser Zahl objektiv zukommenden Eigenschaften in Widerspruch geraten darf.

Gesetzt, ein psychologischer Beobachter machte die Angabe, es sei das, was er bei der Erfassung der Zahl 3 in sich vorfindet, ein ausgedehntes Ding oder größer als 4 und dgl. mehr - so werden wir ihm einfach entgegenhalten, daß er keine oder doch keine klare "Vorstellung" vom erfaßten Gegenstand gehabt hat.

Ebenso wenn jemand etwa behaupten wollte, er habe sich sinnvoll, d. h. mit dem deutlichen Bewußtsein, daß es sich dabei um nichts einander Widersprechendes handelt, einen runden Gegenstand ohne Krümmung vorgestellt oder gedacht oder einen Teil, der größer ist als das Ganze, dem er zugehört, so würden wir ihm gewiß sogleich entgegenhalten, daß das, was er sich vorgestellt hat, "in Wahrheit" unmöglich das gewesen sein kann, was andere Menschen unter den Worten "rund", "Teil" usw. zu verstehen pflegen. Behauptet er dennoch, dies sei nicht der Fall, so können wir völlig sicher sein, daß sich in den Aussagen über seine Erlebnisse irgendwo ein Irrtum befinden muß.

Es besteht also hier die Möglichkeit, unter gewissen Voraussetzungen aufgrund der Einsicht in einen außerpsychischen Sachverhalt über einen psychischen Sachverhalt gültige Aussagen zu machen. Ich bin in der Lage, über ein psychisches Faktum, ohne von dessen Beobachtung oder sonstigen empirischen Feststellungen auszugehen, aufgrund einer "außerpsychischen Norm" richtige Angaben zu machen und also in diesem Sinne a priori zu verfahren.

So klar und selbstverständlich das erscheint, so hilflos ist die herrschende Psychologie dergleichen einfachen Tatsachen gegenüber. Ja: sie wehrt sich wie gegen eine bedenkliche und sogar "veraltete" Zumutung, wenn man von ihr verlangt, den angedeuteten Sachverhalt anzuerkennen. Und anscheinend mit gutem Grund: sie hat lange genug unter fremden Einflüssen zu leiden gehabt, als daß man ihr die Furcht, wiederum unter einen Einfluß zu geraten, der sich ja deutlich genug als Einfluß "von außen her" bekundet, ernsthaft verargen könnte - zumal er ja von einer Seite kommt, die sich lange genug für die Entwicklung einer fruchtbaren Psychologie in hohem Maße hinderlich gezeigt hat: von der Philosophie. Und das Mißtrauen wird wohl nicht dadurch geringer, daß diese Philosophie sich in Gestalt der 'HUSSERLschen "Phänomenologie" als "strenge Wissenschaft" gebärdet.

Und doch bedeutet die Ablehnung unserer Forderung letztenendes einen Schaden für die gesunde Entwicklung der Psychologie selbst. Die Einbeziehung von Untersuchungen, die ich oben absichtlich inkorrekt als "begriffsanalytische" bezeichnet habe, die aber in Wahrheit (eidetisch-)phänomenologische sind und unter denen sich die sogenannten "gegenstandstheoretischen" am deutlichsten vom Gebiet der empirischen Psychologie abheben und deshalb bisher auch am meisten in ihrer Selbständigkeit anerkannt sind - die Einbeziehung von solchen Untersuchungen in die für psychologische Feststellungen maßgebenden Gebiete oder die Orientierung der Psychologie an ihren Ergebnissen ist einfach eine Notwendigkeit, wenn man über eine Reihe von wichtigen psychologischen Problemen überhaupt zu einer wissenschaftlichen Klarheit gelangen will.

Es ist bemerkenswert, wie die moderne Psychologie gegenstandstheoretischen Untersuchungen zu umgehen weiß. So sagt 'BÜHLER in seiner bekannten Arbeit über Gestaltwahrnehmungen (1) gleich zu Anfang:
    "Wir sehen ganz ab von den gegenstandstheoretischen Untersuchungen über Gestalten. Was Dreiecke sind und Kurven und welche Strukturgesetze sie aufweisen, behandelt die Geometrie; und der pythagoräische Lehrsatz gehört nicht in die Psychologie."
Daß nun das alles nicht in die Psychologie gehört, ist natürlich auch ganz und gar meine Meinung, daß aber diese Wissenschaft gleichwohl nicht umhin kann, sich beständig an dergleichen Forschungen zu orientieren - das ist der Punkt, in dem ich glaube, über 'BÜHLER hinausgehen zu müssen. Auch der Physiker orientiert ja seine Untersuchungen beständig an den Ergebnissen der mathematischen Forschung, trotzdem diese gewiß nicht in die Physik gehören. Es ist prinzipiell unmöglich "gegenstandstheoretische" Feststellungen bloß deshalb in der Psychologie beiseite zu lassen, weil sie nicht in die Psychologie gehören: das zeigen schon die einfachen Beispiele, von denen wir ausgegangen sind, aber auch sonst begegnet ihnen der Psychologie sozusagen auf Schritt und Tritt. Auch 'BÜHLER begegnet ihnen. Die ganze theoretische Diskussion, die 'BÜHLER als Diskussion über den "psychischen" Charakter der Gestalteindrücke bezeichnet, ist zu einem wesentlichen Teil in Wahrheit "gegenstandstheoretischer" Natur und auch die Position, die 'BÜHLER selbst einnimmt, kann gar nicht umhin, gegenstandstheoretisch gefärbt zu sein. Man braucht ja nur zu fragen, was 'BÜHLER "Gestaltseindruck" nennt, ob ein psychisches Geschehnis im ersten Sinn oder, wie er es tatsächlich tut, etwas unter Umständen Stillstehendes, auf das sich geometrische Prädikate anwenden lassen (die auf Psychisches bezogen zu Widersinn führen), um sofort auf eine offenbar "gegenstandstheoretische" Frage geführt zu werden, die zugleich in psychologischer Hinsicht von wesentlicher Bedeutung ist. Wir verkennen nicht, daß es gerade 'BÜHLER gelungen ist, innerhalb seiner Untersuchungen zwar gewiß nicht die "gegenstandstheoretisch" bedingten Probleme, wie er es glaubt, ganz beiseite, aber doch den Mangel einer positiven Stellungnahme zu ihnen ohne Einfluß auf seine Ergebnisse werden zu lassen - und es ist das vielleicht nicht der geringste Vorzug seiner bedeutsamen Arbeit. Andere, ihm nahestehende Forscher waren weit weniger glücklich. -

Mein Ziel ist also dieses:

Es soll die Notwendigkeit einer solcher gegenstandstheoretischer oder allgemeiner phänomenologischer Untersuchungen speziell für das Wahrnehmungsproblem erhärtet werden: nicht durch allgemeine philosophische Erörterungen, die sich nicht auf Einzelheiten einlassen, sondern im Gegenteil: ich will mich möglichst bemühen, auf aktuelle Fragen der modernen Psychologie selber einzugehen. Der Weg aber, der in Bezug auf diese Fragen die erwünschte Klarheit bringen soll, wird durch eine Reihe der prinzipiellsten Erörterungen führen, die es auf psychologischem Gebiet gibt: Fragen, wie die nach dem Gegensatz von psychischem und physischem Sein, nach Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit, nach Unterschieden von Inhalt und Gegenstand, von Wahrnehmung und Vorstellung und andere ähnliche werden behandelt werden.

Noch zweierlei ist zu bemerken. Ich nenne meine Untersuchungen phänomenologische, nicht nur um damit anzudeuten, daß ich 'HUSSERL entscheidende Anregungen verdanke, sondern vor allem weil mir der Begriff der Phänomenologie ein wesentlich weiterer zu sein scheint als der der Gegenstandstheorie. Ich möchte mich nun hier nicht in langen Auseinandersetzungen über die Frage ergehen, was ich unter Phänomenologie verstehe, und kann umso eher darauf verzichten, als ich es an anderer Stelle zwar verhältnismäßig kurz, aber, wie ich hoffe, mit wünschenswerter Klarheit bereits gesagt habe. (2) Bei den konkreten Problemstellungen, um die es sich hier durchweg handelt, fürchte ich übrigens Mißverständnisse nicht allzusehr. Nur das sei hervorgehoben: deskriptive Psychologie ist meine Phänomenologie keinesfalls; sie ist vor allem durchaus keine Beschreibung von Beobachtungsergebnissen: sie ist vielmehr gerade eine Erörterung dessen, was eine solche Beschreibung bereits voraussetzt, des Sinnes der (notwendigerweise ideellen) "Merkmale" und gegenständlichen "Merkmalseinheiten", mit deren Hilfe beschrieben wird: Sinnforschung, Sinnwissenschaft, Sinntheorie scheint mir die bestmögliche Übersetzung des umständlichen Wortes zu sein (3).

Wer mit diesen Benennungen nichts Rechtes anzufangen weiß, mag ruhig bei dem inkorrekten von mir selbst anfangs gebrauchten Wort "Begriffsanalyse" bleiben oder vielleicht noch besser "Bedeutungsanalyse" (4) sagen. So ungenau und selbst irreführend in gewisser Hinsicht diese Bezeichnungen sind - denn auf eine bloße Analyse von Wortbedeutungen kommt es wahrlich ganz und gar nicht an -, so sind sie doch bei weitem nicht so falsch und verwirrend wie der unselige Ausdruck "deskriptive Psychologie" (5). Sinnforschung ist schon deshalb keine deskriptive Psychologie, weil sie sich zwar auf Psychisches erstrecken kann und häufig genug erstreckt, sich aber keineswegs notwendig darauf zu erstrecken braucht: es gibt ja eine Phänomenologie der Zahlen, des Raumes, der Zeit, der Wahrheit, des Rechts, der Beziehungen usw. Man gewinn auch nichts, wenn man hier, um die geliebte "deskriptive Psychologie" zu retten, statt von einer Erörterung von Zahl, Raum, Zeit lieber von einer solchen des Zahlbewußtseins, Wahrheitsbewußtsein usw. redet. Denn die eigentliche Aufgabe der Analyse ist natürlich die Feststellung dessen, was Sinn oder Wesen der Zahl und der Wahrheit selbst ausmacht, nicht unser Bewußtsein von ihnen.

Im Übrigen kann man freilich allen möglichen namen von Gegenständen das Wort "Bewußtsein" als Suffix anhängen und sich so auch ein Recht verschaffen, von einer deskriptiven Psychologie des Zahlbewußtseins usw. zu reden. Selbstverständlich würde das keinerlei Fortschritt bedeuten: denn das Zahlbewußtsein ist und bleibt an der Zahl und das Wahrheitsbewußtsein an der Wahrheit orientiert und nicht umgekehrt. Die postulierte deskriptive Psychologie würde also letztenendes im wesentlichsten Punkt doch wieder auf die Phänomenologie zurückführen. -

Zweitens ist zu sagen, daß es sich im Folgenden nicht ausschließlich um phänomenologische Untersuchungen handeln wird: wir wollen ja eben die Beziehungen zur empirisch-experimentellen Fragestellung und den Anschluß an sie erreichen, um zuletzt zu experimentellen Untersuchungen selbst überzugehen - kein Wunder, daß wir oft genug über Ergebnisse experimentell-psychologischer Forschungen werden zu reden haben.


I. Die psychologische Bedeutung der
Gegenstandstheorie und Phänomenologie.


§ 1. Ein Einwand August Messers.

Ich wiederhole den wichtigsten Satz der bisherigen Feststellungen: Es besteht unter gewissen Voraussetzungen die Möglichkeit, aufgrund der Einsicht in einen außerpsychischen Sachverhalt über einen psychischen Sachverhalt richtige Aussagen zu machen.' Wer eine Dreiheit von Gegenständen wahrgenommen zu haben behauptet, die um zwei vermindert eine Zweiheit ergeben hat, oder eine Bewegung ohne bewegtes Etwas, oder einen echten, d. h. als Kreis wahrgenommenen Kreis mit verschieden großen Durchmessern, von dem sind wir von vornherein und ohne empirische oder experimentelle Untersuchung des Falles sicher, daß er sich geirrt hat, wir wissen, daß es ein einhaltlich oder besser gegenständlich in solcher Weise bestimmtes Wahrnehmungserlebnis gar nicht geben kann und also auch im fraglichen Fall nicht gegeben hat.

Indessen: ist dem wirklich so?

Ich zweifle nicht, daß bei einer großen Zahl der Leser dieser Worte der Verdacht aufsteigen wird, ich ließe einige der wichtigsten Errungenschaften der modernen Psychologie außer acht.

Kann ich nicht vielleicht doch unter Umständen die Zahl 3 als etwas, das größer ist als 4, sinnvoll "vorstellen" oder doch jedenfalls irgendwie erfassen? Beweisen nicht manche Beobachtungen der Würzburger Schule, daß sich dergleichen vorstellen und zwar innerhalb gewisser Grenzen sogar anschaulich vorstellen läßt? Geht doch ein so sehr nach Klarheit strebender Forscher wie 'AUGUST MESSER allen Ernstes so weit, Bewegung ohne ein bewegtes Etwas für wahrnehmbar (6) und sogar die Behauptung für erwiesen zu halten, daß sich ein Dreieck, auf das die Prädikate gleichseitig und ungleichseitig, rechtwinklig und schiefwinklig zugleich passen (ein Dreieck "überhaupt" im Sinne 'LOCKEs), "mit einer gewissen schematischen Anschaulichkeit vorstellen" läßt (7). 'MESSER, der sich dabei auf experimentelle Arbeiten stützt, von denen noch die Rede sein wird, wird jedem, der das für unmöglich erklärten wollte, entgegenhalten, was er bei der Erörterung des ersten Falls auch wirklich sagt, daß nämlich ein solcher nur das normale Wissen und die normale Logik beanspruchender Einwand
    "die Aufgabe psychologischer Deskription gänzlich vergessen und in Reflexion über reale Verhältnisse verfallen würde, wie wir sie als unabhängig vom Bewußtsein bestehend denken".
Der Gedankengang ist also dieser: so gewiß es ist, daß sich in der Außenwelt Dreiecke, die gleichseitig und ungleichseitig sind, nicht finden, so wenig scheint es gewiß, daß sie in der Welt unseres Bewußtseins, als bloß vorgestellte, gedachte oder sonstwie erfaßte Gegenstände (oder "Inhalte", wie man fälschlich sagt (8), ebenfalls nicht vorkommen dürften. Ich darf eben das psychologisch, das als Bewußtseinstatsache oder "immanent" Vorhandene und demgemäß Feststellbare nicht mit dem in der räumlichen Welt wirklich Vorhandenen und in ihr Feststellbaren verwechseln. In der wirklichen Welt des Außenraums ist die Sonne eine ungeheure Kugel, in der Welt des Bewußtseins, als "Sehding" ist sie eine Kreisscheibe von mäßiger Größe und so ist überhaupt die reale Außenwelt eine ganz andere als die im unmittelbaren Bewußtsein sich darstellende. Man könnte noch hinzufügen - ich bin mir freilich nicht sicher, ob das noch ganz im Sinne 'MESSERs wäre - daß dies am deutlichsten und ausgeprägtesten für die Reize in ihrem Verhältnis zum sinnlich Wahrgenommenen, das ihnen entspricht, zu gelten hat. Der Ton, die Farbe im physikalischen Sinn ist toto genere [absolut - wp] verschieden von Ton und Farbe, wie sie psychologisch in Betracht kommen: wer beides miteinander vermengen und etwa die Tonempfindung als die Wahrnehmung eines bestimmten Schwingungsvorgangs der Luft charakterisieren wollte, würde höchst bedenklichen Irrtümern die Wege ebnen. Wir nehmen nun einmal durchaus keine Schwingungsvorgänge wahr, wenn wir Töne wahrnehmen. So nehmen wir auch keine Farben im physikalischen Sinn wahr, wenn wir Farben "empfindend" wahrnehmen und analog sind die physikalischen Gerüche von den psychologisch in Frage kommenden zu unterscheiden; von Geschmack, Wärme usw. gilt ganz dasselbe.


§ 2. Erläuterung des Einwandes.

Um das, worum es sich handelt, recht deutlich zu machen, könnte man am zweckmäßigsten von dem zuletzt genannten Gegensatz ausgehen. Man könnte sagen: was schon im Falle der einfachen Beziehung der Reize zu den Empfindungen zutrifft, das muß erst recht von den Verhältnissen zwischen den entsprechenden komplexeren Gesamtheiten Geltung haben. Ist schon das psychologisch zunächst relevante Rot, der "Empfindungsinhalt", vom physikalischen Rot verschieden, so muß erst recht eine Verschiedenheit bestehen zwischen dem sinnlich als rot oder sonstwie wahrgenommenen Ding und dem, was in der physikalischen Welt diesem roten Ding "zugrunde liegt".

Damit ist dann eben auch gesagt, daß das "Sehding" nicht dieselben Eigenschaften zu haben braucht und, wie die Erfahrung zeigt, auch wirklich nicht hat wie das physisch-reale Ding; analog kann der Sehraum andere Eigenschaften haben als der physikalisch-reale Raum, die gesehene und ebenso die vorgestellte, gedachte Bewegung andere Eigenschaften als die physisch-reale Bewegung, das vorgestellte oder gedachte Dreieck andere als das physisch-reale. Genauso wie die Eigenschaften der physikalischen Farbe, auf die psychologisch relevante Farbe übertragen, Irrtümer ergeben, genauso muß auch die Übertragung der Eigenschaften der physisch-realen Bewegung oder des physisch-realen Dreiecks auf die psychologisch relevante Bewegung und das psychologisch relevante Dreieck zu Irrtümern führen. Es ist verkehrt, die psychologisch relevante Farbe durch eine bestimmte Wellenlänge, Schwingungsform usw. charakterisiert sein zu lassen, und es ist nicht minder verkehrt, die psychologisch relevante Bewegung (die Bewegungsauffassung im Sinne des als Bewegung Vorgestellten, Gedachten, Wahrgenommenen) durch Prädikate zu bestimmen, die uns zunächst von der physischen Bewegung her bekannt sind, wenn sie auch dieser allgemein zukommen.

Die psychologisch relevante Bewegung braucht ebensowenig durch eine bestimmte "Bahn", durch eine bestimmte Geschwindigkeit, durch ein in Bewegung befindliches Etwas ausgezeichnet zu sein wie die wahrgenommene Farbe durch eine bestimmte Schwingungsform; und das psychologisch relevante Dreieck braucht durchaus nicht notwendigerweise nur entweder gleichseitig oder ungleichseitig zu sein.


§ 3. Bedenken gegen den Einwand.
1. Eine irreführende Analogie

Ergeben sich jedoch bei dieser Analogisierung nicht doch einige Bedenken? Steht wirklich das physikalische Dreieck und die physikalische Bewegung mit dem physikalischen Ton und der physikalischen Farbe auf ganz gleicher Stufe?

Man beachte zunächst die Wissenschaften, die sich mit diesen Gegenständen beschäftigen. Reine Mathematik und theoretische Mechanik studieren ja gar nicht das physikalische Dreieck und die physikalische Bewegung, sondern diese beiden sind erst Gegenstände der angewandten Mathematik und der Physik als empirischer Wissenschaft. Der alleinige Gegenstand von Mathematik und theoretischer Mechanik sind vielmehr das Dreieck und die Bewegung: nur sie, nicht aber bestimmte da oder dort vorliegende individuelle Dreiecke und Bewegungen kommen in Frage. Es handelt sich also gar nicht um das physikalische Dreieck und die physikalische Bewegung in dem Sinne, in welchem es sich doch offenbar um physikalische "Farben" und "Töne" handelt. Die (empirische) Physik muß sich durchaus um individuelle, in der physikalischen Wirklichkeit vorkommende "Farben" und "Töne" bekümmern, um an ihnen festzustellen, ob überhaupt und was für Schwingungsvorgänge ihnen zugrunde liegen.

Doch wir bedürfen gar nicht des Rückganges auf die Wissenschaften. Denn wer sieht nicht, daß der Gegenstand "Farbe" und der ihm zugrunde liegende "Farbreiz" - dieser so oder so beschaffene Schwingungsvorgang - in einer ganz prinzipiell anderen, unvergleichlich fundamentaleren Weise voneinander verschieden sind als das psychologisch relevante Dreieck oder die psychologisch relevante Bewegung von Dreieck und Bewegung im eigentlichen, nächstliegenden Sinn?

Orientieren wir uns hier zunächst wieder an Beispielen, bei denen die Sachlage am durchsichtigsten ist. Gehen wir von den Zahlen aus. Zweifellos läßt sich ein Unterschied machen zwischen der Zahl 3 selbst und der psychologisch relevanten Zahl, der vorgestellten, gedachten oder vielleich auch in bestimmter Weise - z. B. als die den 3 realen Gegenständen vor mir zukommende Dreiheit - wahrgenommenen "3". Dann mag man immerhin zunächst diese psychologisch relevante Zahl 3 mit der psychologisch relevanten Farbe, dem psychologisch relevanten Ton usw. in Analogie bringen und ihnen die psychologisch irrelevante Dreiheit selbst ebenso wie das psychologisch irrelevante Etwas, das wir auch "Farbe" zu nennen pflegen, entgegensetzen. Aber diesem "zunächst" muß es dann auch bleiben.

Was bedeutet diese psychologische Relevanz bei der Zahl 3 des näheren? Ich denke doch wohl dieses, daß zum Gegenstand 3, d. h. zu dem Etwas, das wir meinen, wenn wir das Wort 3 sinnvoll gebrauchen, ein besonderes neues Merkmal hinzugetreten ist, eben das Merkmal der psychologischen Relevanz. Das, wovon wir jetzt reden, ist nicht mehr die 3 schlechthin - die 3 ansich, "bolzanoisch" gesprochen - sondern die vorgestellte, erinnerte, wahrgenommene, gedachte, kurz psychologisch irgendwie erfaßte 3. Denn es ist ja wohl heute überflüssig geworden, daran zu erinnern, daß ich nicht ganz dasselbe vorstelle, wenn ich einen bestimmten Gegenstand selbst vorstelle und wenn ich ihn als vorgestellten vorstelle. Heute wird kaum jemand, der ernsthaft in Betracht kommt, noch Anschauungen vertreten, wie 'ALEXANDER BAIN, nach dem es einen offenbaren Widerspruch bedeuten würde, einen Raum als unwahrgenommenen zu denken (9). Das ist nicht einmal dann richtig, wenn wir das "wahrgenommen" durch das allgemeinere "psychisch irgendwie erfaßt" ersetzen. Es ist nun einmal schlechterdings nicht abzuweisen, daß ich etwas wenigstens teilweise anderes erfasse, wenn ich einen Baum als erfaßten Baum erfasse, als wenn ich ihn nur als Baum erfasse. Ich bin, sobald ich den Baum als erfaßten erfasse, offenbar nicht mehr auf den Baum als solchen gerichtet, sondern auf den Baum, den ich oder sonst irgend jemand irgendwann einmal erfaßt hatte und der doch wohl, indem er erfaßt wurde, durch dieses Erfassen zugleich irgendwie determiniert wird.

So ist dann auch die erfaßte 3 von der 3 "ansich" oder das als 3 Erfaßte von dem bloß als 3 oder Dreiheit ansich Bestehenden gewiß verschieden. Aber man darf diese Verschiedenheit doch andererseits nicht so überspannen, daß man nun den sehr wesentlichen gemeinsamen Kern dessen, was hier als verschieden anzusehen ist, gänzlich verkennt. Die erfaßte 3 ist von der 3 selbst nicht weniger aber auch nicht mehr verschieden als der erfaßte Baum vom Baum. Beide sind und bleiben ganz und gar 3 und Baum mit allen ihren sonstigen Eigenschaften oder Merkmalen, nur sind sie eben noch durch das besondere Merkmal des Erfaßtseins determiniert. Man kann - wenn man will - diese Determination sogar mit der Bestimmung durch eine differentia specifica [unterscheidendes Merkmal - wp] in Analogie bringen, ohne damit den Sachverhalt zu ändern. In der Tat bedeutet die differentia specifica "erfaßt" das, was zu 3, dem Drei-Charakter, der Dreiheit hinzukommt, wie etwa zum Gattungscharakter "Pferd" die spezifische Differenz "braun" oder "schwarz" oder noch besser die spezifische Differenz "in meinem Besitz befindlich", "von mir oder Herrn A geritten" und dgl. mehr. Der 3-Charakter ist dort genau so gemeinsam wie hier der Gattungscharakter Pferd.

Eine bessere Analogie als der Gattungscharakter würde allerdings durch den Hinweis auf das physische Erfassen zu erreichen sein: dem psychisch erfaßten Gegenstand entspricht dann der physisch erfaßte, der erfaßten Zahl 3 der erfaßte Stein. Und ebensowenig wie durch das physische Erfassen der Stein aufhört ein Stein, hört das psychische Erfassen die Zahl 3 auf die Zahl 3 zu sein.

Daß dies nun in der Tat der Fall ist, geht daraus hervor, daß ich jemandem, dem ich auf irgendeine Weise (gleichgültig, ob mittels der Sprache oder sonstwie) kundtun möchte, was ich meine, wenn ich von der "erfaßten" 3 rede, dabei in erster Linie die Zahl 3übermitteln muß. Ohne diese Übermittlung würde ich nicht die Sicherheit gewinnen können, daß das übermittelte wirklich das wäre, als das ich es zu übermitteln wünsche. Ja: es ist prinzipiell so, daß ich eigentlich nur das mit der Zahl 3 Gemeinte kund zu tun brauche: die besonderen Eigenschaften, durch die sich die erfaßte 3 von der Zahl 3 unterscheidet, sind vielmehr nur sekundärer Natur und können anhand anderer ähnlicher Gegenstände - etwa der 2 oder der 5 - ebensogut übermittelt werden. Es ist eben die auch sonst schon bekannte Tatsache des Erfassen - Wahrnehmens, Vorstellens, Denkens -, die zur 3 überhaupt hinzutritt, um aus ihr die erfaßte 3 zu machen. Aus diesem Grund wird vor allem der Satz zu gelten haben: nie und nimmer können (soweit es sich überhaupt um Sinnvolles handelt) der erfaßten 3 Eigenschaften zukommen, die mit der 3 selbst und als solcher unverträglich sind, also mit den ihr wesentlich zukommenden Eigenschaften in Widerspruch geraten würden.'

Halten wir nun ein Beispiel aus jener anderen Gruppe von Gegenständen entgegen, bei denen die Sachlage ebenfalls besonders klar liegt. Wir meinten ja, daß die psychologisch relevante Farbe, z. B. ein bestimmtes Rot in einem wesentlich anderen Gegensatz zur psychologisch irrelevanten "Farbe" steht als die psychologisch relevante Zahl zur psychologisch irrelevanten.

Die psychologisch irrelevante Farbe wäre hier die physische "Farbe", also der Schwingungsvorgang, der der psychologisch relevanten Farbe entspricht. Liegt hier die Sache wie im vorigen Fall? Ich glaube, es ist sofort deutlich, daß sie anders liegt. Im Interesse der anderen schwierigen Fälle aber, die der eigentliche Gegenstand unserer Beachtung sind, wollen wir uns indessen trotzdem über die Gründe klar zu werden suchen, aus denen sich das des genaueren ergibt.

Wir haben also zu fragen: ist das als Rot Wahrgenommene oder überhaupt Erfaßte soviel wie das durch das Prädikat "wahrgenommen" oder "erfaßt" determinierte "Rot" selbst - wobei wir unter "Rot" selbst unserer Voraussetzung gemäß den physikalischen Schwingungsvorgang verstehen - oder handelt es sich dabei um einen völlig anderen Gegenstand? Kann ich, wenn ich jemand kundtun will, was ich unter einem psychologisch relevanten Rot verstehe, mich einfach auf den Schwingungsvorgang beziehen, um durch die Hinzufügung des Hinweises auf die anderweitig bekannte Tatsache des psychischen Erfassens und Wahrnehmens eine gewisse Sicherheit zu erhalten, daß der andere weiß, was mit dem wahrgenommenen Rot, der Farbenqualität also: dem "phänomenalen" Rot gemeint ist?

Es genügt, diese Fragen aufzuwerfen, um sie richtig zu beantworten. Das phänomenale Rot ist keine bloße nähere Bestimmung des physikalischen "Rot", nichts was sich mit der differentia specifica im Verhältnis zum genus proximum [nächsthöherer Gattungsbegriff - wp] in Beziehung bringen ließe, oder mit dem einen physischen Gegenstand, der identisch derselbe bleibt, mag er nun physisch erfaßt werden oder nicht; sondern phänomenales und physikalisches "Rot" sind zwei verschiedene, an und für sich ganz und gar heterogene Gegenstände, die nur deshalb mit demselben Namen bezeichnet werden, weil sie miteinander in einer sehr engen gesetzmäßigen Beziehung stehen. Dieser Name ist also einfach ein äquivoker [mehrdeutiger - wp] Ausdruck, der in jedem einzelnen Fall zwei individuelle Exemplare bezeichnet, die ihrem bloßen Sinn nach betrachtet schlechterdings gar nichts miteinander zu tun haben, die aber auch, wenn sie mehr miteinander zu tun hätten, doch immer zwei selbständig einander gegenüberstehende Gegenstände bleiben würden - wobei wir das Wort Gegenstand hier wie immer, wo sich nichts anderes aus dem Zusammenhang ergibt, in dem weiten Sinn von "Etwas überhaupt" nehmen.

Ganz anders ist die Sachlage im Fall der erfaßten Dreizahl. Hier ist natürlich keine Rede davon, daß das Wort "Dreizahl" (oder Zahl 3, was ja nicht ganz dasselbe besagt - doch kommt es auf diesen Unterschied hier nicht an) ein äquivoker Ausdruck sein könnte. Ich meine mit dem Wort "Dreizahl" oder mit dem Zeichen 3 identisch einen' Gegenstand und zwar zunächst einen ideellen Gegenstand, der, sobald er als "erfaßt" vorliegt, dadurch in bestimmter Weise determiniert und das heißt in einem gewissen eigentümlichen Sinn zu einem Spezialfall des ideellen Gegenstandes gemacht wird.

Liegt ferner ein individueller Fall von Dreiheit vor - drei individuelle Gegenstände also - und ist auch diese Dreiheit erfaßt und vielleicht wahrgenommen, so ist wiederum die Sachlage im eigentlich Wesentlichen unverändert. Denn die drei individuellen Gegenstände sind eben doch drei, und die besondere Bestimmung, daß diese drei in Gestalt eines individuellen Falles vorliegen, hindert natürlich nicht, daß sie die Eigenschaften haben, die immer und überall für die Dreiheit charakteristisch sind. Die erfaßte individuelle Dreiheit ist eine in doppelter Weise determinierte Dreiheit, aber sie ist jedenfalls Dreiheit. Sie ist von der anderen Seite gesehen ein einziges Individuelles, eine einzige individuelle Gruppe, die erstens als Dreiheit, zweitens als erfaßt, als wahrgenommen näher bestimmt oder determiniert ist; dagegen läßt sich keineswegs sagen, daß ein einziges individuelles Etwas vorhanden wäre, das erstens als "Farbe" in einem rein physikalischen Sinn und zweitens als Farbe in einem psychologisch relevanten Sin, als wahrgenommene Farbe determiniert ist. Sondern: die physikalische "Farbe" - der Schwingungsvorgang - ist ein Individuelles für sich und die wahrgenommene phänomenale Farbe ist ebenso ein Individuelles für sich, beide phänomenal völlig getrennt voneinander bestehend, nicht aber das eine eine bloße Determination des anderen.


2. Beziehung zwischen einem gegebenen
Gegenstand und einem entsprechenden wirklichen.

Wir betrachten nun weiter folgenden Fall. Ich erfasse ein individuell vorliegendes phänomenales Rot, stelle es vor oder nehme es wahr. Zugleich weiß ich, während ich es vorstelle oder wahrnehme, auf das Genaueste, daß diesem phänomenalen Rot stets ein anderer individueller Gegenstand, ein Schwingungsvorgang "entspricht", ich stelle mir diesen Schwingungsvorgang vor und ich stelle ihn mir speziell vor als in gesetzmäßiger Beziehung stehend zum phänomenalen Rot. Vielleicht weiß ich außerdem, daß der Schwingungsvorgang allein in der Außenwelt "wirklich" vorkommt, und stelle auch dieses vor oder - wenn man den Terminus "vorstellen" hier nicht andwenden will - denke auch dieses, während ich das phänomenale Rot erfasse. Es kann dann kommen, daß ich das phänomenale Rot sinnlich wahrnehme und zugleich den Schwingungsvorgang, den anderen individuellen Vorgang also, als mit diesem Rot in einem unmittelbaren gesetzmäßigen Zusammenhang stehend vorstelle. Das läßt sich dann so ausdrücken, daß ich das Bewußtsein habe, daß im phänomenalen Gegenstand sich ein anderer mir verborgener Gegenstand darstellt, seinen Ausdruck findet oder zur Erscheinung gelangt. Und es ist auch ganz zweckmäßig so zu reden, wenn man sich dadurch nicht verführen läßt, den einen individuellen Gegenstand als bloße Eigenschaft des anderen oder gar als seinen unbeständigen Teil anzusehen. Das Rot ist weder eine zutage tretende Eigenschaft des verborgenen Schwingungsvorgangs, noch ist der Schwingungsvorgang eine verborgene Eigenschaft des erscheinenden Rot. Sondern: der Schwingungsvorgang bleibt individuell für sich, die Schwingungen, die in ihm vorliegen, sind Eigenschaften eines individuellen Gebildes, das keineswegs mit dem phänomenalen Rot zusammenfällt, und das phänomenale Rot wiederum ist Eigenschaft nicht des Schwingungsvorgangs, sondern eines ganz anderen individuellen Gebildes, nämlich der gesehenen Fläche und weiter des körperlichen Gegenstandes, dem die Fläche angehört. Die Beziehung, in der Schwingungsvorgang und Rotphänomen zueinander stehen, ist nicht die vom Gegenstand zu seinen Eigenschaften oder Beschaffenheiten, sondern vielmehr die zweier individueller Gegenstände zueinander. Beide verhalten sich zueinander nicht wie etwa die Gestalt zum gestalteten Ding, sondern wie das Blatt zur Luft, die es bewegt, oder wie die Marionetten zum agierenden Künstler (10).

Doch davon wird erst später genauer zu reden sein. Worauf es mir jetzt allein ankommt, ist dieses:


3. Dem erfaßten Gegenstand kommen wesentlich
dieselben Prädikate zu wie dem Gegenstand selbst.

Wenn gesagt wird, es könne ein wahrgenommener, vorgestellter, gedachter, kurz - wie ich es genannt habe - psychologisch irgendwie relevanter (individueller) Gegenstand wesentlich andere Eigenschaften haben als der entsprechende "wirkliche" Gegenstand, so halte ich dem aufgrund meiner Feststellungen entgegen, daß es eine handgreifliche Unklarheit enthält. Die kommt prinzipiell in folgender Überlegung zum Ausdruck, die wir zur völligen Klarstellung der Sache mit Veränderung der Beispiele und unter einem neuen Gesichtspunkt hier noch einmal hervorheben wollen.

Es liegt ein Gegenstand A vor, etwa ein Würfel.

Dieser Gegenstand soll nun psychische irgendwie erfaßt werden.

Man könnte da zunächst sagen, der Gegenstand A ist schon dann erfaßt, wenn in Wahrheit nur Teile von ihm erfaßt sind, z. B. nur seine untere Hälfte, und wenn von der oberen Hälfte dabei nichts gewußt wird. Dann allerdings hat der wirkliche Gegenstand A andere Eigenschaften als der erfaßte. Aber dieser Fall muß natürlich von vornherein ausscheiden. Denn sowohl von uns wie von unseren Gegnern wird natürlich nur der Fall in Betracht gezogen, in welchem der Gegenstand A auch als A erfaßt wird. 'MESSERs Behauptung, es könne ein Dreieck, auf das die Prädikate gleichseitig und ungleichseitig zugleich passen, oder eine Bewegung ohne die charakteristischen Bewegungseigenschaften anschaulich vorgestellt werden, verlöre ja offenbar allein Sinn, wenn damit nicht gesagt sein sollte, daß das Dreieck als Dreieck und die Bewegung als Bewegung vorgestellt werden müßte. Denn dieser Forscher will ja durch den Hinweis auf eine solche merkwürdige Dreiecksvorstellung einen Weg angeben, auf dem ein Dreieck überhaupt vorgestellt werden könnte: ein Dreieck überhaupt müßte aber doch wohl als Dreieck gemeint sein, es könnte ja sonst für niemanden dazu dienen, die Dreiecksvorstellung zu vermitteln. Ähnlich liegt es im Fall des anderen Beispiels.

Wenn ich also den Gegenstand A als A erfaßt habe, so ist der Gegenstand zwar durch das Prädikat "erfaßt" determiniert, doch kann diese Determinierung nicht hindern, daß er in den Beschaffenheiten oder Eigenschaften, die ihn eben als dieses A kennzeichnen und als identisch-einen allen anderen Gegenständen gegenüber, die nicht A sind, charakterisieren, derselbe geblieben sein muß. Das Gegenteil wäre sinnwidrig. Denn dann würde ja im Grunde behauptet, daß das erfaßte A nicht A wäre. Diese Behauptung wäre allein dann gerechtfertigt, wenn es sich im Fall des erfaßten A um einen bloß äquivoken Ausdruck handeln würde, wie beim phänomenalen Rot im Gegensatz zum physikalischen. In jedem anderen Fall werden durch das A gewisse Eigenschaften angegeben, die einen bestimmten Gegenstand A eindeutig kennzeichnen.

Deshalb gilt, daß, sobald A - als Gegenstand, nicht als Ausdruck - erfaßt ist, daß dann auch alle Eigenschaften, die das A wesensgesetzlich bestimmen, in gewisser Weise auch "miterfaßt" sein müssen, wenn sie auch gewiß nicht als solche explizit bewußt zu sein brauchen. Der erfaßte Würfel ist notwendigerweise als etwas erfaßt, das durch sechs Quadrate und nicht etwa durch sechs Rhombusflächen begrenzt ist, und als etwas, das acht und nicht etwa bloß vier oder sechs Ecken hat: und ich bin - wie schon früher gesagt - absolut sicher, daß der, welcher über das erfaßte "A" andere Angaben machen, damit nur zeigen würde, daß er seinen Angaben zum Trotz in Wahrheit kein A erfaßt oder aber es im Moment der Feststellung seiner Angaben doch nicht klar genug gegenwärtig gehabt und infolgedessen einen Irrtum begangen hat.

Selbstverständlich können zum erfaßten A auch noch eine Anzahl weiterer Bestimmungen hinzutreten, die es noch spezieller determinieren: der Würfel kann rot oder weiß sein, klein oder groß, durchsichtig oder undurchsichtig usw. Nie aber können - solange es sich eben um einen Würfel handelt, d. h. um etwas, das mit anderen zweifellosen Würfeln und eben in dieser ihrer Würfeleigenschaft identifiziert wird, nie können dergleichen Bestimmungen den Wesensmerkmalen des Würfels kontradiktorisch sein.


4. Ein experimenteller Gegenbeweis?

Man könnte nun folgenden Einwand machen, und soviel ich sehe entspricht er ganz und gar den Intentionen der Vertreter der hier bekämpften Ansicht. Man kann nämlich darauf hinweisen, es müsse sich doch jedenfalls ein Würfel mit 6 oder 10 oder 11 Ecken vorstellen oder doch jedenfalls irgendwie erfassen lassen. Denn wie wollten wir sonst überhaupt von dergleichen reden? Ist das aber der Fall, so gibt es eben auch einen solchen Würel in einem psychologisch relevanten Sinne. Und Analoges hätte von der 3, die keine Primzahl ist oder deren Verdoppelung 4 ergibt, zu gelten und dann gäbe es natürlich auch in demselben Sinn eine Bewegung ohne bewegtes Etwas und ein Dreieck, auf das die Prädikate gleichseitig und ungleichseitig "zumal" anwendbar sind. Und damit wäre dann doch alles bewiesen, was es schließlich zu beweisen galt.

Daß es sich aber in der Tat so verhält, das ist außerdem durch die empirische Forschung sichergestellt und durch bekannte psychologische Experimente erwiesen.

Es wird gut sein, wenn wir uns gleich hier mit einigen dieser Experimente insofern befassen, als es unsere allgemeine Fragestellung erfordert.
LITERATUR Paul Ferdinand Linke, Grundfragen der Wahrnehmungslehre, München 1918
    Anmerkungen
    1) Karl Bühler, Die Gestaltwahrnehmungen, Stuttgart 1913, Seite 5.
    2) In meiner Auseinandersetzung mit Elsenhans "Das Recht der Phänomenologie", Kant-Studien, Bd. 21, Seite 163f. Der Aufsatz ist in der Hauptsache auch ohne Kenntnis des von Elsenhans veranlaßten, zu verstehen.
    3) Hans Driesch sucht das Wort "Phänomenologie" durch "Selbstbesinnungslehre" zu verdeutschen; doch wohl nicht mit Recht: die Phänomenologie der Zahlen z. B. ist gewiß keine Selbstbesinnungslehre. (Vgl. Driesch, Ordnungslehre, Jena 1912, Seite 14f)
    4) August Gallinger nennt seine Untersuchungen über "Das Problem der objektiven Möglichkeit", Leipzig 1912, eine Bedeutungsanalyse.
    5) In seiner Arbeit "Über psychologische Darstellungsexperimente", Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 35, Seite 4, macht Walter Baade für die häufig vorkommende Angabe der Versuchspersonen, "dies oder jenes Erlebnis sei unbeschreibbar gewesen", u. a. den Umstand verantwortlich, "daß es an einem adäquaten Ausdruck zur Bezeichnung eines Merkmals fehlt". Man braucht das nur konsequent weiter zu denken, um auf den für uns hier maßgebenden Gedanken geführt zu werden. Denn meist wird ja nicht bloß der lautliche Ausdruck fehlen, sondern der "Begriff" und das heißt genauer dieses: dem Beobachter stehen die Eigenschaften und Beziehungen gedanklich nicht zu Gebote, mit deren Hilfe er die sich ihm ansich deutlich gegebenen Eigenschaften eines psychischen Tatbestandes hätte charakterisieren können. Er befindet sich genau in der Lage eines Nicht-Mathematikers einem komplizierten geometrischen Gebilde gegenüber. Um Abhilfe zu schaffen, ist in beiden Fällen eine rein gedanklich (aber darum nicht notwendig "unanschauliche") Arbeit vonnöten. Auf eine solche Arbeit habe ich es hier nicht abgesehen. - - - Zugleich erhellt sich aus dem Gesagten, daß es der Phänomenologie, wie ich sie verstehe, nicht auf Beschreibungen ankommt, sondern auf die Gewinnung der zu solchen Beschreibungen erforderlichen eindeutigen Merkmale. Sie macht dadurch eine völlig exakte Beschreibung "erst möglich".
    6) Messer, Psychologie, 1914, Seite 168.
    7) a. a. O., Seite 194.
    8) Das Wort Gegenstand steht imer in dem weiter unten angegebenen weiten Sinn von "Etwas" überhaupt.
    9) Vgl. Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, Leipzig 1874, Seite 120f.
    10) Ich will damit natürlich die Analogie nicht so weit treiben, daß im Falle des Rotphänomens ein kausaler Zusammenhang angenommen werden müßte. Die bloße gesetzmäßige Beziehung genügt (vgl. Abschnitt XI).