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ERNST CASSIRER
Das Erkenntnisproblem
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"Die Geschichte der Philosophie kann, so wahr sie Wissenschaft ist, keine Sammlung bedeuten, durch die wir die Tatsachen in bunter Folge kennenlernen; sie will eine  Methode; sein, durch die wir sie verstehen lernen. Daß die  Prinzipien, auf die sie sich hierbei stützt, zuletzt  subjektiv sind, ist freilich wahr; aber es besagt nichts anderes, als daß unsere Einsicht hier wie überall durch die Regel und das Gesetz unserer  Erkenntnis bedingt ist. Die Schranke, die hierin zu liegen scheint, ist überwunden, sobald sie durchschaut ist, sobald die unmittelbar gegebenen Phänomene und die begrifflichen Mittel für ihre theoretische Deutung nicht mehr unterschiedslos in Eins verschwimmen."

"In allem begrifflichen Wissen haben wir es nicht mit einer einfachen Wiedergabe, sondern mit einer Gestaltung und inneren  Umformung des Stoffs zu tun haben, der sich uns von außen darbietet."

"Solange die Vernunft in sich selbst noch nicht ihre Festigkeit und ihre Selbstgewißheit gefunden hat, bleibt ihr auch die Geschichte nur ein wirres und widerspruchsvolles Chaos. Es bedarf bestimmter sachlicher Prinzipien der Beurteilung, es bedarf fester Gesichtspunkte der Auswahl und der Formung, damit die historischen Erscheinungen, die für sich allein stumm sind, zu einer lebendigen und sinnvollen Einheit werden."


Vorrede zur ersten Auflage

Die Schrift, deren ersten Band ich hier veröffentliche, stellt sich das Ziel, die geschichtliche Entstehung des Grundproblems der neueren Philosophie zu beleuchten und durchsichtig zu machen. Alle gedanklichen Bestrebungen der neueren Zeit fassen sich zuletzt zu einer gemeinsamen höchsten Aufgabe zusammen: es ist ein neuer Begriff der  Erkenntnis, der in ihnen in einem stetigen Fortgang erarbeitet wird. So einseitig es wäre, den Ertrag der modernen philosophischen Arbeit lediglich auf logischem Gebiet aufsuchen zu wollen: so deutlich läßt sich doch erkennen, daß die verschiedenen geistigen Kulturmächte die zu einem endgültigen Ergebnis zusammenwirken, erst kraft des  theoretischen Selbstbewußtseins,  das sie erringen, ihre volle Wirkung entfalten können und daß sie damit mittelbar zugleich die allgemeine Aufgabe und das Ideal des Wissens fortschreitend umgestalten.

Jede Epoche besitzt ein Grundsystem letzter allgemeiner Begriffe und Voraussetzungen, kraft deren sie die Mannigfaltigkeit des Stoffes, den ihr Erfahrung und Beobachtung bieten, meistert und zur Einheit zusammenfügt. Der naiven Auffassung aber und selbst der wissenschaftlichen Betrachtung, soweit sie nicht durch kritische Selbstbesinnung geleitet ist, erscheinen diese Erzeugnisse des Geistes selbst als starre und ein für alle Mal  fertige Gebilde. Die Instrumente des Denkens werden zu bestehenden Objekten umgewandelt; die freien Setzungen des Verstandes werden in der Art von  Dingen  angeschaut, die uns umgeben und die wir passive hinzunehmen haben. So wird die Kraft und Unabhängigkeit des Geistes, die sich in der Formung des unmittelbaren Wahrnehmungsinhaltes bekundet, von neuem durch ein System fester Begriffe beschränkt, das ihm wie eine zweite unabhängige und unabänderliche  Wirklichkeit  gegenübertritt. Die Jllusion, aufgrund deren wir die subjektiven Empfindungen der Sinne den Gegenständen selbst anheften, wird von der Wissenschaft Schritt für Schritt beseitigt: aber an ihrer Stelle erhebt sich die nicht minder gefährliche Jllusion des  Begriffs Wenn die "Materie" oder das "Atom" ihrem reinen Sinn nach nichts anderes bedeuten wollen, als die Mittel, kraft deren der  Gedanke  seine Herrschaft über die Erscheinungen gewinnt und sichert, so werden sie hier zu selbständigen Mächten, denen er sich zu unterwerfen hat.

Erst die kritische Analyse, die den inneren gesetzlichen Aufbau der Wissenschaft aus ihren Prinzipien aufhellt, vermag diesen  Dogmatismus  der gewöhnlichen Ansicht zu entwurzeln. Was dieser als ein selbstgenügsamer und fest umschränkter Inhalt gilt, das erweist sich jetzt als eine intellektuelle Teilbedingung des Seins, als ein einzelnes begriffliches Moment, das erst im Gesamtsystem unserer Grunderkenntnisse zu wahrer Wirksamkeit gelangt. So notwendig und unumgänglich jedoch diese rein logische Auflösung ist: so schwierig ist sie zugleich. Gerade an dieser Stelle darf daher die systematische Zergliederung der Erkenntnis die Hilfsmittel nicht verschmähen, die die  geschichtliche  Betrachtung ihr allenthalben darbietet. Ein Hauptziel, dem die inhaltliche Kritik der Prinzipien zustrebt, läßt sich in ihr fast mühelos und in voller Klarheit gewinnen: das Trugbild des "Absoluten" verschwindet hier von den ersten Schritten an von selbst. Indem wir die Voraussetzungen der Wissenschaft als  geworden  betrachten, erkennen wir sie eben damit wiederum als  Schöpfungen  des Denkens an; indem wir ihre historische  Relativität  und Bedingtheit durchschauen, eröffnen wir uns damit den Ausblick in ihren unaufhaltsamen Fortgang und ihre immer erneute Produktivität. Die beiden Richtungen der Betrachtung fügen sich hier zwanglos und ungesucht ineinander ein. Die systematische Gliederung der Grunderkenntnisse und das Verhältnis ihrer inneren Abhängigkeit tritt uns im Bild ihrer geschichtlichen Entwicklung noch einmal deutlich und faßlich entgegen. So wenig diese Entwicklung verstanden und dargestellt werden kann, ohne daß man sich das  Ganze,  dem sie zustrebt, beständig in einem idealen Entwurf vor Augen hält: so wenig gelangt die fertige Gestalt selbst zur vollen anschaulichen Bestimmtheit, ehe wir sie nicht in ihren einzelnen Teilen vor uns entstehen lassen.

In dieser Grundansicht habe ich versucht, in der folgenden Darstellung das systematische und das geschichtliche Interesse zu vereinen. Von Anfang an galt es mir als das notwendige und selbstverständliche Erfordernis, die Herausbildung der fundamentalen Begriffe an den  geschichtlichen  Quellen selbst zu studieren und jeden Einzelschritt der Darstellung und Schlußfolgerung unmittelbar aus ihnen zu rechtfertigen. Die einzelnen Gedanken sollten nicht nur ihrem allgemeinen Sinn nach in historischer Treue wiedergegeben, - sie sollten zugleich innerhalb des bestimmten intellektuellen Gesichtskreises, dem sie angehören, betrachtet und aus ihm heraus begriffen werden. Hier erwarte und erhoffe ich die eingehende Nachprüfung von Seiten der Kritik; je genauer und strenger sie ist, umso erwünschter wird sie mir sein. Ich selbst habe bei der Herbeischaffung und Sichtung des historischen Materials die Lücken unseres heutigen Wissens auf dem Gebiet der Geschichte der Philosophie zu lebhaft empfunden, als daß ich nicht jede Förderung durch erneute, eindringende Spezialforschung willkommen heißen sollte. Und je bestimmter und schärfer die Kenntnis des Einzelnen sich gestalten wird, umso deutlicher werden sich auch die großen intellektuellen Zusammenhänge vor uns enthüllen. Die immanente  Logik  der Geschichte gelangt umso klarer zu Bewußtsein, je weniger sie  unmittelbar  gesucht und mittels eines fertigen Schemas in die Erscheinung hineinverlegt wird, umso deutlicher werden sich auch die großen intellektuellen Zusammenhänge vor uns enthüllen. Die immanente  Logik  der Geschichte gelangt umso klarer zu Bewußtsein, je weniger sie  unmittelbar  gesucht und mittels eines fertigen Schemas in die Erscheinung hineinverlegt wird. Daß die innere  Einheit,  die die einzelnen Tatsachen verknüpft, nicht direkt mit diesen selber mitgegeben, sondern immer erst durch gedankliche  Synthesen  zu erschaffen ist: dies muß freilich von Anfang an erkannt werden. Das Recht derartiger Synthesen wird heute - da auch die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der Geschichte klarer begriffen und formuliert sind - keines besonderen Erweises mehr bedürfen; nicht das allgemeine Verfahren, sondern nur seine besondere Anwendung kann kritisch bestritten werden. Die Geschichte der Philosophie kann, so wahr sie Wissenschaft ist, keine Sammlung bedeuten, durch die wir die Tatsachen in bunter Folge kennenlernen; sie will eine  Methode  sein, durch die wir sie verstehen lernen. Daß die  Prinzipien,  auf die sie sich hierbei stützt, zuletzt "subjektiv" sind, ist freilich wahr; aber es besagt nichts anderes, als daß unsere Einsicht hier wie überall durch die Regel und das Gesetz unserer  Erkenntnis  bedingt ist. Die Schranke, die hierin zu liegen scheint, ist überwunden, sobald sie durchschaut ist, sobald die unmittelbar gegebenen Phänomene und die begrifflichen Mittel für ihre theoretische Deutung nicht mehr unterschiedslos in Eins verschwimmen, sondern beide Momente, sowohl in ihrer Durchdringung, wie in ihrer relativen Selbständigkeit erfaßt werden. -

Die Abgrenzung des Stoffgebietes und die leitenden Gesichtspunkte für seine Behandlung habe ich in der Einleitung zu begründen gesucht. Die allgemeine Fassung der Aufgabe verlangte, daß die Betrachtung nicht auf die Abfolge der einzelnen philosophischen Systeme beschränkt, sondern stets zugleich auf die Strömungen und Kräfte der allgemeinen geistigen Kultur, vor allem auf die Entstehung und Fortbildung der  exakten Wissenschaften  bezogen wurde. Diese Erweiterung hat es verschuldet, daß der erste Band, der hier erscheint, über die  Anfänge  der neueren Philosophie nicht hinausreicht. Der Reichtum der philosophischen und wissenschaftlichen  Renaissance,  der heute noch kaum erschlossen, geschweige denn bewältigt ist, forderte überall ein längeres Verweilen; wird doch hier der originale und sichere Grund für alles Folgende gelegt.


Einleitung

Der naiven Auffassung stellt sich das Erkennen als ein Prozeß dar, in dem wir uns eine ansich vorhandene, geordnete und gegliederte Wirklichkeit nachbildend zu Bewußtsein bringen. Die Tätigkeit, die der Geist hierin entfaltet, bleibt auf einen Akt der  Wiederholung  beschränkt: nur darum handelt es sich, einen Inhalt, der uns in fertiger Fügung gegenübersteht, in seinen eizelnen Zügen nachzuzeichnen und uns zueigen zu machen. Zwischen dem "Sein" des Gegenstandes und der Art, in der er sich in der Erkenntnis widerspiegelt, besteht auf dieser Stufe der Betrachtung keine Spannung und kein Gegensatz: nicht der Beschaffenheit, sondern lediglich dem  Grad  nach lassen sich beide Momente auseinanderhalten. Das Wissen, das sich die Aufgabe stellt, den  Umfang  der Dinge zu erfassen und zu erschöpfen, vermag dieser Forderung nur allmählich zu genügen. Seine Entwicklung vollzieht sich in den sukzessiven, in denen es nach und nach die ganze Mannigfaltigkeit der ihm entgegenstehenden Objekte ergreift und zur Vorstellung erhebt. Immer wird dabei die Wirklichkeit als ein in sich selbst ruhender fester Bestand gedacht, den das Erkennen nur seinem gesamten Umkreis nach zu umschreiten hat, um ihn sich in allen seinen Teilen deutlich und vorstellig zu machen.

Schon die ersten Anfänge der theoretischen Weltbetrachtung aber erschüttern den Glauben an die Erreichbarkeit, ja an die innere Möglichkeit des Ziels, das diese populäre Ansicht dem Erkennen setzt. Mit ihnen wird sogleich deutlich, daß wir es in allem begrifflichen Wissen nicht mit einer einfachen Wiedergabe, sondern mit einer Gestaltung und inneren  Umformung  des Stoffs zu tun haben, der sich uns von außen darbietet. Die Erkenntnis gewinnt eigentümliche und spezifische Züge und gelangt zu qualitativer Unterscheidung und Entgegensetzung gegen die Welt der Objekte. Mag die naive Grundanschauung tatsächlich bis weit in die abstrakte Theorie hinein weiterwirken und ihre Vorherrschaft behaupten: mit dem Beginn der Wissenschaft ist sie mittelbar bereits entwurzelt. Die Aufgabe wandelt sich nunmehr: sie besteht nicht in der nachahmenden Beschreibung, sondern in der  Auswahl  und der  kritischen Gliederung,  die an der Mannigfaltigkeit der Wahrnehmungsdinge zu vollziehen ist. Die auseinanderstrebenden Anzeigen der Empfindung werden nicht gleichmäßig hingenommen, sondern sie werden derart gedeutet und umgebildet, daß sie sich zu einer in sich einstimmigen, systematischen Gesamtverfassung fügen. Nicht mehr schlechthin das Einzelding, sondern die Forderung eines inneren Zusammenhangs und einer inneren Widerspruchslosigkeit, die der Gedanke stellt, bildet nunmehr das letzte Urbild, an dem wir die "Wahrheit" unserer Vorstellungen messen. Kraft dieser Forderung zerlegt sich das unterschiedslose und gleichförmige "Sein" der naiven Auffassung in getrennte Gebiete, grenzt sich ein Bereich der echten, wesentlichen Erkenntnis vom Umkreis des "Scheinens" und der wandelbaren Meinung ab. Der wissenschaftliche  Verstand  ist es, der nunmehr die Bedinungen und Ansprüche seiner eigenen Natur zugleich zum Maß des Seienden macht. Nach dem Grund und der Rechtfertigung dieser Ansprüche selbst wird hier zunächst nicht gefragt; in voller unbefangener Sicherheit schaltet das Denken mit den empirischen Inhalten, bestimmt es aus sich heraus die Kriterien und Gesetze, nach denen sie zu formen sind.

Dennoch vermag der Gedanke in dieser ersten naiven Selbstgewißheit, so bedeutsam und fruchtbar sie sich ihm erweist, nicht zu verharren. Die Kritik, die er am Weltbild der unmittelbaren Anschauung vollzogen hat, enthält, tiefer gefaßt und durchgeführt, für ihn selbst ein dringliches und schwieriges Problem. Wenn das Erkennen nicht mehr schlechthin das Abbild der konkreten sinnlichen Wirklichkeit, wenn es eine eigene ursprüngliche Form ist, die es allmählich gegenüber dem Widerspruch und dem Widerstand der Einzeltatsachen der Empfindung durchzusetzen und auszuprägen gilt, so ist damit die frühe Grundlage für die Gewißheit unserer Vorstellungen hinfällig geworden. Wir können sie nicht mehr unmittelbar mit ihren äußeren dinglichen "Originalenn" vergleichen, sondern müssen in ihnen selbst das Merkmal und die Regel entdecken, die ihnen Halt und Notwendigkeit gibt. Bestand der erste Schritt darin, die scheinbare Sicherheit und Festigkeit der Wahrnehmungsobjekt aufzuheben und die Wahrheit und Beständigkeit des Seins in einem System wissenschaftlicher  Begriffe  zu gründen, so muß nunmehr erkannt werden, daß uns auch in diesen Begriffen kein letzter unangreifbarer und fragloser Besitz gegeben ist. Erst in dieser Einsicht vollendet sich die  philosophische  Selbstbestimmung des Geistes. Wenn es der Wissenschaft genug ist, die vielgestaltige Welt der Farben und Töne in die Welt der Atome und Atombewegungen aufzulösen und ihr damit in letzten konstanten Einheiten und Gesetzen Gewißheit und Dauer zu verleihen, so entsteht das eigentlich philosophische Problem erst dort, wo diese Urelemente des Seins selbst als  gedankliche Schöpfungen  verstanden und gedeutet werden. Die Begriffe der Wissenschaft erscheinen jetzt nicht mehr als Nachahmungen dinglicher Existenzen, sondern als Symbole für die Ordnungen und funktionalen Verknüpfungen innerhalb des Wirklichen. Diese Ordnungen aber lassen sich nicht fassen, solange wir bei einem passiven Eindruck der Dinge stehen bleiben, sondern sie werden erst in der intellektuellen Arbeit, im tätigen Fortgang von bestimmten Grundelementen zu immer komplexeren Schlußfolgerungen und Bedingungszusammenhängen ergriffen. Diese Gesamtbewegung des Denkens erst ist es, in der nunmehr der Begriff des Seins selbst sich fortschreitend bestimmt.

Aber freilich: dem Bereich grenzenloser  Relativität,  dem wir noch eben entronnen zu sein meinten, scheinen wir jetzt von neuem und für immer überantwortet. Die Wirklichkeit der Objekte hat sich uns in Welt idealer, insbesondere mathematischer Beziehungen aufgelöst; an Stelle der dinglichen Welt ist eine geistige Welt reiner Begriffe und "Hypothesen" erstanden. Die Geltung reiner Ideen aber steht mit der Starrheit und Festigkeit, die die gewöhnliche Ansicht den sinnlichen Dingen zuspricht, nicht auf derselben Stufe. Die Bedeutung der Ideen tritt vollständig erst in der allmählichen  Gestaltung  der wissenschaftlichen Erfahrung hervor: und diese Gestaltung kann nicht anders erfolgen, als dadurch, daß die Idee selbst sich hierbei in verschiedenen logischen Gestalten darstellt. Erst in dieser Mannigfaltigkeit tritt ihr einheitlicher Sinn und ihre einheitliche Leistung heraus. So fordert das eigene Wesen jener logischen Grundbegriffe, die die Wissenschaft aus sich heraus entwickelt, daß wir sie nicht als gesonderte und voneinander losgelöste Wesenheiten betrachten, sondern sie in ihrer  geschichtlichen  Abfolge und Abhängigkeit erfassen. Damit aber droht uns zugleich der feste systematische Haltpunkt zu entschwinden. Die gedanklichen Einheiten, mittels derer wir das Gewirr der Erscheinungen zu gliedern suchen, halten selbst, wie es scheint, nirgends stand; im bunten Wechselspiel verdrängen sie sich und lösen unablässig einander ab. Wir versuchen vergebens, bestimmte beharrliche Grundgestalten des Bewußtseins, gegebene und konstante  Elemente  des Geistes auszusondern und festzuhalten. Jedes "a priori", das auf diesem Weg als eine unverlierbare Mitgift des Denkens, als ein notwendiges Ergebnis seiner psychologischen oder physiologischen "Anlage" behauptet wird, erweist sich als ein Hemmnis, über das der Fortschritt der Wissenschaft früher oder später hinwegschreitet. Wenn wir daher hier, in den gedanklichen Synthesen und Setzungen, das "Absolute" wiederzufinden hofften, das sich der unmittelbaren Wahrnehmung entzog, so sehen wir uns nunmehr enttäuscht; was uns zuteil wird, sind nur immer erneute  hypothetische  Ansätze und Versuche, den Inhalt der Erfahrung, soweit er sich uns auf der jeweiligen Stufe unserer Erkenntnis erschlossen hat, auszusprechen und zusammenzufassen. Ist es nicht Willkür, irgendeines dieser mannigfachen Systeme fixieren und der künftigen Forschung als Muster und Regel aufdrängen zu wollen? Sind unsere Begriffe etwas anderes und können sie mehr zu sein verlangen, als Rechenmarken: als vorläufige Abkürzungen, in denen wir den augenblicklichen Stand unseres empirischen Wissens überschauen und zur Darstellung bringen? Die unbedingte Einheit und  Gleichförmigkeit  der Erfahrung erscheint selbst als eines jener Begriffspostulate, deren bloß relative Geltung nunmehr durchschaut ist. Nichts versichert uns mehr, daß nicht der gesamte begriffliche Inhalt, den das Denken erbaut und notwendig erbauen muß, im nächsten Augenblick durch eine neue Tatsache gestürzt und vernichtet wird. Für die  eine  und unwandelbare "Natur", die uns anfangs als zweifelloser Besitz galt, haben wir somit, wie es scheint, nur das Spiel unserer "Vorstellungen" eingetauscht, das durch keine innere Regel mehr gebunden ist. So hebt diese letzte Folgerung, in die die  geschichtliche  Betrachtung des Gangs der Wissenschaft einmündet, den Sinn und die Aufgabe der  Philosophie  auf.

Wir dürfen uns dieser Konsequenz nicht verschließen, sondern müssen sie aufnehmen und weiterführen. In der Tat wäre es ungenügend, wenn man ihr etwa mit dem Hinweis begegnen wollte, daß die vorangehenden Leistungen des Denkens und der Forschung in den folgenden als notwendige Momente enthalten und "aufgehoben" seien. In so einfacher und geradliniger Folge, wie diese Konstruktion es voraussetzt und verlangt, gehen die verschiedenen Begriffssysteme nicht auseinander hervor. Der empirische Gang der Erkenntnis vollzieht sich keineswegs immer in der Art, daß die einzelnen Momente sich friedlich aneinanderreihen, um sich mehr und mehr zu einer einheitlichen Totalansicht zu ergänzen. Nicht in einem solchen stetigen quantitativen Wachstum, sondern im schärfsten dialektischen Widerspruch treten in den eigentlich kritischen Epochen der Erkenntnis die mannigfachen Grundanschauungen einander gegenüber. So sehen wir, daß ein Begriff, der der einen Epoche als in sich widerspruchsvoll erscheint, der folgenden zum Instrument und zur notwendigen Bedingung aller Erkenntnis wird; so folgt selbst in der empirischen Wissenschaft auf eine Periode, in der alle Erscheinungen auf ein einziges Grundprinzip zurückgeführt und aus ihm "erklärt" werden, eine andere, in der dieses Prinzip selbst als "absurd" und unausdenkbar verworfen wird. Der eleatische Begriff des  Nicht-Seins  in der antiken, die Begriffe des leeren Raums und der Fernkraft in der modernen Spekulation sind bekannte und lehrreiche Beispiele eines derartigen Prozesses. Und man begreift gegenüber solchen Wendungen die skeptische Frage, ob nicht aller Fortschritt der Wissenschaft nur die Resultate, nicht aber die  Voraussetzungen  und Grundlagen betrifft, die vielmehr gleich unbeweisbar und gleich unvermittelt einander ablösen. Oder sollte es dennoch möglich sein, in dieser ständigen Umwandlung, wenn nicht bleibende und unverrückbare  Inhalte,  so doch ein einheitliches  Ziel  zu entdecken, dem die gedanliche Entwicklung zustrebt? Gibt es in diesem Werden zwar keine beharrlichen  Elemente  des Wissens, aber doch ein universelles  Gesetz,  das der Veränderung ihren Sinn und ihre Richtung vorschreibt?

Wir haben an dieser Stelle noch keine endgültige Antwort auf diese Fragen. Wie die  Geschichte  das Problem gestellt hat, so kann nur sie selbst die Mittel zu seiner Bewältigung darbieten. Mitten in den geschichtlichen Erscheinungen und Erfahrungen müssen wir unseren Standort wählen, um von hier aus die Gesamtentwicklung zu überblicke und zu beurteilen. Wenn wir allgemein von dem Gedanken ausgegangen sind, daß die Anschauung, die jede Zeit von der Natur und der Wirklichkeit besitzt, nur der Ausdruck und das Widerspiel ihres Erkenntnisideals ist: so versuchen wir nunmehr im einzelnen, uns die Bedingungen zu verdeutlichen, kraft deren der  moderne  Begriff und das moderne  System der Erkenntnis  sich gestaltet hat. Den komplexen Inbegriff von Voraussetungen, mit denen unsere Wissenschaft an die Deutung der Erscheinungen herantritt, suchen wir aufzulösen und die wichtigsten Fäden gesondert in ihrer historischen Entstehung und Herausbildung zu verfolgen.ungen herantritt, suchen wir aufzulösen und die wichtigsten Fäden gesondert in ihrer historischen Entstehung und Herausbildung zu verfolgen. Auf diesem Weg dürfen wir hoffen, zugleich einen sachlichen Einblick in dieses vielverschlungene begriffliche Gewebe zu gewinnen und die inneren Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen seinen einzelnen Gliedern verstehen zu lernen. Die Geschichte wird zur Ergänzung und zum Prüfstein der Ergebnisse, die die inhaltliche  Analyse  und Reduktion der Wissenschaften uns darbietet. In einem doppelten Sinn kann versucht werden, diese Analyse der gegebenen Wissenschaft, die die eigentliche Hauptaufgabe für jede Kritik der Erkenntnis bleiben muß, zu vervollständigen und mittelbar zu bewahrheiten. Wir können das eine Mal nach den  psychologischen  Bedingungen fragen, die in der Entwicklung des individuellen Bewußtseins den  Aufbau der Wahrnehmungswelt  beherrschen und leiten; wir können versuchen, die gedanklichen Kategorien und Gesichtspunkte, die hier zum Stoff der Empfindungen hinzutreten müssen, aufzudecken und in ihrer Leistung zu beschreiben. Aber so wertvoll diese Betrachtung ist, solange sie in den Grenzen, die ihr gesteckt sind, verweilt und nicht versucht, sich selbst an die Stelle einer kritischen Zergliederung des  Gehalts  der wissenschaftlichen Prinzipien zu setzen: sie bliebe für sich allein unzureichend. Die Psychologie des einzelnen "Subjekts" empfängt volles Licht erst durch die Beziehung, in die wir sie zur Gesamtentwicklung der Gattung setzen; sie spiegelt uns nur die Tendenzen wieder, die den Aufbue der geistigen Kultur der Menschheit beherrschen. Hier treten, auf breiterem Raum, die bestimmenden Faktoren schärfer und klarer auseinander; hier scheiden sich, wie von selber, die unfertigen und verfehlten Ansätze von den notwendigen und dauernd wirksamen Motiven. Nur zum teil freilich handelt es sich in dieser allmählichen Herausarbeitung der Grundmomente um einen völlig bewußten Prozeß, der auf jeder Einzelstufe zu einer deutlichen Bezeichnung und  Aussprache  gelangte. Was in die bewußte philosophische Reflexion einer Epoche eingeht, ist zwar ein wesentlicher und triebkräftiger Bestand ihrer Gedankenarbeit; aber es erschöpft dennoch nur auf den wenigen geschichtlichen Ausnahms- und Höhepunkten deren vollen Gehalt. Lange bevor bestimmte Grundanschauungen sich in strenger begrifflicher Deduktion heraussondern und abgrenzen, sind in der wissenschaftlichen Kultur die geistigen Kräfte wirksam, die zu ihnen hinleiten. Auch in diesem gleichsam latenten Zustand gilt es, sie zu erfassen und wiederzuerkennen, wenn wir uns der  Stetigkeit  der geschichtlichen Arbeit versichern wollen. Die Geschichte der  Erkenntnistheorien  gibt uns kein volles und zureichendes Bild der inneren Fortbildung des  Erkenntnisbegriffs.  In der empirischen Forschung einer Periode, in den Wandlungen ihrer konkreten Welt- und Lebensauffassung müssen wir die Umformung ihrer logischen Grundansicht verfolgen. Die Theorien über die Entstehung und den Ursprung der Erkenntnis fassen das  Ergebnis  zusammen, aber sie enthüllen uns nicht die letzten Quellen und Antriebe. So werden wir sehen, wie die eigentliche  Renaissance  des Erkenntnisproblems, von den verschiedensten Seiten her - von der Naturwissenschaft, wie von der humanistischen Geschichtsansicht, von der Kritik des Aristotelismus, wie von der inneren immanenten Umbildung der peripatetisch [aristotelischen - wp] Lehren in der neueren Zeit - vorbereitet wird, ehe sie in der Philosophie des DESCARTES zur Reife und zum vorläufigen Abschluß gelangt. Und es sind keineswegs immer die gerigeren und minder fruchtbaren logischen Leistungen, denen eine explizite Heraushebung und ein gesonderter, abstrakter Ausdruck versagt bleibt. Die Geschichte des modernen Denkens kennt kaum eine gleich wichtige und gleich entscheidende logische Tat, wie GALILEIs Grundlegung der exakten Naturwissenschaft: die einzelnen Gesichtspunkte aber, die hierbei leitend waren und die dem Urheber selbst in voller begrifflicher Deutlichkeit vor Augen standen, sind dennoch nirgends zu einer theoretischen Zusammenfassung und abgelösten systematischen Darstellung gelangt. Wollten wir daher unseren Maßstab einzig von der Betrachtung der geschichtlichen Abfolge der "Erkenntnistheorien" entnehmen, so müßte GALILEI uns hinter einem Zeitgenossen, wie CAMPANELLA zurückstehen, dem er doch nicht nur als wissenschaftlicher Denker, sondern an echter  philosophischer  Produktivität und Tiefe unvergleichbar überlegen ist. -

Allgemein müssen wir und deutlich machen, daß die Begriffe des "Subjekts" und "Objekts" selbst kein gegebener und selbstverständlicher  Besitz  des Denkens sind, sondern daß jede wahrhaft schöpferishe Epoche sie erst erwerben und ihnen ihren Sinn selbsttätig aufprägen muß. Nicht derart schreitet der Prozeß des Wissens fort, daß der Geist, als ein fertiges Sein, die äußere, ihm entgegenstehende und gleichfalls in sich abgeschlossene Wirklichkeit nur in Besitz zu nehmen hätte; daß er sie sich Stück für Stück aneignete und zu sich hinüberzöge. Vielmehr gestaltet sich der Begriff des "Ich" sowohl wie der der Gegenstandes erst am Fortschritt der wissenschaftlichen Erfahrung und unterliegt mit ihm den gleichen inneren Wandlungen. Nicht nur die  Inhalte  wechseln ihre Stelle, so daß, was zuvor der objektiven Sphäre angehörte, in die subjektive hinüberrückt, sondern zugleich verschiebt sich die Bedeutung und  Funktion  der beiden Grundelemente. Die großen wissenschaftlichen Epochen übernehmen nicht das fertige Schema der Entgegensetzung, um es nur mit mannigfachem und wechselndem Gehalt zu erfüllen, sondern sie erschaffen selbst erst begrifflich die beiden Gegenglieder. Die aristotelische Auffassung der Erkenntnis unterscheidet sich von der modernen nicht nur in der Art der Abhängigkeit, die sie zwischen "Natur" und "Geist" annimmt, sondern im Kern und Grundsinn dieser Begriffe selbst. Dies also ist eine der ersten und charakteristischsten philosophischen Leistungen jeder Epoche, daß sie sich das  Problem  des Wechselverhältnisses von Sein und Denken aufs neue formuliert und damit der Erkenntnis erst ihren Rang und ihre spezifische Stellung anweist. In dieser Abgrenzung der  Aufgabe  besteht, mehr noch als in den besonderen Ergebnissen, die Originalität jedes produktiven Zeitalters. Wiederum aber erweitert sich mit dieser Erwägug das  Material,  auf das die geschichtliche Betrachtung und Untersuchung sich zu richten hat. Es sind keineswegs allein die abgeschlossenen philosophischen Systeme, es sind die mannigfachen Versuche und Ansätze der Forschung, wie der gesamten geistigen Kultur, in denen sich diese allmähliche Umgestaltung des  Ichbegriffs,  wie des  Objektbegriffs  vollzieht. Alle Tendenzen, die darauf gerichtet sind, eine neue Methodik der Erfahrungswissenschaften zu schaffen, oder aber in einem vertieften Begriff des Selbstbewußtseins einen neuen Grund der Geisteswissenschaften zu legen, gehören nunmehr mittelbar zu unserem Problem. So dürfen wir große geistige Bewegungen - wie etwa den italienischen Humanismus oder die französische Skepsis des 16. Jahrhunderts - auch dann in unsere Forschung einbeziehen, wenn ihr direkter Ertrag für die systematische Philosophie gering ist. Es muß der Versuch gewagt werden, aus der intellektuellen  Gesamtbewegung  eines Zeitalters sein herrschendes und treibendes Erkentnisideal zu konstruieren. Zu dieser Fassung der Aufgabe nötigt noch ein anderes Moment. Es besagt wenig, wenn wir hören, daß zu einem bestimmten Zeitpunkt auf eine "empiristische" Periode der Philosophie eine "rationalistische" gefolgt ist und daß beide etwa ihren Ausgleich in einer dritten "kritischen" Richtung gefunden hätten. Als "Empiristen" treten uns sogleich in den Anfängen der neueren Philosophie BACON, wie LEONARDO da VINCI, GALILEI sowie PARACELSUS und CAMPANELLA entegen. Und doch ist der Begriff der "Erfahrung", für den alle diese Denker eintreten, nur eine Scheineinheit, hinter der sich die schwersten prinzipiellen Gegensätze, die die Entwicklung des Erkenntnisproblems kennt, verbergen. Was einem jeden von ihnen die "Erfahrung" in Wahrheit bedeutet, das kann nur die sachliche Analyse ihrer wissenschaftlichen und philosophischen  Gesamtleistung  herausstellen: nicht lediglich in seiner Aussprache, sondern in seiner  Betätigung  durch die verschiedenen Problemgebiete hindurch enthüllt sich uns der Sinn des Begriffs. Das Verhältnis zwischen Philosophie und Wissenschaft ist nur äußerlich erfaßt und beschrieben, solange man nur ein einem wechselseitigen "Einfluß" spricht, den beide aufeinander ausüben. Eine derartige Wirksamkeit ist nicht das Vorrecht eines einzelnen Gebiets, sondern gilt in gleichem Sine für alle Inhalte und Richtungen der Kultur. Die Fassung unserer Aufgabe dagegen setzt ein engeres,  spezifisches  Verhältnis zwischen beiden Gedankenkreisen voraus: sie sind uns gleich selbständige und gleich unentbehrlich Symptome ein und desselben intellektuellen Fortschritts. Was der moderne Begriff der Erkenntnis besagt, dafür sind GALILEI und KEPLER, NEWTON und EULER ebenso wichtige und vollgültige Zeugen, wie DESCARTES oder LEIBNIZ. Die Gesamtentwicklung müßte sprunghaft und lückenhaft erscheinen, wenn wir uns in die Betrachtung dieses wichtigsten Mittelgliedes begeben wollten. Denn erst in ihm und kraft des Zusammenhangs mit ihm erhält der philosophische Gedanke selbst seine wahrhafte innere Kontinuität. Daß es Erkenntnis als strengen und  eindeutigen  logischen Begriff gibt: dies wird erst hier vollständig bewiesen. Auch die übrigen Gebiete der geistigen Tätigkeit, auch das Recht und die Sprache, auch Kunst und Religion enthalten einen bestimmten Beitrag zum allgemeinen Problem der Erkenntnis. Aber wie sie sich diesem Problem von sehr verschiedenen Seiten her nähern, so bleibt es zunächst dahingestellt, ob und wie weit sie mit ihm einen wahrhaft einheitlichen Sinn verbinden. Eine Reihe charakteristischer Stellungnahmen zum "Ich" und zur "Wirklichkeit" tritt uns auch hier entgegen, aber ob sich in dieser Fülle der Motive eine gemeinsame Grundtendenz aussondern läßt, bleibt häufig fraglich. In der exakten Wissenschaft erst, in ihrem troz aller Schwankungen stetigen Gang, erhält die Einheit des Erkenntnisbegriffs, die überall sonst ein bloße Forderung blieb, ihre wahrhafte Erfüllung und Bewährung. Der Wechsel der Meinungen gestaltet sich erst hier zu einem klaren und sinnvollen  Zusammenhang  um, in welchem sich nunmehr auch die Philosophie ihres eigenen Begriffs und ihrer theoretischen Aufgaben erst vollständig bewußt wird.

Wenn jedoch der Beitrag, den Mathematik und Naturwissenschaft für die Fortschritt des Erkenntnisproblems leisten, offen zutage liegt, so ist es schwieriger, den allgemeinen Einfluß, der von den Geisteswissenschaften her geübt wird, zu bestimmen und deutlich abzugrenzen. Denn die Geisteswissenschaften treten uns zu Anfang der neueren Zeit noch nicht als ein unabhängiges Ganzes entgegen, das in sich bereits seinen festen Halt gefunden hätte. Ihr Gehalt ist gleichsam eingeschmolzen in das herrschende System der Metaphysik, das gleichmäßig durch die aristotelische Tradition, wie durch die Kirchenlehre bestimmt wird. Langsam nur treten die einzelnen gedanklichen Momente, die in diesem System wie unter einem dogmatischen Zwang zusammengehalten sind, in selbständigen, freieren Regungen hervor. Es bedarf der tiefen intellektuellen Kämpfe der Renaissance, um die mannigfachen und verschiedenartigen Probleme, die im Weltbild des Mittelalters noch unterschiedslos verschmolzen sind, Schritt für Schritt in ihrer Eigenart zurückgewinnen. An die Stelle der bewunderungswürdigen Folgerichtigkeit, mit der in der antiken Philosophie jede neue Phase aus der vorhergehenden nach inneren  logischen  Gesetzen erwächst, tritt hier eine vielfältig komplizierte und durch mannigfache Rücksichten bedingte Bewegung, die sich erst allmählich um einen festen Mittelpunkt zusammenschließt. Wollen wir daher auf dieser Stufe das Problem der Erkenntnis in seiner konkreten geschichtlichen Gestalt ergreifen, so dürfen wir es aus den Beziehungen und Zusammenhängen, die es mit andersartigen Interessen eingeht, nicht herauslösen. Die strenge Abgrenzung seiner Bedeutung, die Einsicht in seine Sonderstellung und seinen fundamentalen Wert, die das letzte  Ergebnis  der gedanklichen Arbeit der Neuzeit ist, dürfen wir nicht vorwegnehmen und an die Spitze stellen. Wie eng insbesondere die Verknüpfung mit den  ethischen und religiösen Ideen  ist, kann man sich alsbald verdeutlichen, wenn man sich die Rolle vergegenwärtig, die beide in der Entwicklung des modernen Begriffs des  Selbstbewußtseins  spielen. Hier müssen vor allem Denker, wie PASCAL, in denen zwei verschiedene innere Stellungnahmen zum Erkenntnisproblem, in denen sich die neue wissenschaftliche Methodik mit der religiösen Grundstimmung des Mittelalters begegnen und widerstreiten, das geschichtliche Interesse fesseln. Der individuelle Kampf, der sich in ihnen vollzieht, ist zugleich der Ausdruck einer tieferen allgemeinen Wandlung der Denkart. Allgemein müssen wir überall dort, wo im Bewußtsein einer Epoche die metaphysischen Interessen noch von entscheidender und zentraler Bedeutung sind, auch innerhalb dieser Interessen selbst unseren ersten Standort und Ausgangspunkt nehmen; und diese Rücksicht gilt, wie für das Gesamtgebiet, so auch für seine einzelnen Teile und Glieder. Die Grundbegriffe der wissenschaftlichen Erkenntnis, die Begriffe der Kraft und der Ursache, der Substanz und der Materie haben sämtlich eine lange und vielverzweigte metaphysische Vorgeschichte, die weit über die Anfänge der neueren Zeit hinausreicht. Die Genese dieser Begriffe läßt sich freilich nicht darstellen, wenn man nicht beständig auf ihre Funktion innerhalb der mathematischen Physik hinblickt; ebensowenig aber lassen sich hieraus allein alle Einzelphasen ihres Werdens verständlich machen. So sehen wir insbesondere bei den Begriffen des Raumes und der Zeit, wie sie bei ihrem ersten Auftreten in der neueren Philosophie noch völlig in metahpysische Voraussetzungen verstrickt sind. Und dieser Zusammenhang beider mit der  Gotteslehre,  der uns zuerst in der italienischen Naturphilosophie begegnet, bleibt weiterhin, bis zu NEWTON, herrschend. Noch KANT hat - wie sich uns zeigen wird - bei seiner transzendentalen Kritik des Raumes und der Zeit eine bestimmte geschichtliche Fassung und Ausprägung dieser Begriffe vor Augen, die gleich sehr durch das Interesse an der wissenschaftlichen Grundlegung der Mechanik, wie durch allgemeine metaphysische Fragestellungen bedingt ist. Können wir somit den Gegenstand unserer Untersuchung nicht von seinem metaphysischen Hintergrund ablösen, so dürfen wir doch bei den metaphysischen Problemen nur insofern verweilen, als wir in ihnen die Hülle und das Symptom von Fragen sehen, die das Verhältnis der Erkenntnis zur ihrem "Gegenstand" betreffen. Es ist der charakteristische Grundzug der neueren Metaphysik, daß sie kraft ihres eigenen immanenten Fortgangs immer deutlicher zu diesen Fragen hinstrebt. Allgemein soll uns die Geschichte des Erkenntnisproblems nicht sowohl einen  Teil  der Geschichte der Philosophie bedeuten - denn bei der inneren sachlichen Wechselbedingtheit aller Glieder des philosophischen Systems bliebe jede solche Abtrennung eine willkürliche Schranke -, als sie vielmehr das  Gesamtgebiet  unter einem bestimmten Gesichtspunkt und einer bestimmten Beleuchtung darstellen und damit gleichsam in einem Querschnitt den Inhalt der neueren Philosophie zur Anschauung bringen soll.

Die analytische Aufgabe, die dem modernen Denken gestellt war, findet ihren logischen Abschluß im System KANTs. Hier erst wird der letzte endgültige Schritt getan, indem das Erkennen völlig auf sich selbst gestellt und nichts mehr, auf dem Gebiet des Seins wie des Bewußtseins, seiner eigenen  Gesetzlichkeit  vorangesetzt wird. Aber indem KANT diese Wendung vollzieht, bringt er damit nicht sowohl die früheren Gedankenreihen zur Vollendung, als er vielmehr zum Schöpfer neuer Probleme wird, die bis unmittelbar in unsere philosophische Gegenwart hineinreichen und daher nicht mehr in einer geschichtlichen, sondern nur in einer systematischen Untersuchung behandelt und beurteilt werden können (1). Das System KANTs ist uns nicht sowohl das Ende, als ein dauernd neuer und fruchtbarer Anfang der Kritik der Erkenntnis. Aber indem wir unsere historische Betrachtung bis zu ihm hinführen, suchen wir damit zugleich ein Mittel zu seinem sachlichen Verständnis zu gewinnen. Weit enger, als die bisherigen Darstellungen der Entwicklung der kritischen Philosophie es erkennen lassen, ist diese in ihrer Entstehung mit der Wissenschaft des 18. Jahrhunderts verflochten und verschwistert. Überall blickt die allgemeine Theorie hier auf die bestimmte konkrete Problemlage hin, die durch die methodischen Kämpfe zwischen LEIBNIZ und NEWTON und ihren Nachklang in den bedeutendsten Forschern der Zeit, wie EULER und d'ALEMBERT, geschaffen war. Wenn in diesem Zusammenhang das kritische System die Wurzel seiner Kraft besitzt, so enthüllt sich in ihm doch zugleich auch seine notwendige innere Bindung. Je deutlicher wir zu unterscheiden vermögen, in welchen begrifflichen Formulierungen wir zu unterscheiden vermögen, in welchen begrifflichen Formulierungen der Vernunftkritik die wissenschaftliche Kultur der Zeit zum Ausdruck und zum Bewußtsein ihrer selbst gelangt, umso klarer werden sich uns die allgemeingültigen Züge der  Methodik  KANTs aus den Besonderheiten der Ausführung herausheben. Eben indem wir am Grundgedanken der  Methode  festhalten, suchen wir damit für die spezielle Ableitung und Begründung der Prinzipien ein freies Feld zu erhalten. Die "transzendentale Kritik" bliebe zur Unfruchtbarkeit verurteilt, wenn es ihr versagt wäre, dem Fortschritt der wissenschaftlichen Grundbegriffe selbsttätig zu folgen und ihn in ihren speziellen Ergebnissen und Definitionen zum Ausdruck zu bringen. Je vielseitiger und beweglicher sie sich in dieser Hinsicht erhält, umso reiner wird sich die Universalität und die systematische Einheit ihrer  Fragestellung  erweisen.

Hier freilich stehen wir an einem Punkt, an dem noch heute die Absicht KANTs, wie die der modernen Vertreter der kritischen Methode, am häufigsen und beharrlichsten mißverstanden wird. Immer wieder erhebt sich der Vorwurf, daß die transzendentale Kritik, indem sie vom  Faktum  der newtonischen Wissenschaft ausgeht, damit den geschichtlichen Prozeß gleichsam zum Stehen bringt und eine einzelne Phase der "Erfahrung" zum allgemeinen Maßstab ihres Gehalts und inneren Werts macht. Die Festlegung der Forschung an einen geschichtlichen Zustand bestimmter Einzeldisziplinen" übt zugleich - wie man einwendet - eine hemmende Tendenz aus: eine Festigung der Vernunft  durch  ihre Arbeit kann nicht erfolgen, ohne daß sie zugleich "eine Befestigung an ihrer Arbeit und damit ein Hindernis des Fortschritts zu neuer Arbeit wäre" (2). Wäre jedoch diese Folgerung richtig, so würden wir uns damit zugleich jedes sicheren Halts einer philosophischen Beurteilung beraubt sehen. denn es ist vergeblich, uns nachdem man uns die Orientierung am Inhalt der rationalen Wissenschaft versagt hat, an die  Geschichte der geistigen Kultur  als die eigentliche Realität zu verweisen. Solange die Vernunft in sich selbst noch nicht ihre Festigkeit und ihre Selbstgewißheit gefunden hat, bleibt ihr auch die Geschichte nur ein wirres und widerspruchsvolles Chaos. Es bedarf bestimmter sachlicher Prinzipien der Beurteilung, es bedarf fester Gesichtspunkte der Auswahl und der Formung, damit die historischen Erscheinungen, die für sich allein stumm sind, zu einer lebendigen und sinnvollen Einheit werden. Wenn irgendwo, so wird es in der Geistesgeschichte deutlich, daß ihr Inhalt und Zusammenhang nicht gegeben, sondern von uns aufgrund der Einzeltatsachen erst zu erschaffen ist: sie  ist  nur das, was wir kraft gedanklicher Synthesen aus ihr  machen.  Worin aber sollten wir den inhaltlichen Grund dieser Synthesen selbst suchen, wenn wir uns des Halts an der Wissenschaft und an ihrem  gegenwärtigen  Bestand entheben müßten? Daß wir in ihr immer nur einen  relativen  Stützpunkt finden, daß wir somit die  Kategorien unter denen wir den geschichtlichen Prozeß betrachten, selbst veränderlich und wandlungsfähig erhalten müssen, ist freilich richtig: aber diese Art der Relativität bezeichnet nicht die Schranke, sondern das eigentliche Leben der Erkenntnis. Die inhaltliche Analyse des  Tatbestands  der rationalen Wissenschaften und die Verfolgung ihres allmählichen Werdens erhellen und bedingen sich nunmher wechselseitig. Man wird in der geschichtlichen "Arbeitswelt" der Kultur nicht heimich, wenn man sich nicht zuvor mit dem sachlichen Interesse an den Prinzipien und Problemen der gegenwärtigen Forschung erfüllt hat.

Die Aufgabe, die in der Philosophie in jeder einzelnen Phase ihrer Entwicklung gestellt ist, besteht daher immer von neuem darin, an einem konkret geschichtlichen Inbegriff bestimmter wissenschaftlicher Begriffe und Grundsätze die allgemeinen logischen Funktionen der Erkenntnis überhaupt herauszuheben. Dieser Inbegriff mag sich wandeln und hat sich seit NEWTON gewandelt. Es bleibt dennoch die Frage zurück, ob sich nicht auch in dem neuen Gehalt, der jetzt heraustritt, jene allgemeinsten Beziehungen, auf die allein die kritische Analyse ihren Blick gerichtet hielt, nur unter einer anderen Gestalt und Hülle darstellen. Der Begriff der  Wissenschaftsgeschichte  selbst birgt in sich bereits jenen Gedanken der  Erhaltung einer allgemeinen logischen Struktur  in aller Aufeinanderfolge besonderer Begriffssysteme. In der Tat: wäre der frühere Inhalt des Denkens mit dem vorangehenden nicht durch irgendeine  Identität  verknüpft, so gäbe es nichts, was uns berechtigte, die verstreuten logischen Bruchstücke, die wir alsdann vor uns hätten, zu  einer  Reihe des Geschehens zusammenzufassen. Jede historische Entwicklungsreihe bedarf eines "Subjekts", das ihr zugrunde liegt und sich in ihr darstellt und äußert. Der Fehler der metaphysischen Geschichtsphilosophie liegt nicht darin, daß sie überhaupt ein solches Subjekt fordert, sondern darin, daß sie es  verdinglicht indem sie von einer Selbstentwicklung der "Idee", einem Fortschritt des "Weltgeistes" und dgl. spricht. Auf jeden derartigen sachlichen  Träger,  der hinter der geschichtlichen Bewegung stände, müssen wir verzichten; die metaphysische Formel muß sich uns in eine  methodische  wandeln. Statt eines gemeinsamen  Substrats  suchen und fordern wir nur die gedankliche  Kontinuität  in den Einzelphasen des Geschehens; sie allein ist es, die wir brauchen, um von der  Einheit  des Prozesses zu sprechen.

Freilich bleibt auch dieser Gedanke einer inneren Stetigkeit zunächst nichts anderes als eine Hypothese, die aber - wie alle echten wissenschaftlichen Voraussetzungen - zugleich schlechthin die Bedingung des  Anfangs  der historischen Erkenntnis ist. An dieser Einsicht in das echte "Apriori" der Geschichte gilt es festzuhalten, wenn die falsche apriorische  Konstruktion  der Einzeltatsachen wahrhaft abgewehrt werden soll. "Der regelmäßige Gang und die organische Gliederung der Geschichte" - so bemerkt ZELLER gegen HEGEL - "ist, mit  einem  Wort, kein apriorisches Postulat, sondern die Natur der geschichtlichen Verhältnisse, und die Einrichtung des menschlichen Geistes bringt es mit sich, daß seine Entwicklung, bei aller Zufälligkeit des Einzelnen, doch im Großen und Ganzen einem festen Gesetz folgt, und wir brauchen den Boden der Tatsachen nicht zu verlassen, sondern wir dürfen den Tatsachen nur auf den Grund gehen, wir dürfen nur die Schlüsse ziehen, zu denen sie die Prämissen enthalten, um diese Gesetzmäßigkeit in einem gegebenen Fall zu erkennen." (3) Diese Kritik jedoch wird dem tieferen  idealistischen  Motiv, das bei HEGEL trotz aller metaphysischen Irrungen zugrunde liegt, nicht gerecht. Denn - so dürfen wir entgegnen - ist denn jene "Natur" der Geschichte und jene gleichförmige "Einrichtung" des Menschengeistes ein gegebenes und selbstverständliches  Faktum,  das wir dogmatisch an die Spitze stellen dürften? Oder bedeutet sie nicht gleichfalls eine Setzung und eine  Annahme die die  Erkenntnis  macht, um sich im Getriebe einzelner "Tatsachen" zurechtzufinden, um sich für ihre eigenen Zwecke eines Ausganspunkts und eines  Leitfadens  zu versichern? Auch hier ist uns somit kein anderer Weg gelassen, als das Problem der Einheit der Geschichte - nach einem GOETHEschen Wort - "in ein Postulat zu verwandeln". Je mehr sich dieses Postulat in der Erschließung und Sichtung der besonderen Erscheinungen bewährt, umso mehr hat es sein Recht und seine "Wahrheit" erwiesen. Denn das "Faktum" der Wissenschaft ist und bleibt freilich seiner Natur nach ein geschichtlich sich entwickelndes Faktum. Wenn bei KANT diese Einsicht noch nicht unzweideutig zutage tritt, wenn die Kategorien bei ihm noch als der Zahl und dem Inhalt nach  fertige  "Stammbegriffe des Verstandes" erscheinen können, so hat die moderne Fortbildung der kritischen und idealistischen Logik über diesen Punkt volle Klarheit geschaffen. Die  Urteilsformen  bedeuten ihr nur einheitliche und lebendige  Motive  des Denkens, die durch alle Mannigfaltigkeit seiner besonderen Gestaltungen hindurchgehen und sich in der Erschaffung und Formulierung immer neuer Kategorien betätigen. Je reicher und bildsamer sich diese Variationen beweisen, umso mehr zeugen sie damit für die Eigenart und Ursprünglichkeit der logischen Funktion, aus der sie hervorgehen (4). In diesem Zusammenhang wurzelt zugleich die  systematische  Aufgabe, die der Geschichte der Philosophie gestellt ist und die ihr, bei aller Versenkung in die Einzeltatsachen und bei allem Streben nach genauester Erschließung und Wiedergabe der Quellen, dauernd lebendig bleiben muß.
LITERATUR - Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 1, Berlin 1922
    Anmerkungen
    1) Vgl. hierzu meine Schrift "Substanzbegriff und Funktionsbegriff", Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Berin 1910.
    2) MAX SCHELER, Die transzendentale und die psychologische Methode, Leipzig 1900, Seite 67
    3) EDUARD ZELLER, Die Philosophie der Griechen, Bd. 1, Seite 16
    4) siehe HERMANN COHEN, Logik der reinen Erkenntnis, Berlin 1902, Seite 41f und öfter.