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HERMANN LOTZE
System der Philosophie
Drei Bücher der Logik
Vom Erkennen
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"So wenig jemand sagen kann, wie es gemacht wird, daß Etwas ist oder Etwas geschieht, ebensowenig läßt sich angeben, wie es gemacht wird, daß eine Wahrheit gilt; man muß auch diesen Begriff als einen durchaus nur auf sich beruhenden Grundbegriff ansehen, von dem jeder wissen kann, was er mit ihm meint, den wir aber nicht durch eine Konstruktion aus Bestandteilen erzeugen können, welche ihn selbst nicht bereits enthalten."

"Kein Naturgesetz bestimmt, daß die Massen unseres Planetensystems sich überhaupt bewegen und daß ihr Lauf nach dieser und nicht nach einer anderen Richtung des Himmels gehen oder daß die Beschleunigung, die sie einander durch ihre Anziehung erteilen, diese Größe haben muß, welche sie hat, und nicht eine andere."

Drittes Buch
Vom Erkennen
[Methodologie]

Zweites Kapitel
Die Ideenwelt

313. Die Lösbarkeit der Aufgabe, die wir uns stellten, hat schon das Altertum wiederholt verneint. Daß Alles fließt, war die bekannte und doch in ihrem Sinn uns nicht ganz verständliche Lehre des HERAKLIT. Daß man sie in dem halbelegischen Ton einer Klage über die Schnelligkeit des Wechsels aufgefaßt hat, zeigt die Steigerung des heraklitischen Spruches: nicht zweimal durchschreite man denselben Fluß; man könne es nicht einmal. Aber diesem anschaulichen Hinweis auf die Vergänglichkeit hätte die gewöhnlichste Erfahrung auch Beispiele unberechenbarer Dauer entgegen gehalten; ein philosophischer Sinn würde in solcher Weise die ersten nur haben verallgemeinern können, wenn er gegen den Augenschein bewiesen hätte, daß auch die zweiten einen langsamen Wechsel nur verhüllen, ihm aber nimmer unterworfen sind. Wir wissen nicht, in wie weit dies geschehen, und ob diese Spekulation achtlos an dem Umstand vorübergegangen ist, daß eben die verschiedene Geschwindigkeit des Wechsels in das Spiel der Erscheinungen doch wieder einen fruchtbar zu benutzenden Gegensatz des relativ Festeren zum Vergänglicheren einführt. Daß ferner einer verändernden Einwirkung von außen her nichts völlig widersteht, Alles mithin verändert werden kann, ist eine zu einfach aus dem Leben zu schöpfende Überzeugung, als daß es einer Philosophie bedurft hätte, sie zu entdecken; dennoch bleibt zweifelhaft, inwieweit HERAKLIT darüber hinaus eine aus inneren Gründen fließende, von außen unveranlaßte Veränderung aller dinge nur als Tatsache gelehrt oder ob er die beständige Bewegung als die Möglichkeitsbedingung alles natürlichen Seins, ruhendes Gleichgewicht und Beharren dagegen für unmöglich gehalten hat. Manches mag es wahrscheinlich machen, ihm diese letzte Steigerung des Gedankens zuzutrauen; völlig gewiß entscheiden wir hierüber ebensowenig, wie über die wichtigere Frage, was denn eigentlich unter dem Allen zu verstehen ist, dem er diese unaufhörliche Veränderlichkeit zugeschrieben hat. Unstreitig umfaßte dieser Ausdruck die Sinnendinge; denn nur in den wechselnden Kombinationen ihrer Eigenschaften und Beziehungen lag der natürliche Ausgangspunkt dieser ganzen Ansicht; umfaßte er aber zugleich den Inhalt der Vorstellungen mit, durch den wir diesen Sinnenwelt denken? sollte nicht bloß alles Wirkliche, sondern auch alles Denkbare diesem ewigen Fluß unterliegen? Ich bezweifle, daß HERAKLIT diese letzte Meinung gehabt hat; würde doch die allgemeine Unbeständigkeit jeder Denkbestimmung überhaupt jede Untersuchung und Behauptung unmöglich machen; aber die lebhafte Schilderung, die vom späteren Treiben der heraklitischen Schule PLATON in seinem Theätet entwirft, läßt uns annehmen, daß sie wenigstens kein Bedenken getragen hat, die Lehre ihres Meisters bis zu diesem Satz zu erweitern. Hieran schlossen sich die Bestrebungen der Sophisten; ich meine nicht diejenigen, die unter der Führung des PROTAGORAS nur die subjektive Geltung jeder Wahrnehmung für den anerkannten, der sie hat, sondern jene anderen, die in eleatischer Dialektik geübt nachzuweisen versuchten, daß jeder Begriffsinhalt zugleich das bedeutet, was er meint, und zugleich das, was er nicht meint. Diesem Bestreben trat vornehmlich auf ethischem Gebiet, auf dem es seine verderblichsten Früchte erzeugte, der gesunde Wahrheitssin des SOKRATES entgegen und erinnerte daran, daß die Begriffe des Guten und des Bösen des Gerechten und des Ungerechten ihren eigenen festen und unveränderlichen Sinn haben, den nicht das subjektive Belieben bald so bald anders bestimmen kann, sondern dem als einer gegebenen und beständig mit sich identischen Bedeutung jeder den Inhalt seiner dieses Gebiet berührenden Vorstellungen lediglich unterzuordnen hat. In dieser Bestrebung mit seinem Lehrer einig, aber von vielseitigeren Beweggründen angetrieben, erweiterte PLATON diese Überzeugungen zu seiner Ideenlehre, dem ersten und sehr eigentümlichen Versuch, diejenige Wahrheit zu verwerten, die unserer Vorstellungswelt innerhalb ihrer selbst und noch abgesehen von ihrer Übereinstimmung mit einem vorausgesetzten jenseitigen Wesen von Dingen angehört. Die philosophischen Bemühungen des Altertums haben das Anziehende, ausführlich die Bewegungen Kämpfe und Irrtümer der Gedanken darzustellen, in welche jeder Einzelne noch jetzt im Laufe seiner Entwicklung verfälltf, und die doch unsere gegenwärtige Bildung nicht mehr mit gleicher Geduld zu verfolgen und zu untersuchen pflegt. Ich gestatte mir deshalb, auf diese Lehre PLATONs von verschiedenen in unsere jetzige Betrachtung gehörigen Ausgangspunkten einzugehen.

314. Man übersetzt den platonischen Ausdruck Idee durch Allgemeinbegriff, richtig insofern, als es nach PLATON Ideen von Allem gibt, was sich in allgemeiner Gestalt, abgelöst von den Einzelwahrnehmungen, in denen es vorkommt, denken läßt. Dennoch ist es eigentlich erst für eine spätere Gedankenreihe, der wir noch begegnen werden, von Wichtigkeit, daß der ideell aufgefaßte Inhalt als ein Gemeinsames vieler Einzelinhalte, folglich als Allgemeines denkbar ist; wesentlich ist hier am Anfang nicht sowohl seine Ablösbarkeit von verschiedenen Einzelbeispielen, in denen er mitenthalten ist, als vielmehr seine Unterscheidung als eines ansich etwas bedeutenden Inhalts, den wir vorstellen, von einer bloße Affektion, die wir erleiden. In der letzteren Bedeutung hätte ihn die heraklitische oder pseudo-heraklitische Lehre mit in den inhaltlosen Fluß ihrer Ereignisse verwickeln können, deren jedes aber in der Welt eine bleibende Stätte oder Bedeutung hat, weil keines, nachdem es geschehen ist, sich jemals sich selbst gleich zu wiederholen braucht; die erste Auffassung dagegen objektivierte unsere Affektion zu einem selbständigen Inhalt, der immer bedeutet, was er bedeutet, und dessen Beziehungen zu andern auch dann noch eine ewige immer gleiche Gültigkeit besitzen, wenn weder er selbst noch die anderen sich jemals in unserer wirklichen Wahrnehmung erneuern sollten. Wie ich dies meine, hatte ich weiter oben Veranlassung zu erörtern. In unserer Wahrnehmung ändern die Sinnendinge ihre Eigenschaften; aber während das Schwarze weiß wird und das Süße sauer, ist es doch nicht die Schwärze selbst, die in Weiße übergeht, und nicht die Süßigkeit wird zur Säure; jede dieser Eigenschaften vielmehr, ewig sich selbst gleich bleibend, tritt an diesem Ding ihre Stelle einer andern ab, und die Begriffe, durch welche wir die Dinge denken, haben nicht selbst an der Veränderlichkeit Teil, die wir, um ihres Wechsels willen, von den Dingen aussagen, deren Prädikate sie sind. Und selbst, wer dies leugnen wollte, würde es wider Willen bejahen; denn er könnte die Süße selbst nicht in Säure übergehen lassen, ohne diese beiden Zustände zu trennen und den ersten durch eine Vorstellung zu bestimmen, die ewig Anderes bedeuten wird, als den zweiten, in den jener sich verwandelt hat. Es ist ein sehr einfacher und unscheinbarer, dennoch sehr wichtiger Gedanke, den Platon hier zuerst ausgesprochen hat. Immerhin mag unseren Sinn die beständige Veränderung der Außenwelt wie ein haltloser Wirbel verwirren: ohne eine hindurchgehende Wahrheit ist sie dennoch nicht; wie auch immer die Dinge wechselnd erscheinen mögen, das was sie in jedem Augenblick sind, sind sie immer nur durch eine flüchtige Teilnahme an Begriffen, die selbst nicht flüchtig, sondern ewig sich selbst gleich und beständig, zusammengenommen ein unveränderliches Gedankensystem und den ersten würdigen und festen Gegenstand einer unwandelbaren Erkenntnis bilden. Denn auch davon überzeugten wir uns früher schon, daß nicht bloß die abgeschlossene Einheit jedes Begriffsinhaltes mit sich selbst, und nicht bloß der gleichförmige Gegensatz gegen alles Andere, sondern auch die abgestuften Beziehungen der Ähnlichkeit und Verwandtschaft der verschiedenen, mit zum Bestand dieser ersten unmittelbaren Erkenntnis gehören. Wenn das Weiße schwarz und das Süße sauer wird, wird es nicht nur anders überhaupt, sondern aus dem Bereich des einen Begriffs, an dem es Teil hatte, gleitet es über in den Bereich eines andern, der vom ersten durch eine unveränderliche Weite des Gegensatzes getrennt ist, eine größere als diejenige, die zwischen dem Weißen und dem Gelben stattfindet; eine unvergleichbare mit der völligen Kluft, die zwischen dem Weißen und dem Sauren besteht.

315. Ich führe diese einfachen Beispiele noch einmal an, um an ihnen deutlich zu machen, wie es eine Erkenntnis geben kann, deren Wahrheit von der skeptischen Frage nach ihrer Übereinstimmung mit einem ihr jenseitigen Wesen von Dingen gänzlich unabhängig ist. Hätte auch nur einmal der Lauf der Außenwelt uns in flüchtiger Erscheinung die Wahrnehmung zweier Farben oder Töne vorgeführt: unser Denken würde sie sogleich von diesem Zeitaugenblick trennen und sie und ihre Verwandtschaften und Gegensätze als einen beharrenden Gegenstand innerer Anschauung verfestigen, gleichviel ob jemals die Wahrnehmung sie uns in wiederholter Wirklichkeit darbietet oder nicht. Erführen wir ferner niemals, auf welche Weise diese Ideen als Prädikate an Dingen erscheinen können und worin das eigentlich besteht, was wir die Teilnahme dieser an ihnen genannt haben, so bliebe zwar eine Frage unbeantwortet, die uns im Verlauf unseres Nachdenkens wichtig werden kann,, aber ungestört bliebe uns doch die Gewißheit, daß die Reihe der Farben selbst, die Skala der Töne, gesetzlich zusammenhängende Ganze sind, und daß über die Beziehungen ihrer Glieder zueinander ewig gültige wahre Behauptungen ewig ungültigen falschen entgegengesetzt sind. Und endlich die Frage, ob nicht zuletzt doch die Farben ansich, die Töne ansich anders sind, als sie uns erscheinen, wird niemand mehr aufwerfen wollen. Oder doch: man begegnet dieser Verirrung der Gedanken; eigentlich seien die Töne nur Schwingungen der Luft, Farben nur Erzitterungen des Äthers; nur uns erscheinen beide in Gestalt jener subjektiven Empfindungen. Es ist unnötig, weitläufig zu wiederholen, daß diese Empfindungen nicht aufhören wirklich zu sein und nicht dadurch aus der Welt als etwas Unberechtigtes hinausgeschaft werden, daß man äußere ihnen unähnliche Ursachen entdeckt, welche für uns die Veranlassungen ihrer Entstehung sind; auch wenn dieselben Schwingungen äußerer Medien anders organisierten Wesen in der Form uns gänzlich unbekannter Empfindungsweise erschienen, so würden doch die Farben und Töne, die wir gesehen und gehört haben, nachdem wir sie einmal empfunden haben, einen für uns in Sicherheit gebrachten Schatz von ansich gültigem gesetzlich in sich zusammengehörigen Inhalt bilden. Was jene anderen Wesen empfinden, würde uns, was wir empfinden, ihnen unbekannt bleiben; aber dies hieße nur, daß uns nicht alle Wahrheit zuteil wird, das aber, was uns zuteil wird, besitzen wir als Wahrheit kraft der Identität jedes so angschauten Inhalts mit sich selbst und der der beständigen Gültigkeit derselben Beziehungen zwischen verschiedenen. So begreift man wohl, welche Bedeutung es hat, wenn PLATON die Prädikate, die an den Außendingen in einem beständigen Wechsel vorkommen, zu einem festen und gegliederten Ganzen zu vereinigen suchte und in dieser Ideenwelt den ersten wahren Gegenstand sicherer Erkenntnis gesehen hat; denn die ewigen Beziehungen, die zwischen den einzelnen Ideen stattfinden, die einen miteinander verträglich machen, andere einander ausschließen lassen, bilden wenigstens die Grenzen, innerhalb deren das liegt, was in der Wahrnehmung möglich sein soll; was in ihr wirklich ist und wie Dinge es machen, um Ideen zu ihren Prädikaten zu haben, diese andere Frage erschien PLATON nicht als die erste und wurde einer späteren Überlegung wegen zurückgestellt.

316. Eine weitreichende Schwierigkeit knüpft sich an die erste Betrachtung. Wie denken wir eigentlich von Farben, wenn sie von Niemandem gesehen oder von Tönen und ihren Unterschieden, wenn jene von Niemand gehört und diese von Niemandem durch Vergleichung wahrgenommen werden? Sollen wir sagen, daß beide dann Nichts sind oder daß sie nicht sind, oder kommt ihnen auch dann noch ein schwerbestimmbares Prädikat, irgendeine Art des Seins oder der Wirklichkeit zu? Sie für Nichts zu halten, werden wir Anfangs nicht geneigt sein; denn eben, solange wir sie, um diese Frage zu beantworten, in Gedanken festhalten, ist jede Farbe und jeder Ton ein bestimmter von andern sich unterscheidender Inhalt, ein Etwas folglich und nicht ein Nichts. Aber diese Entscheidung wird uns zweifelhaft durch die Antwort, die wir auf den zweiten Teil der Frage glauben nehmen zu müssen. Von Dingen meinen wir noch, unklar genug, zu wissen, worin ihr Sein auch dann noch besteht, wenn sie für Niemandes Erkenntnis Gegenstände, sondern rein für sich sind; was es aber heißt, daß ein Ton ist, wenn er von keinem Ohr gehört und wenn auch die lautlose Vorstellung seines Klingens von keiner Seele erzeugt würde, wissen wir ebensowenig zu sagen, als wie ein Schmerz dann noch ist, wenn er Niemandem wehtut. Das aber was nicht ist, weder für sich noch in unserer Vorstellung, wie könnte es noch etwas sein und sich von Anderem unterscheiden? Darauf zu antworten zögern wir dennoch; es liegt offenbar, ganz allgemein ausgedrückt, in jener ersten Entscheidung ein gewisses Element von Bejahung, das nicht ganz durch die Verneinung zugrunde gehen darf, welche diese zweite ausspricht. Vielleicht scheint es uns eine Auskunft, die kategorische Form unseres zu fällenden Urteils in eine hypothetische zu verwandeln: zwei ungehörte und unvorgestellte Töne sind nicht Etwas und stehen nicht in Verhältnissen, aber sie werden immer jeder Etwas und vom andern verschieden sein und in einem bestimmten Verhältnis des Gegensatzes stehen, wenn sie gehört oder vorgestellt werden. Unmittelbar aber befriedigt uns auch dies nicht; denn immer, um nur vorstellen zu können, wie den Tönen Pöhlmann und Pöhlmann diese verschiedenen Schicksale des Nichtvorgestellt- und des Vorgestelltwerdens begegnen können, und wie dann, wenn sie vorgestellt werden, die Beziehung z, wenn aber andere vorgestellt werden, die Beziehung mitgedacht werden muß, scheinen wir doch genötigt zu sein, ihnen auch dann, wenn sie nach unserer jetzigen Behauptung noch nicht wären, gleichwohl schon ein Sein und ein Etwassein zuzuschreiben und in diesem den Grund für ein späteres Sein und die bestimmte Gestalt ihrer dann eintretenden Beziehungen zu suchen. Diese spitzfindigen Erörterungen will ich so nicht fortsetzen, sondern biete zu ihrem Abschluß Folgendes an: Es gibt allerdings einen sehr allgemeinen Begriff von Bejahtheit oder Position, der uns in verschiedenen Untersuchungen begegnet, und zu dessen Bezeichnung die Sprachen, die nicht an den einfachsten Elementen des Denkens, sondern an sehr zusammengesetzten und konkreten Vorstellungsinhalten sich zuerst geübt haben einen abstrakten Ausdruck von wünschenswerter Reinheit nicht zu besitzen pflegen. Aber es wäre nicht gutgetan, dafür einen Kunstausdruck zu schaffen, dessen Verständnis zweifelhaft bleibt, weil er Niemandem von Natur mundgerecht oder denkgerecht ist; führt doch auch der häufig dafür gebrauchte Name der Position durch seine etymologische Form den ganz ungehörigen Nebenbegriff einer Handlung oder Operation der Setzung mit sich, durch deren Ausführung jene zu bezeichnende Bejahtheit erzeugt würde. Man wird sich doch an die gewöhnliche Sprache halten und ein Wort wählen müssen, das im Gebrauch, annähernd zumindest und kenntlich, als Ausdruck des gesuchten Gedankens sich nachweisen läßt. Als deutsche Bezeichnung dient hierzu das Wort Wirklichkeit. Denn wirklich nennen wir ein Ding, welches ist, im Gegensatz zu einem andern, welches nicht ist; wirklich auch ein Ereignis, welches geschieht oder geschehen ist, im Gegensatz zu dem, welches nicht geschieht; wirklich ein Verhältnis, welches besteht, im Gegensatz zu dem, welches nicht besteht; endlich wirklich wahr nennen wir einen Satz, welcher gilt, im Gegensatz zu dem, dessen Geltung noch fraglich ist. Dieser Sprachgebrauch ist verständlich; er zeigt, daß wir unter Wirklichkeit immer eine Bejahung denken, deren Sinn sich aber sehr verschieden gestaltet, je nach einer dieser verschiedenen Formen, die sie annimmt, deren eine sie annehmen muß und deren keine auf die andere zurückführbar oder in ihr enthalten ist. Denn aus Sein läßt sich nie ein Geschehen machen, und die Wirklichkeit, welche den Dingen zukommt, nämlich zu sein, gebührt nie den Ereignissen; diese sind nie, aber sie geschehen; ein Satz aber ist weder, wie die Dinge, noch geschieht er, wie die Ereignisse; auch daß sein Inhalt besteht wie ein Verhältnis, kann erst gesagt werden, wenn die Dinge sind, zwischen denen er eine Beziehung aussagt; ansich aber, und abgesehen von allen Anwendungen, die er erfahren kann, besteht seine Wirklichkeit darin, daß er gilt und daß sein Gegenteil nicht gilt. Mißverständnisse nun müssen immer entstehen, wenn wir einem Objekt unseres Nachdenkens, überzeugt, daß ihm irgendeine Wirklichkeit oder Bejahung zukommen muß, doch nicht diejenige Art derselben, die seiner eigentümlichen Natur zugehört, sondern eine andere beizulegen suchen, für die es nicht zugänglich ist; dann entsteht jener eben berührte Widerstreit zwischen der Überzeugung von der Richtigkeit einer Bejahung überhaupt und von der Unmöglichkeit der bestimmten, die man irrtümlich versucht. Den Vorstellungen, sofern wir sie haben und fassen, gebührt die Wirklichkeit im Sinne eines Ereignisses, sie geschehen in uns, denn als Äußerungen einer vorstellenden Tätigkeit sind sie nie ein ruhendes Sein, sondern ein dauerndes Werden; ihr Inhalt aber, sofern wir ihn abgesondert betrachten von der vorstellenden Tätigkeit, die wir auf ihn richten, geschieht dann nicht mehr, aber er ist auch nicht so wie Dinge sind, sondern er gilt nur noch. Und endlich, was dieses Gelten heißt, muß man nicht wieder mit der Voraussetzung fragen, als ließe sich das, was damit verständlich gemeint ist, noch von etwas Anderen ableiten; als wäre es etwa möglich, Bedingungen anzugeben, unter deren Einwirkung entweder das Sein, welches den Dingen zukommt, so abgeschwächt und modifiziert, oder das Geschehen, welches die vergängliche Wirklichkeit der Vorstellungen bildet, sofern sie Erregungen unseres Bewußtseins sind, so verfestigt und verselbständigt werden könnte, daß beide, von verschiedenen Seiten her, in diesen Begriff des Geltens übergehen, welcher vom geltenden Inhalt ebensowohl die Wirklichkeit des Seins leugnet, wie auch die Unabhängigkeit von unserem Denken behauptet. So wenig jemand sagen kann, wie es gemacht wird, daß Etwas ist oder Etwas geschieht, ebensowenig läßt sich angeben, wie es gemacht wird, daß eine Wahrheit gilt; man muß auch diesen Begriff als einen durchaus nur auf sich beruhenden Grundbegriff ansehen, von dem jeder wissen kann, was er mit ihm meint, den wir aber nicht durch eine Konstruktion aus Bestandteilen erzeugen können, welche ihn selbst nicht bereits enthalten.

317. Von hier aus scheint mir Licht auf eine befremdliche Angabe zu fallen, die in der Geschichte der Philosophie überliefert wird: PLATON habe den Ideen, zu deren Bewußtsein er sich erhoben hat, ein Dasein abgesondert von den Dingen, und doch, nach Meinung derer, die ihn so verstanden haben, ähnlich dem Sein der Dinge zugeschrieben. Es ist seltsam, wie friedlich die hergebrachte Bewunderung des platonischen Tiefsinns sich damit verträgt, ihm eine so widersinnige Meinung zuzutrauen; man würde von jener zurückkommen müssen, wenn PLATON wirklich diese gelehrt und nicht nur einen begreiflichen und verzeihlichen Anlaß zu einem so großen Mißverständnis gegeben hätte. Der Ausdruck philosophischer Gedanken ist von der Leistungsfähigkeit der gegebenen Sprache abhängig, und es ist kaum vermeidlich, zur Bezeichnung dessen, ws man meint, Worte zu benutzen, welche diese eigentlich nur für Verwandtes, was man nicht meint, ausgeprägt hat, dann vorzüglich, wenn ein neues Gebiet eröffnet wird und die Dringlichkeit der Unterscheidung des Gemeinten von jenem Anderen noch wenig empfunden werden kann. Hierin scheint mir der Grund jenes Mißverständnisses zu liegen. NIchts sonst wollte PLATON lehren, als was wir oben durchgegangen sind: die Geltung von Wahrheiten, abgesehen davon, ob sie an irgendeinem Gegenstand der Außenwelt, als dessen Art zu sein, sich bestätigen; die ewig sich selbst gleiche Bedeutung der Ideen, die immer sind, was sie sind, gleichviel ob es Dinge gibt, die durch eine Teilnahme an ihnen sie in dieser Außenwelt zur Erscheinung bringen, oder ob es Geister gibt, welche ihnen, indem sie sie denken, die Wirklichkeit eines sich ereignenden Seelenzustandes geben. Aber der griechischen Sprache fehlte damals und noch später ein Ausdruck für diesen Begriff des Geltens, der kein Sein einschließt; eben dieser des Seins trat allenthalben, sehr häufig unschädlich, hier verhängnisvoll an seine Stelle. Jeder für das Denken faßbare Inhalt, wenn man ihn als etwas mit sich Einiges von Anderem Verschiedenes und Abgeschlossenes betrachten wollte, Alles, wofür die Sprache der Schule später den nicht üblen Namen des Gedankendings erfunden hat, war dem Griechen ein Seiendes, on oder ousia; und wenn der Unterschied einer wirklich geltenden Wahrheit von einer angeblichen in Frage kam, so war auch jene ein ontos on [seiendes Sein - wp]; anders als in dieser beständigen Vermischung mit der Wirklichkeit des Seins hat die Sprache des alten Griechenlands jene Wirklichkeit der bloßen Geltung niemals zu bezeichnen gewußt; unter dieser Vermischung hat auch der Ausdruck des platonischen Gedankens gelitten.

318. Man überzeugt sich leicht, daß Alles, was von den Ideen gesagt wird, unter der Voraussetzung, die wir machten, sich als natürlich und notwendig ergibt, und daß die verschiedenen Wendungen, die in der Darstellung ihres Wesens genommen werden, eben darauf hinauslaufen, den Begriff, zu dessen Bezeichung ein einziger Ausdruck fehlte, durch viele einander zu Hilfe kommende und beschränkende zu erschöpfen. Ewig, weder entstehend noch vergehend (aidia, agenneta, anolethra [dasselbe, ungeboren, unberührt - wp] mußten die Ideen genannt werden gegenüber dem Fluß des HERAKLIT, der auch ihren Sinn schien mit sich fortreißen zu sollen; die Wirklichkeit des Seins allerdings kommt ihnen bald zu bald nicht zu, je nachdem vergängliche Dinge sich mit ihnen schmücken oder nicht; die Wirklichkeit der Geltung aber, welche ihre eigene Weise der Wirklichkeit ist, bleibt unberührt von diesem Wechseln; diese Unabhängigkeit von aller Zeit, in Vergleichung gebracht mit dem, was in der Zeit entsteht und vergeht, konnte nicht wohl anders als durch das zeitliche und doch die Macht der Zeit negierende Prädikat der Ewigkeit zugesprochen werden, ebenso wie wir das, was ansich nicht gilt und gelten könnte, an seinem Niemalsvorkommen in aller Zeit am leichtesten erkennen würden. Trennbar oder getrennt von den Dingen (choris ton onton [ohne zu sein - wp]), heißen die Ideen zunächst begreiflich, weil das Bild (eidos) ihres Inhalts unserer Erinnerung vorstellbar bleibt, auch nachdem in der Wirklichkeit des Seins die Dinge verschwunden sind, durch deren Anregung es in uns entstanden war; dann aber, weil unter jenem Inhalt nur das verstanden war, was in allgemeiner Gestalt faßbar, in verschiedenen Erscheinungen der äußeren Wirklichkeit sich selbst gleich vorkommt, und deshalb unabhängig ist von jedem einzelnen seiner sinnlichen Verwirklichung. Aber es war nicht die Meinung PLATONs, daß die Ideen nur von den Dingen unabhängig dagegen in ihrer Weise der Wirklichkeit abhängig sein sollten von einem Geist, welcher sie denkt; Wirklichkeit des Seins genießen sie freilich nur in dem Augenblick, in welchem sie, als Gegenstände oder Erzeugnisse eines eben geschehenden Vorstellens, Bestandteile dieser veränderlichen Welt des Seins und Geschehens werden; aber wir alle sind überzeugt, in diesem Augenblick, in welchem wir den Inhalt einer Wahrheit denken, ihn nicht erst geschaffen, sondern ihn nur anerkannt zu haben; auch als wir ihn nicht dachten, galt er und wird gelten, abgetrennt von allem Seienden, von den Dingen sowohl als von uns, und gleichviel, ob er je in der Wirklichkeit des Seins eine erscheinende Anwendung findet oder in der Wirklichkeit des Gedachtwerdens zum Gegenstand einer Erkenntnis wird; so denken wir alle von der Wahrheit, sobald wir sie suchen und suchend vielleicht ihre Unzugänglichkeit für jede zumindest menschliche Erkenntnis beklagen; auch die niemals vorgestellte gilt nicht weniger, als der kleine Teil von ihr, der in unsere Gedanken eingeht. In etwas anderer Form, und gegen PROTAGORAS, wir die selbständige Geltung der Ideen hervorgehoben, wenn sie als ansich seiend was sie sind der Relativität entzogen werden, in die sie der berühmte Ausspruch dieses Sophisten verwickeln wollte. Zugegeben selbst, daß die Lehre desselben, auf sinnliche Empfindungen beschränkt, ihre gute Gültigkeit hat, und daß PLATON sie in dieser Beziehung mißverständlich bekämpft, zugegeben also, daß jede sinnliche Empfindung für den, der sie hat, so gut eine Wahrheit ist, wie eine abweichende andere für den, der diese andere hat, so würde doch PLATON mit Recht behaupten, weder der eine noch der andere könne diese oder jene Empfindung haben, ohne daß dasjenige, was er in ihr empfindet, Rot oder Blau, Süß oder Bitter, ein ansich Etwas und immer dasselbe Etwas bedeutender Bestandteil einer Welt von Ideen ist; sie bildet leichsam den beständigen unerschöpflichen Vorrat, aus dem jedem Ding der Außenwelt alle die noch so verschiedenen Prädikate, mit denen es sich wechselnd bekleidet, und ebenso jedem Geist die verschiedenen Zustände zugeteilt werden, die er soll erfahren können; unmöglich ist es dagegen, daß ein einzelnes Subjekt etwas empfindet oder vorstellt, dessen Inhalt nicht in dieser allgemeinen Welt des Denkbaren seine bestimmte Stelle, seine Verwandtschaften und Unterschiede gegen Anderes ein für allemal besäße, sondern eine zu dieser ganzen Welt beziehungslose, nirgends sonst heimische Sonderbarkeit dieses einen Subjekts bliebe. Ist nun durch diese Ausdrücke für die selbständige Gültigkeit der Ideen gesorgt, so ist auch hinlänglich vorgebaut, daß diese Gültigkeit nicht mit der Wirklichkeit des Seins verwechselt wird, die nur einem beharrlichen Ding zugeschrieben werden könnte. Wenn die Ideen in einem intelligiblen überhimmlischen Ort ihre Heimat haben sollen, wenn sie andererseits ausdrücklich noch als nirgends wohnend bezeichnet werden, so ist für Jeden, der die Anschauungsweise des griechischen Altertums versteht, vollkommen hinlänglich ausgedrückt, daß sie zu dem nicht gehören, was wir reale Welt nennen; was nicht im Raum ist, das ist für den Griechen nicht, und wenn PLATON die Ideen in diese unräumliche Heimat verweist, so liegt darin nicht ein Versuch, ihre bloße Geltung zu irgendeiner Art von seiender Wirklichkeit zu hypostasieren, sondern die deutliche Anstrengung, jeden solchen Versuch von vornherein abzuwehren. Auch dies steht nicht entgegen, daß die Ideen als Einheiten aufgeführt werden; denn keine Veranlassung liegt, diese Bezeichnung im Sinne atomistischer Vorstellungen sei es auf körperlich Unteilbarkeit, sei es auf eine der Persönlichkeit ähnliche Selbstheit zu deuten; vielmehr dem Sinn jeder Idee, und nicht jeder einfachen bloß, sondern auch jeder zusammengesetzten, kommt es zu, durch Vereinigung des in ihm Zusammengehörigen und durch eine Ausschließung alles Fremden sich als Einheit zu beweisen. Dennoch aber, obgleich alle diese Äußerungen darin übereinstimmen, daß PLATON nur die ewige Gültigkeit der Ideen, niemals aber ihr Sein behauptete, dennoch blieb ihm auf die Frage: was sie denn sind, zuletzt nichts übrig, als sie doch wieder unter den Allgemeinbegriff der ousia zu bringen, und so war dem Mißverständnis eine Tür geöffnet, das seitdem sich fortgepflanzt hat, obschon man nie anzugeben wußte, was denn eigentlich ist, wozu PLATON durch die ihm Schuld gegebene Hypostase seine Ideen hypostasiert [vergegenständlicht - wp] haben sollte.

319. Zweierlei scheint dieser Auffassung entgegenzustehen: zuerst der Gebrauch, den PLATON von den Ideen zur Erklärung des Weltlaufs macht, in den sie nicht bloß als gültige Wahrheiten, sondern zugleich als wirkende Mächte eingreifen, ein Punkt, auf den ich später komme; dann aber das Verhalten des ARISTOTELES. Denn dieser ist es eigentlich, dessen bestimmte Versicherungen die Lehre von der Realität der Ideen als Dogma des PLATON hingestellt haben, während PLATONs eigene Darstellungen der anderen Deutung, die wir vorgezogen haben, sich nicht widersetzen. Es scheint unglaublich, daß der scharfsinnigste Schüler, durch den eigenen Umgang mit dem Meister unterrichtet, die wahre Meinung desselben bis zu einem Mißverständnis von so großer Bedeutung sollte verfehlt haben. Dennoch sind wir durch die Art, wie er seine Polemik gegen die Ideenlehre überhaupt, nicht gegen bestimmte Sätze PLATONs führt, sowie durch manche Einzelheiten seiner Einwendungen zu der Annahme berechtigt, daß sein Schritt sich zum Teil gegen Mißverständnisse richtet, die frühzeitig in der Akademie eingerissen waren. Denn an PLATON selbst konnte er nicht wohl die Aufforderung stellen, zu zeigen, wo die Ideen sind, nachdem dieser unumwunden gesagt hatte, daß sie nirgends sind; nicht gegen ihn konnte er einwenden, daß es folgerichtig auch von Kunsterzeugnissen Ideen geben muß, denn ein Beispiel zumindest, das dem beistimmt, enthalten die Bücher vom Staat, und wie wenig PLATON die ganze hiermit angedeutete Schwierigkeit außer Acht gelassen hat, bezeugt der Anfang des PARMENIDES. Wenn endlich ARISTOTELES die Ideen für überflüssig hält, weil sie nur Gegenbilder der Einzeldinge sind, wenn überhaupt seine ausführliche Diskussion häufig von der Annahme ausgeht, es gebe von der Idee so viele Exemplare, als Beispiele ihrer Anwendung in der Wirklichkeit vorkommen, so finden Einwürfe dieser art ihr berechtigtes Ziel nicht in PLATON selbst; daß jede Idee nur einmal vorhanden ist, daß sie kein Einzelding, sondern ein Allgemeines vieler bedeutet und daß alle ihre Erscheinungen nur Abbilder dieses ihres einheitlichen Wesens bilden, war PLATONs ständig wiederholte Meinung; unklar mochte es immerhin bleiben, worin jenes durch Nachahmung oder Teilnahme bezeichnete Verhalten der Einzeldinge besteht, durch welches diese der einen Idee eine unzählige Menge von Verwirklichungen im Sein verschaffen. Die ganze Auseinandersetzung, die das 12. (13.) Buch der aristotelischen Metaphysik füllt und die Widersinnigkeit einer dinghaften Wirklichkeit der Ideen darzulegen sucht, kann ich daher umso weniger für eine Widerlegung der echten platonischen Ansicht halten, als schließlich ARISTOTELES selbst für die bessere, die er ihr gegenüberzustellen meint, einen entscheidenden und unzweideutigen Ausdruck ebensowenig findet. Ihm gilt nur das Einzelding als wahrhafte ousia, und gewiß werden wir ihm hierin beistimmen: nur dem Einzelding kommt die Form der Wirklichkeit zu, zu sein; aber für ihn wie für PLATON ist gleichwohl der Gegenstand der Erkenntnis nur das Allgemeine; nicht nur, daß wir das Einzelne nicht zu erschöpfen imstande sind, sondern auch, so weit wir unsere Untersuchung fruchtbar auf dasselbe richten, beurteilen wir sein Wesen und sein Verhalten immer nach allgemeinen Grundsätzen. Von dem aber, was in keiner Weise ist oder Wirklichkeit hat, auch darin ist ARISTOTELES mit seinen Vorgängern einig, kann es auch keine Erkenntnis geben; es folgt deshalb, daß auch das Allgemeine nicht schlechthin nicht ist, sondern gewissermaßen ist und gewissermaßen nicht ist. Was ARISTOTELES weiter hierüber verhandelt, verfolge ich nicht im Einzelnen; wenn er aber das Allgemeine oder die Idee nicht außerhalb, sondern in den Einzeldingen sein läßt, so erklärt er hiermit nicht die Möglichkeit der Erkenntnis; denn darum, weil die Idee in einem Einzelding ist, kann das, was hier aus folgt, nicht auf ein anderes Einzelding übertragen werden, in dem sie gleichfalls angetroffen wird; Rechtsgrund zu einem Schluß von dem einen Wirklichen auf das Verhalten eines andern kann sie nur werden, wenn sie an sich selbst eine Mehrheit von Beziehungspunkten so zusammenschließt, daß überall mit dem Vorkommen des einen auch die notwendige Gegenwart der anderen verbunden sein muß. Und so würde sich auch ARISTOTELES kurzerhand wieder dahin zurückgeführt sehen, daß allerdings die Idee (choris ton onton) in gewisser Weise ist; in welcher Weise aber, dafür fehlt ihm der technische Ausdruck der Geltung ebenso wie seinem Lehrer; auch ihm ist ein Allgemeinbegriff oder eine Idee zuletzt zwar keine wahre ousia, aber doch eine deutera ousia [sekundäre Seiendheit - wp].

320. Wenn man sich nun verwundern wollte über die Tatsache, zwei der größten Philosophen des Altertums mit nicht vollständigem Erfolg um Klarheit über einen so einfachen Unterschied ringen zu sehen, so würde man unbillig gegen beide sein; das Gewahrwerden der einfachsten Gedankenverhältnisse ist nicht die einfachste Tat des Denkens, und die ganze lange Geschichte der Philosophie lehrt, wie wir alle in jedem Augenblick bereit sind, in der Anwendung uns derselben Unklarheit schuldig zu machen, diewir auf ihren einfachsten Ausdruck gebracht für unmöglich halten möchten. So oft man geglaubt hat, eine Gedankenbestimmung entdeckt zu haben, durch welche sich das Allgemeine der Bildung und Entwicklungsweise der erscheinenden Wirklichkeit darstellen zu lassen schien, ebenso oft ist man dazu übergegangen, sie über diese hinauf in ein reines Sein zu verselbständigen, gegen welches die Wirklichkeit der Einzeldinge als eine untergeordnete unwahre Form des Daseins zurücktrat. Ich brauche nicht einmal an die letzte Gestalt der deutschen Philosophie zu erinnern, die an die Stelle der platonischen Ideen die eine unbedingte Idee meinte setzen zu können; auch in außerphilosophischen Gedankenkreisen kommt dieselbe Neigung sichtlich vor. Denn wie oft hören wir doch jetzt von ewigen unveränderlichen Naturgesetzen, denen alle veränderlichen Erscheinungen unterworfen sind; Gesetze, deren Erscheinung zwar aufhören würde, wenn es keine Dinge mehr gäbe, denen sie gebieten könnten, die aber auch dann noch fortfahren würden, ewig zu gelten, und in jedem Augenblick wieder in ihrer wirksamen Macht aufleben würden, wenn sich ihnen von irgendwoher ein neuer Anwendungsgegenstand darböte; nicht einmal daran fehlt es, gelegentlich diese Gesetze als thronend über aller seienden Wirklichkeit dargestellt zu sehen, ganz in jenem überhimmlischen Ort, in dem PLATON seine Ideen heimisch nannte. Dennnoch würden diejenigen, die so sprechen, mit Entrüstung die Unterstellung abwehren, sie hätten diesen Gesetzen ein dinghaftes oder persönliches Sein außerhalb der Dinge zugeschrieben, die von ihnen regiert werden; mit gleichem Recht hat auch PLATON sich dieser Mißdeutung zu erwehren. Und endlich muß ich hinzufügen, daß nun auch wir, wenn wir die den Ideen und Gesetzen zukommende Wirklichkeit als Geltung von der Wirklichkeit der Dinge als dem Sein unterscheiden, zunächst bloß durch die Gunst unserer Sprache eine bequeme Bezeichnung gefunden haben, die uns vor Verwechslungen beider warnen kann; die Sache aber, die wir durch den Namen der Geltung bezeichnen, hat dadurch nichts von der Wunderbarkeit verloren, die den Antrieb zu ihrer Vermischung mit dem Sein enthielt. Wir sind bloß, unseres Denkens uns wie einer natürlichen Fähigkeit arglos bedienend, seit langem daran gewöhnt und finden es nun selbstverständlich, daß der Inhalt mannigfacher Wahrnehmungen und Erscheinungen sich allgemeinen Gesichtspunkten fügen und nach allgemeinen Gesetzen so behandeln lassen muß, ddaß unsere hiernach im Voraus gezogenen Folgerungen mit dem Fortgang jener Erscheinungen wieder zusammentreffen; aber daß dies so ist, daß es allgemeine Wahrheiten gibt, die nicht selber sind, wie die Dinge, und die doch das Verhalten der Dinge beherrschen, dies ist doch für den Sinn, der sich darin vertieft, ein Abgrund von Wunderbarkeit, dessen Dasein mit Staunen und Begeisterung entdeckt zu haben immer eine große philosophische Tat PLATONs bleibt, wie viele Fragen sie auch mag ungelöst gelassen haben.

321. Eine dieser Fragen ist die nach dem bestimmten Verhältnis der Dinge zu den Ideen, das PLATON als Teilnahme jener an diesen oder als Nachahmung bezeichnet. Ich erörtere sie jetzt noch nicht in ihrem ganzen Umfang; auf einen Mangel der Ideenlehre führt uns aber ein ansich nicht gerechter Vorwurf des ARISTOTELES. Unter den Gründen, die ihm diese Lehre überflüssig und nutzlos erscheinen lassen, hebt er mit Nachdruck hervor, daß sie keinen Anfang der Bewegung darbietet. So richtig dies ansich sein mag, so wenig kann es gegen die Ideenlehre beweisen, daß sie diese Aufgabe nicht erfüllt; sie erfüllt nur auch die andere nicht vollständig, die in ihrer eigenen Absicht lag. Knüpfen wir an die Gegenwart an: unsere Naturgesetze, enthalten sie einen Anfang der Bewegung? Im Gegenteil: sie alle setzen voraus, daß eine Reihe von Daten gegeben ist, die sie selbst nicht feststellen können, aus denen aber, wenn sie gegeben sind, die Notwendigkeit des inneren Zusammenhangs der nun folgenden Erscheinungen ableitbar ist. Kein Naturgesetz bestimmt, daß die Massen unseres Planetensystems sich überhaupt bewegen und daß ihr Lauf nach dieser und nicht nach einer anderen Richtung des Himmels gehen oder daß die Beschleunigung, die sie einander durch ihre Anziehung erteilen, diese Größe haben muß, welche sie hat, und nicht eine andere; ist nun deswegen das System der mechanischen Wahrheiten nutzlos und ein leeres Gerede, weil es alle diese Anfänge der Bewegung anderswoher erwartet und nur innerhalb der bereits wirklichen Bewegung jede einzelne Phase mit jeder andern notwendig zu verbinden lehrt? Immerhin mag PLATON die ersten Anstöße, von denen die Reihenfolge der Erscheinungen abhängt, in unklarer Weise, und doch am Ende nicht unklarer, als auch wir noch, in jene dunkle hyle [Materie - wp] verlegt haben, die ihm überhaupt das Gegebene versinnlicht, auf welches die Ideen eine Anwendung haben: dennoch, als er in der Ideenwelt die Muster sah, denen sich alles Seiende fügen muß, wenn Etwas ist, sprach er hiermit einen Gedanken aus, dessen Wichtigkeit ARISTOTELES unbillig übersieht; denn auch er würde später, in der Erklärung der einzelnen Erscheinungen, diesen Gedanken brauchen: auch er würde nicht zugeben können, daß die bewegende Ursache, welche den verwirklichenden Anstoß erteilt, noch freie Hand darüber hat, zu bestimmen, was aus diesem Anstoß werden soll; darüber haben von Ewigkeit jene allgemeinen Gesetze entschieden, die gleichwohl den Antrieb zur Verwirklichung nicht geben. Aber dies allerdings müssen wir als Unvollkommenheit der platonischen Ansicht anerkennen, daß sie eben diese ihre eigene Aufgabe nur halb gelöst hat. Gründe für den notwendigen Zusammenhang zweier Inhalte müssen immer die logische Form eines Urteils haben; sie können nicht in Gestalt einzelner Begriffe ausgesprochen werden, da keiner von diesen für sich eine Behauptung enthält. Gesetze daher, d. h. Sätze, welche eine Beziehung verschiedener Elemente ausdrücken, haben wir schon vorher als die Beispiele benutzt, an denen sich deutlich machen läßt, was gelten heißt im Gegensatz zum sein; nur mit halber Deutlichkeit läßt sich dieser Ausdruck auf einzelne Begriffe übertragen; von ihnen könnten wir nur sagen, daß sie etwas bedeuten; sie bedeuten aber dadurch etwas, daß von ihnen Sätze gelten, der z. B., daß jeder Begriffsinhalt sich selbst gleich und in unveränderlichen Verwandtschaften oder Gegensätzen zu ändern enthalten ist. In der Form des isolierten Begriffs nun oder der Idee hat PLATON ziemlich ausschließlich die Elemente der von ihm entdeckten Gedankenwelt aufgefaßt; schon der Gesamteindruck seiner Darstellungen macht merkbar, wie sparsam im Vergleich hiermit allgemeine Sätze auftreten; sie fehlen keineswegs ganz, bilden vielmehr in einzelnen Fällen Gegenstände wichtiger Erörterungen; aber daß eben sie, in dieser Gestalt als Sätze, die wesentlichsten Bestandteile der idealen Welt sein müßten, hat sich PLATON doch nicht aufgedrängt. Diese Eigentümlichkeiten der Auffassungsweise ist nicht ohne spätere Beispiele. Noch KANT, als er die apriorischen Formen aufsuchte, die dem empirischen Inhalt unserer Wahrnehmungen die Einheit innerer Zusammengehörigkeit geben sollten, verfiel zuerst darauf, sie in Gestalt einzelner Begriffe, der Kategorien, zu entwickeln und zwar gerade aus den Formen der Urteile selbst, als er sie dann zu haben glaubte, wurde umso deutlicher, daß nichts mit ihnen anzufangen war; nun folgte die Bemühung, aus ihnen wieder Urteile, die Verstandesgrundsätze, zu gewinnen, von denen als Obersätzen zu den zweiten Prämissen, welche die Erfahrung liefert, eine wirkliche Anwendung möglich wurde. Diese Neigung, Wahrheiten, deren vollgültiger Ausdruck nur ein Satz sein kann, in die unzureichende Form eines einzelnen Begriffs zu bringen, scheint daher aller menschlichen Einbildungskraft, nicht bloß der plastisch geschulten des alten Griechenlands, natürlich zu sein; es verdient immer im Vorbeigehen bemerkt zu werden, wie gefährlich sie ist, indem sie vom vollen Tatbestand, dem die Untersuchung gilt, zu einem unfruchtbaren Spiel mit leeren von ihren zukömmlichen Unterlagen abgelösten Vorstellungen führt. Von all dem nun, was wir hier verlangen, finden wir bei PLATON sehr Weniges ausgeführt, und selbst das Bedürfnis der Ausführung nicht klar und vollständig anerkannt. Der allgemeine Gedanke allerdings, daß es nicht nur unzählige Ideen gibt, sondern alle zusammen ein gegliedertes Ganzes bilden, ist die Seele seiner ganzen Darstellung, und mit Begeisterung schildert er den Genuß den ihm seine dialektische Beschäftigung gewährt, den zusammengesetzten Inhalt der Vorstellungen mit Schonung seiner natürlichen Fugen in seine Elemente aufzulösen und aus ihnen wieder zusammenzusetzen: auch die verschiedenen Grade der Verträglichkeit des Gegensatzes der Einzelideen und die möglichen Arten ihrer Verbindung erwähnt er als Gegenstände anzustellender Untersuchungen. Aber in den Beispielen wirklicher Anwendung, die er gibt, läuft doch diese Kunst der Dialektik ziemlich einförmig auf eine Klassifikation der Ideen hinaus, die uns zeigt, an welche Stelle eines Einteilungssystems jede gehört vermöge der Einzelbestandteile, die sie in sich vereinigt, aber ohne daß aus dieser Ortsbestimmung in Bezug auf irgendeine derselben eine Behauptung, ein Gewinn an Erkenntnis fließen würde, der ohne diesen klassifikatorischen Umweg unerreichbar gewesen wäre; was vielmehr von jeder gilt oder nicht gilt, wird man nachher ebenso wie vorher aus anderen Quellen erfahren müssen. Jene Fugen und Gelenke, die PLATON nur schonen wollte, hätte er ernsthafter untersuchen müssen; anstatt die Flora der Ideen systematisch zusammenzustellen, hätte der Gedanke sich auf die allgemeinen physiologischen Bedingungen richten soll, die in jedem einzelnen dieser Gewächse Glied mit Glied zu einer möglichen Entwicklung verbinden. Oder ohne Bild gesprochen: nachdem das Dasein einer ewig gültigen inhaltvollen Ideenwelt mit Klarheit hervorgehoben war, blieb als nächste Aufgabe, die in ihrem Bau herrschende allgemeine Gesetzlichkeit zu erforschen, durch welche auch in ihr schon die einzelnen Bestandteile allein zu einem Ganzen verbunden sein können: es handelte sich um die Frage, welches die ersten Grundsätze unseres Erkennens sind, denen wir die Mannigfaltigkeit der Ideen unterzuordnen haben. Diese bestimmtere Gestalt hat jetzt für uns die methodische Untersuchung der Wahrheit und ihres Ursprungs angenommen.
LITERATUR - Hermann Lotze, System der Philosophie, Erster Teil: Drei Bücher der Logik (vom Denken, Untersuchen und Erkennen), Leipzig 1912