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THEODOR ELSENHANS
Phänomenologie und Empirie

"Gegeben ist, was wir schon vorfinden, was ohne unsere aktive Mitwirkung vorhanden ist, was da ist, ehe sich unsere Verarbeitung darauf richtet. Die Begriffe der Rezeptivität und der Spontaneität verteilen sich geradezu auf die Sinnlichkeit, durch welche uns ein Gegenstand gegeben wird, und auf den Verstand, durch welchen ein Gegenstand gedacht wird."

"Wer das Wesen eines irgendwie Gegebenen erfassen will, kann sich dabei unmöglich einer Berücksichtigung und Verwertung dessen entziehen, was er sonst in Beziehung auf diese Gegebenheit erfahren hat und dessen, was die Erfahrungswissenschaft über denselben Gegenstand ermittelt hat und noch ermitteln kann. Dann aber läßt sich die Wesenserschauung von der die Wahrnehmung mit begrifflichen Vorgängen verbindenden Beobachtung und damit von der Begriffsbildung überhaupt nicht mehr trennen und verliert damit ihren geheimnisvollen Charakter eines unmittelbaren Schauens von Ideen."

"Für die Phänomenologie ist das Ideelle und damit mittelbar auch das Allgemeine schon von vornherein vorhanden und die kopernikanische Wendung der Phänomenologie besteht eben darin, daß sie die gesamte reale Welt als in zeitlosen Ideen gegeben uns erkennen läßt."

"Kants Vernunftgebrauch nach Begriffen: in dem wir nichts weiter tun können, als Erscheinungen dem realen Inhalt nach unter Begriffe zu bringen, welche darauf nicht anders als empirisch, d. h. a posteriori (aber jenen Begriffen als Regeln einer empirischen Synthesis gemäß) bestimmt werden können."


Vorwort

Die Stellung der Phänomenologie in der Philosophie der Gegenwart ist bedeutsam genug, um ihr über die Erörterung einzelner sachlicher Gegensätz hinaus das wissenschaftliche Interesse zu sichern. Wenn ich auch bezüglich der "Auseinandersetzung" LINKEs (1) mit meiner Abhandlung über diesen Gegenstand (2) in der Hauptsache auf die darin zutage tretende Verschiedenheit gewisser Grundanschauungen und auf einen Vergleich des Gewichts ihrer Beweisführung verweisen muß, und wenn ich ferner keine Kenntnis davon habe, inwieweit der Urheber der Phänomenologie selbst sich seine Begründung zu eigen machen würde, so scheint es mir doch im Interesse der sachlichen Klärung der ganzen Frage geboten, auf die für die gesamte Stellung der Phänomenologie zur Wissenschaft überhaupt entscheidenden Punkte und die von LINKE dazu vorgebrachte Begründung nochmals kurz einzugehen.


I. Erfahrungsbegriff und Gegebenheit

Dieser entscheidende Punkt ist die Behauptung einer "Wesenserschauung", welche auch nicht-empirischem Weg ("reine") Gegebenheiten erfassen soll, wobei ich die Verbindung des Nicht-Empirischen und des Gegebenen als den schwächsten Punkt der Phänomenologie bezeichnete, LINKE darin - doch wohl auch im günstigsten Fall etwas kühn - geradezu ihren stärksten Punkt sieht.

Es ist richtig, daß hier sehr viel vom Begriff der Erfahrung abhängt. Ich verzeichne dabei mit Befriedigung die Voranstellung der "höchst beachtenswerten Regel" durch den Phänomenologen, "niemals ohne Not vom natürlichen Sprachgebrauch abzuweichen" (3). Immerhin wird man dabei von demjenigen Sinn des vieldeutigen Wortes auszugehen haben, der zur Debatte steht, d. h. dem Sinn, in welchem die Phänomenologie selbst das Wort zur Abgrenzung ihres Standpunktes gebraucht, und der durch den Gegensatz des Empirischen zum Apriorischen, empirischer zu "reinen Gegebenheiten" bestimmt ist. Diese Begriffe sind aber im neueren Sprachgebrauch durchaus von der Prägung abhängig, die ihnen KANT gegeben hat. In KANTs Erfahrungsbegriff gehen aber zwei Bedeutungen des Wortes durcheinander, die schon in den berühmten ersten Sätzen der Einleitung zur zweiten Auflage der "Kritik der reinen Vernunft" einander ablösen: Erfahrung als Verarbeitung des "rohen Stoffs sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände" und Erfahrung als in der Hauptsache (4) zusammenfallend mit der Sinnesempfindung, durch welche unser Erkenntnisvermögen überhaupt erst zur Ausübung erweckt wird. Der erstere ist der echte kantische Erfahrungsbegriff, der im Mittelpunkt seiner kritischen Erörterungen steht, dessen er sich bedient, wenn er die Kategorien als Prinzipiennnnn einer möglichen Erfahrung nachweist, oder wenn er den Übergang vollzieht vom Wahrnehmungsurteil zu einem allein allgemeingültigen und notwendigen Erfahrungsurteil, und der überall gemeint ist, wo es sich um eine Erfahrungserkenntnis oder um "empirische" Wissenschaft handelt. Auch wenn in der Gegenwart die Frage erörtert wird, wie sich die Phänomenologie zur empirischen Psychologie verhält, so kann, den Anschluß an den vorhandenen Sprachgebrauch vorausgesetzt, unter der letzteren kaum etwas anderes verstanden werden, als eine verstandesmäßige Verarbeitung des der inneren Wahrnehmung "gegeben" "rohen Stoffes" der Empfindung (5). Damit ist zunächst auch dem Begriff des Gegebenen seine Stelle angewiesen. Gegeben ist, was wir schon vorfinden, was ohne unsere aktive Mitwirkung vorhanden ist, was da ist, ehe sich unsere Verarbeitung darauf richtet. Die Begriffe der Rezeptivität und der Spontaneität verteilen sich geradezu auf die "Sinnlichkeit", durch welche uns ein Gegenstand "gegeben" wird, und auf den "Verstand, durch welchen ein Gegenstand "gedacht" wird.

Nun bezeichnet allerdings KANT auch das Gegebene selbst als ein "Empirisch-Gegebenes", oder "in der Erfahrung Gegebenes" und es ist richtig, daß er diesem "Empirisch-Gegebenen" an verschiedenen Stellen ein anderes Gegebenes gegenüberstellt. Und zwar bildet den Gegensatz des "Empirisch-Gegebenen" teils ein Gegebensein a priori, teils das Gegebensein als "Ding-ansich" oder "an sich selbst" (6). Es ist kein Zweifel, daß das "Gegebene" im eigentlichen Sinn für KANT das Empirisch-Gegebene ist und daß daher der Zusatz "empirisch", der hier nichts anderes meinen kann, als die Bedingtheit des Gegebenseins durch die Sinnesempfindung, also des Erfahrungsbegriffs in der zweiten Bedeutung sich bedient, die Art angibt, wie das Gegebene vorgefunden wird. Wenn nun LINKE aus jenem Sprachgebrauch KANTs glaubt schließen zu können, daß KANT ein "Gegebenes" nicht-empirischer Art in einem phänomenologischen Sinn kennt, so scheint mir dies keineswegs zuzutreffen. Das Gegebensein eines "transzendentalen Objekts" (7) das jeder Erkenntnis unzugänglich ist, zieht er dabei selbst nicht in Rechnung. Aber auch das kantische "Gegebensein" des Apriori kann nicht im Sinne von "reinen Gegebenheiten" der Phänomenologie verstanden werden, deren Wesen in einer phänomenologischer Einstellung erkannt werden soll. Das Problem des Bewußtwerdens und der Erkenntnis eines Apriori hat KANT überhaupt nicht grundsätzlich behandelt - diese wichtige Frage haben erst FRIES und seine Nachfolger in den Mittelpunkt der erkenntnistheoretischen Erörterung gestellt, - wo er es aber streift, wo er andeutet, in welcher Weise das Apriori gegeben ist, da gebraucht er Ausdrücke, die allerdings im Gegensatz zu seiner grundsätzlichen Ablehnung aller Einmischung des Empirischen in die Beweisführung selbst, - nicht anders als empirisch-psychologisch gedeutet werden können (8). Der Folgerung ist dann nicht mehr auszuweichen, daß das Apriori, zwar nicht, sofern es eine allgemeingültige und notwendige Erkenntnis begründet, wohl aber, sofern es ein Gegebenes im genannten Sinn ist, Gegenstand einer empirischen Wissenschaft werden muß.

Aus dem Bisherigen ergibt sich auch, daß der Versuch, JOHN LOCKE als Zeugen für ein Nicht-Empirisches Gegebenes anzurufen (9), die ganze Problemstellung verschiebt und dadurch in ein schiefes Licht setzt. Es ist gewiß richtig, daß LOCKE, indem er aus dem Nichtvorhandensein des consensus omnium [allgemeine Übereinstimmung - wp] den Beweis zu führen sucht, daß es keine angeborenen Ideen gibt, von etwas redet, das weder aus der Sensation noch aus der Reflexion, also überhaupt nicht aus der "Erfahrung" stammt, aber alle seine Ausführungen darüber verraten doch ganz unmißverständlich, daß es sich für ihn nicht um die Möglichkeit "reiner Gegebenheiten" handelt, sondern um die Möglichkeit eines etwa bei neugeborenen Kindern, bei Naturvölkern, bei Gebildeten und Ungebildeten vorzufindenden Angeborensein, dessen Nichtvorhandensein er (10) ebenso erfahrungsmäßig feststelt, wie irgendein Vorhandensein von Etwas, was sonst in der Welt der Wirklichkeit vorkommt. Das Problem des Erkennens verwandelt sich für LOCKE sogleich in dasjenige des Ursprungs der Vorstellungen, das er auf empirisch-psychologischem Weg zu lösen versucht. Die Anschauung, die er selbst bei seiner Bekämpfung der angeborenen "Ideen" vor sich sieht, ist nicht der Apriorismus, sondern der Nativismus, und das Problem, um das es sich handelt, ist nicht das der Erkenntnisart, sondern das der Entstehung der Vorstellungen. Der Nativist kann ein ausgesprochener Empiriker sein, nämlich seiner Erkenntnisart nach und in dem Sinne, in dem der Phänomenologe eine Ausdehnung der "empirischen Wissenschaft" auf seine "reinen Gegebenheiten" ablehnt (11), sobald er das Angeborene, wie LOCKE es von ihm voraussetzt, als in der Natur des Menschen erfahrungsmäßig Vorzufindendes ansieht, das als solches natürlich Gegenstand einer erfahrungswissenschaftlichen Bearbeitung wird.

Was endlich den natürlichen Sprachgebrauch betrifft, so scheint mir auch dieser keineswegs für eine Ausdehnung des Begriffs des Gegebenen auf Nicht-Empirisches zu sprechen. Der Ausdruck eine "Erfahrung machen", von dem LINKE dabei ausgeht, bedeutet doch wohl weniger das "Erfassen und bewußte Haben" eines "hic et nunc [hier und jetzt - wp] Gegebenen", als die Ansammlung der Wirkungen und Gegenwirkungen, die der Redende und Handelnde im Wechselverkehr mit seiner Umgebung erlebt, im Bewußtsein und die Verwertung der unbewußt oder bewußt daraus gezogenen Schlüsse auf gewisse Zusammenhänge von Ursache und Wirkung, die darin zutage treten. "Erfahren" ist nicht derjenige, der viele Eindrücke überhaupt gehabt hat, sondern wer aufgrund der gehabten Eindrücke den Zusammenhang der Dinge überschaut, um im gegebenen Augenblick das Richtige wählen zu können. Jedes Erlebnis, und darum jedes "Gegebene" gehört in die "Erfahrung" in diesem Sinn und es liegt in ihrem Wesen, daß das jetzige Gegebene zu früherem Gegebenen in Beziehung gebracht und daß der Inhalt der Erfahrung durch die wechselseitige Beziehung solcher Gegebenheiten aufeinander bestimmt wird. Nach dieser Seite ihrer Form ist die "gemeine Erfahrung" nichts anderes als eine Vorstufe der Erfahrungswissenschaft. Aber eben dieser gegenüber will sich ja die Phänomenologie abgrenzen, da sie die "Wesensverhalte" unter Ausschaltung der ganzen in der Erfahrung wirklich vorgefundenen Welt in unmittelbarer Einsicht erfassen will. Daß sie aber in der Begründung dieses Standpunktes durch die Behauptung eines Nicht-Empirisch Gegebenen zumindest im Sprachgebrauch keine Unterstützung findet, hat sich mir nunmehr gezeigt.

Immerhin ist dieser von LINKE selbst empfohlene Anschluß an den Sprachgebrauch natürlich nicht entscheidend. Jeder Forscher wird sich vorbehalten, bei der Prägung neuer Begriffe unter Umständen auch neue Bezeichnungen zu schaffen oder die vorhandenen in ihrem Sinn zu verändern oder zumindest zu erweitern. Aber dann wird mit umso mehr Recht die tiefergehende Frage gestellt werden, ob der mit dieser Neuerung beabsichtigte Zweck auch wirklich erreicht wird. Wenn die Phänomenologie als "deskriptive Wesenslehre reiner Erlebnisse" betont, daß es sich bei ihr um "Gegebenheiten", nämlich um nicht-empirische, um "reine Gegebenheiten" handelt, so liegt auch, wenn wir absehen von allem Streit um die Benennungsfrage, als eigentliche Denkmotiv doch dabei zugrunde, daß den Ergebnissen der Phänomenologie dieselbe oder annähernd dieselbe Zuverlässigkeit und unmittelbare Erforschbarkeit zukommen soll, wie sie sonst der sinnlichen Wahrnehmung des Gegebenen eigen ist, um damit der ganzen philosophischen Wissenschaft einen jenseits allen logischen Kampfes um die Probleme liegenden Ausgangspunkt zu sichern. Die "reinen Wesen" sind ja da, es kommt nur darauf an, daß wir sie sehen, und das unmittelbare Sehen, ist nach HUSSERL als "originär gebendes Bewußtsein" die "letzte Rechtsquelle aller Erkenntnis." (12) Aber eben dieses Ziel einer an Unmittelbarkeit und Zuverlässigkeit alles andere überragenden philosophischen Erkenntnis wird deshalb nicht erreicht, weil die Möglichkeit, von der an sich jedem einleuchtenden "Evidenz" eines Gegebenen auszugehen, durch die Zumutung einer keineswegs jedem einleuchtenden "Einstellung", die notwendig ist, um dieses Gegebene überhaupt zu "sehen" weitaus aufgehoben wird. Wer nicht imstande ist, ein Gegebenes der sinnlichen Wahrnehmung zu sehen, besitzt zumindest im Augenblick seines Versuches keine normale Sinnesorganisation. Könnte man etwas Ähnliches von demjenigen behaupten, der versichert, alle seine Versuche aufgrund der vorgeschriebenen "Einstellung" "reine Wesenheiten" zu sehen, seien vergebens gewesen und der es als unmöglich bezeichnet, in der Erfassung des "Wesens" eines "Gegebenen" jede Beziehung zu Erfassungen und früheren Erkenntnissen desselben Gegebenen auszuschließen? Aber hier tritt uns allerdings ein weiterer grundlegender Gesichtspunkt der Phänomenologie entgegen: die "Entindividualisierung" der einzelnen Gegebenheit.


II. Das Gegebene und die
"Entindividualisierung".

Einer meiner Einwände gegen die Phänomenologie ging dahin, daß, wer das Wesen eines irgendwie Gegebenen erfassen will, sich dabei unmöglich einer Berücksichtigung und Verwertung dessen entziehen kann, was er sonst in Beziehung auf diese Gegebenheit erfahren hat und dessen, was die Erfahrungswissenschaft über denselben Gegenstand ermittelt hat und noch ermitteln kann. Dann aber läßt sich die "Wesenserschauung" von der die Wahrnehmung mit begrifflichen Vorgängen verbindenden Beobachtung und damit von der Begriffsbildung überhaupt nicht mehr trennen und verliert damit ihren geheimnisvollen Charakter eines unmittelbaren Schauens von "Ideen". Dieser Einwand ist keineswegs erledigt mit einer Kritik der längst von allen Seiten kritisierten "Abstraktionstheorie" (13). Er ist vielmehr von dieser unabhängig. Es handelt sich nicht darum, wie die Bildung allgemeiner Begriffe psychologisch zu erklären ist, sondern darum, ob irgendwie die Phänomenologie im Recht ist, wenn sie von der Erfassung des Wesens eines "Gegebenen" redet, bei welcher jede Beziehung zu anderen Gegebenheiten derselben Art oder mehrerer solcher Gegebenheiten zueinander, sowie jede gleichzeitige Verwertung einer begrifflichen Verarbeitung dieser Beziehungen ausgeschaltet werden soll.

Aber eben diesem Bedenken begegnet die Phänomenologie damit, daß sie unter "Einklammerung" der ganzen individuellen einmalig in Raum und Zeit vorhandenen Welt alle Ansatzpunkte der empirischen Forschung ausschaltet, um ein besonderes Gebiet des Nicht-Individuellen, also Nicht-Empirischen herauszuarbeiten (14). LINKE unterscheidet zwei Stufen dieser Einklammerung, die Ausschaltung der räumlichen Wirklichkeit, d. h. nicht etwa der räumlichen Bestimmungen des betreffenden Gegenstandes, sondern nur seiner außenweltlichen Realität, und zweitens die Ausschaltung der mit einer einzelnen Zeitstelle gegebenen individuellen Bestimmtheit. Was zunächst das Erstere betrifft, so sehe ich nicht, weshalb mit der Aufhebung der "außenweltlichen Realität" auch die "Individualisierung" aufgehoben sein soll. Die als Beispiel angeführte halluzinierte Sonne kann ebenso individuell und ebenso in der "individuell - einen Raumwelt" lokalisiert sein, wie die wirkliche und sie kann ebenso Ansatzpunkt für empirische Forschung sein. Sie ist es schon in dem Augenblick, in welchem der die Halluzination Erlebende etwa die Merkmale der halluzinierten Sonne mit denen der wirklichen vergleicht, um ihre Nichtwirklichkeit festzustellen. Was den zweiten Punkte betrifft, so soll, wenn wir bei dem angeführten Beispiel bleiben, die Festlegung der halluzinierten Sonne auf eine bestimmte Zeitstelle, und damit ihre individuelle Bestimmtheit dadurch bedingt sein, daß der wahrnehmende Akt als Erlebnis in der zeitlichen Kette meiner Erlebnisse seine feste Stelle hat. Man ist versucht zu fragen: wenn SPINOZA die Welt zu einer bestimmten Zeit sub specie aeternitatis [das Ich im Licht der Ewigkeit - wp] betrachtet, ist dann durch die Zeitbestimmtheit der Betrachtung für ihn auch die Welt selbst im genannten Sinn zeitlich bestimmt? Läßt sich nicht ebenso jede echte Mystik als Gegenbeispiel anführen? und die "Wesenserschauung" selbst, ist sie als Erfassung zeitloser Gegebenheiten möglich, wenn die zeitliche Bestimmtheit eines Erlebens sich auf dessen Inhalt übertragen soll, da doch auch das Schauen des Phänomenologen zumindest zugleich ein Erleben zu einer bestimmten Zeit ist. Aber dieser will ja eben "jede Beziehung zum koinzidierenden Erlebnis und damit zur Zeitstelle fallen lassen". (15) Genau dasselbe tut aber schon der Wahrnehmende, der vom Zeitpunkt des Wahrnehmungserlebnisses völlig absieht und nur auf den individuell durchaus bestimmten Wahrnehmungsinhalt achtet. Auch für das Beispiel der auswendig gelernten Silbenreihe, deren Einprägungszeit gleichgültig ist, gilt es, daß mit der Aufhebung des "Zeitindex" keineswegs auch die Individualisierung aufgehoben ist. Sie kann auch ohne die Beziehung auf die für ihre "Individualität" gar nicht wesentliche Zeitstelle ihrer Erlernung in der bestimmten Betonung und Aussprache im Bewußtsein gegenwärtig sein, in der sie erlernt wurde (16).

Dazu kommt endlich als wichtiger von LINKE offenbar an vielen Stellen übersehener Umstand, daß nicht bloß die zeitlichen Bestimmungen, sondern auch die räumlichen Bestimmungen individualisierend wirken und daß sie dies auch tun innerhalb einer fingierten Welt oder gegenüber einem halluzinierten Gegenstand. Wenn der halluzinierte Sonnenuntergang derselbe bleibt, "wie ich ihn gestern wahrgenommen habe", nur unter Ausschaltung der Zeitstelle seines Erlebens, so kann die immer noch als "ein rotes, rundes, am Horizont versinkendes Etwas", als "ein einheitlicher Komplex von vorgestellten Beschaffenheiten" vorgestellten Sonne (17) schon vermöge ihrer Einordnung in die wie immer gedachte Raumwelt individuell bleiben, und wenn sie es nicht mehr bleibt - füge ich gleich hinzu - dann "schauen" wir sie nicht mehr bloß, sondern dann sind wir auf dem Weg, einen Begriff von ihr zu bilden.


III. Die Vergleichung und das Allgemeine

Allerdings ist hierzu ein Vergleich nötig. Der Phänomenologe weicht aber dieser Folgerung, die auf geradem Weg zur Bildung abstrakter Begriffe im gewöhnlichen Sinn des Wortes führen würde, aus, indem er die Gleichheit auf Identität zurückführt (18). Wenn ich von der Rotschattierung dieses Löschblatts rede als einer so und so beschaffenen, die es mit anderen Löschblättern gemeinsam hat, so soll dies nur möglich sein, weil dabei die Identität der einen in diesem Fall nicht-individuell gemeinten Farbbestimmung vorausgesetzt ist. Gemeinsamkeit und Identität bedeuten hier nichts anderes als sonst auch und als das sie z. B. in der Rede von zwei Häusern, die die Zwischenmauer, zwei Grundstücken die den Besitzer, zwei Ländern, die den König oder die Regierung gemeinsam haben, für jedermann deutlich hervortritt. Die letzten Beispiele zeigen, daß der Verfasser dabei nicht an die logische Identität denkt, wonach das zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Gelegenheiten Vorgestellte inhaltlich dasselbe sein soll, sondern an die reale Identität (19), die darin besteht, daß zwei Vorstellungen auf dasselbe Ding oder denselben Vorgang bezogen werden. Der König des einen Landes ist im vorausgesetzten Fall mit dem König des anderen Landes "identisch". Wie aber, wenn angenommen werden könnte, daß es sich um zwei in allen ihren Eigenschaften einander vollkommen gleichende Personen handelt? Dann wären die Könige beider Länder doch wohl nicht identisch, sondern nur einander gleich? Oder um ein weniger gewagtes Beispiel zu nehmen: zwei ihrer Beschaffenheit nach völlig übereinstimmende eiserne Kugeln von 10 cm Durchmesser oder zwei Atome derselben Art sind einander völlig gleich, ohne identisch zu sein. Wir sehen, KANTs Kritik am principium identitatis indiscernibilium [Satz der Identität des Ununterscheidbaren - wp] von LEIBNIZ besteht zu recht:
    "Die Verschiedenheit der Örter macht die Vielheit und Unterscheidung der Gegenstände, als Erscheinungen, ohne weitere Bedingungen, schon für sich allein nicht möglich, sondern auch notwendig." (20)
Sobald wir dieses von LINKE allzusehr vernachlässigtes principium individuationis mit heranziehen, das für die Ereignisse an Gegenständen ebenso wie für Gegenstände gilt, ergibt sich die Notwendigkeit, den Begriff der Gleichheit von dem der Identität unabhängig zu machen und die Unmöglichkeit die Loslösung vom Individuellen und den Übergang zum Allgemeinen anders als durch eine Vergleichung und Begriffsbildung zu vollziehen. In der Tat kann man einem großen Teil der Ausführungen LINKEs über das Verhältnis des Ideellen zum Individuellen zustimmen, wenn wir für "Idee" überall "Begriff" einsetzen. Vieles zielt dann unmittelbar auf das kantische Zusammenwirken der Anschauungen und der Begriffe und betont mit Recht die Zeitlosigkeit der Begriffe als solcher und die Notwendigkeit, die individuelle Wirklichkeit durch Begriffe ("Ideen") zu bestimmen und aus den Beziehungen der Begriffe neue und wieder neue "bis zu den abstraktesten und höchsten" abzuleiten (21). Aber damit wären ja die "Ideen" aus der Erfahrung abgeleitet, und das eben lehnt die Phänomenologie ab. Für sie ist vielmehr das Ideelle und damit mittelbar auch das Allgemeine schon von vornherein vorhanden und die "kopernikanische Wendung" der Phänomenologie besteht eben darin, daß sie die "gesamte reale Welt als in zeitlosen Ideen gegeben" uns erkennen läßt. Ich gestehe, daß ich hier nicht folgen kann, es sei denn ich versetze mich in eines der wirklichkeitsfernen aber durch die Größe ihrer Weltauffassung gerechtfertigten Systeme der Vergangenheit, in dasjenige PLATONs oder in das SPINOZAs. Aber die Phänomenologie will ja die Wissenschaft der Gegenwart neu begründen und sie will gerade auch die Erfahrungswissenschaft auf sichere Grundlagen stellen. Das Individuell-Tatsächliche selbst muß, heißt es, damit wir ihm überhaupt Bestimmungen beilegen können, diese, d. h. einen "Sinn", ein "Ideelles" schon "haben" und die Probe auf die zeitlose Gültigkeit der Ideen soll darin liegen, daß sie als "letzte sinngebende Grundlage" in jeder, auch in einer fingierten Welt dieselben bleiben. Auch wenn "eine grüne Sonne sich in Spiralen an einem gelben, eine unendliche Ebene bildenden Himmel mit rasender Schnelligkeit bewegen würde" (22), würde das Gelb des Himmels "als Vereinzelung der Idee Gelb genau dieselbe Reihe in der Farbskala einnehmen, wie jetzt und früher" und ebenso würde "der Sinn des Fallgesetzes und aller empirischen Gesetze überhaupt auch in dieser fiktiven Welt erhalten bleiben". Aber kann darüber ein Zweifel sein, daß eine solche fiktive Welt im Grunde nichts anderes ist, als eine willkürlich variierte Wiederholung der wirklichen Welt und daß darum das Erhaltenbleiben von Wahrheiten in derselben deren Gültigkeit nicht um ein Jota hinzufügt? Ist es möglich zu übersehen, daß von einer Einordnung des Gelb in die Farbskala doch nur deshalb die Rede sein kann, weil eine Farbskala aus der empirischen Beobachtung bereits abgeleitet ist (23) oder daß vom "Sinn" des Fallgesetzes und von "bloßen Möglichkeiten" von Gesetzen überhaupt nur gesprochen werden kann, weil aus der Beobachtung der empirischen Welt sich ein wirkliches Fallgesetz und andere Gesetze bereits ergeben haben, d. h. weil die Erfahrungswissenschaft ihr Werk schon getan hat? Sicherlich haben bei dieser Arbeit der Erfahrungswissenschaft nicht-empirische Begriffe bereits mitgewirkt, apriorische Begriffe, welche die "Erfahrung" und die Ableitung empirischer Einzelgesetze "erst möglich machen", aber nicht "Ideen", die als reine Gegebenheiten im einzelnen konkreten Ding "geschaut" werden (24).

IV. Weiteres über die
Analogie der Mathematik

Aber ich werde ja auf ein ganzes Gebiet verwiesen, das ich bis jetzt unberücksichtigt gelassen habe, und in welchem solche "reine Gegebenheiten" unbestreitbar vorhanden sein sollen, auf dasjenige der Mathematik. Ich lasse hier den früher besprochenen Einwand einer unberechtigten Ausdehnung des Begriffs des Gegebenen beiseite und halte mich nur an die Sache. In dieser Beziehung ist zunächst vorauszuschicken, daß eine Übertragung der an mathematischen "Gegebenheiten" gemachten Feststellungen auf Nicht-Mathematisches an allen Schwächen leidet, die man mit Recht dem Analogieschluß nachsagt. Es kommt ja natürlich immer darauf an, ob die vorausgesetzte Ähnlichkeit zwischen den beiden in Betracht kommenden Gebieten weit genug reicht, um eine Übertragung zu rechtfertigen. Demgegenüber habe ich auf die durchgreifende Verschiedenheit beider Gebiete hingewiesen, deren Erkenntnis eines der wichtigsten Entwicklungsfermente und zugleich eine der wertvollsten Errungenschaften der kantischen Philosophie ist (25). Tatsächlich scheinen mir auch KANTs Bestimmungen den Unterschied immer noch am schärfsten zu kennzeichnen, am klarsten vielleicht, wenn er unterscheidet zwischen einem "Vernunftgebrauch nach Begriffen", "indem wir nichts weiter tun können, als Erscheinungen dem realen Inhalt nach unter Begriffe zu bringen, welche darauf nicht anders als empirisch, d. h. a posteriori (aber jenen Begriffen als Regeln einer empirischen Synthesis gemäß) bestimmt werden können" und dem "Vernunftgebrauch durch Konstruktion der Begriffe, indem diese, da sie schon auf eine Anschauung a priori gehen, auch eben darum a priori und ohne alle empirische Data in der reinen Anschauung bestimmt gegeben werden können". (26) Wohl werden auch die mathematischen Bestimmungen an den Erscheinungen selbst vorgefunden, aber sofern sie vorgefunden werden, sind sie empirisch gegeben: sofern sie nicht empirisch gegeben sind, werden sie durch "Konstruktion" erst geschaffen. Die nicht-empirischen "reinen Wesen" der Phänomenologie lassen sich nicht in derselben Weise unabhängig von der Erfahrung erzeugen, sondern sie sind an das Empirisch-Gegebene gebunden und gleichen darin vollkommen den Begriffen, welche die Erfahrungswissenschaft aus dem Gegebenen ableitet (27). Bedenklich ist endlich noch, daß hier eine Übertragung durch Analogie erfolgen soll von einem dem gewöhnlichen Denken und Schauen unmittelbar zugänglichen Gebiet auf ein anderes, das sich erst aufgrund einer besonderen "Einstellung", "Einklammerung", "Ausschaltung" erschließt. Die Beweiskraft, die von der Phänomenologie in der vielgebrauchten Analogie mit der Mathematik gesucht wird, ist also dadurch geschwächt, daß es sich für denjenigen, der erst überzeugt werden soll, um zwei für ihn - eben so lang er noch nicht überzeugt ist - verschiedene geistige Funktionen handelt. Umso wichtiger erscheint dann die Frage, worauf zuletzt die Wahrheit der phänomenologischen Erkenntnisse für sich allein betrachtet beruth.


V. Phänomenologie und
Wahrheitskriterium

Weshalb die Frage nach dem Wahrheitskriterium in der Phänomenologie keine befriedigende Antwort findet, glaube ich in meiner Abhandlung (28) gezeigt zu haben. Ich muß mich darauf beschränken, diese Ausführungen unter Hervorhebung der Hauptpunkte und unter Berücksichtigung der Erwiderung LINKEs zu ergänzen und wo es nötig erscheint, näher zu begründen. Der Phänomenologe erfaßt in unmittelbarer Erkenntnis "reine Gegebenheiten" und hat darin unabhängig von aller Erfahrung die wahre Erkenntnis ihres Wesens. Er soll, wie LINKE zugibt (29), auch irren können, so wie auch der Mathematiker gelegentlich irrt, aber der einmal richtig erschaute Wesenszusammenhang kann durch Beobachtung und Induktion keinerlei Änderung erfahren. Ich sehe hier von dem bereits kritisierten Analogieschluß auf die Mathematik ab, obwohl sich unschwer zeigen ließe, daß der mathematischen Erkenntnis die logische Kontrolle berichtigend und ergänzend dauernd zur Seite steht. Es handelt sich aber um Gegebenheiten der Erfahrungswelt, die wie z. B. die Farben, zumindest außerdem Gegenstand der empirischen Forschung sind. Der einmal erschaute Wesenszusammenhang soll durch Beobachtung und Induktion keinerlei Änderung erfahren können, so wenig als physikalische Gesetze durch juristische eine Änderung erfahren können. Aber hier handelt es sich doch nicht um "heterogene Gebiete", sondern umd dieselben Gegenstände, für die neben der sonst auf sie gerichteten Forschungsweise, in der sich - denn das ist das Wesen von Beobachtung und Induktion - Wahrnehmung und Denken durchdringen, ein besonderes Verfahren unmittelbarer Wesenserkenntnis behauptet wird. Richtig gewendet müßte LINKEs Frage vielmehr lauten: Können denn physikalische Gesetze (30) (oder juristische) durch die Anwendung logischer eine Änderung erfahren? Natürlich können sie das (31), ebenso - füge ich hinzu - wie jede der Erkenntnis dienende Auffassung eines "Gegebenen" durch andere oder ähnliche Auffassungen desselben oder eines ähnlichen Gegebenen und deren logische Verarbeitung berichtigt oder ergänzt werden kann. Wenn der Phänomenologe aus einer Qualität die Eigenschaften abliest, die in ihr liegen und dabei "Lesefehler" macht, woran erkennt er dann, daß er solche gemacht hat und wie vermag er sie zu korrigieren, wenn nicht dadurch, daß er sie zu anderen Wesenserschauungen in Beziehung bringt, mit ihnen vergleicht und daraus seine Schlußfolgerungen zieht? Dann gründet sich aber auch schon die Wahrheit der einzelnen Sachverhalte nicht mehr auf das "Schauen" allein, sondern auf die Mitarbeit des Denkens, das ganz wie bei der empirischen Forschung aus einer Vielheit von "Gegebenheiten" seine Folgerungen zieht. Es hilft nichts, dagegen zu sagen, die Wahrheit des fraglichen Sachverhaltes gründet sich nicht auf die psychologischen Vorgänge einer Verwertung früherer Erfahrungen, die ja nicht zu bestreiten sind, sondern auf die "ideellen" Qualitäten selbst; (32) denn die "Verifikation", die Bewahrheitung, die natürlich auch nach meiner Ansicht nicht im Aufzeigen der entsprechenden psychologischen Vorgänge, sondern in einem empirisch-logischen Begründung besteht, läßt sich für meine Frage vom Wahrheitsinhalt nicht trennen. Beides jedoch ist, wie wir gesehen haben, von der Möglichkeit abhängig, die unrichtige Wesenserkenntnis von der unrichtigen zu unterscheiden. Da diese Unterscheidung aber eine Vergleichung und logische Verarbeitung des Verglichenen mit sich führt, so verbindet sich schon in der Erkenntnis des Wesens einzelner Gegebenheiten ein Schauen und Denken, genau so, wie beides in der empirischen Erkenntnis stets verknüpft ist (33).

Die Unmöglichkeit, in einer solchen Wesenserkenntnis von Gegebenheiten die wissenschaftliche Verwertung sonstiger Erfahrungsergebnisse vom "Schauen" selbst zu trennen, tritt noch deutlicher hervor, wenn wir die logische und sprachliche Form berücksichtigen, in der Erkenntnis überhaupt ihren Ausdruck findet. Die Wesenserkenntnis z. B., daß Orange "in der nach Ähnlichkeit richtig geordneten Farbreihe seine Stelle zwischen Rot und Gelb hat (34), sondern erst im Augenblick der Gestaltung des Erlebten zu einer logisch im Urteil, sprachlich im Satz ausdrückbaren Wahrheit wird. Wie sollte innerhalb dieser aber von einer Stelle in der "Farbreihe" die Rede sein können, ohne für die auszusprechende Wahrheit selbst die früheren Feststellungen oder die erfahrungswissenschaftliche Kenntnis der Farbreihe mitzuverwerten? Es ist richtig, daß eine solche Erfahrungswissenschaft das Ziel einer Irrtumslosigkeit im absoluten Sinn nie erreichen kann. Alle Wissenschaft von Gegebenheiten, die nach meiner Ansicht immer empirischer Natur ist, bleibt ein "unendlicher Prozeß", ein "Annäherungsverfahren". Ein neues Zeugnis dafür bietet z. B. die neueste Entwicklung der Naturwissenschaft, die eine ganze Reihe bisher scheinbar unbedingt feststehender Sätze in Wanken gebracht hat. Die Phänomenologie wäre aber, wie mir scheint, unter der Voraussetzung der eigenen Charakteristik ihrer Forschungsmethode, doch wesentlich schlimmer dran. Denn es fehlt ihr ein über die individuelle Behauptung eines so oder so eingestellten Wesensforschers hinausgehendes Wahrheitskriterium und damit die Möglichkeit, einer beliebigen aus der Quelle geschöpften Behauptung gegenüber die eigene für richtig gehaltene Ansicht durchzusetzen (35).


VI. Ergebnis

Ich habe zur Genüge zu erkennen gegeben, daß ich die Phänomenologie viel höher einschätze, als sich aus diesen Folgerungen ergeben würde. Ich bewundere den Scharfsinn, mit dem ihr Urheber in der folgerichtigen Durchführung seiner wissenschaftlichen Ziele weiter und weiter vordringt. Aber ich glaube allerdings das Verhältnis der phänomenologischen Methode zur Empirie anders beurteilen zu müssen (36), als er selbst und seine Schule. Es scheint mir, daß es auch der Phänomenologie in ihrer jetzigen Form nicht anders geht, als all den anderen wissenschaftlichen Versuchen, erfahrungsgemäß Gegebenes durch Erkenntnisinhalte, die selbst unabhängig von der Erfahrung gewonnen sein sollen, zu meistern. In der tatsächlichen Ausführung zeigt sich, daß sie ohne Anleihen bei der Erfahrung nicht auskommen. Es ist natürlich, daß dies in den die ganze Lehre erst begründenden Ausführungen ihres Urhebers wenig hervortritt, als in den mannigfachen Versuchen ihrer Anwendung, soweit sie jetzt vorliegen. Ich glaube gezeigt zu haben, daß wir in diesen in mehrfacher Hinsicht wertvollen Versuchen im Grunde nichts anderes zu sehen haben als eine begriffliche Analyse und eine unabhängig von naturwissenschaftlichen Methoden sorgfältig durchgeführte Bearbeitung bestimmter Gebiete der empirisch-deskriptiven Psychologie. Daß überhaupt, wie HUSSERL selbst es ausdrückt, eine "systematische. das Psychische immanent erforschende Bewußtseinswissenschaft" für die Gegenwart ein Bedürfnis ist und daß es an einer selbständigen Durcharbeitung der begrifflichen Grundlagen und des einheitlichen Aufbaus der Psychologie vielfach noch fehlt, ist auch meine Überzeugung (37) und es scheint mir, daß zur Erfüllung dieser Aufgabe von der Phänomenologie die wertvollsten Beiträge zu erwarten sind, allerdings nicht auf dem Weg eines von aller Erfahrung losgelösten "Schauens reiner Gegebenheiten", sondern in dauernder Fühlung mit der Erfahrungswissenschaft und in derjenigen Verbindung von Anschauung und Denken, die nach KANTs klassischem Zeugnis allein zu einer allgemeingültigen und notwendigen Erkenntnis führt.
LITERATUR Theodor Elsenhans,Phänomenologie und Empirie, Kant-Studien, Bd. 22, Berlin 1918
    Anmerkungen
    1) Paul F. Linke, Das Recht der Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung mit Theodor Elsenhans, Kant-Studien, Bd. XXI, Heft 2 und 3, (1916), Seite 163-221.
    2) Theodor Elsenhans, Phänomenologie, Psychologie, Erkenntnistheorie, Kant-Studien, Bd. XX (1915), Seite 224-275 (künftig zitiert: a. a. O.).
    3) Linke, a. a. O., Seite 171 (künftig nur noch Zitiert Linke Seite ..)
    4) Wobei ich von der schwierigeren Frage des Verhältnisses der äußeren und inneren Erfahrung und des äußeren und inneren Sinns hier völlig absehen kann.
    5) Daß hiervon auch die "Beschreibung" grundsätzlich nicht ausgenommen werden kann, glaube ich in meiner Abhandlung (a. a. O. Seite 240f) gezeigt zu haben.
    6) Daß erstere z. B. besonders deutlich an der früher angeführten auch von Linke benutzten Stelle der Kr. d. r. V. (Ausgabe Kehrbach, Seite 553f, das letztere z. B. eingehend im sechsten Abschnitt der Kr. d. r. V. Seite 401f.
    7) Kr. d. r. V. Seite 404
    8) vgl. hierzu mein Werk über Fries und Kant, Bd. 1, Seite 107f.
    9) Linke, a. a. O., Seite 172f.
    10) mit Einschluß der mathematischen Prinzipien (vgl. "Essay" I, 4 § 6).
    11) Deshalb ist auch die Berufung auf Cassirers Ausführungen über Locke, ("Das Erkenntnisproblem, Bd. II, zweite Ausgabe, nicht 185f, sondern 258f) eine Verschiebung der Problemstellung. In dem hier in Betracht kmmenden vierten Buch des "Essay" behandelt Locke ausdrücklich "Wissen und Wahrheit". Wie sehr er übrigens auch hier "Empirist" bleibt, scheint mir gerade in den von Cassirer angeführten Abschnitten deutlich hervorzutreten. Daß wir zu keiner "sicheren Erkenntnis allgemeiner Wahrheiten über die Naturkörper" gelangen und daß "unsere Vernunft uns nur sehr wenig über den besonderen Tatbestand hinausführen kann", liegt nicht etwa an den durch eine Erkenntnistheorie festzustellenden Grenzen der Erfahrung als solcher, sondern in der Unfähigkeit unserer Sinne weiter als bisher in das Innere der Körper einzudringen und dadurch über unsichere Versuche hinaus genaue deutliche Vorstellungen von ihren "primären Eigenschaften" zu gewinnen. "Solange uns aber Sinne fehlen, scharf genug, um die kleinsten Körperteilchen wahrzunehmen und uns Ideen von deren mechanischen Verhältnissen zu geben, müssen wir mit unserer Unkenntnis ihrer Eigenschaften und Wirkungsweisen zufrieden sein, und können davon nicht mehr wissen, als einige wenige von uns angestellte Versuche lehren mögen." (Essay, IV, 3, § 25, Übersetzung von Schultze) Es handelt sich also nicht um grundsätzliche, sondern nur gewissermaßen um technische Grenzen der Erfahrungswissenschaft, die z. B. durch eine Vervollkommnung des Mikroskops zum Teil überwunden werden können und von Geschöpfen in anderen Teilen des Universums vielleicht schon überwunden sind (a. a. O. § 23). Cassirer scheint mir hier der Versuchung nicht ganz entgangen zu sein, rückschauend die eigene Betrachtungsweise auf ein früheres naiveres System zu übertragen.
    12) das Nähere hierüber in meiner Abhandlung a. a. O. Seite 250f.
    13) Linke (Seite 179f) bezeichnet diese Theorie recht wenig zutreffend als "Verschwommenheitstheorie" wobei offenbar der vom Objektiven ins Subjektive hinüberspielende Ausdruck selbst schon eine Wertung der Theorie andeuten soll. Ich widerstehe der naheliegenden Versuchung, einer Kritik der Phänomenologie die Überschrift "Halluzinationstheorie" (vgl. Linke, Seite 195, 210, 212 und öfter) zu geben, muß aber feststellen, daß Linke es sich allzu leicht gemacht hat, indem er die ganz anderen Zwecken dienende Darstellung gewisser psychologischer Grundlagen der Begriffsbildung in meinem "Lehrbuch der Psychologie" heranzog, und damit meine davon gar nicht abhängige Kritik der Phänomenologie zu widerlegen meint. Ich bin mir wohl bewußt, daß der Abstraktionstheorie auch in ihren neuen Formen, wie sie von sonst sehr verschiedenen Standpunkten aus z. B. auch Benno Erdmann, Hans Cornelius, Theodor Ziehen vertreten, viele andere Forscher kritisch gegenüberstehen, bin aber nach wie vor der Ansicht, daß sie der psychologischen Seite der Begriffsbildung (und darum handelt es sich doch wohl ausschließlich in meinem Lehrbuch der Psychologie) immer noch am besten gerecht wird. Leider hat Linke meine Darstellung außerdem gründlich mißverstanden, was sicht unter anderem daraus ergibt, daß er meiner Anschauung unterschiebt, die Allgemeinheit läge dann in der Unbestimmtheit und mit einem ironisierenden Wort wie dem von Cassirer über die "glückliche Gabe des Vergessens" als Grundlage der Lehre von den allgemeinen Gegenständen ihren Sinn zu treffen meint, um sodann Berkeleys Argumente zu wiederholen. Es ist hier nicht möglich, aber auch nicht nötig, auf die anderen in diesem Zusammenhang damit berührten und in meinem Lehrbuch an anderen Stellen ausführlich behandelten Fragen (Akt und Gegenstand u. a.) einzugehen, da die obenstehende Beweisführung davon unabhängig ist.
    14) Linke, Seite 195f, 185, 201, 205f.
    15) Linke, Seite 200.
    16) Daher war auch Linkes "freudiges Erstaunen", wegen meiner Unterscheidung einer Reproduktion mit und ohne Zeitbeziehung in mir einen Phänomenologen oder zumindest den Keim zu einem solchen zu finden (Seite 201) etwas verfrüht. Ich bin es nur in dem Sinne, in dem ich selbst die bleibende Bedeutung der Phänomenologie sehe, im Sinne einer auf eigenen begrifflichen Grundlagen aufgebauten und nach selbständiger Methode verfahrenden Psychologie.
    17) Linke, Seite 196
    18) Linke, Seite 184f.
    19) vgl. Sigwart, Logik I, zweite Ausgabe, Seite 105f.
    20) In dem Abschnitt der Kr. d. r. V.: "Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe", Reclam-Ausgabe Seite 246f. Natürlich hängt Leibnizens Auffassung eng mit seinem Begriff des Individuums zusammen (Leibniz, Nouveaux Essais II, Kapitel XVII, vgl. hierz Ernst Cassirer, "Leibniz System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen", 1902, Seite 384f.
    21) Linke, Seite 209.
    22) Linke, Seite 210.
    23) Näheres darüber in meiner Abhandlung a. a. O., Seite 246f.
    24) Ich bleibe allerdings dabei, daß ich ein konkretes Gegebenes mir nur als Individuelles denken kann. Wenn Linke (Seite 209) darin wie an verschiedenen anderen Stellen eine "Verwechslung" findet, so unterliegt er dem Fehler mancher viel mit abstrakten Gedankengängen arbeitenden Forscher, daß er meint, eine Anerkennung gerade seiner Begriffsunterscheidungen bei jedermann voraussetzen zu dürfen und darum mit dem Vorwurf der Verwechslung, der doch nur unter dieser Voraussetzung berechtigt sein kann, allzuschnell bei der Hand zu sein.
    25) a. a. O., Seite 230f, 236f. In dieser Beziehung könnte man daher sagen, daß Husserls Phänomenologie zu gewissen Grundgedanken der großen vorkantischen rationalistischen Systeme zurückkehrt. Man könnte in ihr eine Verbindung des kartesianischen Ideals einer Universalmathematik mit Platons Ideenlehre sehen.
    26) Kant, Kritik der reinen Vernunft, Seite 555.
    27) Für alles Übrige muß ich auf die früher zitierten Ausführungen meiner Abhandlung Seite 230f verweisen.
    28) a. a. O., Seite 262f, 243f.
    29) Linke, Seite 212f.
    30) Linke, Seite 212.
    31) Wo selbstverständlich vorausgesetzt wird, daß die "physikalischen Gesetze" nicht bereits als unbedingt richtig erkannt sind, denn daß "Richtiges" nicht mehr als unrichtig erwiesen werden kann, wäre eine Tautologie.
    32) Linke, Seite 214.
    33) Auf meine im engeren Sinne erkenntnistheoretischen Ausführungen ist Linke nicht wirklich eingegangen. Seine Äußerung, daß er meine "Gründe gegen die Lehre von der Intentionalität" nicht zu billigen vermag, (Seite 221) veranlaßt mich nur, nochmals zu betonen, daß all die Schwierigkeiten, die er gelegentlich berührt, nur bei einer ungenügenden Scheidung der naiven und der wissenschaftlichen Ansicht bestehen bleiben. Was z. B. die "Bildertheorie" betrifft, so ist für den Naiven das Ding "draußen", das "Bild" "in mir", und zwar natürlich als "Bild", wobei sich das natürliche Bewußtsein beruhigt; für den Erkenntnistheoretiker ist das "Bild" die durch das "Affizierende" hervorgerufene Vorstellung, die im naiv-räumlichen Sinn weder draußen noch "in mir" ist und deren Gegenstandsbeziehung im Augenblick der Wahrnehmung eben durch das "Affizierende" und bei der Reproduktion durch das "Wiedererkennen" vermittelt ist (a. a. O., Seite 263f; Linke, Seite 219f, 190f). Daß Husserls Begriff der "Abschattung" über die Schwierigkeiten nicht Herr wird (a. a. O., seite 268), hat neuestens Richard Herbertz in seinen "Prolegomena zu einer realistischen Logik" (Halle 1916, Seite 125f) gezeigt. Auf meinen Nachweis, daß die genannten Schwierigkeiten erst aus einer Vermischung des naiven und des erkenntnistheoretischen Standpunktes entstehen (a. a. O., Seite 271) antwortet Linke (Seite 211) mit der Bemerkung, daß die "Welt des naiv-praktischen Realismus" "aus einer höchst unklaren Mischung phänomenologischer und naiv-empirischer Einsichten" besteht. Ich bedaure, bei meiner Ansicht beharren zu müssen und meine die a. a. O. Seite 269f und 271f gegebene Beweisführung nicht widerlegt zu sehen. Die Intentionslehre der Phänomenologie spricht von einem "Gegenstand" zunächst so, als ob er entsprechend der naiven Anschauung, ein von unserem Vorstellen unabhängiges Etwas wäre, zu dem noch hinzukommen könnte, daß er von uns "gemeint" oder auf ihn "abgezielt" wird. Zugleich faßt er aber dieses "Meinen" des Gegenstandes mit Einschluß des Letzteren in einem wissenschaftlichen Sinn als Bewußtseinserlebnis, nimmt damit unseren Anteil am Vorhandensein des Gegenstandes mit herein und geht damit des Rechts verlustig, vom "transzendentalen Idealismus" abzusehen, der den Gegenstand zum Problem macht. Demgegenüber sehe ich einen großen Vorteil darin, sich von Anfang an darüber klar zu sein, daß wir den "naiven Realismus" als Ausgangspunkt und Orientierungsmittel überhaupt nicht entbehren können und ich glaube darin, wie z. B. die Auseinandersetzung zwischen Bruno Bauch (Idealismus und Realismus, Kant-Studien, Bd. XX, 1915, Seite 97f, vgl. besonders Seite 100 und: ders. Schlußbemerkungen zu meiner Diskussion mit August Messer, ebd. Seite 302f) und August Messer (Über Grundfragen der Philosophie der Gegenwart, ebd. Seite 65f; ders. "Zur Verständigung zwischen Idealismus und Realismus", Seite 299f, besonders Seite 300) gezeigt hat, mit sonst von verschiedenen Voraussetzungen herkommenden Forschern übereinzustimmen. Der "praktische Realismus" den ich vertreten habe, ist sich bewußt, daß der naive Realismus Ausgangspunkt und Orientierungsmittel sein muß, aber auch nicht mehr sein kann. Eine Vermischung der Standpunkte liegt darin ebensowenig, wie im Verfahren der Astronomen, der dauern vom Bild der scheinbaren Bewegung der Himmelskörper, die ihm seine Sinne darbieten, ausgehen und und sich daran orientieren muß, obwohl seine Wissenschaft ihn längst von der Unrichtigkeit dieses Bildes überzeugt hat.
    34) Schwer verständlich ist mir, wenn Linke (Seite 212f und 214) diesen Satz als apriorische Wesenserkenntnis, den andern aber, daß Rot und Grün miteinander gemischt weiß ergeben, als "vérité de fait" [Glaubenswahrheit - wp] in Anspruch nehmen will. Der Unterschied zwischen beiden geht doch wohl nach einer ganz anderen Richtung; auf der einen Seite die Vergleichung aufgrund einer unmittelbaren Anschauung, auf der anderen Seite die Feststellung des Ergebnisses eines technischen Vorgangs, das man überhaupt den Farben in keinem Fall "ansehen" kann. Hinsichtlich ihres Ranges innerhalb der Wahrheitsklassen aber stehen beide als Aussagen über Farbbeziehungen offenbar auf derselben Stufe einer vérité de fait.
    35) Auch jede Aufforderung zu einer "Nachprüfung" (Linke, Seite 215) schließt ja doch die Forderung zu einer Vergleichung ein und diese wiederum führt auf geradem Weg zu einer Schauen und Denken verbindende Wesenserkenntnis und damit über die bloße Wesensanschauung hinaus.
    36) Natürlich war es dabei nicht meine Absicht, den Wert der Phänomenologie "auf terminologischen Weg herabzusetzen" (Linke, Seite 218f). Ich habe vielmehr versucht, sie nach ihrem Wert sachlich in die philosophische Arbeit der Gegenwart einzuordnen. Daß die daraus etwa folgende Wertung dem Jünger einer solchen "neuen Wissenschaft" der sie fast nach einem geschichtlichen Gesetz zunächst notwendig überschätzen muß, nicht ausreichend scheint, ist möglich, ändert aber nichts an der Notwendigkeit und dem Recht einer sachlichen Prüfung.
    37) Mein "Lehrbuch der Psychologie" (Tübingen 1912) stellt den Versuch dar, weit über den Zweck eines bloßen "Kompendiums" hinaus neben der systematischen Förderung der einzelnen Zweige der Psychologie für die Ausführung dieses Planes durch eine umfassende Gesamtbearbeitung des ganzen Gebietes die Grundlagen zu schaffen.