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THOMAS von AQUIN
Klugheit

"Im Begriff Klugheit liegt eine Art Regieren, und darum kommt sie primär den Regenten zu und dem Untergebenen nur, insofern er selbst etwas über sich oder andere zu befehlen hat; weil dann ferner im Begriff Klugheit das Hinordnen der Mittel auf ein gutes Ziel gelegen ist, so findet sie sich nicht im Sünder, insofern er mit Klugheit ein schlechtes Ziel anstrebt, wie z. B. der Räuber, denn das ist dann nicht Klugheit, sondern Schlauheit."

"Die Unklugheit ist eine Sünde. Die Nachlässigkeit ist eine Sünde. Sünden gegen die Klugheit der falschen Ähnlichkeit sind: die Weltklugheit oder Klugheit des Fleisches, die Schlauheit, List und Betrug. Die Klugheit des Fleisches besteht in einem ungeordneten klugen Streben nach dem Irdischen und ist eben dadurch etwas Sündhaftes und zwar, wenn der Mensch sein ganzes Streben darauf richtet, das Irdische und Sinnliche zum letzten Ziel macht, eine schwere Sünde."

Die Klugheit ordnet den Intellekt hinsichtlich des praktischen Handelns, und es sind an ihr näher zu bestimmen: Wesen, Teile, Gabe, Sünden, Gebote.

1. Das Wesen der Klugheit (1) besteht in der Vorsicht oder klugen Vorausberechnung zufälliger Ereignisse aus der Gegenwart oder Vergangenheit, zur geschickten Hinordnung der Mittel auf ein gutes Ziel, und sie ist darum zunächst eine Tugend des Intellekts. Weil sie aber so ein Ratschlagen über die Mittel zu einem Ziel ist, so ist sie Sache des praktischen, nicht des theoretischen Verstandes und geht nicht auf das Allgemeine, Gesetzmäßige, was Sache der Wissenschaft ist, sondern auf das Einzelne und Zufällige. So ist sie aber eine wirkliche Tugend, wenn sie auf ein gutes Ziel geht, das also eine Güte der Willensrichtung voraussetzt, sonst ist sie nicht Klugheit, sondern Schauheit und sie ist eien von andern, insbesondere von den sonstigen intellektuellen Tugenden verschiedene Tugend, weil ihr Objekt ein spezifisch verschiedenes ist, nämlich die Vorausberechnung des zufällig Zukünftigen und die Kombination desselben zu einem Ziel. Zu ihrem Wesen gehört dann näher nicht sowohl die Bestimmung eines Zieles, als vielemehr die Mittel, die dazu führen können; auch sie geht auf eine gewisse Mitte, wie das der Tugend überhaupt eigen ist, nämlich auf die richtige Abwägung der Mittel, es kommt ihr aber nicht nur die Beratung über das richtige Handeln zu, sondern, auch das praecipere, das Schlüssigwerden und dazu gehört dann endlich die Sorglichkeit nach dem Grundsatz: langsam im Entschließen und schnell im Handeln. Besteht so die Klugheit in Rat, Entschluß und Ausführung zu einem guten Ziel, so ist klar, es gibt eine Klugheit für die Besorgung des gemeinen Wohls des Staates, d. h. die Staatsklugheit, eine für die Führung des Hauswesens, die Ökonomie und eine für die des eigenen persönlichen Wohls und es verhalten sich diese wegen des verschiedenen Objekts, als verschiedene Arten zueinander; immerhin aber liegt im Begriff Klugheit eine Art Regieren, und darum kommt sie primär den Regenten zu und dem Untergebenen nur, insofern er selbst etwas über sich oder andere zu befehlen hat; weil dann ferner im Begriff "Klugheit" das Hinordnen der Mittel auf ein gutes Ziel gelegen ist, so findet sie sich nicht im Sünder, insofern er mit Klugheit ein schlechtes Ziel anstrebt, wie z. B. der Räuber, denn das ist dann nicht Klugheit, sondern Schlauheit und sie findet sich in ihm nur unvollkommen, wenn er ein näheres gutes Ziel anstrebt, weil dieses nicht auf das letzte Ziel hingeordnet ist, dagegen findet sie sich immer irgendwie in dem im Gnadenstand sich Befindenden, weil dieser alles auf das letzte Ziel hinordnet. Die Natur als solche hat nur eine entferntere Anlage zur Klugheit, weil dazu die Anwendung der allgemeinen Prinzipien auf das Einzelne und die Erfahrung gehört und sie findet sich in dem einen mehr, im andern weniger; darum kann sie auch teilweise durch die Vergeßlichkeit, noch mehr aber, weil sie auch Sache des Willens ist, durch die Leidenschaft geschädigt werden. Dieses über Wesen und Subjekt der Klugheit.

Die Teile der Klugheit sind allgemein bestimmt, teils konstitutive integrale sie zusammensetzende und vollkommen machende, und diese sind nach CICERO und MACROBIUS: Gedächtnis, Einsicht, Gelehrigkeit, Besorgtheit, Überlegung, Voraussicht, Umsicht und Vorsicht; teils subjektive, d. h. unter dasselbe logische Subjekt oder denselben Oberbegriff fallende Unterarten, und diese sind: persönliche Klugheit, Staatsklugheit, militärische Klugheit und häusliche oder Ökonomie; teils potentiale, d. h. in der Klugheit miteingeschlossene, aber nicht ihren vollen Begriff darstellende, und diese sind: guter Rat, praktisches und weises Urteil.

Von den integralen konstitutiven Teil der Klugheit ist das Erste, hinsichtlich des richtigen Urteils und Beratens, das Gedächtnis, weil die Klugheit sich auf Erfahrung stützt, dann der intellectus oder die Einsicht, von allgemeinen Gesichtspunkten aus das Einzelne zu beurteilen; ferner die docilitas oder Gelehrigkeit, weil die Zugänglichkeit der Belehrung über alle Umstände nötig ist und die solertia oder Findigkeit, sich auch selbst zu unterrichten und umzusehen über das Auszuführende; endlich gehört zur Vollkommenheit der Klugheit überhaupt ein scharfes Urteil, ratio. Insofern dann die Klugheit nicht nur im Beraten besteht, sondern auch im Beschließen, gehört dazu die Voraussicht, providentia, dessen, was eintreffen könnte, die Umsicht, circumspectio, auch hinsichtlich der Umstände, die in Betracht kommen, und endlich die Vorsicht, cautio, daß nicht das schlimme Mittel für gut genommen wird.

Die subjektiven Teile oder Unterarten der Klugheit, sind, abgesehen von der persönlichen Klugheit für sich selbst: die Herrscherklugheit, politische Klugheit, ökonomische und militärische Klugheit. Klugheit im höchsten Sinn muß zukommen dem oder denjenigen, die ein ganzes Staatswesen regieren, allein auch die Untergebenen bedürfen einer gewissen Klugheit, einen politischen Sinn, um sich für das allgemeine Wohl richtig zu benehmen, weil dann der Staat sich zusammensetzt aus den einzelnen Familien, so ist da der ökonomische Sinn notwendig zur klugen Verwaltung, und endlich, weil der Staat sich nicht nur zu verwalten, sondern auch zu verteidigen hat, so ist dazu die militärische Klugheit gefordert.

Die potentialen oder die in der Klugheit angelegten und zu ihr hinzutretenden Tugenden, sind: die eubulia, guter Rat, synesis, praktisches Urteil, und gnome, weises Urteil. Die eubulia oder der gute Rat ist eine dem Handeln vorausgehende Untersuchung und gute Beratung und insofern von der Klugheit selbst verschieden, da diese auf das Anordnen, jene auf die Beratung geht; die synesis oder das praktische Urteil gibt den richtigen Sinn für die kluge Entschließung und die gnome oder das weise Urteil ist zu einer solchen notwendig in schwierigen Fällen, wo von höheren Gesichtspunkten und allgemeineren Prinzipien aus eine Sache beurteilt werden muß.

2. Die Gabe der Klugheit ist die des Rates. Weil die Gaben des hl. Geistes leicht empfänglich machen für den Einfluß des hl. Geistes, beim Handeln aber der Geist besonders bewegt wird durch den Rat, so kann vor allem auf diesen der hl. Geist durch eine Gabe einwirken, und da der Rat dem klugen Handeln vorausgeht, so entspricht diese Gabe wesentlich der Klugheit. Sie betätigt sich, weil auf ein gutes Ziel gehend, hauptsächlich hienieden, bleibt aber in gewissem Sinn als Erleuchtung auf andere auch noch im Jenseits besteht. - Der Gabe des Rates entspricht die "Seligkeit der Barmherzigen", weil die Barmherzigkeit mit dem Elend des Nächsten vom guten Rat begleitet wird.

3. Die Sünden gegen die Klugheit sind teils solche, die im Gegensatz zur Klugheit oder einer damit verbundenen Tugend bestehen, teils solche, die eine falsche Ähnlichkeit mit ihr haben.

Der Klugheit entgegengesetzt sind: die Unklugheit, mit der zugleich verbunden sind die Überstürzung, Unbesonnenheit und Unbeständigkeit und dann die Nachlässigkeit. - Die Unklugheit besteht entweder einfach in einem Mangel an Klugheit oder aber im Gegensatz dazu, z. B. daß man den guten Rat verachtet, das aber kann nicht ohne Sünde geschehen, und darum ist die Unklugheit eine Sünde und zwar eine spezielle, von andern unterschiedene, unter die aber verschiedene Unterarten fallen, je nachdem die Sünde den subjektiven, integralen oder potentialen Teilen der Klugheit entgegengesetzt ist. Die wichtigsten dieser Unterarten, in denen die andern fast alle inbegriffen sind, heißen: die Überstürzung, welche das zur Klugheit gehörende consiliari vernachlässigt, d. h. die Beratung überstürzt, dann die Unbesonnenheit, welche gegen das judicium, das besonnene Urteil, als den zweiten Faktor der Klugheit geht und endlich die Unbeständigkeit, welche den dritten Akt der Klugheit, das praeceptum, den Entschluß wieder aufhebt. Verursacht aber werden diese Fehler besonders durch die Wollust, die den Geist verwirrt und fortreißt. - Die Nachlässigkeit, besteht in einem Nachlassen des Eifers und ist, weil dadurch das vernünftige, moralische Handeln geschädigt wird, eine Sünde, die speziell gegen die solertia, die Sorglichkeit, die ein integraler Teil der Klugheit ist, geht, sie kann mehr oder weniger sündhaft sein, nach der Wichtigkeit der Vernachlässig und des Bosheit des Willens dabei. (2)

Sünden gegen die Klugheit durch falsche Ähnlichkeit sind: Die Weltklugheit oder Klugheit des Fleisches, die Schlauheit, List und Betrug. Die Klugheit des Fleisches besteht in einem ungeordneten klugen Streben nach dem Irdischen und ist eben dadurch etwas Sündhaftes und zwar, wenn der Mensch sein ganzes Streben darauf richtet, das Irdische und Sinnliche zum letzten Ziel macht, eine schwere Sünde. Die Schlauheit ist eine Sünde gegen die Klugheit dadurch, daß sie unerlaubte, nicht ehrliche oder trügerische Mittel zum Ziel ausdekt. Die List bringt dieselben zur Ausführung, sei es in Wort oder Werk und der Betrug ist speziell die Anwendung schlechter Mittel im Werk. Gegen all diese Fehler lehrt der Herr, daß man sich nicht unmäßig um das Irdische bekümmere und nicht unzeitig fürs Künftige sorgt, denn sie wurzeln hauptsächlich im Geiz.

4. Die Gebote der Klugheit: Im Dekalog findet sich kein ausdrückliches Gebot für die Klugheit, weil diese Tugend in gewissem Sinne allen moralischen Tugenden, welche Geboten werden, zugrunde liegt, wohl aber war es angezeigt, daß die entgegengesetzten Fehler ausdrücklich verboten werden, weil sie die Gerechtigkeit berühren, über welche vor allem Gebote zu geben sind.

LITERATUR Adolf Portmann, Das System der theologischen Summe des hl. Thomas von Aquin, Luzern 1903
    Anmerkungen
    1) Die Begriffsbestimmung der Klugheit und ihrer Eigenschaften beruth auf Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch VI, Kap. 5-12.
    2) Das Prinzip, nach welchem Thomas die Schwere einer Sünde beurteilt, ist ihr Verhältnis zur Liebe Gottes und des Nächsten; hebt sie die Liebe Gottes oder die christliche Nächstenliebe schlechthin auf, indem sie mit ihr unvereinbar ist, so ist sie eine schwere Sünde, sonst aber nicht (siehe über den Begriff der schweren und läßlichen Sünde Summe I, II qu 88 und 89).