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OTTO SCHLUNKE
Die Lehre vom Bewußtsein
bei Heinrich Rickert

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"Wie für die Methode die Aufgabe der Erkenntnistheorie, so ist für ihren Ansatz die Ansicht bestimmend, daß der Bewußtseinsinhalt abhängig ist vom Bewußtsein, denn da nach Rickert Erkenntnis dasselbe bedeutet wie "überindividuell allgemeingültige und notwendige Urteile", als Unabhängigkeit vom Erkennenden erfordert, so kann, meint er, die Erkenntnis nicht verständlich gemacht werden aus dem Bewußtseinsinhalt heraus, der als solcher ja eben abhängig ist vom Bewußtsein."

"Zum Begriff des Erkennens gehört außer einem Subjekt ein Gegenstand, der erkannt wird. Unter Gegenstand darf man zunäächst nichts anderes verstehen als das, was dem erkennenden Subjekt entgegensteht, und zwar in dem Sinn, daß das Erkennen sich danach zu richten hat, wenn es seinen Zweck erreichen will. Dieser Zweck besteht darin, wahr oder objektiv zu sein."

I. Grundlagen

 
Die Lehre vom Bewußtsein bei HEINRICH RICKERT dankt ihre Entstehung und Ausbildung einem erkenntnistheoretischen Standpunkt, der von seinem Vertreter als der des "transzendentalen Idealismus" bezeichnet wird: sie erwächst auf dem Boden der Erkenntnistheorie, einmal insofern sie dazu dient, die Frage nach der Erkenntnis lösen zu helfen, und sodann, weil sie die Folge der Grundvoraussetzung der Erkenntnistheorie ist; sie findet ihre Ausbildung im transzendentalen Idealismus, insofern dieser mit ihrer Hilfe den "erkenntnistheoretischen Realismus" zu überwinden sucht: in der Aufgabe, der Methode und dem Ansatz der Erkenntnistheorie sind die Grundlagen der Lehre vom Bewußtsein zu suchen.


1. Aufgabe der Erkenntnistheorie

RICKERT spricht von seiner Erkenntnistheorie als einer "neuen" Erkenntnistheorie und will durch das Wort "neu" zwar einen Gegensatz zum Ausdruck bringen, (1) nicht aber mit ihm sagen, daß der Grundgedanke seiner Wissenschaftslehre durchaus "neu" ist, d. h., daß seine Erkenntnistheorie Gedanken bringt, die vor ihm noch nicht ausgesprochen wurden, im Gegenteil, er betont, daß sein erkenntnistheoretisches Werk "Der Gegenstand der Erkenntnis", seinen Zweck erfüllt hat, wenn es ihm gelingt, einige nicht neue, aber fast vergessene Gedanken in einem der Gegenwart nicht allzu fremdartigen Gewand in die Diskussion einzuführen (2), und daß er den Grundgedanken eben dieses Werkes für nichts anderes als eine notwendige Konsequenz der durch KANT herbeigeführten Epoche in der Philosophie hält. (3)

Der Gegensatz nun, der durch das Wort "neu" bei Rickert seinen Ausdruck finden soll, ist der Gegensatz zum "erkenntnistheoretischen Realismus" als der "alten Erkenntnistheorie, dem gegenüber RICKERT seine Erkenntnistheorie mit dem Namen "transzendentaler Idealismus" belegt.

Als "Realismus" kennzeichnet RICKERT die "alte" Erkenntnistheorie, weil sie "hinter den Vorstellungen", welche als "Bewußtseinstatsachen", "Inhalte, Zustände eines Bewußtseins" (4) bezeichnet werden, eine "Realität", "Wirklichkeit" annimmt, die im Gegensatz zur "Bewußtseinswelt", d. h. der Welt der Vorstellungen als "Bewußtseinsinhalt", d. h. der Welt der Vorstellungen als "Bewußtseinsinhalt" als eine "ansich existierende Welt seiender Dinge" begriffen werden soll. Als "erkenntnistheoretischen" Realismus kennzeichnet RICKERT die "alte" Erkenntnistheorie, weil sie eben jene "Realität" als den "Gegenstand der Erkenntnis" ansieht, als das also, "wonach das Erkennen sich zu richten hat, wenn es objektiv sein will", und Erkenntnis demnach darin gegründet sein läßt, daß die Vorstellungen die "ansich existierende Welt abbilden" (5) oder doch ihr "entsprechen" (6) oder sie "bezeichnen" (7) soll.

Unter dem Namen "erkenntnistheoretischer Realismus" begreift RICKERT also alle Erkenntnistheorie, die die Wirklichkeit in zwei Teil spalten: in eine Wirklichkeit, die innerhalb, und in eine Wirklichkeit, die außerhalb des Bewußtseins liegend gedacht wird. Es gehören folglich zum "erkenntnistheoretischen Realismus" sämtliche erkenntnistheoretischen Versuche, die man unter der Bezeichnung "Empirismus" und "Rationalismus" zusammenzufassen pflegt, es gehört dahin auch der "Kritizismus" KANTs und seiner Anhänger, insofern sie am "Ding-ansich" als einer Wirklichkeit "außerhalb des Bewußtseins" festhalten. (8)

So ist die Aufgabe der "neuen" Erkenntnistheorie bis zu einem gewissen Grad durch ihren Gegensatz zur "alten" Erkenntnistheorie festgelegt: sie besteht zunächst vor allem in der Überwindung der durch die "alte" Erkenntnistheorie eingeführten Spaltung der Wirklichkeit in zwei unterschiedene Teile (9), und zwar soll diese Spaltung dadurch beseitigt werden, daß der eine Teil der Wirklichkeit, die "ansich existierende Welt seiender Dinge" als eine Welt, die als von der "Bewußtseinswelt" unterschieden gedacht ist, überhaupt gestrichen wird, woraus der Erkenntnistheorie RICKERTs die Berechtigung erwachsen soll, sich als "Idealismus" zu bezeichnen; denn durch dieses Wort will RICKERT zum Ausdruck bringen, daß in seiner Erkenntnistheorie keine "Wirklichkeit" Platz findet, die nicht eine "Wirklichkeit im Bewußtsein" wäre, zum Ausdruck bringen also, daß jedes "Sein" als ein "Sein im Bewußtsein" angesehen werden muß (10).

Die Berechtigung, die transzendente Welt des "Realismus" aus der Erkenntnistheorie überhaupt zu entfernen, sucht RICKERT herzuleiten aus der Aufstellung eines Bewußtseins, das als ein vom menschlichen Bewußtsein unterschiedenes Bewußtsein angesehen werden soll und das als solches in einem Punkt dasselbe zu leisten hat, wie die "ansich existierende Welt seiender Dinge" des "Realismus, die Erkenntnistheorie nämlich davor zu schützen, daß sie im Solipsismus endet.

Doch ist hierdurch die Aufgabe des "transzententalen Idealismus" eben nur bestimmt, insofern er als Gegner des "Realismus" auftritt, d. h. insofern er eine besondere Erkenntnistheorie ist, nicht aber die Aufgabe selbst festlegt, die der "transzendentale Idealismus" zu lösen hat, insofern er Erkenntnistheorie schlechthin ist.

Diese Aufgabe des "Idealismus" als Erkenntnistheorie schlechthin besteht nun nach RICKERT in der "Bildung des richtigen Begriffs vom Erkennen." (11) Die Bildung hinwiederum des "richtigen Begriffs vom Erkennen" geschieht durch die Beantwortung der beiden Fragen: "Was ist Erkennen?" und "Ist und wie ist objektive Erkenntnis mögliche?"

Die zweite Frage ist die wichtigere und zugleich die, die der Erkenntnistheorie eine besondere Stellung, ja eine Ausnahmestellung unter den Wissenschaften überhaupt gewährleisten soll. Denn durch die Aufnahme dieser Frage tritt die Erkenntnistheorie allen übrigen Wissenschaften gewissermaßen als Richterin gegenüber, insofern nämlich, als sie über die Berechtigung oder Nichtberechtigung von allen Wissenschaften vorausgesetzten "Vorurteils" entscheidet. Dieses "Vorurteil" jeder Spezialwissenschaft besteht in der Annahme, daß die durch die Spezialwissenschaften gewonnenen Erkenntnisse objektiv, d. h. "überindividuell allgemeingültig und notwendig" (12) sind, eine Annahme, für deren Berechtigung nach Rickert die Spezialwissenschaften niemals selbst einen Nachweis führen können.

Hier hat eben die Erkenntnistheorie einzutreten, deren Aufgabe gegenüber den Spezialwissenschaften also darin besteht, ihr "Vorurteil" zu rechtfertigen, bzw. als unberechtigte Voraussetzung zurückzuweisen, womit gleichzeitig gesagt ist, daß vom Urteil der Erkenntnistheorie über das "Vorurteil" der Spezialwissenschaften überhaupt das Bestehen derselben abhängt, da sie als Wissenschaften nur möglich sind, wenn das von ihnen selbst nicht zu rechtfertigende Vorurteil von der Erkenntnistheorie als zur Recht bestehend beurteilt werden kann.

Es ist allerdings von vornherein so gut wie ausgeschlossen, daß die Erkenntnistheorie ein absprechendes Urteil über die vorausgesetzte Möglichkeit einer Erkenntnis fällen wird, denn erstens bedeutet ein solches Urteil selbst eine Erkenntnis, widerlegt sich also selbst (13) und dann wäre ein Protest gegen die Möglichkeit einer Erkenntnis völlig nutzlos, da trotz dieses Urteils der Erkenntnistheorie jede Wissenschaft "Objektivität" in Bezug auf ihre Urteile in Anspruch nehmen würde.

So beschränkt sich die Erkenntnistheorie RICKERTs dann auch fast ausschließlich darauf, nachzuweisen, inwiefern die Wissenschaften das Recht haben, vorauszusetzen, daß "objektive Erkenntnis" möglich ist, nachzuweisen also, wie "objektive Erkenntnis" möglich ist (14).


2. Die Methode der Erkenntnistheorie

Bestimmend für die "Methode" der Erkenntnistheorie, d. h. "den Inbegriff der zur Erreichung der Ziele", die sich die Erkenntnistheorie gesteckt hat, "verwendeten Denkmittel" ist die eigentümliche Aufgabe der Erkenntnistheorie selbst (15). Denn da die Erkenntnistheorie das "Vorurteil" der Spezialwissenschaften zum "Problem zu erheben hat", darf die Erkenntnistheorie selbst kein Vorurteil in sich aufnehmen, weil sonst von Neuem eine Erkenntnistheorie notwendig würde, die hinwiederum dieses Vorurtel zum Problem zu erheben hätte. Die Erkenntnistheorie kann somit ihre Stellung den Spezialwissenschaften gegenüber nur wahren, wenn sie selbst schlechthin vorurteilslos (16) ist.

Diese Selbstreinigung von Vorurteilen erreicht die Erkenntnistheorie nach RICKERT eben durch die ihr eigentümliche Methode, die demnach nur darin bestehen kann, daß die Erkenntnistheorie jedes Urteil, auf das sie trifft, in Frage stellt (17), so daß die Erkenntnistheorie nur Urteile aufnimmt und aufnehmen darf, die als Ergebnis wissenschaftlicher Arbeit gelten können. RICKERT nennt dieses Verfahren, dessen sich die "Wissenschaftslehre", zumindest der Behauptung RICKERTs nach, bedient, das "skeptische" im Gegensatz zum "dogmatischen" der Spezialwissenschaften. (18)

Die Methode der "Wissenschaftslehre" besteht demnach in der Anwendung des radikalen Zweifels, der eine doppelte Aufgabe, entsprechend der Stellung der "Wissenschaftslehre" als besonderer Erkenntnistheorie und Erkenntnistheorie schlechthin, zu erfüllen hat. Insofern die "Wissenschaftslehre" eine besondere Erkenntnistheorie ist, bedient ie sich des "radikalen Zweifels" als eines Mittels zum Nachweis, daß die gegnerische Erkenntnistheorie unhaltbar ist, oder, wie RICKERT sagt, als eines Mittels zur Zerstörung des falschen Erkenntnisbegriffs. (19) Insofern die Wissenschaftslehre Erkenntnistheorie schlechthin ist, gilt ihr der "radikale Zweifel" als das Mittel zur Bloßlegung des schlechthin Unbezweifelbaren, zur Bloßlegung des Grundes also, auf dem die "Wissenschaftslehre" als schlechthin vorurteilslose Wissenschaft ihren neuen Erkenntnisbegriff aufbaut (20).

Gegen die Verkündung des "radikalen Zweifels" als der Methode der Erkenntnistheorie habe ich nur das einzuwenden, daß es bei der Verkündung geblieben ist, daß also der "radikale Zweifel" auch innerhalb des Systems der "neuen" Erkenntnistheorie nicht in Kraft getreten ist, daß die "neue" Erkenntnistheorie abenso wie die "alte" Vorurteile mit sich schleppt, und, wie ich hinzufüge, mit sich schleppen muß, damit sie als "Erkenntnistheorie" überhaupt möglich ist. (21)

Die "neue" Erkenntnistheorie unterscheidet sich in dieser Hinsicht in keiner Weise von der "alten", im Gegenteil, ich finde, daß beiden Erkenntnistheorien dasselbe "Vorurteil" gemeinsam ist, und daß sich beide Erkenntnistheorie auf demselben Vorurteil als ihrer Grundlage aufbauen. Als diese gemeinsame Grundlage der "alten" und der "neuen" Erkenntnistheorie sehe ich das Vorurteil an, daß der "Bewußtseinsinhalt" abhängig ist vom Bewußtsein. Beide Erkenntnistheorien sind Ästen vergleichbar, die auf einem Stamm wachsen. Diesen Stamm bildet jenes Vorurteil, aus ihnen heraus sprießt jede Erkenntnistheorie, mit welchem philosophischen Namen sie sich auch schmücken mag: in gleicher Weise geht für den "transzendentalen Idealismus" und den "erkenntnistheoretischen Realismus" der Nährsaft durch diesen Stamm.


3. Der Ansatz der
Erkenntnistheorie Rickerts.

Wie für die Methode die Aufgabe der Erkenntnistheorie, so ist für ihren Ansatz die Ansicht bestimmend, daß der Bewußtseinsinhalt abhängig ist vom Bewußtsein, denn da nach RICKERT Erkenntnis dasselbe bedeutet wie "überindividuell allgemeingültige und notwendige Urteile", als Unabhängigkeit vom Erkennenden erfordert, so kann, meint er, die Erkenntnis nicht verständlich gemacht werden aus dem Bewußtseinsinhalt heraus, der als solcher ja eben abhängig ist vom Bewußtsein. Damit ist einerseits für RICKERT erwiesen, daß die Frage, wie Erkenntnis möglich ist, nicht von den Spezialwissenschaften gelöst werden kann, da diesen nichts außer dem Bewußtseinsinhalt oder den Objekten zu Gebote steht (22), andererseits aber auch die Forderung ausgesprochen, daß sich die Erkenntnistheorie einen anderen Ausgangspunkt zu suchen hat, als die Spezialwissenschaften, "dis sich nur um Objekte kümmern." (23)

Diesen besonderen Ausgangspunkt der Erkenntnistheorie bildet das "Subjekt" oder das "Bewußtsein", das somit als etwas von den "Objekten" der Wissenschaften Unterschiedenes begriffen werden muß.

Doch mit diesem besonderen Ausgangspunkt ist der Erkenntnistheorie nicht Genüge getan; soll verständlich gemacht werden, wie Erkenntnis möglich ist, so kann das nach RICKERT nur aufgrund eines "Gegenstandes der Erkenntnis" geschehen, worunter RICKERT ein Besonderes versteht, nach dem sich das "erkennende Subjekt" zu richten hat, wenn es erkennen will. (24) Diesen "Gegenstand der Erkenntnis" kann hinwiederum nicht der "Bewußtseinsinhalt" ausmachen, weil ihm dieser abhängig ist vom Bewußtsein, also etwas ist, das sich nach dem "Bewußtsein" oder dem "Subjekt" richtet, mithin auch keine vom Bewußtsein als dem Erkennenden unabhängige (überinvidiuelle) Erkenntnis verbürgen kann. (25)

Als "Gegenstand der Erkenntnis" hat also die "neue" Erkenntnistheorie gleich der "alten" etwas vom Bewußtseinsinhalt als dem Material der Spezialwissenschaften Unterschiedenes zu setzen, "das vom Bewußtsein als dem Erkennenden unabhängig", d. h. das "transzendent" ist. Aus dieser Aufstellung eines "transzendenten" Gegenstandes der Erkenntnis leitet RICKERT gleichzeitig das Recht her, seinen "Idealismus" als einen "transzendentalen Idealismus" (26) zu bezeichnen, ein Wort, mit dem er so zum Ausdruck bringen will, daß seine Erkenntnistheorie außer mit dem "Bewußtseinsinhalt" mit einem Besonderen zu tun hat, das im Gegensatz zum Bewußtseinsinhalt unabhängig vom Bewußtsein ist.

Voraussetzung für die Möglichkeit der neuen Erkenntnistheorie ist also zweierlei von der Bewußtseinswelt schlechthin Unterschiedenes: das "Bewußtsein" und der "Gegenstand der Erkenntnis". Er weist somit der Ansatz der Erkenntnistheorie folgenden Gegensatz auf: Bewußtseinsinhalt - Bewußtsein (Subjekt) - Gegenstand der Erkenntnis.

Unverkennbar ist in diesem Ansatz die Verwandtschaft zwischen dem "erkenntnistheoretischen Realismus" (27) und dem "transzendenten Idealismus", denn auch der "Realismus" glaubt eine Welt setzen zu müssen, die ihm als eine von der Bewußtseinswelt unterschiedene Welt und gleichzeitig als "Gegenstand der Erkenntnis" gilt (28). Darin allerdings sind die beiden unterschieden,, daß nach dem einen (dem Realismus) die von der Bewußtseinswelt unterschiedene Welt als eine "Wirklichkeit", "Realität" angesehen werden muß, während der andere (der transzendentale Idealismus) diese von der "Bewußtseinswelt" unterschiedene Welt nicht als "Realität", sondern als eine Welt des "Sollens" anspricht, unterschieden aber auch darin, daß der "Realismus" sich an einem Besonderen genügen läßt, das nicht "Bewußtseinsinhalt" ist, während der "transzendentale Idealismus" RICKERTs zweierlei von der Bewußtseinswelt Unterschiedenes aufzuweisen hat: das "Bewußtsein" oder das "Subjekt" als den Ausgangspunkt der Erkenntnistheorie und die "Welt des Sollens" als den "Gegenstand der Erkenntnis".

Ebenso aber wie der Realismus wird der Idealismus RICKERTs zur Aufstellung des von der Bewußtseinswelt Unterschiedenen gezwungen durch das Vorurteilt, daß der Bewußtseinsinhalt "abhängig" ist.

Ich sehe in diesem Satz als dem grundlegenden "Vorurteil" der Erkenntnistheorie überhaupt den Grundirrtum ausgedrückt, der, weil selbst ein Widerspruch, notwendigerweise zu weiteren Widersprüchen führen muß. Ein besonders beredtes Zeugnis dafür, wie unhaltbar der Satz ist, legt uns das von RICKERT aufgestellte von der Bewußtseinswelt unterschiedene "Bewußtsein" ab.

Die Aufgabe der folgenden Ausführungen ist damit bestimmt. Es wird darzulegen sein, daß der Satz "der Bewußtseinsinhalt ist abhängig vom Bewußtsein" sich auch bei RICKERT als Vorurteil findet, daß seine Lehre vom Bewußtsein als eine Folge jenes Satzes anzusehen ist, und daß eben jene Lehre, weil Folge eines Widerspruchs, sich in Widersprüchen bewegt.
LITERATUR - Otto Schlunke, Die Lehre vom Bewußtsein bei Heinrich Rickert [Inaugural-Dissertation] Leipzig 1911
    Anmerkungen
    1) Heinrich Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis (Geg), Einführung in die Transzendentalphilosophie, zweite verbesserte Auflage, Tübingen 1904, Seite V
    2) Geg 18-19
    3) Geg 8
    4) Geg III
    5) Geg 80-81
    6) Geg 1
    7) Geg 1.
    8) "Nur gegen den erkenntnistheoretischen Realismus wenden wir uns, der stets ein metaphysischer Realismus ist, d. h. gegen den Realismus, der eingesehen hat, daß die Welt, soweit sie gegeben oder erfahren werden kann, Bewußtseinsinhalt ist und der dennoch ausdrücklich die Existenz einer anderen, also metaphysischen Wirklichkeit behauptet." (Geg 73).
    9) "Läßt eine Erkenntnistheorie, welche auf diesem Gegensatz von Sein und Bewußtsei aufgebaut ist, sich durchführen, oder ist eine Umbildung des üblichen Erkenntnisbegriffs notwendig? In dieser Frage steckt das Grundproblem der Erkenntnistheorie." (Geg 2)
    10) "Idealistisch nämlich ist unsere Ansicht insofern, als sie in Übereinstimmung mit dem Positivismus oder dem subjektiven Idealismus kein anderes, als das in der Vorstellung unmittelbar gegebene Sein annimmt."
    11) Geg 8
    12) Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Seite 666
    13) vgl. Geg 132-141
    14) Vgl. "Vor jede Behauptung über die Dinge stellen wir eine Untersuchung darüber, inwiefern die Wissenschaft hier das Recht hat, etwas auszusagen." (Geg 13). - "Jede quaestio facti, jedes Problem der allgemeinen Welt- und Lebensanschauung verwandelt sich für uns in ein Problem der Logik, der Erkenntnistheorie." (Geg 13) - "Der transzendentale Idealismus hat vielmehr die Aufgabe, den empirischen Realismus zu rechtfertigen und zu begründen." (Geg 166)
    15) "Wenn sie (die Erkenntnistheorie) aber andere Ziele als jede Spezialwissenschaft verfolgt, so muß auch ihre Methode, d. h. der Inbegriff der zur Erreichung dieser Ziele verwendeten Denkmittel, eine andere logische Struktur habe, als die Methode der Spezialwissenschaften." (Geg 8)
    16) "Die Erkenntnistheorie soll ... voraussetzungslos sein." (Geg 8)
    17) "Wo überhaupt gefragt werden kann, da soll die Erkenntnistheorie fragen." (Geg 8)
    18) "Völlig verkehrt wäre es daher, den Einzelwissenschaften das skeptische Verfahren der Erkenntnistheorie zur Nachahmung zu empfehlen." (Geg 7) - "Die empirischen Wissenschaften müssen vielmehr dogmatisch sein, d. h. eine Anzahl von Voraussetzungen ungeprüft hinnehmen ..." (Geg 7)
    19) "In dieser Hinsicht hat der Zweifel dann eine doppelte Aufgabe. Er soll den falschen Erkenntnisbegriff zerstören und den richtigen aufbauen." (Geg 10)
    20) "Er (der erkenntnistheoretische Zweifel) ist gerechtfertigt als das Mittel, das zur Entdeckung der unbezweifelbaren Grundlage unseres Wissens dienen soll." (Geg 9)
    21) Vgl. über die Vorurteile der Erkenntnistheorie überhaupt: Johannes Rehmke, Philosophie als Grundwissenschaft, Kapitel 16-20.
    22) "Der Naturwissenschaftler wird vielleicht implizit die Voraussetzung machen, daß seine Methode zu objektiv gültigen Ergebnissen führt, aber sogar diese Voraussetzung kann von der Naturwissenschaft selbst niemals begründet werden ..." (Grenzen 625)
    23) "Die Aufgabe gerade der Erkenntnistheorie wird es sein, vom Subjekt auszugehen, um zu begreifen, was Erkenntnis ist, im Gegensatz zu den Einzelwissenschaften, die sich um diese Frage nicht kümmern und daher nur die Objekte berücksichtigen." (Geg 83)
    24) "Zum Begriff des Erkennens gehört außer einem Subjekt ein Gegenstand, der erkannt wird. Unter Gegenstand darf man zunächst nichts anderes verstehen als das, was dem erkennenden Subjekt entgegensteht, und zwar in dem Sinn, daß das Erkennen sich danach zu richten hat, wenn es seinen Zweck erreichen will. Dieser Zweck besteht darin, wahr oder objektiv zu sein." (Geg 1)
    25) "Zum Begriff des Erkennens gehört ein Gegenstand, der nur dann für das Erkennen eine Bedeutung besitzt und ihm Objektivität verleiht, wenn er ein vom erkennenden Subjekt in jeder Hinsicht unabhängiger Gegenstand ist." (Geg 125)
    26) "Eine Untersuchung, welche sich mit dem Transzendenten in der Weise beschäftigt, daß sie seine Bedeutung für die Objektivität untersucht, nennen wir transzendental und deshalb kann die vom Transzendenzproblem ausgehende Philosophie des Erkennens als Transzenentalphilosophie bezeichnet werden." (Geg 16-17)
    27) Vgl. Rehmke, a. a. O., Kapitel 16-20
    28) Vgl. "Der erkenntnistheoretische Realismus ... irrt nicht darin, daß er einen Gegenstand der Erkenntnis als feste Grundlage und sicheren Maßstab fordert, nach dem sich das Erkennen zu richten hat ..." (Geg 164)