p-4HusserlHusserlBrentanoBrentanoBrentanoBrentano    
 
EDMUND HUSSERL
Erinnerung an Franz Brentano

"Wer von innen her von ungeklärten und doch übermächtigen Gedankenmotiven getrieben ist oder begrifflich noch unfaßbaren Anschauungen genugzutun sucht, mit denen die gegebenen Theorien nicht stimmen wollen, sich dem in seinen Theorien beruhigten - und gar einem logischen Meister wie Brentano - nicht gerne eröffnen. Man hat genug an der Pein der eigenen Unklarheit und braucht für sein logisches Unvermögen, das eben die Triebkraft zum forschenden Denken ist, keine neuen Beweise und keine dialektischen Widerlegungen."

Ich hatte nur zwei Jahre das Glück, BRENTANOs Vorlesungen zu hören. Vollständige Semester waren davon die Wintersemester 1884/85 und 1885/86. Beide Male las er fünfstündig über "praktische Philosophie" und dazu neben den philosophischen Übungen noch ein- oder zweistündig über ausgewählte philosophische Fragen. In den entsprechenden Sommersemestern gab er Fortsetzungen dieser ausschließlich für Fortgeschrittene bestimmten kleineren Kollegien, schloß aber schon in der ersten Juniwoche. Unter dem Titel "Die elementare Logik und die in ihr nötigen Formen" behandelte das erste dieser Kollegien systematisch verknüpfte Grundstücke einer deskriptiven Psychologie des Intellekts, wobei aber auch den Parallelen in der Gemütssphäre in einem eigenen Kapitel nachgegangen wurde. Das andere über "Ausgewählte psychologische und ästhetische Fragen" bot in der Hauptsache deskriptive Fundamentalanalysen über das Wesen der Phantasievorstellungen. Etwa Mitte Juni ging er an den von ihm damals so sehr geliebten Wolfgangsee, und dahin (nach St. Gilgen) begleitete ich ihn auf seine freundliche Aufforderung. Eben in diesen Sommermonaten, in denen es mir jederzeit freistand, sein gastliches Haus zu besuchen und an seinen kleinen Spaziergngen und Bootsfahrten teilzunehmen (auch an dem einzigen größeren Ausflug der beiden Jahre), durfte ich ihm ein wenig nähertreten, soweit es der große Unterschied des Alters und der Reife zuließ. Ich hatte damals gerade meine Universitätsstudien absolviert und war in der Philosophie (meinem Nebenfach im mathematischen Doktor) noch Anfänger.

In einer Zeit des Anschwellens meiner philosophischen Interessen und des Schwankens, ob ich bei der Mathematik als Lebensberuf bleiben oder mich ganz der Philosophie widmen sollte, gaben BRENTANOs Vorlesungen den Ausschlag. Ich besuchte sie zuerst aus bloßer Neugierde, nun einmal den Mann zu hören, der im damaligen Wien soviel von sich reden machte, der von den einen aufs Höchste verehrt und bewundert, von den andern (und nicht ganz wenigen) als verkappter Jesuit, als Schönredner, als Faiseur [Angeber - wp], Sophist, Scholastiker gescholten wurde. Vom ersten Eindruck war ich nicht wenig betroffen. Diese hagere Gestalt mit dem mächtigen, von lockigem Haar umrahmten Haupt, der energischen, kühn geschwungenen Nase, den ausdrucksvollen Gesichtslinien, die nicht nur von Geistesarbeit, sondern auch von tiefen Seelenkämpfen sprachen, fiel ganz aus dem Rahmen des gemeinen Lebens heraus. In jedem Zug, in jeder Bewegung, im aufwärts- und innengewandten Blick der seelenvollen Augen, in der ganzen Art sich zu geben, drückte sich das Bewußtsein einer großen Mission aus. Die Sprache der Vorlesungen, vollendet in der Form, frei von allen künstlichen Wendungen, von allem geistreichen Aufputz, aller rhetorischen Phrase, war doch nichts weniger als die der nüchternen wissenschaftlichen Rede. Sie hatte durchaus einen gehobenen und künstlerischen Stil, der dieser Persönlichkeit den ihr völlig gemäßen und natürlichen Ausdruck bot. Wenn er so sprach, in dem eigentümlich weichen, halblauten, verschleierten Ton, die Rede mit priesterlichen Gesten begleitend, stand er wie ein Seher ewiger Wahrheiten und wie ein Künder einer überhimmlischen Welt vor dem jugendlichen Studenten.

Nicht lange wehrte ich mich, trotz aller Vorurteile, gegen die Macht dieser Persönlichkeit. Bald packten mich die Sachen, bald war ich von der ganz einzigen Klarheit und dialektischen Schärfe seiner Ausführungen, von der sozusagen kataleptischen [in einem maximalen Muskeltonus verharrend - wp] Kraft seiner Problementwicklungen und Theorien bezwungen. Zuerst aus seinen Vorlesungen schöpfte ich die Überzeugung, die mir den Mut gab, die Philosophie als Lebensberuf zu wählen, nämlich, daß auch Philosophie ein Feld ernster Arbeit ist, daß auch sie im Geist strengster Wissenschaft behandelt werden kann und somit auch muß. Die reine Sachlichkeit, mit der er allen Problemen zu Leibe ging, ihre Behandlungsweise nach Aporien [Widersprüchen - wp], die feine, dialektische Abwägung der verschiedenen möglichen Argumente, die Scheidung von Äquivokationen [Mehrdeutigkeiten], die Zurückführung aller philosophischen Begriffe auf ihre Urquellen in der Anschauung - all das erfüllte mich mit Bewunderung und mit sicherem Vertrauen. Der Ton heiligen Ernstes und reinster Sachhingegebenheit verbot ihm im Vortrag alle billigen Kathederwitze und Scherze. Er vermied selbst jede Art geistreicher Antithesen, deren sprachliche Zuspitzung mit gewaltsamen gedanklichen Vereinfachungen erkauft zu sein pflegt. Im freien Gespräch und bei guter Laume war er darum doch höchst geistreich und konnte vor Witz und Humor übersprudeln. Am eindringlichsten war seine Wirksamkeit in den unvergeßlichen philosophischen Übungen. (Ich erinnere mich an folgende Themen: HUMEs "Essay über den menschlichen Verstand" und "Über die Prinzipien der Moral"; HELMHOLTZ' Rede "Die Tatsachen der Wahrnehmung"; DUBOIS-REYMONDs "Grenzen des Naturerkennens"). BRENTANO war ein Meister der sokratischen Mäeutik [Hebammenkunst - wp]. Wie verstand er durch Fragen und Einwürfe den unsicher tappenden Anfänger zu leiten, dem ernst Strebenden Mut einzuflößen, unklare Ansätze gefühlter Wahrheit sich in klare Gedanken und Einsichten wandeln zu lassen; und andererseits: wie überlegen konnte er die leeren Schwätzer, ohne je beleidigend zu werden, außer Spiel setzen. Nach den Übungen pflegte er den Referenten und noch drei oder vier der eifrigsten Teilnehmer mit nach Hause zu nehmen, wo Frau IDA BRENTANO ein Abendessen zubereitet hatte. Zu Alltagsgesprächen kam es dabei nicht. Die Themen der Seminarstunde wurden fortgeführt, unermüdlich sprach BRENTANO weiter, neue Fragen stellend oder in ganzen Vorträgen große Perspektiven eröffnend. Sehr bald, sowie das Essen vorüber war, verschwand Frau IDA, die so rührend darum bemüht gewesen war, den schüchternen Studenten zum freien Zulangen zu nötigen, wofür BRENTANO selbst gar kein Auge hatte. Einmal schneite zufällig der berühmte Politiker ERNST von PLENER, ein naher Freund des Hauses, in diese Gesellschaft hinein; aber BRENTANO war nicht abzulenken, an diesem Abend gehörte er ganz seinen Schülern und dem ihn beschäftigenden Diskussionsthema.

Für seine Schüler war BRENTANO leicht zu sprechen. Gern lud er dann zu einem gemeinsamen Spaziergang ein, auf dem er vorgelegte philosophische Fragen gänzlich unbeirrt durch den Straßenlärm der Großstadt beantwortete. In aufopferungsvoller Weise nahm er sich seiner Schüler aber nicht nur in wissenschaftlichen, sondern auch in persönlichen Nöten an und wurde ihr gütigster Berater und Erzieher. Zu denen, die er als verläßlichen Freunde ansah, sprach er sich auch über seine politischen und religiösen Überzeugungen und über seine persönlichen Schicksale aus. Der Tagespolitik blieb er fern, aber eine Herzenssache war ihm die großdeutsche Idee im Sinn der alten süddeutschen Anschauungen, in denen er aufgewachsen war und an denen er, wie an seiner Antipathie gegen Preußen, dauernd festhielt. In dieser Beziehung konnte ich mit ihm nie einig werden. Die preußische Art war ihm offenbar nie in bedeutenden persönlichen und in den wertvollen sozialen Ausprägungen anschaulich geworden, während ich selbst, darin glücklicher, sie in hohem Maß zu schätzen gelernt hatte. Dementsprechend fehlte ihm auch jede Empfänglichkeit für die eigentümliche Größe der preußischen Geschichte. Ähnlich verhielt es sich mit dem Protestantismus, dem er sich mit dem Austritt aus der katholischen Kirche keineswegs angenähert hat. Vom katholischen Dogma hatte er sich als Philosoph befreit; eine Beziehung zum Ideenkreis des Protestantismus spielte dabei keine Rolle, und nachfühlendes historisch-politisches Verstehen und eine daraus entspringende Schätzung historischer Werte lag hier und wohl auch sonst nicht in BRENTANOs Art. Vom Katholizismus selbst hörte ich ihn nie anders als im Ton großer Hochachtung zu sprechen. Die durch diesen in die Breite wirkenden religiös-ethischen Kräfte verteidigte er gelegentlich mit Lebendigkeit gegen unverständige geringschätzige Reden. In philosophischer Beziehung verband ihn übrigens mit der alten Kirche die theistische Weltanschauung, die ihm so sehr ans Herz ging, daß er auf Gottes- und Unsterblichkeitsfragen gern zu sprechen kam. Sein zweistündiges Kolleg über Gottesbeweise (ein Stück des größeren Kollegs über Metaphysik, das er in früheren Jahren wie in Würzburg so auch in Wien gelesen hatte) war mit größter Sorgfalt durchdacht, und an den einschlägigen Problemen begann er, gerade als ich von Wien fortging, von Neuem zu arbeiten. Sie folgten ihm, wie ich weiß, bis in sein spätestes Alter.

Vornehmlich beschäftigten ihn aber in diesen Jahren teils jene deskriptiv-psychologischen Fragen, die das Thema der oben genannten Vorlesungen waren, teils die sinnespsychologischen Untersuchungen, die erst vor wenigen Jahren veröffentlich wurden und deren Inhalt mir aus Wiener und St. Gilgener Gesprächen (zumindest den Hauptlinien nach) in Erinnerung blieb. In den Vorlesungen über elementare Logik behandelte er besonders ausführlich und offenbar in schöpferischer Neugestaltung die deskriptive Psychologie der Continua mit eingehender Rücksichtnahme auf BOLZANOs "Paradoxien des Unendlichen"; desgleichen die Unterschiede der "anschaulichen und unanschaulichen", "klaren und unklaren", "deutlichen" und "undeutlichen", "eigentlichen" und "uneigentlichen, "konkreten und abstrakten" Vorstellungen, und machte im anschließenden Sommer den Versuch einer radikalen Durchforschung aller hinter den traditionellen Urteilsunterscheidungen liegenden deskriptiven, im immanenten Wesen des Urteils selbst aufweisbaren Momente. Intensiv beschäftigten ihn unmittelbar darauf (und als Thema in einem eigenen Kolle, wie schon oben erwähnt) deskriptive Probleme der Phantasie, und zwar besonders das Verhältnis von Phantasievorstellung und Wahrnehmungsvorstellung. Diese Vorlesungen waren ganz besonders anregend, weil sie die Probleme im Fluß der Untersuchung zeigten, während Vorlesungen wie die über "praktische Philosophie (oder auch über Logik und Metaphysik, von denen ich knappe Nachschriften benützen konnte) trotz der kritisch-dialektischen Darstellung - in gewissem Sinn - dogmatishen Charakter hatten, d. h. den Eindruck fest ereichter Wahrheiten und endgültiger Theorien erweckten und erwecken sollten. In der Tat als Schöpfer einer philosophia perennis fühlte sich BRENTANO durchaus, so war immer mein Eindruck damals und später. Der Methode völlig sicher und beständig bestrebt, höchsten Anforderungen einer gleichsam mathematischen Strenge zu genügen, glaubte er in seinen scharf geschliffenen Begriffen, in seinen festgefügten und systematisch geordneten Theorien und in seiner allseitigen aporetischen Widerlegung gegnerischer Auffassungen die befriedigende Wahrheit gewonnen zu haben. Freilich, wie entschieden er auch für seine Lehren eintrat, er hielt nicht, wie ich langehin glaubte, starr an ihnen fest. So manche der Lieblingsthesen jüngerer Jahre hat er später wieder aufgegeben. Er ist nie stehen geblieben. Aber tief eindringend und oft genial in der intuitiven Analyse, ging er doch relativ von der Intuition zur Theorie über: zur Festlegung scharfer Begriffe, zur theoretischen Formulierung der Arbeitsprobleme, zur Konstruktion eines systematischen Inbegriffs der Lösungsmöglichkeiten zwischen denen durch Kritik die Auswahl zu treffen ist. So hatte er, wenn ich seine philosophische Art richtig beurteile, in jeder Phase seiner Entwicklung in gleicher Weise seine festgeschlossenen Theorien, armiert mit einer Phalanx durchdachter Argumente, mit denen er sich allen fremden Lehren gewachsen fühlen konnte. Für Denker wie KANT und die nachkantischen deutschen Idealisten, bei denen die Werte ursprünglicher Intuition und vorschauender Ahnung so ungleich höher stehen als diejenigen der logischen Methode, hatte er wenig Schätzung. Daß ein philosophischer Denker als groß eingeschätzt werden könnte, auch wenn alle seine Theorien streng genommen unwissenschaftlich sind, und sogar seine Grundbegriffe an "Klarheit und Deutlichkeit" fast alles zu wünschen ürbig lassen: daß seine Größe statt in der logischen Vollkommenheit seiner Theorien auch liegen kann in der Originalität höchst bedeutsamer, obschon vager, wenig geklärter Grundanschauungen, und damit eins in vorlogischen auf den Logos allererst hindrängenden Zielstrebigkeiten - kurzum in völlig neuartigen und für die Ziele aller philosophischen Arbeit letztentscheidenden Denkmotiven, die noch fern sind, sich in theoretisch strengen Einsichten auszuwirken: das hätte BRENTANO kaum zugestanden. Er, der so ganz dem herben Ideal strengster philosophischer Wissenschaft hingegeben war (das sich ihm in der exakten Naturwissenschaft repräsentierte), sah die Systeme des deutschen Idealismus nur unter dem Gesichtspunkt der Entartung. In meinen Anfängen von BRENTANO ganz geleitet, kam ich selbst erst spät zu der Überzeugung, die in der Gegenwart so manche der auf eine streng wissenschaftliche Philosophie bedachten Forscher teilen: daß die idealistischen Systeme - im Grunde nicht anders als alle vorangegangenen Philosophien der von DESCARTES inaugurierten Epoche - vielmehr unter dem Gesichtspunkt einer jugendlichen Unreife angesehen und dann aber auch auf das Höchste gewertet werden müssen. Mochten KANT und die weiteren deutschen Idealisten für eine wissenschaftlich strenge Verarbeitung der sie machtvoll bewegenden Problemmotive auch wenig Befriedigendes und Haltbares bieten: die die Motive wirklich nachzuverstehen und sich in ihren intuitiven Gehalt einzuleben vermögen, sind dessen sicher, daß in den idealistischen Systemen völlig neue und die allerradikalsten Problemdimensionen der Philosophie zutage drängen, und daß erst mit ihrer Klärung und mit der Ausbildung der durch ihre Eigenart geforderten Methode der Philosophie sich ihre letzten und höchsten Ziele eröffnen.

So sehr übrigens BRENTANOs vorzügliche und bewunderungswürdige Stärke in der logischen Theoretisierung lag, so beruhte die außerordentliche und noch lange nicht abgeschlossene Wirkung seiner eigenen Philosophie letzten Endes doch darauf, daß er selbst, als originaler Denker, aus ursprünglichen Quellen der Intuition schöpfte und so der unproduktiv gewordenen deutschen Philosophie der 70er Jahre neue keimkräftige Motive zuführte. Wie weit seine Methoden und Theorien sich erhalten werden, ist hier nicht zu entscheiden. Im Nährboden anderer Geister haben jene Motive jedenfalls einen anderen Wuchs angenommen als im seinen, aber damit ihre ursprüngliche keimkräftige Lebendigkeit von Neuem bewiesen. Allerdings nicht zu seiner Freude, da er, wie gesagt, seiner Philosophie sicher war. In der Tat, sein Selbstvertrauen war vollkommen. Die innere Gewißheit, auf dem rechten Weg zu sein und die allein wissenschaftliche Philosophie zu begründen, war ohne jedes Schwanken. Diese Philosophie innerhalb der systematischen Grundlehren, die ihm schon als gesichert galten, näher auszugestalten, dazu fühlte er sich von innen und von oben her berufen. Ich möchte diese schlechthin zweifelsfreie Überzeugung von seiner Mission geradezu als die Urtatsache seines Lebens bezeichnen. Ohne sie kann man BRENTANOs Persönlichkeit nicht verstehen und daher auch nicht billig beurteilen.

So begreift sich vor allem, daß ihm soviel an einer tiefdringenden Lehrwirksamkeit, ja in einem guten Sinn an einer Schule gelegen war: nicht nur zur Verbreitung der errungenen Einsichten, sondern auch zur Fortarbeit an seinen Gedanken. Freilich war er gegen jede Abweichung von den ihm feststehenden Überzeugungen empfindlich, bei diesbezüglichen Einwänden wurde er lebhaft, blieb etwas starr bei den längst abgewogenen Formulierungen und aporetischen Begründungen und behauptete sich siegreich dank seiner meisterhaften Dialektik, die doch, wo der Einwendende auf entgegenstehenden ursprünglichen Anschauungen fußte, eine Unbefriedigung zurücklassen konnte. Niemand erzog mehr zu selbsttätig freiem Denken, vertrug es aber auch schwerer, wenn es sich gegen seine eigenen festeingewurzelten Überzeugungen richtete.

Mit der Überzeugung, Bahnbrecher einer neuen Philosophie zu sein, hing zweifellos der große (und für mich damals wenig verständliche) Wert zusammen, den BRENTANO auf die Wiedererlangung seiner ordentlichen Professur in Wien legte. Viel sprach er von den Hoffnungen, die ihm stets von Neuem eröffnet, von den Versprechungen, die ihm gemacht und die nie gehalten wurden. Es war für ihn eben schwer erträglich, nicht mehr Doktorarbeiten leiten und in der Fakultät vertreten zu können, und erst recht, passiv der Habilitation ihm wenig genehmer Privatdozenten zusehen zu müssen. Mit Bitterkeit sprach er sich oft darüber aus. Seine Lehrtätigkeit litt freilich unter diesen Verhältnissen nicht (abgesehen von der freiwilligen Einschränkung seiner Sommervorlesungen), nach wie vor übte er nicht nur in Wien, sondern in ganz Österreich einen bestimmenden Einfluß aus. Seine schöne, ja klassich vollendete Vorlesung über praktische Philosophie wurde jeden Winter von Hunderten Juristen der ersten Semester und Hörern aller Fakultäten besucht - allerdings schrumpfte die große Zahl nach einigen Wochen sehr zusammen, da die regelmäßige Mitarbeit, die hier erforderlich war, nicht jedermanns Sache sein konnte. Aus dieser Vorlesung kamen übrigens immer wieder begabte junge Leute in seine Übungen und bezeugten, daß seine Mühen wohl angewendet gewesen waren.

Viel klagte er in diesen Jahren über seine schwachen Nerven, auch in St. Gilgen, das ihnen Stärkung bringen sollte. Seine Erholung von intensiver Geistesarbeit suchte er allzeit in anderen nicht weniger intensiven, mit nicht weniger Eifer vollzogenen Betätigungen. Er galt im Wiener Schachklub als ein besonders geistreicher Schachspieler (zu geistreich, sagte man mir, und zu sehr auf die Verfolgung eines leitenden Gedankes gerichtet, um oft siegreich sein zu können) und konnte zeitweise ganz in einem leidenschaftlichen Spiel aufgehen. Zu anderen Zeiten machte er Schnitzarbeiten oder malte oder zeichnete, immer dem, was er tat, leidenschaftlich hingegeben. Irgendwie selbstttägig sein, mußte er eben immer. Auf der gemeinsamen Reise nach St. Gilgen zog er bald sein praktisches selbstgeschnitztes Schachspiel heraus, und nun wurde die ganze lange Fahrt hindurch eifrig gespielt. In St. Gilgen beteiligte er sich gerne an den Porträtbildern seiner Frau, die eine tüchtige Malerin war, hineinbessernd, oder ihre Bilder im Werden ganz übernehmend: aber freilich mußte sie dann wieder nachhelfen und manches wieder gut machen. So hat er mich im Jahr 1866 gemeinsam mit seiner Frau gemalt: "ein liebenswürdiges Bild", wie THEODOR VISCHER, der feinsinnige Kunsthistoriker, urteilte. Mit eben demselben Eifer betriebt er in St. Gilgen nachmittags das Bocciaspiel (im "Garten", ein Stückchen Wiese hinter dem gemieteten Häuschen nahe am See). Für Bergtouren war er gar nicht eingenommen, er liebte nur mäßige Wanderungen. Sehr einfach war in St. Gilgen, aber auch Wien, seine Lebensweise. Man brauchte übrigens nicht lange mit ihm bekannt zu sein und seine Lebensgebwohnheiten zu beobachten, um die Lächerlichkeit der umlaufenden Rede zu empfinden, daß er seine erste Frau um ihres Reichtums willen geheiratet hat. Für die Genüsse der Reichen hatte er überhaupt kein Organ. Er rauchte nicht, aß und trank sehr mäßig, ohne darin irgendwelche Unterschiede zu beachten. Ich, der ich doch oft im Haus bei Mahlzeiten zugegen war, habe nie eine Äußerung über Speisen und Getränke von ihm gehört oder bemerkt, daß er dabei mit besonderer Lust genoß. Als wir einige Zeit vor seiner Frau in St. Gilgen eintrafen und in einem ziemlich schlechten Gasthof essen mußten, da war er der immer Zufriedene, der eben den Unterschied sich gar nicht zu Bewußtsein brachte, immer mit seinen Gedanken oder den Gesprächen beschäftigt. Er ließ sich auch nur die einfachsten Speisen geben, wie er auch auf der Bahn, wenn er allein fuhr, sich mit der niedersten Klasse begnügte. Und ebenso stand es mit seiner Kleidung, die übereinfach und oft abgetragen war. In allen diesen Beziehungen sparsam, soweit eben seine eigene Person in Frage kam, war er doch generös, wo er anderen ein Gutes damit tun konnte. In seinem persönlichen Gehaben gegen Jüngere war er einerseits zwar würdevoll, andererseits überaus gütig und liebreich, immerfort um die Förderung ihrer wissenschaftlichen Bildung, aber auch um ihre ethische Persönlichkeit besorgt. Man konnte nicht anders, als sich dieser höheren Leitung ganz hinzugeben und ihre veredelnde Kraft beständig, auch wenn man ihm räumlich fern war, zu fühlen. Selbst in seinen Vorlesungen wurde, wer sich ihm einmal gegeben hatte, nicht nur theoretisch von den Sachen, sondern vom reinen Ethos seiner Persönlichkeit auf das Tiefste ergriffen. Und wie konnte er sich selbst persönlich geben! Unvergeßlich sind mir die stillen, sommerabendlichen Wanderungen am Wolfgangsee, auf denen er sich oft in freier Aussprache über sich selbst gehen ließ. Er war von einer kindlichen Offenheit, wie er auch überhaupt die Kindheit des Genies hatte.

Ich habe mit BRENTANO nicht sehr viele Briefe gewechselt. Auf meinen Brief, in dem ich ihn bat, die Widmung meiner Philosophie der Arithmetik (meiner philosophischen Erstlingsschrift) anzunehmen, schrieb er mir warm dankend, aber ernst abmahnend: ich solle mir nicht den Groll seiner Feinde auf den Hals laden. Ich widmete ihm die Schrift dennoch, erhielt aber auf die Übersendung des Widmungsexemplars keine weitere Antwort. Erst nach 14 Jahren bemerkte BRENTANO überhaupt, daß ich ihm die Schrift wirklich gewidmet hatte, und dankte nun in herzlich güten Worten; er hatte sie offenbar nicht näher angesehen oder darin nur nach seiner Art "quer gelesen". Er stand mir natürlich zu hoch, und ich verstand ihn zu gut, um dadurch empfindlich berührt zu werden.

Daß sich kein reger Briefwechsel entwickelte, hatte tiefere Gründe. Zu Anfang sein begeisterter Schüler, hörte ich zwar nie auf, ihn als Lehrer hoch zu verehren, aber es war mir nicht gegeben, Mitglied seiner Schule zu bleiben. Ich wußte aber, wie sehr es ihn erregte, wenn man eigene, obschon von den seinen auslaufende Wege ging. Er konnte dann leicht ungerecht werden und ist es auch mir gegenüber geworden, und das war mir schmerzlich. Auch wird, wer von innen her von ungeklärten und doch übermächtigen Gedankenmotiven getrieben ist oder begrifflich noch unfaßbaren Anschauungen genugzutun sucht, mit denen die gegebenen Theorien nicht stimmen wollen, sich dem in seinen Theorien beruhigten - und gar einem logischen Meister wie BRENTANO - nicht gerne eröffnen. Man hat genug an der Pein der eigenen Unklarheit und braucht für sein logisches Unvermögen, das eben die Triebkraft zum forschenden Denken ist, keine neuen Beweise und keine dialektischen Widerlegungen. Was sie voraussetzen: Methoden, Begriffe, Sätze, muß leider verdächtigt und als zweifelhaft zunächst ausgeschaltet werden, und daß man nicht klar widerlegen und auch selbst nichts hinreichend klar und bestimmt aufstellen kann, ist ja gerade das Unglück. So war es in meinem Werden, und so erklärt sich eine gewisse Entfernung, wenn auch nicht persönliche Entfremdung von meinem Lehrer, die auch späterhin eine wissenschaftliche Fühlungnahme schwer machte. An ihm fehlte es, wie ich frei gestehen muß, nie. Er gab sich wiederholt Mühe, wissenschaftliche Beziehungen wieder anzuknüpfen. Er fühlte wohl, daß meine große Verehrung für ihn in diesen Jahrzehnten sich nie vermindert hatte. Im Gegenteil, sie hat sich nur gesteigert. Ich lernte eben im Fortschreiten meiner Entwicklung die Kraft und den Wert der von ihm empfangenen Impulse.

Als Privatdozent besuchte ich ihn einmal in den Sommerferien in Schönbühl an der Donau; er hatte kurz vorher die "Taverne" gekauft, die nun für Wohnzwecke umgebaut werden sollte. Unvergeßlich ist mir die Situation, in der ich ihn vorfand. An das Haus herankommend, sah ich eine Gruppe Maurer, darunter einen hageren, langen Mann mit offenem Hemd, kalkbesprengten Beinkleidern und Schlapphut, die Kelle ebenso wie die andern gebrauchend: ein italienischer Arbeiter, wie man sie auf Straßen und Gassen damals überall sah. Es war BRENTANO. Freundlich kam er mir entgegen, zeigte mir seine Entwürfe zum Umbau, klagte über die unfähigen Baumeister und Maurer, die ihn genötigt hätten, alles selbst in die Hand zu nehmen und selbst mitzuarbeiten. Nicht lange und wir waren mitten in philosophischen Gesprächen, er immer noch in diesem Aufzug.

Ich sah ihn wohl erst im Jahr 1908 in Florenz wieder, in seiner herrlich gelegenen Wohnung in der Via Bellosguardo. Dieser Tage kann ich nur mit größter Rührung gedenken. Wie ergriff es mich, als er, der nahezu Erblindete, vom Balkon die unvergleichliche Aussicht auf Floren und die Landschaft erklärte oder mich und meine Frau in die beiden dereinst von GALILEI bewohnten Villen auf schönsten Wegen führte. In seiner äußeren Erscheinung fand ich ihn eigentlich wenig verändert, nur die Haare waren ergraut und das Auge hatte seinen Glanz und früheren Ausdruck verloren. Und doch, wieviel sprach auch jetzt aus diesem Auge, welche Verklärung und Gotteshoffnung. Natürlich wurde gar viel von Philosophie gesprochen. Auch das war schmerzlich. Wie ging ihm das Herz auf, sich wieder einmal philosophisch aussprechen zu können; er, dem er die große Wirkung als Lehrer ein Lebensbedürfnis war, mußte in Florenz einsam dahinleben, außerstande, dort eine persönliche Wirksamkeit zu entfalten, und schon beglückt, wenn einmal vom Norden jemand kam, der ihn hören und verstehen konnte. Es war mir in diesen Tagen, als wären die Jahrzehnte seit meiner Wiener Studienzeit zu einem kraftlosen Traum geworden. Ich fühlte mich ihm, dem Überragenden und Geistesmächtigen gegenüber wieder wie ein schüchterner Anfänger. Ich hörte lieber, als daß ich selbst sprach. Und wie groß, schön gegliedert, und in allen Gliederungen fest gestaltet, floß seine Rede dahin. Einmal wollte er selbst hören und ließ sich, ohne mich mit Einwendungen zu unterbrechen, den Sinn der phänomenologischen Forschungsweise und meines ehemaligen Kampfes gegen den Psychologismus zusammenhängend berichten. Zu einer Verständigung kam es nicht. Vielleicht lag ein wenig auch die Schuld an mir. Mich lähmte die innerliche Überzeugung, daß er in einem fest gewordenen Stil seiner Betrachtungsweise, mit dem festen Gefüge seiner Begriffe und Argumente nicht mehr anpassungsfähig genug war, um die Notwendigkeit der Umbildungen seiner Grundanschauungen, zu denen ich mich gedrängt gesehen hatte, nachverstehen zu können.

Nicht der geringste Mißton trübte diese Tage, in denen auch seine zweite Gemahlin EMILIE uns alle erdenkliche Freundlichkeit erwies, sie, die in so wohltuender und liebevoller Weise für seine Altersjahre sorgte und sich daher dem Bild seines damaligen Lebens auf das Schönste einfügte. Er wollte möglichst viel mit mir zusammen sein, er fühlte selbst, daß mein Dank für das, was er mir durch seine Persönlichkeit und durch die lebendige Kraft seiner Lehren gewesen ist, unauslöschlich war. Er war im Alter noch liebevoller und milder geworden, ich fand in ihm nicht den verbitterten Greis, dem seine erste und zweite Heimat allzuwenig Förderung hatte angedeihen lassen und seine großen Gaben mit Undank gelohnt hatte. Immerfort lebte er in seiner Ideenwelt und in der Vollendung seiner Philosophie, die, wie er sagte, im Lauf der Jahrzehnte eine große Entwicklung genommen hatte. Es lag über ihm ein Hauch der Verklärung, als gehörte er nicht mehr dieser Welt an und als lebte er halb und halb schon in jener höheren Welt, an die er so fest glaubte, und deren philosophische Deutung in theistischen Theorien ihn auch in dieser späten Zeit so viel beschäftigte. Das letzte Bild, das ich damals in Florenz von ihm gewonnen hatte, hat sich in meine Seele am tiefsten eingesenkt: so lebt er nun immer fort in mir, ein Bild aus einer höheren Welt.
LITERATUR Oskar Kraus, Franz Brentano - zur Kenntnis seines Lebens und seiner Lehre, München 1919