p-4p-4HusserlSchappKönigEuckenJ. VolkeltJerusalem    
 
EDMUND HUSSERL
Erfahrung und Urteil
[1/5]

"Jedes Urteilen setzt voraus, daß ein Gegenstand vorliegt, uns vorgegeben, worüber ausgesagt wird. Hiermit ist sozusagen ein Urmodell vorgegeben, das wir als Urteil auf seinen Ursprung zu befragen haben. Nur die Ursprungserhellung dieses traditionell als Urteil bestimmten Gebildes kann die Antwort auf diese sowie auf alle weiteren Fragen geben, die damit zusammenhängen: inwiefern ist das prädikative Urteil das bevorzugte und zentrale Thema der Logik? Ferner: was ist die Art der Verknüpfung dieser beiden Glieder, die immer schon im Urteil unterschieden wurden, inwiefern ist das Urteil Synthese und Klassifikation in einem? - ein Problem, das ständig eine Verlegenheit der Logiker bildete und bis heute nicht befriedigend gelöst ist. Was ist es, was im Urteil verbunden und getrennt wird?"

"Was kann in Bezug auf letzte Substrate eine evidente Gegebenheit besagen? Die formale Logik kann über ein letztes Substrat nichts weiter aussagen, als daß es ein kategorial noch gänzlich ungeformtes Etwas ist, ein Substrat, das noch nicht in ein Urteil eingetreten ist und in ihm eine Formung angenommen hat, das so, wie es evident, als es selbst gegeben ist, erstmalig Urteilssubstrat wird."


Vorwort des Herausgebers

Die Bearbeitung und Veröffentlichung des vorliegenden Werkes gründet sich auf einen Auftrag EDMUND HUSSERLs, der bis zuletzt das Fortschreiten der Arbeit mitverfolgte. Es war ihm nicht mehr vergönnt, selbst noch das Geleitwort voranzuschicken und die Drucklegung zu erleben. Die Aufgabe, das zur Einführung Nötige zu sagen, fällt daher dem Herausgeber zu.

HUSSERL hatte sich in der "Formalen und tranzendentalen Logik" (1929) das Zielt gestellt, nicht nur den inneren Sinn, die Gliederung und Zusammengehörigkeit all dessen nachzuweisen, was bis auf unsere Tag an logischen Problemen im weitesten Umfang behandelt wurde, sondern zugleich die Notwendigkeit einer phänomenologischen Durchleuchtung der gesamten logischen Problematik darzulegen. Ein Hauptstück der analytisch-deskriptiven Untersuchungen, die dem Ziel einer solchen phänomenologischen Begründung der Logik dienen, wird hier vorgelegt. Die "Formale und transzendentale Logik" war gedacht als die allgemeine und prinzipielle Einleitung zu diesen konkreten (bereits damals entworfenen) Einzelanalysen, seit dem Erscheinen jenes Werkes ist jedoch ein so langer Zeitraum verstrichen, daß sie nicht mehr einfach als eine Fortsetzung und Durchführung auftreten können. Das umso weniger, als die Fortschritte, die HUSSERL seitdem in seinen systematischen Besinnungen gemacht hatte, vieles von den Ergebnissen jenes Buches in neuem Licht erscheinen lassen. Die vorliegende Schrift mußte daher die Gestalt eines in sich selbständigen Werkes erhalten. Zu diesem Zweck wurde ihr eine ausführliche Einleitung vorangestellt; die dient einerseits der Rückbeziehung des Sinns der ganzen Analysen auf die letzte Entwicklungsphase von HUSSERLs Denken, von deren Ergebnissen manches Wichtige in seiner letzten Schrift "Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie" (Philosophia, Bd. 1, 1936) veröffentlicht wurde, andererseits der Zusammenfassung derjenigen Grundgedanken der "Formalen und transzendentalen Logik" im Rahmen der Einleitung nicht der Anspruch gemacht werden kann, in Kürze die Prinzipienfragen der phänomenologischen Logik noch einmal überzeugend zu beantworten. Eine wirklich durchschlagende Einführung in ihre Eigenart und ihren Sinn bedarf der Ausführlichkeit jenes Buches, dessen Studium durch eine kurze Zusammenfassung nicht ersetzt werden kann. Die diesbezüglichen Teile der Einleitung dienen mehr einem kurzen Hinweis und werden daher, wie auch anders in ihr, dem mit der Phänomenologie noch weniger vertrauten Leser manche Schwierigkeiten bereiten. Für ihn wird es sich empfehlen, bei der ersten Lektüre über diese hinwegzulesen und sogleich zu den ohne weiteres für sich verständlichen Einzelanalysen überzugehen. Erst nach dem Studium des ganzen Werkes möge er nochmals auf die Einleitung zurückgreifen und dabei zugleich die "Formale und transzendentale Logik" heranziehen. Als Durchführung eines wesentlichen Teils des in der Logik abgesteckten Programmes wird die vorliegende Schrift zugleich zu deren besserem Verständnis dienen, wie andererseits der tiefere Sinn der hier durchgeführten Einzelanalysen sich erst bei Hinzuziehung der "Logik" erschließen lassen.

Um den Charakter des vorliegenden Werkes zu verstehen, bedarf es eines Hinweises auf seine Entstehungsgeschichte. Angesichts des ständig wachsenden Bestandes an Entwürfen und Forschungsmanuskripten beschäftigte HUSSERL in den beiden letzten Jahrzehnten seines Lebens in steigendem Maß das Problem, in der Zusammenarbeit mit Schülern und Mitstreitern neuartige Wege zur literarischen Auswertung des Ertrages seiner Forschungen zu finden, dessen Fülle zu bewältigen er allein sich nicht imstande sah. So wurde ich 1928 von HUSSERL - damals sein Assisten - beauftragt, die zum Problembereich der transzendentalen Logik gehörigen Manuskripte zusammenzustellen, aus dem Stenogramm abzuschreiben und den Versuch einer einheitlichen systematischen Anordnung zu machen. Den Leitfaden und die Grundgedanken dafür enthielt eine vierstündige Vorlesung über "Genetische Logik", die HUSSERL seit dem Wintersemester 1919/20 des öfteren in Freiburg gehalten hatte. Sie wurde der Ausarbeitung zugrunde gelegt und zu ihrer Ergänzung eine Gruppe älterer Manuskripte aus den Jahren 1910 - 1914, sowie Teile aus anderen Vorlesungen der 20er Jahre hinzugezogen. Der so zustande gekommene Entwurf sollte die Grundlage für eine Publikation bilden, deren letzte Redaktion HUSSERL sich selbst vorbehalten hatte. Dazu kam es aber nicht: aus einer kleinen Abhandlung über den Sinn der transzendental-logischen Problematik, die ich dieser Ausarbeitung als Einleitung vorangestellt hatte, erwuchs HUSSERL im Bestreben sie zu ergänzen unter der Hand, in wenigen Monaten des Winters 1928/29 niedergeschrieben, die "Formale und transzendentale Logik". Sie erschien zunächst für sich und losgelöst von der Ausarbeitung , zu er sie den Auftakt bilden sollte, und deren Einleitung sozusagen ihre Keimzelle gebildet hatte.

Dieser neuartigen Durchleuchtung des Gesamtzusammenhangs der logischen Problematik mußte eine neuerliche Überarbeitung des von mir zusammengestellten Entwurfes Rechnung tragen, wobei nicht nur der Geahlt seiner Einzelanalysen durch die Rückbeziehung auf die bereits erschienene "Formale und transzendentale Logik" vertieft, sondern zugleich auch inhaltlich erweitert wurde. Dieser zweite, 1929/30 abgefaßte Entwurf der vorliegenden Schrift kam in folgender Weise zustande: zugrunde lag der erste (bereits vor der Niederschrift der "Formalen und transzendentalen Logik" hergestellte) Entwurf, der von HUSSERL selbst mit Randbemerkungen und ergänzenden Zusätzen versehen worden war. Sie mußten zunächst berücksichtigt und dann noch weitere ergänzende Manuskripte - zumeist aus den Jahren 1919-1920 - hinzugezogen werden. Meine Aufgabe war es dabei, aus diesem Material unter Bezugnahme auf die in der "Formelen und transzendentalen Logik" festgelegten prinzipiellen Grundlinien einen einheitlichen, systematisch zusammenhängenden Text herzustellen. Da die Unterlagen dafür von ganz verschiedener Beschaffenheit waren - einerseits der bereits von HUSSERL selbst revidierte erste Entwurf, andererseits die neu hinzugezogenen Manuskripte aus verschiedenen Zeiten und von verschiedener Beschaffenheit, teils bloß kurze, fragmentarisch skizzierte Analysen enthaltend, teils in sich geschlossene, aber ohne ausdrücklichen Hinblick auf einen übergeordneten Zusammenhang hingeschriebenen Einzelstudien - mußten sie von mir nicht nur stilistisch und terminologisch einander angeglichen und möglichst auf das gleiche Niveau gebracht werden; es mußten auch die fehlenden Überleitungen dazu geschrieben, die Gliederung in Kapitel und Paragraphen samt den zugehörigen Überschriften eingefüft werden; ja vielfach, wo die Analysen in den Manuskripten nur skizzenhaft angedeutet, eventuelle überhaupt lückenhaft waren, mußte das Fehlende ergänzt werden. Das geschah in der Weise, daß meine Eingriffe und Hinzufügungen mit HUSSERL vorher mündlich erörtert wurden, so daß auch dort, wo sich der Text nicht direkt auf den Wortlaut der Manuskripte stützen konnte, doch in ihm nichts enthalten war, was sich nicht zumindest auf HUSSERLs mündliche Äußerungen und seine Billigung stützen konnte. Auch dieser zweite (1930 abgeschlossene) Entwurf des vorliegenden Werkes wurde dann von HUSSERL selbst mit Anmerkungen versehen, in der Absicht, ihm baldigst die endgültige Fassung für den Druck zu verleihen. Andere dringende Arbeiten kamen ihm dazwischen und ließen schließlich das Vorhaben aus einem Gesichtskreis verschwinden.

Erst 1935 wurde es durch die Unterstützung des Prager philosophischen Cercles möglich, erneut darauf zurückzukommen. HUSSERL erteilte mir nunmehr unter Verzicht auf eine eigenhändige Fertigstellung die Vollmacht, unter eigener Verantwortung die letzte Hand an den Text zu legen. Dabei waren nicht nur die Anmerkungen zu berücksichtigen, die HUSSERL selbst zum zweiten Entwurf gemacht hatte; auch die Anordnung des Ganzen wurde gestrafft und noch durchsichtiger gestaltet. Neu hinzugefügt wurden ferner die Partien über Urteilsmodalitäten - ein Problemzusammenhang, der zwar auch in der erwähnten Vorlesung über Genetische Logik behandelt, aber nicht in die früheren Entwürfe aufgenommen worden war. Vor allem aber wurde jetzt erst die Einleitung entworfen mit ihrer Darstellung des Gesamtsinnes der Untersuchungen. Sie ist teils eine freie Wiedergabe von Gedanken aus HUSSERLs letzter veröffentlichter Schrift "Die Krisis der europäischen Wissenschaften" und aus der "Formalen und transzendentalen Logik", teils stützt sie sich auf mündliche Erörterungen mit HUSSERL und teils auf Manuskripte aus den Jahren 1929-1934. Auch der Entwurf dieser Einleitung wurde mit HUSSERL selbst noch durchgesprochen und von ihm in seinem wesentlichen Gehalt und Gedankengang gebilligt.

In Anbetracht der komplizierten Entstehungsgeschichte dieser Schrift, ihrer mehrfachen und vielschichtigen Überarbeitung, dürfte es selbstverständlich sein, daß ihr Text nicht am Maßstab philologischer Akribie gemessen werden kann. Es wäre technisch völlig unmöglich, in ihm zu scheiden, was Wortlaut der zugrundeliegenden (ausnahmslos stenographierten) Originalmanuskripte, was Wiedergabe mündlicher Äußerungen HUSSERLs und was (freilich von ihm gebilligte) Hinzufügungen des Bearbeiters ist. Auf die Frage, ob unter diesen Umständen die Schrift überhaupt als ein Originalwerk HUSSERLs zu gelten hat, kann nur erwidert werden, daß sie als im Ganzen von Husserl selbst autorisierte Ausarbeitung anzusehen ist. Das sagt: sie ist Ergebnis einer Zusammenarbeit gänzlich eigener Art, die ungefähr so charakterisiert werden kann, daß der Gedankengehalt, sozusagen das Rohmaterial, zur Gänze von HUSSERL stammt - nichts ist darin, was einfach vom Bearbeiter hinzugefügt wäre oder schon seine Interpretation der Phänomenologie in sich schließt - daß aber für die literarische Fassung der Bearbeiter die Verantwortung trägt.

Die Anregung zu dem Titel "Erfahrung und Urteil" entstammt der Aufschrift eines Manuskripts von 1929, das Grundfragen der phänomenologischen Logik behandelt.

Eine Sonderstellung nehmen die beiden am Schluß angefügten Beilagen ein. Bei ihnen handelt es sich um den einfachen, nur stilistisch geglätteten Abdruck von Originalmanuskripten, die in sich geschlossene Betrachtungen enthalten und daher nicht ohne eine Opferung wesentlicher Teile ihres Gehaltes in den übrigen Text hätten eingearbeitet werden können. Sie wollen nicht als bloße Anhängsel, sondern als wesentliche Ergänzungen zu den betreffenden Teilen des Textes genommen sein. Die erste Beilage stammt aus den Jahren 1919 oder 1920, die zweite ist ein Paragraph aus dem Entwurf zur Neugestaltung der VI. Logischen Untersuchung von 1913, der nicht zum Abschluß und zur Veröffentlichung kam.

Schließlich sei noch all denen der wärmste Dank ausgesprochen, die zum Zustandekommen dieser Veröffentlichung beigetragen haben: der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, die 1928-1930 durch ihre Beihilfe meine Teilnahme an den Arbeiten HUSSERLs ermöglichte, dem Prager philosophischen Cercle und der Rockefellerstiftung, deren Unterstützung der endgültige Abschluß und die Drucklegung zu verdanken ist. Herrn Dr. EUGEN FINK, Freiburg i. Br., bin ich für seine Beratung bei der letzten Fassung des Textes und insbesondere bei der Gestaltung der Einleitung aufs Höchste verpflichtet.

Ludwig Landgebe



EINLEITUNG
Sinn und Umgrenzung der Untersuchung

§ 1. Das prädikative Urteil als zentrales
Thema in der Genealogie der Logik

Die folgenden Untersuchungen gelten einem Ursprungsproblem. Mit der Ursprungsklärung des prädikativen Urteils wollen sie einen Beitrag zur Genealogie der Logik überhaupt liefern. Die Möglichkeit und Notwendigkeit eines solchen Vorhabens und der Sinn der Ursprungsfragen, die hier zu stellen sind, bedürfen vor allem der Erörterung. In dieser Ursprungsklärung, die weder ein Problem der "Geschichte der Logik" im üblichen Sinne noch ein solches der genetischen Psychologie zum Thema hat, soll das Wesen des auf seinen Ursprung befragten Gebildes aufgehellt werden. Eine Wesenserklärung des prädikativen Urteils auf dem Weg der Forschung seines Ursprungs ist also die Aufgabe.

Wenn durch sie das Problem der Genealogie der Logik überhaupt gefördert werden kann, so hat das seinen Grund darin, daß im Zentrum der formalen Logik, so wie sie historisch geworden ist, der Begriff des prädikativen Urteils, der Apophansis [Prädikation bei Aristoteles - wp] steht. Sie ist in ihrem Kern apophantische Logik, Lehre vom Urteil und seinen "Formen". Daß sie ihrem ursprünglichsten Sinn nach nicht nur das ist, sondern daß in einer voll ausgebauten formalen Logik, die dann als formale mathesis universalis die formale Mathematik in sich einbegreift, der formalen Apophantik gegenüber steht die formale Ontologie, die Lehre vom Etwas überhaupt und seinen Abwandlungsformen, von Begriffen wie Gegenstand, Eigenschaft, Relation, Vielheit und dgl., und daß in der traditionellen logischen Problematik immer schon Fragen aus beiden Gebieten behandelt wurden, das sei hier nur erwähnt; die schwierigen Probleme, die das Verhältnis von formaler Apophantik und formaler Ontologie betreffen, ihre korrelative Zusammengehörigkeit, ja innere Einheit, angesicht deren ihre Trennung sich als bloß vorläufige, gar nicht auf Unterschieden der Gebiete, sondern bloß der Einstellungen beruhende erweist, können hier nicht noch einmal behandelt werden (1). Nur soviel sei gesagt, daß all die kategorialen Formen, die das Thema der formalen Ontologie bilden, den Gegenständen im Urteilen zuwachsen; schon der Leerbegriff "etwas überhaupt", in dem Gegenstände überhaupt logisch gedacht werden, tritt nirgends sonst im Urteil auf (2), und ebenso ist es mit seinen Abwandlungsformen:
    "So gut Eigenschaft eine im Urteil zunächst unselbständig auftretende Form bezeichnet, die normalisiert die Substratform Eigenschaft ergibt, so tritt im pluralen Urteil der Plural auf, der nominalisiert, zum Gegenstand im ausgezeichneten Sinn umgestaltet - dem des Substrates, des Gegenstandes-worüber - die Menge ergibt." (3)
Das gleiche wäre für alle anderen Begriffe, die in der formalen Ontologie auftreten, zu zeigen. Mit Rücksicht darauf können wir sagen, daß der Lehre vom Urteil nicht nur aus historischen, sondern auch aus sachlichen Gründen eine zentrale Stellung in der gesamten formal-logischen Problematik zukommt.

Mit dieser Feststellung soll keiner Wesensbestimmung dessen vorgegriffen werden, was im weitesten und umfassendsten Sinn unter "Logik" und "logisch" zu verstehen ist. Vielmehr kann dieser umfassende Wesensbegriff erst das Endergebnis der phänomenologischen Aufklärung und Ursprungserforschung des Logischen sein, wie sie in der "Formalen und transzendentalen Logik" begonnen und hinsichlich ihrer prinzipiellen Fragen erörtert und in der vorliegenden Untersuchung in einem Stück durchgeführt wird. Die phänomenologische Ursprungserhellung des Logischen entdeckt, daß der Bereich des Logischen viel größer ist als der, den die traditionelle Logik bisher behandelt hat, und sie entdeckt zugleich die verborgenen Wesensgründe, denen diese Einengung entstammt - eben indem sie vor allem auf die Ursprünge des "Logischen" im traditionellen Sinn zurückgeht. Dabei findet sie nicht nur, daß logische Leistung schon vorliegt in Schichten, in denen sie von der Tradition nicht gesehen wurde, und daß die traditionelle logische Problematik erst in einem verhältnismäßig hohen Stockwerk einsetzt, sondern vielmehr, daß gerade in jenen Unterschichten die verborgenen Voraussetzungen zu finden sind, aufgrund deren erst Sinn und Recht der höherstufigen Evidenzen des Logikers letztlich verständlich werden. Erst dadurch wird eine Auseinandersetzung mit der gesamten logischen Tradition möglich und - als weiteres Fernziel der phänomenologischen Aufklärung der Logik - die Gewinnung jenes umfassenden Begriffs von Logik und Logos. Kann so der Bereich des Logischen nicht im voraus abgesteckt werden, so bedarf doch seine phänomenologische Aufklärung eines Vorbegriffs von ihm, der ihr überhaupt erst die Richtung weist. Dieser Vorbegrifff kann nicht willkürlich gewählt werden, sondern ist eben der traditionell vorgegebene Begriffe von Logik und "logisch" (4). Und in seinem Zentrum steht die Problematik des prädikativen Urteils.


§ 2. Die traditionelle Bestimmung und Vorzugsstellung
des prädikativen Urteils und ihre Probleme.

Urteil, Apophansis im Sinne der Tradition ist selbst noch ein Titel, der vielerlei in sich schließt. So bedarf es vor allem einer genaueren Bestimmung dieses unseres Themas und eines Blickes darauf, was es an Problemen in sich schließt, die ihm aus der Traditioin her vorgezeichnet sind (§ 2). Dann erst können wir schrittweise versuchen, eine Charakteristik der hier einzuschlagenden, vorweg als genetisch bezeichneten Methode zu gewinnen (§ 3f).

Durch die ganze Tradition hindurch ziehen sich die Unterscheidungen der mannigfaltigsten "Formen" von Urteilen und was das "Urteil" selbst ist, ist in der verschiedensten Weise zu fixieren versucht worden. Was aber von Anfang an, von der aristotelischen Stiftung unserer logischen Tradition an feststeht, ist dies, daß für das prädikative Urteil ganz allgemein charakteristisch eine Zweigliedrigkeit ist: ein "Zugrundeliegendes" (hypokeimenon), worüber ausgesagt wird, und das, was von ihm ausgesagt wird: kategoroumenon; nach anderer Richtung, hinsichtlich seiner sprachlichen Form unterschieden als onoma [Hauptwort - wp] und rema [Verb - wp]. Jeder Aussagesatz muß aus diesen beiden Gliedern bestehen (5). Darin liegt: jedes Urteilen setzt voraus, daß ein Gegenstand vorliegt, uns vorgegeben, worüber ausgesagt wird. Hiermit ist sozusagen ein Urmodell vorgegeben, das wir als Urteil auf seinen Ursprung zu befragen haben. Wir müssen hier ganz offen lassen, ob wie es dabei wirklich mit dem ursprünglichsten logischen Gebilde zu tun haben. Nur die Ursprungserhellung dieses traditionell als Urteil bestimmten Gebildes kann die Antwort auf diese sowie auf alle weiteren Fragen geben, die damit zusammenhängen: inwiefern ist das prädikative Urteil das bevorzugte und zentrale Thema der Logik, so daß sie in ihrem Kern notwendig apophantische Logik, Urteilslehre ist? Ferner: was ist die Art der Verknüpfung dieser beiden Glieder, die immer schon im Urteil unterschieden wurden, inwiefern ist das Urteil Synthesis und Diairesis [Klassifikation - wp] in einem? - ein Problem, das ständig eine Verlegenheit der Logiker bildete und bis heute nicht befriedigend gelöst ist. Was ist es, was im Urteil "verbunden" und "getrennt" wird? Weiters: welche der vielfältigen traditionell unterschiedenen Urteilsformen ist die ursprünglichste, d. h. diejenige, die als unterste und alle anderen fundierende vorausgesetzt und wesensnotwendig als vorliegend gedacht werden muß, damit sich auf sie andere, "höherstufige" Formen aufbauen können? Gibt es eine Urform oder mehrere gleichberechtigt nebeneinanderstehende, und wenn es nur eine gibt, in welcher Weise lassen sich alle aneren auf sie als die ursprünglichste zurückführen? Zum Beispiel sind bejahendes und verneinendes Urteil zwei gleichberechtigte, gleichursprünglich nebeneinanderstehende Grundformen oder hat eine von beiden den Vorzug?

Auf diese Frage führt die traditionelle Bestimmung des Urteils. Darüber hinaus bleiben freilich noch andere Fragen offen, die auf unserem Weg der Ursprungserhellung des traditionell als Urteil Vorgegebenen nicht ohne weiteres beantwortet werden können, sondern deren Beantwortung schon Sache einer Auseinandersetzung mit der gesamten Tradition wäre, die über den Rahmen dieser Untersuchung hinausginge. Gleichwohl seien einige der Probleme, um die es sich hier handelt, angedeutet. Seit ARISTOTELES gilt es als feststehend, daß das Grundschema des Urteils das kopulative Urteil, das auf die Grundform S ist p zu bringende, ist. Jedes Urteil anderer Zusammensetzung, z. B. die Form des Verbalsatzes kann nach dieser Auffassung ohne eine Änderung des logischen Sinnes in die der kopulativen Verknüpfung umgewandelt werden: z. B. "der Mensch geht" ist logisch gleichwertig mit "der Mensch ist gehend". Das "ist" steht als Teil des rema, in dem immer "die Zeit mitbezeichnet ist", darin dem Verbum gleich (6). Es bedarf also einer genauen Einsicht in das, was in dieser kopulativen Verknüpfung vor sich geht, welcher Art Wesen und Ursprung des kopulativen prädikativen Urteils ist, bevor zu dieser Frage Stellung genommen werden kann, ob tatsächlich diese Unwandelbarkeit zu Recht besteht und der Unterschied ein bloßer Unterschied der sprachlichen Form ist, der auf keinen Unterschied logischer Sinnesleistung verweist. Sollte aber letzteres doch der Fall sein, so entstünde das Problem, wie sich die beiden Formen, der kopulative Satz einerseits und der Verbalsatz andererseits, zueinander verhalten: sind es gleichursprüngliche Sinnesleistungen, oder ist eine, und welche von beiden, die ursprünglichere? Stellt also wirklich im Sinne der Tradition die kopulative Form S ist p das Grundschema des Urteils dar? Ferner wäre die Frage nach der Ursprünglichkeit dieses Schemas dann auch im Hinblick auf die Tatsache aufzurollen, daß in ihm mit Selbstverständlichkeit das Subjekt in der Form der dritten Person eingesetzt ist. Darin liegt die Voraussetzung beschlossen, daß die erste und zweite Person, das Urteil in der Form des "ich bin ...", "du bist" keine logische Sinnesleistung zum Ausdruck bringt, die von der im bevorzugten Grundschema "es ist ..." ausgedrückten abweicht - eine Voraussetzung, die auch erst der Prüfung bedürfte und die Frage nach der Ursprünglichkeit des traditionellen Grundschemas S ist p wieder in einem neuen Licht zeigen würde.


§ 3. Die Doppelseitigkeit der logischen Thematik.
Das Evidenzproblem als Ausgangspunkt der subjektiv
gerichteten Fragestellungen und seine
Überspringung in der Tradition.

Das Urteil, an das sich alle diese Fragen knüpfen, ist dem Logiker zunächst vorgegeben in seiner sprachlichen Ausformung als Aussagesatz und d. h. als eine Art objektives Gebilde, als etwas, das er wie anderes Seiendes auf seine Formen und Beziehungsweisen hin untersuchen kann. Erkenntnis mit ihren "logischen" Verfahrensweisen hat schon immer ihr Werk getan, wenn wir uns logisch besinnen; wir haben schon immer Urteile gefällt, Begriffe gebildet, Schlüsse gezogen, die nun unser Erkenntnisbesitz sind, als solcher uns vorgegebene. Das heißt, das Interesse, das der anfangende Logiker an diesen Gebilden hat, ist kein bloßes Interesse an irgendwelchen Gebilden von bestimmter Form, sondern ein Interesse an Gebilden, die den Anspruch erheben, Niederschlag von Erkenntnissen zu sein. Die Urteile, die er auf ihre Formen hin untersucht, treten auf als prätendierte [behauptete - wp] Erkenntnisse. Darin liegt: vor aller logischen Besinnung wissen wir schon um die Unterschiede des wahren Urteils vom zunächst vermeintlich wahren und nachher sich eventuell als falsch herausstellenden, des richtigen Schlusses vom Fehlschluß usw.

Ist nun der Logiker wirklich auf eine Logik in einem umfassenden und ernsthaften Sinn gerichtet, so geht daher sein Interesse auf die Gesetze der Formbildung der Urteile - die Prinzipien und Regeln der formalen Logik - nicht als auf bloße Spielregeln, sondern als auf solche, denen die Formbildung genügen muß, soll durch sie Erkenntnis überhaupt möglich werden. (7) Sie gelten für Urteile rein ihrer Form nach, ganz abgesehen vom materialen Gehalt dessen, was als Urteilsgegenstand, Urteilssubstrat in die leere Form eingesetzt wird. So schließen sie in sich sozusagen bloß negative Bedingungen möglicher Wahrheit; ein Urteilen, das gegen sie verstößt, kann zu einem Ergebnis niemals Wahrheit, bzw. subjektiv gesprochen, Evidenz haben; es kann kein evidentes Urteilen sein. Aber andererseits muß es, auch wenn es den Anforderungen dieser Gesetze genügt, damit noch nicht sein Ziel, die Wahrheit erreichen. Diese Einsicht zwingt zu der Frage danach, was über die formalen Bedingungen möglicher Wahrheit hinaus noch hinzukommen muß, soll eine Erkenntnistätigkeit ihr Ziel erreichen. Diese weiteren Bedingungen liegen auf der subjektiven Seite und betreffen die subjektiven Charaktere der Einsichtigkeit, der Evidenz und die subjektiven Bedingungen ihrer Erzielung. Durch die Tatsache, daß Urteile als prätendierte Erkenntnisse auftreten, daß aber vieles von dem, was sich als Erkenntnis ausgibt, sich nachher als Täuschung erweist, und durch die daraus folgende Notwendigkeit der Kritik der Urteile auf ihre Wahrheit hin ist also der Logik von vornherein eine, freilich von der Tradition nie in ihrem tieferen Sinn durchschaute Doppelseitigkeit ihrer Problematik vorgezeichnet: einerseits die Frage nach den Formbildungen und ihren Gesetzlichkeiten, andererseits die nach den subjektiven Bedingungen der Erreichung der Evidenz. Hier kommt das Urteilen als subjektive Tätigkeit in Frage und die subjektiven Vorgänge, in denen sich die Gebilde in ihrem Auftreten bald als evidente, bald als nicht evidente ausweisen. Der Blick ist damit auf das Urteilen als eine Leistung des Bewußtseins gelenkt, in der die Gebilde mit all ihrem Anspruch, Ausdruck von Erkenntnissen zu sein, entspringen - ein Problembereich, den die traditionelle Logik keineswegs, wie es nötig gewesen wäre, in das Zentrum ihrer Betrachtungen gestellt hat, sondern den sie der Psychologie überlassen zu können glaubte. Dadurch scheint es von der Tradition her vorgezeichnet, daß eine auf das Urteilen und Logisches überhaupt bezogene Ursprungsfrage keinen anderen Sinn haben kann als den einer subjektiven Rückfrage im Stil genetischer Psychologie. Wenn wir es nun ablehnen, unsere genetische Problemstellung als psychologische kennzeichnen zu lassen, ja sie ausdrücklich einer psychologischen Ursprungsfrage im üblichen Sinn entgegensetzen, so bedarf das also einer besonderen Rechtfertigung, die zugleich die Eigenheit der hier durchzuführenden Ursprungsanalysen hervortreten lassen wird.

Vorgreifend ist hierzu einstweilen nur Folgendes zu sagen. Eine genetische Urteilspsychologie des üblichen Sinnes ist von unserem Vorhaben einer phänomenologischen Genealogie der Logik überhaupt dadurch von vornherein geschieden, daß die Probleme der Evidenz, die doch den naturgemäßen Ausgangspunkt jeder subjektiven Rückfrage in Bezug auf logische Gebilde abgeben, von der Tradition niemals ernsthaft überhaupt als Probleme verstanden und aufgegriffen wurden. Von vornherein glaubte man zu wissen, was Evidenz ist, an einem Ideal absoluter, apodiktisch [demonstrierbar - wp] gewisser Erkenntnis glaubte man jede Erkenntnis messen zu können, und kam nicht auf den Gedanken, daß dieses Ideal der Erkenntnis und damit auch die Erkenntnisse des Logikers selbst, die doch diese Apodiktizität für sich in Anspruch nehmen, ihrerseits erst einer Rechtfertigung und Ursprungsbegründung bedürfen könnten. So galten die psychologischen Bemühungen nie der Evidenz selbst, weder der des geradehin Urteilenden, noch der auf die Formgesetzlichkeiten des Urteilens bezüglichen (apodiktischen) Evidenz des Logikers; sie stellten Evidenz nicht als Problem in Frage, sondern bezogen sich nur auf die Herbeiführung der Evidenz, die Vermeidung des Irrtums durch Klarheit und Deutlichkeit des Denkens usw., womit vielfach die Logik zu einer psychologistisch bestimmten Technologie es richtigen Denkens gestempelt wurde. Es wird zu zeigen sein, wie es kein bloßer Zufall ist, daß jede subjektive Rückfrage in solche Bahnen geleitetet wurde, wie vielmehr aus tiefliegenden Gründen im Horizont der psychologischen Problematik die prinzipiellen die eigentlichen und echten Probleme der Evidenz gar nicht auftreten konnten.

Dazu werden wir zunächst versuchen, uns von der Art dieser Probleme ein Bild zu machen (§§ 5 und 6), um erst dann im Rückblick uns über die Eigenart der bei ihrer Lösung zu befolgenden Methode und ihre Tragweite Rechenschaft abzulegen (§§ 7-10) und darüber, was sie von einer psychologischen genetischen Methode prinzipiell unterscheidet, sowie über die Gründe, warum sich eine solche jener Probleme nicht bemächtigen konnte (§ 11).


§ 4. Die Stufen des Evidenzproblems. Gegenständliche
Evidenz als Vorbedingung möglichen evidenten Urteilens.

Das urteilende Tun kommt bei unserer subjektiven Rückfrage in Betracht als ein solches, das im Dienste des Strebens nach Erkenntnis steht. Erkenntnis wovon? Ganz allgemein gesprochen, Erkenntnis dessen, was ist, des Seienden. Soll sich auf Seiendes das Streben nach Erkenntnis richten, das Streben von ihm auszusagen, urteilend, was es ist und wie es ist, so muß Seiendes schon vorgegeben sein. Und da Urteilen eines "Zugrundeliegenden" bedarf, worüber es urteilt, eines Gegenstandes worüber, so muß Seiendes so vorgegeben sein, daß es Gegenstand eines Urteilens werden kann. Wo immer Urteilstätigkeit, wo immer Denktätigkeit jeder Art, ausdrücklich oder nicht, ins Spiel tritt, müssen schon Gegenstände vorstellig sein, leer vorstellig oder anschaulich selbstgegeben; alles Denken setzt vorgegebene Gegenstände voraus. Soll es aber als urteilende Tätigkeit wirklich zu seinem Ziel, zur Erkenntnis führen, das heißt, sollen die Urteile evidente Urteile sein, so genügt es nicht, daß irgendwie irgendwelche Gegenstände vorgegeben sind, und daß sich das Urteilen auf sie richtet, dabei bloß den Regeln und Prinzipien genügend, die im Hinblick auf seine Form durch die Logik vorgezeichnet sind. Vielmehr stellt das Gelingen der Erkenntnisleistung auch seine Anforderungen an die Weise der Vorgegebenheit der Gegenstände selbst in inhaltlicher Beziehung. Sie müssen ihrerseits so vorgegeben sein, daß ihre Gegebenheit von sich aus Erkenntnis und das heißt evidentes Urteilen möglich macht. Sie müssen selbst evident, als sie selbst gegeben sein.

Die Rede von Evidenz, evidenter Gegebenheit, besagt also hier nichts anderes als Selbstgegebenheit, die Art und Weise wie ein Gegenstand in seiner Gegebenheit bewußtseinsmäßig als "selbst da", "leibhaft da" gekennzeichnet sein kann - im Gegensatz zu seiner bloßen Vergegenwärtigung, der leeren, bloß indizierenden Vorstellung von ihm. Zum Beispiel ein Gegenstand der äußeren Wahrnehmung ist evident gegeben, als "er selbst", eben in der wirklichen Wahrnehmung im Gegensatz zur bloßen Vergegenwärtigung von ihm, der erinnernden, phantasierenden usw. Als evident bezeichnen wir somit jederlei Bewußtsein, das hinsichtlich seines Gegenstandes als ihn selbst gebendes charakterisiert ist, ohne Frage danach, ob diese Selbstgebung adäquat ist oder nicht. Damit weichen wir vom üblichen Gebrauch des Wortes Evidenz ab, das in der Regel in Fällen verwendet wird, die richtig beschrieben solche einer adäquaten Gegebenheit, andererseits apodiktischer Einsicht sind. Auch eine solche Gegebenheitsweise ist gekennzeichnet als Selbstgebung, nämlich von Idealitäten, allgemeinen Wahrheiten. Aber jede Art von Gegenständen hat ihre Art der Selbstgebung = Evidenz; und nicht für jede, z. B. nicht für raum-dingliche Gegenstände der äußeren Wahrnehmung ist eine apodiktische Evidenz möglich. Gleichwohl haben auch sie ihre Art ursprünglicher Selbstgebung und damit ihre Art der Evidenz.

In einer solchen "evidenten" Gegebenheit eines Gegenstandes braucht unter Umständen nichts von einer prädikativen Formung beschlossen zu sein. Ein Gegenstand als mögliches Urteilssubstrat kann evident gegeben sein, ohne daß er ein beurteilter in einem prädikativen Urteil sein muß. Aber ein evidentes prädikatives Urteil über ihn ist nicht möglich, ohne daß er selbst evident gegeben ist. Das hat zunächst für Urteile aufgrund der Erfahrung nichts Befremdliches, ja hier scheint mit dem Hinweis auf die Fundierung der prädikativen Evidenz in einer vorprädikativen nur eine Selbstverständlichkeit ausgesprochen zu sein. Der Rückgang auf die gegenständliche, vorprädikative Evidenz bekommt aber sein Schwergewicht und seine volle Bedeutung erst mit der Feststellung, daß dieses Fundierungsverhältnis nicht nur die Urteile aufgrund der Erfahrung betrifft, sondern jedes mögliche evidente prädikative Urteil überhaupt, und damit auch die Urteile des Logikers selbst mit ihren apodiktischen Evidenzen, die doch den Anspruch erheben, "ansich" zu gelten und ohne Rücksicht auf ihre mögliche Anwendung auf einen bestimmten Bereich von Substraten. Es wird zu zeigen sein, daß auch sie keine freischwebenden "Wahrheiten ansich" zum Inhalt haben, sondern daß sie in ihrem Anwendungsbereich bezogen sind auf eine "Welt" von Substraten, und daß sie damit selber letztlich zurückverweisen auf die Bedingungen einer möglichen gegenständlichen Evidenz, in der diese Substrate gegeben sind (vgl. § 9). Sie ist die ursprüngliche Evidenz, das heißt diejenige, die vorliegen muß, wenn die fertig vorliegenden Aussagesätze zu Erkenntniserwerben macht und ihren Anspruch auf Erkenntnis begründet, ist also nicht ihne selbst anzusehen. Es bedarf dazu des Rückgangs auf die Weise der Vorgegebenheit der Gegenstände des Urteilens, ihre Selbstgegebenheit oder Nichtselbstgegebenheit, als die Bedingung der Möglichkeit für eine gelingende Erkenntnisleistung, die jedem in seiner logisch-formalen Beschaffenheit noch so untadeligen Urteilen und Urteilszusammenhang (z. B.. einem Schluß) gestellt ist.

So ergeben sich für die Problematik der Evidenz zwei Stufen von Fragen: die eine betrifft die Evidenz der vorgebenen Gegenstände selbst, bzw. ihre Bedingungen in der Vorgegebenheit, die andere das auf dem Grund der Evidenz der Gegenstände sich vollziehende evidente prädikative Urteilen. Die formale Logik fragt nicht nach diesen Unterschieden in der Weise der Vorgegebenheit der Gegenstände. Sie fragt nur nach den Bedingungen evidenten Urteilens, aber nicht nach den Bedingungen einer evidenten Gegebenheit der Gegenstände des Urteilens. Sie betritt nicht die erste der beiden Stufen möglicher Fragerichtungen, ebensowenig wie sie bisher von der Psychologie mit ihren subjektiven Rückfragen betreten wurde. Für die phänomenologische Aufklärung der Genesis des Urteilens ist aber diese Rückfrage nötig; sie macht es erst sichtbar, was hinzukommen muß über die Erfüllung der formal-logischen Bedingungen möglicher Evidenz hinaus, damit das Urteilen als eine Tätigkeit, die ihrem Wesen nach auf Erkenntnis, auf Evidenz gerichtet ist, wirklich dieses sein Ziel erreichen kann. Für sie hat die Frage nach der evidenten Gegebenheit der Gegenstände des Urteilens, der Denkinhalte, als der Voraussetzung jeglicher Urteilsevidenz, sowohl der des geradehin Urteilenden als auch der auf die Formgesetzlichkeiten dieses Urteilens bezüglichen Evidenzen des Logikers selbst, den Vorrang. Gegenständliche Evidenz ist die ursprünglichere, weil die Urteilsevidenz erst ermöglichende, und die Ursprungserklärung des prädikativen Urteils muß verfolgen, wie sich auf gegenständliche Evidenz das evidente prädikative Urteilen aufbaut; und das zunächst für die primitivsten Leistungen prädikativen Urteilens.


§ 5. Der Rückgang von der Urteilsevidenz
auf gegenständliche Evidenz


a) Bloßes Urteilen als intentionale Modifikation
evidenten Urteilens.

Aber die Gegenüberstellung von gegenständlicher Evidenz, Evidenz der Gegebenheit der Urteilssubstrate, und Urteilsevidenz selbst genügt in dieser Allgemeinheit noch nicht, um zu verstehen, wo solche ursprüngliche Evidenz zu suchen ist, welcher Art sie ist, und was eigentlich der Sinn dieser Ursprünglichkeit ist. Es bedarf dazu eines Rückgangs in mehreren Stufen, um wirklich zu letztursprünglichen gegenständlichen Evidenzen zu gelangen, die dann den notwendigen Ausgangspunkt für jede Ursprungserklärung des Urteils bilden müssen.

Zunächst sind uns ja die Aussagen vorgegeben, die Gebilde als prätendierte Erkenntnisse. Solange wir bei der Betrachtung der Urteile hinsichtlich ihrer bloßen Form bleiben, sind sie uns in gleicher Ursprünglichkeit vorgegeben, ob es sich dabei um wirkliche Erkenntnis oder um bloß prätendierte, bloße Urteile handelt, und wohl in viel größerem Maß um bloße Urteile. Auch in den mythischen ersten Anfängen des Erkennens geht ja das mannigfaltigste Urteilen aus der Tradition jeder Form mit dem wirklich erkennenden Urteilen Hand in Hand, dieses an Fülle weit überragend. Aber sobald wir dieses mannigfach vorgegebene Urteilen verschiedenster Form nach dem Unterschied von Evidenz, wirklicher Erkenntnis und Nichtevidenz, bloß prätendierter Erkenntnis, bloßem Urteil befragen, genügt es nicht mehr, die vorgegebenen Urteil bloß auf ihre Form anzusehen, sie dazu bloß lesend nachzuverstehen, eigentlich urteilend nachzuurteilen; sondern wir müssen sie dazu hinsichtlich der Erkenntnisakte nachvollziehen, in denen sie als ursprüngliche Erkenntnisergebnisse geworden sind und jederzeit in Wiederholung neu werden können - werden als dieselben, die schon geworden sind und doch im "wieder" ursprünglich werden. Suchen wir so die phänomenologische Genesis der Urteile in der Ursprünglichkeit ihrer Erzeugung auf, so zeigt sich, daß bloßes Urteilen eine intentionale Modifikation von erkennenden Urteilen ist. Ein ursprünglich evident erzeugtes Urteil, eine Erkenntnis, die einmal in Einsichtigkeit ursprünglich erworben wurde, kann ja jederzeit uneinsichtig, wenn auch in Deutlichkeit reproduziert werden (8). Denken wir etwa an das erstmalige verständnisvolle Nachvollziehen eines mathematischen Lehrsatzes und sein nachheriges "mechanisches" Reproduzieren. So gilt es allgemein, daß ansich betrachtet in jedem Bewußtseins-Ich Erkenntnisse, zunächst Erkenntnisse niederster Stufe, dann höherer vorangegangen sein müssen, damit in ihrer Folge bloße Urteile möglich werden. Das sagt nicht, daß bloß Urteile in jedem Fall Erinnerungsniederschläge derselben Urteile als Erkenntnisurteile sind - auch widersinnige Einfälle, die, im Moment geglaubt, als Urteile auftreten, sind intentionale Umwandlungen vorgängiger Erkenntnisse, in welcher intentionalen Mittelbarkeit auch immer. So sind die unmittelbaren Urteile, gedacht als in der Unmittelbarkeit der erkennend genannten Erzeugungsweise stehend, die ursprünglichsten in der Welt des Urteilens, und zwar zunächst eines jeden einzelnen Urteilssubjekts.

Man sieht hier bereits, in welchem Sinn es sich um Fragen der Genesis handeln wird. Es ist nicht die erste (historische und im Individuum selbst in entsprechendem Sinn historische) Genesis, und nicht eine Genesis der Erkenntnis in jedem Sinn, sondern diejenige Erzeugung, durch die, wie Urteil, so Erkenntnis in ihrer Ursprungsgestalt, der der Selbstgegebenheit, entspringt - eine Erzeugung, die beliebig wiederholt immer wieder Dasselbe, dieselbe Erkenntnis ergibt. Erkenntnis ist eben wie Urteil, Geurteiltes als solches, kein reelles Moment des erkennenden Tuns, das in der Wiederholung Desselben nur ein immer wieder Gleiches wäre, sondern ein in der Art "Immanentes", daß es in der Wiederholung selbstgegeben ist als Identisches der Wiederholungen. Mit einem Wort: es ist nicht reelle oder individuell Immanentes, sondern irreal Immanentes, Überzeitliches.


b) Mittelbare und unmittelbare Evidenzen und die
Notwendigkeit des Rückgangs auf die schlicht
unmittelbaren Erkenntnisse.

Haben wir so innerhalb der uns vorgegebenen Mannigfaltigkeit der Urteile die evidenten, in ursprünglicher Evidenz im Wieder nachvollziehbaren von den nicht evidenten und nicht zur Evidenz zu bringenden geschieden, so genügt es noch nicht, aus der Zahl der evidenten Urteile ein beliebiges Exempel zu wählen, um an ihm das Entspringen prädikativer Evidenz aus gegenständlicher, vorprädikativer Evidenz zu studieren. Vielmehr stehen ja auch die evidenten Urteile unter dem Gegensatz der Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit. Die mittelbaren, z. B. die Konklusion eines Schlusses, sind Ergebnisse von Begründungen, die auf unmittelbare Erkenntnis zurückleiten. Sie sind nur wirklich als Erkenntnis aktuell, wenn der ganze Begründungszusammenhang als synthetisch einheitlicher Einheit einer aktuellen Erkenntnis ist. Nur in ihr entspringt für das mittelbar Begründete selbst ein Charakter ihm aktuell zukommender, aber eben mittelbar zukommender Erkenntnis, so daß die mittelbaren Erkenntnisse nicht für sich mit ihrem Erkenntnischarakter erzeugbar sind. Ein Folgesatz kann nur zur Evidenz (und das besagt hier: zur Evidenz der Wahrheit, nicht zur bloßen Evidenz der Deutlichkeit) gebracht werden, wenn auch die Prämissen zur Evidenz zu bringen sind und gebracht werden. So ist es also nicht beliebig, welcher Art die evidenten Urteile sind, die wir heranziehen müssen, wenn wir die Fundierung der Urteilsevidenz in gegenständlicher Evidenz verfolgen wollen. Von mittelbaren Urteilsevidenzen, mittelbaren Erkenntnissen führt kein direkter Weg zu den sie fundierenden gegenständlichen Evidenzen, da sie ja selbst ihrerseits noch in anderen, den unmittelbaren Erkenntnissen fundiert sind. Bevor wir die Formen mittelbarer Erkenntnisse und Erkenntnisbegründungen studieren können, müssen wir also zunächst die der unmittelbaren, der schlichtesten Erkenntnisse, bzw. Erkenntnisaktivitäten studieren. Sie sind in der Erkenntnisgenesis, in der Formbildung der Erkenntniserzeugung die ursprünglichsten. Das heißt, es sind Leistungen, die schon vollzogen sein müssen, wenn die mittelbaren möglich werden sollen. Und sie sind offenbar in ihrer Form nach einfachen Urteilen zu suchen, in denjenigen also, die nicht schon durch ihre Form, z. B. Form des Folgesatzes, sich als von anderen Urteilen abhängig erweisen hinsichtlich ihrer möglichen Begründung und Evidentmachung.


c) Die unmittelbaren "letzten" Urteile bezogen auf
Individuen als letzte Gegenstände-worüber
(letzte Substrate)

Aber auch das genügt noch nicht, daß wir auf die ihrer Form nach schlichten und unmittelbaren Urteile zurückgehen. Nicht jedes beliebige Urteil solcher einfacher Formen kann in gleicher Weise dazu dienen, um an ihm die Fundierung der Urteilsevidenz in gegenständlicher Evidenz zu verfolgen und zu verstehen, was eigentlich unter dem Titel gegenständlicher Evidenz zum Problem steht. Es betrifft die Weise der Vorgegebenheit der Urteilssubstrate. Aber Urteilssubstrat, Gegenstand-worüber kann alles und jedes, jedes Etwas überhaupt werden; der formale Charakter der logischen Analytik beruth ja gerade darin, daß sie nach der materialen Beschaffenheit des Etwas nicht fragt, daß für sie die Substrate nur hinsichtlich der kategorialen Form, die sie im Urteil annehmen (Subjektform, Prädikatform usw.), in Betracht kommen, im Übrigen aber ganz unbestimmt gelassen bleiben, symbolisch angedeutet als das S, das p, was nichts anderes besagt als beliebig auszufüllende Leerstellen. Zum Beispiel die Form des kategorischen Urteils und des näheren des adjektivisch bestimmenden sagt nichts darüber, ob Urteilssubjekt und Urteilsprädikat nicht selbst schon kategoriale Formen in ihrem Kern enthalten; das Subjekt S, als Form verstanden, besondert sich formal ebensogut durch einen noch unbestimmten Gegenstand S wie durch "S, welches a ist", S, welches b ist" oder "S, welches in Relation zu Q steht" usw. So lassen es auch die einfachen Urteilsformen wie "S ist p" bei der Unbestimmtheit, in der die Formalisierung die Termini beläßt, in der Vereinzelung durch wirkliche Urteile offen, ob sie in der Tat unmittelbar auf Formung von letzten Substraten zurückgehende Formen sind, oder ob sie nicht anstelle der Termini schon Gegenstände-worüber enthalten, die ihrerseits selbst schon kategoriale Gebilde sind, und das heißt solche, die auf ein früheres Urteil verweisen, in dem ihnen diese Formbildungen zugewachsen sind. Der Begriff des Gegenstandes, als Etwas überhaupt, als mögliches Urteilssubstrat überhaupt genügt also in der formalen Leerheit, in der er von der formalen Logik gebraucht wird, nicht, um uns schon an ihm das studieren zu lassen, was wir gegenständliche Evidenz im Gegensatz zur Urteilsevidenz nennen. Denn solche kategorialen Formungen, attributive etwa, wie sie bereits im Urteilsgegenstand enthalten sein können, verweisen ja zurück (und wie, das wird später zu verfolgen sein) auf frühere Urteile, in denen ursprünglich prädikativ diesem Gegenstand dieses Attribut zugesprochen wurde, verweisen also auf eine Evidenz, die ihrerseits selbst schon Urteilsevidenz ist. Wollen wir also in den Bereich gelangen, in dem so etwas wie gegenständliche Evidenz im Gegensatz und als Voraussetzung von Urteilsevidenz möglich ist, so müssen wir innerhalb der möglichen Urteilsgegenstände, Urteilssubstrate selbst noch unterscheiden zwischen solchen, die selber schon Niederschläge früheren Urteilens mit kategorialen Formen an sich tragen, und solchen, die wirklich ursprüngliche Substrate, erstmalig in das Urteil als Substrate eintretende Gegenstände sind, letzte Substrate. Nur sie können es sein, an denen sich zeigen läßt, was ursprüngliche gegenständliche Evidenz im Gegensatz zur Urteilsevidenz ist.

Was kann in Bezug auf letzte Substrate eine evidente Gegebenheit besagen? Die formale Logik kann über ein letztes Substrat nichts weiter aussagen, als daß es ein kategorial noch gänzlich ungeformtes Etwas ist, ein Substrat, das noch nicht in ein Urteil eingetreten ist und in ihm eine Formung angenommen hat, das so, wie es evident, als es selbst gegeben ist, erstmalig Urteilssubstrat wird. Darin liegt aber zugleich, daß ein solches Substrat nur ein individueller Gegenstand sein kann. Denn jede, auch die primitivste Allgemeinheit und Mehrheit weist schon zurück auf ein Zusammennehmen mehrerer Individuen und damit auf eine mehr oder weniger primitive logische Aktivität, in der die Zusammengenommenen bereits eine kategoriale Formung, eine Allgemeinheitsformung erhalten. Ursprüngliche Substrate sind also Individuen, individuelle Gegenstände; jedes erdenklich Urteil hat letztlich eine Beziehung auf individuelle Gegenstände, wenn auch vielfältig vermittelt. Sind Allgemeingegenständlichkeiten seine Substrate, so weisen diese ja letztlich selbst wieder zurück auf eine Allgemeinheitserfassung, die sich eben auf eine Mehrheit von vorgegebenen Individuen erstreckt. Das gilt schließlich auch für die ganz unbestimmten, formal-analytischen Allgemeinheiten; denn die aus sie bezüglichen Wahrheiten sind eben Wahrheiten für einen beliebig offenen Umfang individueller Gegenstände, haben auf ihn Anwendung.


§ 6. Erfahrung als Evidenz individueller Gegenstände.
Theorie der vorprädikativen Erfahrung als erstes
Stück der genetischen Urteilstheorie

Die Frage nach dem Charakter der gegenständlichen Evidenz ist also eine Frage nach der evidenten Gegebenheit von Individuen. Und Evidenz von individuellen Gegenständen macht im weitesten Sinn den Begriff der Erfahrung aus (9). Erfahrung im ersten und prägnantesten Sinn ist somit als direkte Beziehung auf Individuelles definiert. Daher sind die ansich ersten Urteile als Urteile mit individuellen Substraten, Urteile über Individuelles, die Erfahrungsurteile. Die evidente Gegebenheit von individuellen Gegenständen der Erfahrung geht ihnen voran, d. h. ihr vorprädikative Gegebenheit. Die Evidenz der Erfahrung wäre sonach die von uns gesuchte letztursprüngliche Evidenz und damit der Ausgangspunkt der Ursprungserklärung des prädikativen Urteils. Theorie der vorprädikativen Erfahrung, eben derjenigen, die die ursprünglichsten Substrate in gegenständlicher Evidenz vorgibt, ist das ansich erste Stück der phänomenologischen Urteilstheorie. Beim vorprädikativen Erfahrungsbewußtsein hat die Untersuchung einzusetzen und von ihm aus aufsteigend das Entspringen der höherstufigen Evidenzen zu verfolgen.

Dabei ist der Begriff der Erfahrung so weit zu fassen, daß darunter nicht nur die Selbstgebung individuellen Daseins schlechthin verstanden ist, also die Selbstgebung der Seinsgewißheit, sondern auch die Modalisierung dieser Gewißheit, die sich in Vermutlichkeit, Wahrscheinlichkeit usw. wandeln kann; ja nicht nur dies, sondern auch die Erfahrung im Modus des Als ob, die Gegebenheit von Individuellen in der Phantasie, die in einer entsprechenden, frei möglichen Einstelungsänderung zur positionalen Erfahrung eines möglichen Individuellen wird.

Indessen genügt dieser allgemeine und noch mehr oder weniger leere Begriff der Erfahrung, wie er bisher gewonnen wurde, keineswegs, um den Sinn des geforderten Rückgangs zu verstehen und um insbesondere zu verstehen, inwiefern eine solche Ursprungserklärung, die die Fundierung der prädikativen Evidenzen in Erfahrungsevidenzen aufsucht, keine Frage psychologischer Genesis ist und es auch prinzipiell nicht sein kann. Überdies wird auch der Logiker noch genügend Einwände gegen diesen Rückgang bereit haben. Selbst wenn er eine Evidenz der Erfahrung zugeben und damit unsere Erweiterung des Evidenzbegriffs für zulässig ansehen sollte, wird ihm doch naturgemäß die Urteilsevidenz als die bessere erscheinen, als diejenige, bei der erst von Wissen und Erkenntnis im eigentlichen Sinn die Rede sein kann. Was soll da der Rückgang aus dem Bereich der Episteme in denjenigen der Doxa, in einen Bereich vager Erfahrung mit ihrem "trügerischen Schein"? Bleibt nicht das prädikative Urteilen allein der Sitz des Wissens, der echten und eigentlichen Evidenz? Selbst wenn man der Erfahrung eine Art von Evidenz zuspricht und zugibt, daß sie der prädikativen Evidenz genetisch voranliegt, ist ihre Evidenz nicht von geringerer Güte? Was soll dann eine Ursprungserklärung des Urteils leisten, die von seiner Evidenz zurückgeführ in eine Dimension von offenbar geringerem Rang? Wie soll das Wesen des Besseren durch einen Rückgang auf das Geringere geklärt werden können?


§ 7. Welt als universaler Glaubensboden für jede
Erfahrung einzelner Gegenstände vorgegeben.

Um alle diese Fragen zu beantworten, bedarf es einer noch tieferen Einsicht in Wesen und Struktur der vorprädikativen Erfahrung. Knüpfen wir dazu an schon Gesagtes an. Der Begriff der Erfahrung als Selbstgebung individueller Gegenstände wurde so weit gefaßt, daß nicht nur die Selbstgebung individueller Gegenstände im Modus der schlichten Gewißheit darunter fällt, sondern auch die Modifikationen dieser Gewißheit, ja auch die Als-ob-Modifikationen wirklicher Erfahrung. Ist das auch alles mit einbezogen in den Begriff der Erfahrung, so hat doch die Erfahrung in der Seinsgewißheit eine besondere Auszeichnung. Nicht nur, daß sich jedes Phantasieerlebnis, jede Als-ob-Modifikation der Erfahrung eben als Modifikation, als Abwandlung und Umbildung früherer Erfahrungen gibt und genetisch auf sie zurückweistf, auch die Modalisierungen der schlichten Glaubensgewißheit in Vermutlichkeit, Wahrscheinlichkeit usw. sind Modifikationen eines ursprünglichen schlichten Glaubensbewußtseins, in dem zunächst alles Seiende der Erfahrung für uns einfach vorgegeben ist - solange nicht der weitere Verlauf der Erfahrung eben Anlaß zum Zweifel, zur Modalisierung jeder Art gibt. Vor jedem Einsatz einer Erkenntnistätigkeit sind schon immer Gegenstände für uns da, in schlichter Gewißheit vorgegeben. Jeder Anfang des erkennenden Tuns setzt sie schon voraus. Sie sind für uns da in schlichter Gewißheit, d. h. als vermeintlich seiend und so seiend, als uns vor der Erkenntnis schon geltende, und das in verschiedener Weise. So sind sie als schlicht vorgegebener Ansatz und Anreiz für die Erkenntnisbetätigung, in der sie Form und Rechtscharakter erhalten, zum durchgehenden Kern von Erkenntnisleistungen werden, deren Ziel heißt "wahrhaft seiender Gegenstand", Gegenstand, wie er in Wahrheit ist. Vor dem Einsatz der Erkenntnisbewegung haben wir "vermeinte Gegenstände", schlicht in Glaubensgewißheit vermeint; solange bis der weitere Verlauf der Erfahrung oder die kritische Tätigkeit des Erkennens diese Glaubensgewißheit erschüttern, sie in "nicht so, sondern anders", in "vermutlich so" usw. modifiziert, oder auch den vermeinten Gegenstand als "wirklich so seiend" und "wahrhaft seiend" in seiner Gewißheit bestätigt. Wir können auch sagen: vor jeder Erkenntnisbewegung liegt schon der Gegenstand der Erkenntnis als Dynamis, die zur Entelechie werden soll. Mit dem Voranliegen ist gemeint: er affiziert als im Hintergrund in unser Bewußtseinsfeld tretender, oder auch: er ist schon im Vordergrund, er ist sogar schon erfaßt, weckt aber erst dann das gegenüber allen anderen Interessen der Lebenspraxis ausgezeichnete "Erkenntnisinteresse". Dem Erfassen aber liegt immer die Affektion voran, die kein Affizieren eines isolierten einzelnen Gegenstandes ist. Affizieren heißt Sichherausheben aus der Umgebung, die immer mit da ist, das Interesse, eventuell das Erkenntnisinteresse auf sich Ziehen. Die Umgebung ist mit da als ein Bereich der Vorgegebenheit, einer passiven Vorgegebenheit, das heißt einer solchen, die ohne jedes Zutun, ohne Hinwendung des erfassenden Blickes, ohne alles Erwachen des Interesses immer bereits da ist. Diesen Bereich passiver Vorgegebenheit setzt alle Erkenntnisbetätigung, alle erfassende Zuwendung zu einem einzelnen Gegenstand voraus; er affiziert aus seinem Feld heraus, er ist Gegenstand, Seiendes unter anderem, schon vorgegeben in einer passiven Doxa, in einem Feld, das selbst eine Einheit passiver Doxa darstellt. Wir können auch sagen, aller Erkenntnisbetätigung voran liegt als universaler Boden eine jeweilige Welt; und das besagt zunächst, ein Boden universalen passiven Seinsglaubens, den jede einzelne Erkenntnishandlung schon voraussetzt. Alles, was als seiender Gegenstand Ziel der Erkenntnis ist, ist Seiendes auf dem Boden der selbstverständlich als seiend geltenden Welt. Einzelnes vermeintlich Seiendes in ihr mag sich als nicht seiend herausstellen, Erkenntnis mag im einzelnen eine Korrektur von Seinsmeinungen bringen; aber das heißt nur, daß es statt so anders ist, anders aus dem Boden der einer im Ganzen seienden Welt.

Dieser universale Boden des Weltglaubens ist es, den jede Praxis voraussetzt, sowohl die Praxis des Lebens als auch die theoretische Praxis des Erkennens. Das Sein der Welt im Ganzen ist die Selbstverständlichkeit, die nie angezweifelt und nicht selbst erst durch eine urteilende Tätigkeit erworben ist, sondern schon die Voraussetzung für alles Urteilen bildet. Weltbewußtsein ist Bewußtsein im Modus einer Glaubensgewißheit, nicht durch einen im Lebenszusammenhang eigens auftretenden Akt der Seinssetzung, der Erfassung als daseiend oder gar des prädikativen Existenzialurteils erworben. All das setzt schon Weltbewußtsein in Glaubensgewißheit voraus. Erfasse ich in Sonderheit in meinem Wahrnehmungsfeld, z. B. auf ein Buch auf dem Tisch hinsehend, irgendein Objekt, so erfasse ich ein für mich Seiendes, das schon vorher für mich seiend, schon "dort" war, "in meinem Studierzimmer", auch wenn ich noch nicht darauf gerichtet war; ebenso wie dieses ganze Studierzimmer, das jetzt im Wahrnehmungsfeld vertreten ist, mit allen wahrnehmungsmäßig abgehobenen Gegenständen schon für mich war, in eins mit der ungesehenen Seite des Zimmers und seinen vertrauten Sachen, mit dem Sinn "Zimmer meiner Wohnung" in der vertrauten Straße, Straße in meinem Wohnort usw. So affiziert alles Seiende, das uns affiziert, auf dem Boden der Welt, es gibt sich uns als vermeintlich Seiendes; und Erkenntnistätigkeit und Urteilstätigkeit gehen darauf, es zu prüfen, ob es als das, wie es sich gibt, wie es vorweg vermeint ist, wahrhaft ist und wahrhaft ein so und so Seiendes ist. Welt als seiende Welt ist die universale passive Vorgegebenheit aller urteilenden Tätigkeit, alles einsetzenden theoretischen Interesses. Und wenn es auch die Eigenart des sich konsequent auswirkenden theoretischen Interesses ist, daß es letztlich auf eine Erkenntnis der Allheit des Seienden, und das heißt hier der Welt, gerichtet ist, so ist dies doch bereits ein Späteres. Welt als Ganzes ist immer schon passiv in Gewißheit vorgegeben, und genetisch ursprünglicher als die Richtung auf ihre Erkenntnis als Ganzes ist die auf einzelnes Seiendes, es zu erkennen - sei es, daß es in seinem Sein oder Sosein zweifelhaft geworden ist und der kritischen Prüfung durch ein erkennendes Tun bedarf, sei es, daß es, in seinem Sein unzweifelhaft, für die Zwecke einer Praxis nach einer eingehenden Betrachtung verlangt.


§ 8. Die Horizontstruktur der Erfahrung; typische Vorbekanntheit jedes einzelnen Gegenstandes der Erfahrung.

Daß aber jede Erfassung eines einzelnen Gegenstandes und jede weitere Betätigung der Erkenntnis sich auf dem Boden der Welt abspielt, besagt noch mehr als das Angewiesensein der Erkenntnistätigkeit auf einen Bereich des in passiver Gewißheit Vorgegebenen. Niemals vollzieht sich eine Erkenntnisleistung an individuellen Gegenständen der Erfahrung so, als ob diese erstmalig vorgegeben wären als noch gänzlich unbestimmte Substrate. Welt ist für uns immer schon eine solche, in der bereits Erkenntnis in der mannigfaltigsten Weise ihr Werk getan hat; und so ist es zweifellos, daß es keine Erfahrung im erstmals-schlichten Sinn einer Dingerfahrung gibt, die, erstmalig dieses Ding erfassend, in Kenntnis nehmend, nicht schon von ihm mehr "weiß", als dabei zur Kenntnis kommt. Jede Erfahrung, was immer sie im eigentlichen Sinne erfährt, als es selbst zu Gesicht bekommt, hat eo ipso [schlechthin - wp], hat notwendig ein Wissen und Mitwissen hinsichtlich eben dieses Dings, nämlich von solchem ihm Eigenen, was sie noch nicht zu Gesicht bekommen hat. Dieses Vorwissen ist inhaltlich bestimmt oder unvollkommen bestimmt, aber nie vollkommen leer, und wenn es nicht mitgelten würde, wäre die Erfahrung überhaupt keine Erfahrung von genau diesem Ding. Jede Erfahrung hat ihren Erfahrungshorizont; jede hat ihren Kern wirklicher und bestimmter Kenntnisnahme, hat ihren Gehalt an unmittelbar selbstgegebenen Bestimmtheiten, aber über diesen Kern bestimmten Soseins hinaus, des eigentlich als "selbst da" Gegebenen hinaus, hat sie ihren Horizont. Darin liegt: jede Erfahrung verweist auf die Möglichkeit, und vom Ich her eine Ver-möglichkeit, nicht nur das Ding, das im ersten Erblicken Gegebene, nach dem dabei eigentlich Selbstgegebenen schrittweise zu explizieren, sondern auch weiter und weiter neue Bestimmungen von demselben erfahrend zu gewinnen. Jede Erfahrung ist auszubreiten in eine Kontinuität und explikative Verkettung von Einzelerfahrungen, synthetisch einig als eine einzige Erfahrung, eine offen endlose von Demselben. Ich mag für meine jeweiligen Zwecke am wirklich schon Erfahrenen genug haben, aber dann "breche ich eben ab" mit einem "es ist genug". Ich kann mich aber überzeugen, daß keine Bestimmung die letzte ist, daß das wirkliche Erfahrene noch immer, endlos, einen Horizont möglicher Erfahrung hat von Demselben. Und dieser in seiner Unbestimmtheit ist im voraus in Mitgeltung als ein Spielraum von Möglichkeiten, als einen Gang der Näherbestimmung vorzeichnend, die erst in der wirklichen Erfahrung für die bestimmte Möglichkeit entscheidet, sie verwirklichend gegenüber anderen Möglichkeiten.

So hat jede Erfahrung von einem einzelnen Ding ihren Innenhorizont; und "Horizont" bedeutet hierbei die wesensmäßig zu jeder Erfahrung gehörige und von ihr untrennbare Induktion in jeder Erfahrung selbst. Das Wort ist nützlich, da es vordeutet (selbst eine "Induktion") auf die Induktion im gewöhnlichen Sinn einer Schlußweise und darauf, daß diese letztlich bei ihrer wirklich verstehenden Aufklärung zurückführt auf die originale und ursprüngliche Antizipation. Von dieser aus muß also eine wirkliche "Theorie der Induktion" (um die man sich so viel und so vergeblich bemüht hat) aufgebaut werden. Doch das sei an dieser Stelle nur nebenbei gesagt, uns kommt es hier nur auf die Horizontstruktur der Erfahrung an.

Diese ursprüngliche "Induktion" oder Antizipation erweist sich als ein Abwandlungsmodus ursprünglich stiftender Erkenntnisaktivitäten, von Aktivität und ursprünglicher Intention, also ein Modus der "Intentionalität", eben der über einen Kern der Gegebenheit hinausmeinenden, antizipierenden; aber hinausmeinend nicht nur in der Weise eines Antizipierens von Bestimmungen, die als sich herausstellende an diesem erfahrenen Gegenstand erwartet werden, sondern auch nach einer anderen Seite hinausmeinend auf die anderen mit ihm zugleich, wenn auch zunächst bloß im Hintergrund bewußten Objekte. Das heißt, jedes erfahrene Ding hat nicht nur einen Innenhorizont, sondern es hat auch einen offen endlosen Außenhorizont von Mitobjekten (also einen Horizont zweiter Stufe, bezogen auf den Horizont erster Stufe, sie implizierend), von solchen, denen ich zwar im Augenblick nicht zugewendet bin, denen ich mich aber jederzeit zuwenden kann als von dem jetzt erfahrenen verschiedenen oder ihnen in irgendeiner Typik gleichen. Aber bei aller antizipatorisch bewußten möglichen Verschiedenheit der anderen Objekte ist doch eines ihnen allen gemeinsam: alle jeweils zugleich antizipierten oder auch nur mit im Hintergrund als Außenhorizont bewußten Realen sind bewußt als reale Objekte (bzw. Eigenschaften, Relationen etc.) aus der Welt, als in dem einen raum-zeitlichen Horizont seiende.

Dies gilt zunächst unmittelbar für die Welt schlichter, sinnlicher Erfahrung (10), für die pure Natur. Es gilt aber mittelbar auch für alles Weltliche, das heißt auch für menschliche und tierische Subjekte als Subjekte der Welt, für Kulturgüter, Gebrauchsdinge, Kunstwerk usw. Alles Weltliche hat Anteil an der Natur. Die Naturalisierung des Geistes ist keine Erfindung der Philosophen - sie ist, wenn sie falsch gedeutet und verwertet wird, ein Grundfehler, aber eben nur dann. Aber sie hat ihren Grund und ihr Recht darin, daß mittelbar oder unmittelbar in der raum-zeitlichen Sphäre alles, was weltlich-real ist, seine Stelle hat; alles ist hier oder dort, und der Ort ist bestimmbar, wie es Orte überhaupt sind, ebenso wie alles raum-zeitlich ist, also zeitlich bestimmbar durch physikalische Instrumente, mögen es Sanduhren oder Pendeluhren oder sonstige Chronometer sein. Damit hat auch alles Unsinnliche an der Sinnlichkeit Anteil; es ist Seiendes aus der Welt, in einem raumzeitlichen Horizont Seiendes.

Existenz eines Realen hat sonach nie und nimmer einen anderen Sinn als Inexistenz, als Sein im Universum, im offenen Horizont einer Raum-Zeitlichkeit, dem Horizont schon bekannter und nicht bloß jetzt aktuell bewußter, aber auch unbekannter, möglicherweise zur Erfahrung und künftigen Bekanntheit kommender Realen. Die Einzelapperzeptionen machen einzelnes Reales bewußt, aber unweigerlich mit einem, wenn auch nicht thematisch werdenden Sinnbestand, der über sie, über den gesamten Bestand an einzelnen Apperzipierten hinausreicht. Im Fortgang von dem jeweiligen Bestand an gesetzten Einzelapperzeptionen zu einem neuen Bestand herrscht eine synthetische Einheit; das neu Apperzipierte besitzt gleichsam den vordem noch leeren, noch inhaltlich unbestimmten Horizont an Vorgeltung, den sinn-erfüllenden, der schon vorgezeichnet, aber noch nicht besondert und bestimmt ist. So ist ständig ein Geltungshorizont, eine Welt in Seinsgeltung, über das jeweils in Einzelheit und relativer Bestimmtheit Ergriffene und zur Geltung Gebrachte hinaus Antizipation in ständiger Bewegung der besondernden und bestätigenden Erfüllung.

Damit haftet jeder Einzelapperzeption, jedem jeweiligen Gesamtbestand an Einzelapperzeptionen eine Sinnestranszendenz an, einerseits im Hinblick auf die beständig antizipierte Potentialität möglicher neuer Einzelrealen und realer Gesamtgruppen als künftig im Gang der Verwirklichung des Ins-Bewußtsein-tretens aus der Welt zu erfahrender, andererseits auch als Innenhorizont in jedem schon auftretenden Realen hinsichtlich des Bestandes an noch nicht apperzipierten Merkmalen. Jedes in die Erfahrung als neu eintretende Reale steht im Welthorizont und hat als das seinen Innenhorizont. In der thematischen Wahrnehmung wird es bekannt, indem es sich während der Strecke des Erfahrens (wie weit sie jeweils auch reichen mag) als selbst da kontinuierlich darstellt, sich dabei in seine einzelnen Momente, seine Wasmomente auslegend; sie ihrerseits sind hierbei auch bewußt als sich selbst darstellende, aber eben mit dem Sinn solcher, in denen das Reale sich zeigt als das, was es ist. Auf die Struktur einer solchen Explikation werden wir bald ausführlich eingehen müssen. Alles, was sich so zeigt und schon vor der Explikatioin des Wahrgenommenen implizit da ist, gilt wesensmäßig als das vom Realen, was in dieser Wahrnehmung eigentlich zur Wahrnehmung kommt. Es selbst ist mehr als das jeweils zu aktueller Kenntnis Kommende und schon Gekommene: es ist mit dem Sinn, den ihm sein "Innenhorizont" ständig mitteilt; die gesehene Seite ist nur Seite, sofern sie ungesehene Seiten hat, die als solche sinnbestimmend antizipiert sind. Auf sie können wir uns jeweils thematisch richten, wir können nach ihnen fragen, wir können sie uns veranschaulichen; etwa nachdem die Wahrnehmung abgebrochen ist und aus dem Kennenlernen die Fortgeltung als erworbene und "noch lebendige" Kenntnis geworden ist (die Bekanntheit des Realen hinsichtlich des davon eigentlich bekannt Gewordenen), können wir uns im Voraus vorstellig machen, was weitere Wahrnehmung hätte bringen können und müssen als zum Realen selbst gehörig. Jede solche Vorveranschaulichung des "apriori" diesem Realen Zuzurechnenden hat aber die Wesenseigenheit unbestimmter Allgemeinheit. Das sagt: machen wir uns z. B. hinsichtlich der visuellen Rückseite eines Dings die visuelle Vorveranschaulichung, so gewinnen wir zwar eine vergegenwärtigende Anschauung (ähnlich wie eine Wiedererinnerung), aber nicht eine feste, eine uns individuell bindende Bestimmtheit, wie das bei einer Wiedererinnerung der Fall ist - beiderseits voll ausgebreitete Klarheit vorausgesetzt. Sowie wir wirklich zu innerer Bestimmtheit fortschreiten, wird uns die Willkür der sich ergebenden und nunmehr als Farbe eines Dings durchzuhaltenden Farben bewußt. Jede Vorveranschaulichung vollzieht sich in einer mitbewußten flüssigen Variabilität, im Bewußtsein Varianten fixieren zu können, z. B. als eine bestimmte Farbe, aber als freie Variante, für die wir ebensogut eine andere eintreten lassen könnten.

Andererseits ist die Willkür doch nicht schrankenlos. Im Schwanken der Vorveranschaulichung, im Übergang von einer Variante oder Richtung auf eine zeitweise festgehaltene zu einer anderen bleiben wir in der Einheit der Antizipation, nämlich derjenigen von der Farbe der Rückseite, die aber als Antizipation unbestimmt allgemein ist, in typischer Weise Bestimmtes als typisch Vorvertrautes antizipierend. In der Auslegung dieser typischen Allgemeinheit in Form bestimmter "Möglichkeiten", welche für das wirkliche Sein dieser Farbe offen sind, ergibt sich der Spielraum der Möglichkeiten als expliziter "Umfang" der unbestimmten Allgemeinheit der Antizipation. Indem das in Erfahrung tretende Ding nur einen Seinssinn hat als das eines jeweiligen Innenhorizontes, obgleich von ihm in faktische und eigentliche Kenntnis nur ein Kern von Washeiten getreten ist, hat das Ding, hat jedes Reale überhaupt als Erfahrbares sein allgemeines "Apriori", eine Vorbekanntheit, als unbestimmte, aber als ständig selbige identifizierbare Allgemeinheit eines apriorischen Typus, zugehörig einem Spielraum apriorischer Möglichkeiten. Offenbar umfaßt der Typus auch die in aktuelle Kenntnis getretenen Eigenheiten, wenn wir den Typus als totalen nehmen. Im Wandel des Eintretens und Heraustretens von Washeiten ist immerfort das Reale als Eines und Identifizierbares bewußt, und zu dieser Einheit gehört der Gesamttypus als Gesamthorizont der typischen Allgemeinheit, in den sich alles aktuell bekannt Werdende als besondere, mehr oder weniger vollkommen erfüllende Bestimmung einordnet. Was aber den Außenhorizont anlagt, der sinnbestimmend zu diesem, zum jeweiligen einzelnen Realen gehört, so liegt er im Bewußtsein einer Potenzialität möglicher Erfahrungen von einzelnen Realen: als von solchen, die je ihr eigenes Apriori haben als ihre Typik,, in der sie notwendig antizipiert sind, und die durch jede Erfüllung in Form dieser oder jener Möglichkeiten des invarianten Spielraums invariant bleibt. Alle Sondertypik, die der besonderen Realen (und Konstellationen von Realen), ist aber umspielt von einer Totalitätstypik, der zum ganzen Welthorizont in seiner Unendlichkeit gehörigen. Im Strömen der Welterfahrung, des konkret vollen Weltbewußtseins in seiner Jeweiligkeit, bleibt invariant der Seinssinn Welt und damit invariant der strukturelle Aufbau dieses Seinssinns aus invarianten Typen von Einzelrealitäten.

So ist eine Fundamentalstruktur des Weltbewußtseins, bzw. in korrelativer Prägung der Welt als Horizont aller erfahrbaren Einzelrealen, die Struktur der Bekanntheit und Unbekanntheit mit der ihr zugehörigen durchgängigen Relativität und der ebenso durchgängigen relativen Unterscheidung von unbestimmter Allgemeinheit und unbestimmter Besonderheit. Die horizonthaft bewußte Welt hat in ihrer ständigen Seinsgeltung den subjektiven Charakter der Vertrautheit im allgemeinen, als der im allgemeinen, aber darum doch nich in den individuellen Besonderheiten bekannte Horizont von Seienden. Auf alles zur Sondergeltung als Seiendes Kommende verteilt sich diese unbestimmt allgemeine Vertrautheit, jedes hat somit die seine als eine bekannte Form, innerhalb deren alle weiteren Unterschiede zwischen Bekanntheit und Unbekanntheit verlaufen.

Diese rohen Andeutungen müssen einstweilen genügen, damit wir einen Begriff vom Wesen und Leistung vorprädikativer Erfahrung bekommen, davon, was alles schon im Spiel ist bei der Erfahrung eines Gegenstandes, dieser anscheinenden Letztheit und Ursprünglichkeit eines primitiven Erfassens. Es zeigt sich, wie es einerseits richtig ist, daß der wahrhaft seiende Gegenstand erst Produkt unserer Erkenntnistätigkeit ist, wie aber doch für alle Erkenntnistätigkeit, wo immer sie einsetzt, dieses Produzieren des wahrhaft seienden Gegenstandes nicht besagt, daß sie ihn aus dem Nichts hervorbrächte, sondern wie gleichwohl immer schon Gegenstände vorgegeben sind, wie für uns immer schon im Voraus eine gegenständliche Umwelt vorgegeben ist. Von vornherein ist alles im Hintergrund Affizierende bewußt in einer "gegenständlichen Auffassung", antizipatorisch als das bewußt: das zu jedem Lebensmoment gehörige Wahrnehmungsfeld ist von vornherein ein Feld von "Gegenständen", die als solche aufgefaßt sind als Einheiten "möglicher Erfahrung" oder, was dasselbe ist, als mögliche Substrate von Kenntnisnahmen. Das heißt: was uns vom jeweil passiv vorgegebenen Hintergrundfeld her affiziert, ist nicht ein völlig leeres Etwas, irgendein Datum (wir haben kein rechtes Wort) noch ohne jeden Sinn, ein Datum absoluter Unbekanntheit. Vielmehr Unbekanntheit ist jederzeit zugleich ein Modus der Bekanntheit. Zumindest ist, was uns affiziert, insofern von vornherein bekannt, daß es überhaupt ein Etwas mit Bestimmungen ist; es ist bewußt in der leeren Form der Bestimmbarkeit, also mit einem Leerhorizont von Bestimmungen ("gewissen" unbestimmten, unbekannten) ausgestattet. Korrelativ hat die ihm zuteil werdende Auffassung von vornherein einen offenen Leerhorizont von (im "ich kann", "ich kann hingehen", "mir näher ansehen", es "herumdrehen" usw.) zu betätigenden Explikationen, natürlich "unbestimmt", "leer" antizipierten. Jedes Eingehen in wirkliche Explikation gibt dieser den intentionalen Charakter einer die Horizontintention (als Leerantizipation) erfüllenden, verwirklichenden; verwirklichend in bestimmten Schritten, wodurch aus den gewissen, unbekannten Bestimmungen die entsprechenden bestimmten und von nun ab bekannten werden.

Aber noch mehr. Nicht nur die allgemeine Auffassung als "Gegenstand", "Explikables überhaupt" ist dem entwickelten Bewußtsein von vornherein vorggezeichnet, sondern auch schon eine bestimmte Typisierung aller Gegenstände. Mit jedem neuartigen, (genetisch gesprochen) erstmalig konstituierten Gegenstand ist ein neuer Gegenstandstypus bleibend vorgezeichnet, nach dem von vornherein andere ihm ähnliche Gegenstände aufgefaßt werden. So ist unsere vorgegebene Umwelt schon als vielfältig geformte "vorgegeben", geformt nach ihren regionalen Kategorien, und nach vielerlei Sondergattungen, Arten usw. typisiert. Das sagt, daß das im Hintergrund Affizierende und im ersten aktiven Zugriff Erfaßte in einem viel weiter reichenden Sinn bekannt ist, daß es schon im Hintergrund passiv aufgefaßt ist nicht bloß als "Gegenstand", Erfahrbares, Explikables, sondern als Ding, als Mensch, als Menschenwerk und so in weitergehenden Sonderheiten. Es hat danach seinen Leerhorizont einer bekannten Unbekanntheit, der zu beschreiben ist als der Universalhorizont "Gegenstand" mit besonderen Einzeichnungen oder vielmehr Vorzeichnungen - nämlich für einen Stil zu vollziehender Explikation mit Explikaten entsprechenden Stiles. Dieser Horizont ist darum doch ein leerer, ein Horizont von Unbestimmtheiten, Unbekanntheiten als bestimmbaren, als zur Kenntnis und Bekanntheit zu bringenden. Freilich kann gelegentlich ein Affizierendes einer besonderen Typisierung entbehren, aber zumindest als Objekt, wenn es ein sinnliches Datum ist, als Raumobjekt, wird es erfaßt, und das selbst innerhalb der allgemeinsten und schlechthin notwendigen Form "Gegenstand überhaupt".
LITERATUR Edmund Husserl, Erfahrung und Urteil, Prag 1939
    Anmerkungen
    1) Vgl. dazu "Formale und transzendentale Logik", Halle a. d. Saale 1929 (im Folgenden kurz zitiert als "Logik"), I. Abschnitt, 4. und 5. Kapitel
    2) Logik, a. a. O., Seite 98
    3) Logik, a. a. O., Seite 95
    4) Zur Sinneserklärung der logischen Tradition vgl. Logik, Einleitung, § 11 und I. Abschnitt A.
    5) Vgl. ARISTOTELES, De interpretatione, 16a 19 und 17a 9.
    6) vgl. De interpretatione, a. a. O. und 21b 9.
    7) Zum Unterschied der Wahrheitslogik von einer bloßen Analytik der Spielregeln vgl. Logik, § 33, Seite 86f.
    8) Zur Evidenz der Deutlichkeit vgl. Logik § 16, a, Seite 49f.
    9) vgl. Logik, Seite 181f.
    10) Zum Unterschied schlichter und fundierter Erfahrung vgl. unten § 12.