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HINRICH KNITTERMEYER
Transzendent und Transzendental

"Bei Kant wird der über die Erfahrungsgrenze hinausreichende Gebrauch der Grundsätze des reinen Verstandes transzendental genannt. Dieser Gebrauch ist vielmehr ein Mißbrauch; als solcher darf er aber als transzendental bezeichnet werden, weil er durch die transzendentale Rechenschaftsablegung der Kritik als Mißbrauch enthüllt ist. Ein Grundsatz aber, der diese Schranken wegnimmt, ja gar sie zu überschreiten gebietet, heißt transzendent."

"Die Flucht in die via negationis des Irrationalen befreit auf keine Weise von der durchschauten Unzulänglichkeit der via positionis gegenüber dem alle Position übertreffenden Jenseitigen. Die Transzendenz vertritt nicht nur ein Anderes, sie ist nicht bloß die Transzendenz irgendeiner besonderen Sphäre, sie ist das Andere allen Sphären gegenüber, ja sie ist ein All der Realität, demgegenüber alle menschlich faßbare Allheit zu einer kläglichen Besonderheit wird."

Die religionsphilosophische Fragestellung begegnet solange keiner grundsätzlichen Schwierigkeit, als die Religion - ob ausdrücklich oder faktisch - in die "Grenzen der Humanität" oder in die "Grenzen der Vernunft" einbezogen erscheint. Solange daher Vernunft, Humanität, Kultur oder was man an deren Stelle zu setzen für gut findet, als Gesamtausdruck menschlicher Existenz und menschlicher Betätigung unangefochten in ihren Grenzen alle bestehenden oder etwa neu auftauchenden Spannungen und Widersprüche zur Entscheidung bringen darf, wird sich die Religionsphilosophie als eine Richtung, allenfalls als Wurzel oder Abschluß der Philosophie überhaupt zur Geltung zu bringen streben. Dabei wird es von der Gesamthaltung der Philosophie abhängen, wie sich im Besonderen das Problem der Religionsphilosophie stellen und gelöst werden wird.

In dem Augenblick aber, wo der Bestand der Humanität in seinen Grundlagen wankt und der Transzendenzanspruch der Religion eine zerbrochene Kultur mit "Offenbarungs"gewalt überkommt, ist die Naivität aller - auch der angeblich "kritischen" - Versuche einer rationalen Sinngebung der religiösen Wirklichkeit aufgedeckt. Und auch ein Sichzurückziehen ins Irrationale ist jenem "Anderen" gegenüber nur eine Ausflucht, die grundsätzlich ohne Bedeutung ist. Ob man nach einem "religiösen a priori" fahndet oder nach einer psychologischen Qualität, Gestalt oder Funktion, ob man konstruktiv oder "phänomenologisch", idealistisch oder empirisch verfährt, bleibt gleichgültig gegenüber der Unzulänglichkeit des "Jenseitigen" für jede wie immer geartete Erfassung.

Gewiß ist durch eine solche vorerst noch gänzlich ungeprüfte Agrenzung keiner der gekennzeichneten Wege einer Religionsphilosophie gänzlich des Gegenstandes entleert. Faktisch ist die Religion, auch wenn sie "substantiell" dem "Jenseits" zugehört, mannigfach in die humane Wirklichkeit verflochten. So wenig daher die Religionsgeschichte gegenstandslos wird, wenn sich zeigt, daß es Geschichte von Religion als Offenbarung nicht geben kann, so wenig wird die Religionsphilosophie gegenstandslos, da sie zumindest auf eben diese Religionsgeschichte bezogen werden darf. Nur können alle etwa so versuchten Lösungen immer nur die Frage nach dem Sinn der Humanität ermessen, nicht aber den in der Transzendenz sich bezeugenden wesentlichen Gehalt der Religion betreffen.

Aber diese zunächst sehr einfach erscheinende Abgrenzung hält einer ernsteren Erwägung nicht stand. Die scheinbar so selbstverständlich sich ergebende Selbstbeschränkung der Religionsphilosophie auf den Bereich der "in den Grenzen der Humanität" sich bezeugenden Auswirkungen der Religion und der damit gegebene Abweis aller über diese Grenze hinausgreifenden Ansprüche setzen ein Urteil über die wesentliche Jenseitigkeit der Religion voraus, das sich zwar auf das Wunder des Glaubens stützt, aber in jeder - auch negativen - philosophischen Auswertung ganz bestimmte sachliche und methodische Entscheidungen über eben diese Philosophie im Gefolge hat. Eine solche Relation des Transzendenten zum Immanenten führt für beide - jedenfalls aber für die Sinnerwägung im Bereich des Immanenten - die gefährlichsten Paradoxien mit sich. Der gar nicht "antiquierte" (so KEYSERLING) Konflikt zwischen "Glauben" und Wissen" bricht über den Voraussetzungen der gegenwärtigen Geisteshaltung mit derselben ungeminderten Schärfe auf, wie er die Geschichte der Transzendentalphilosophie und Theologie auch als formale Paradoxie offenbar. Dort sucht das Denken nach seiner transzendenten Verbürgung, hier verlangt der "Glaube" nach rationalen Symbolen, Gleichnissen, "Spuren" oder gar nach Beweisen und Sicherstellung.

Ist aus den Bedingungen unseres Denkens heraus eine Lösung oder auch nur Klärung dieser Paradoxie grundsätzlich möglich? Diese Frage stellt sich dem harten Existenzkampf unserer Zeit nicht aus irgendeinem spekulativen Überschwang heraus, sondern sie ist - gestellt oder nicht gestellt - unsere Existenzfrage selbst. Denn ein wie kaum je von der Autonomie der Humanität erfülltes Geschlecht sieht sich vor die es gänzlich überwältigende "Tatsache" der "Offenbarung" gestellt. Wie soll es sich in dieser Lage behaupten? Oder was wird in dieser Lage aus ihm? Das läßt sich zunächst nur fragen. Doch können wir uns der Verantwortung einer solchen Fragestellung nicht entziehen; wie wenig wir ihr auch gewachsen sein mögen.


KANT unterscheidet in der "Kritik der reinen Vernunft (352f) transzendental und transzendent auf eindeutige Weise. Der "über die Erfahrungsgrenze hinausreichende Gebrauch" der "Grundsätze des reinen Verstandes" wird transzendental genannt. Dieser "Gebrauch" ist vielmehr ein "Mißbrauch"; als solcher darf er aber als transzendental bezeichnet werden, weil er durch die transzendentale Rechenschaftsablegung der Kritik als Mißbrauch enthüllt ist. "Ein Grundsatz aber, der diese Schranken wegnimmt, ja gar sie zu überschreiten gebietet, heißt transzendent. Die Transzendenz mutet uns zu "alle jene Grenzpfähle niederzureißen und uns einen ganz neuen Boden, der überall keine Demarkation erkennt, anzumaßen". Dies, daß uns mit vollem Bewußtsein ein ganz neuer Boden zugemutet wird, trifft auf das Genaueste den Sinn von Transzendenz, wie er heute etwa von BARTH und GOGARTEN leidenschaftlich erneuert wird. Hier reißt die Transzendenz alle "Grenzpfähle" nieder, mit denen ein angeblich "kritisches" Bewußtsein ihr geordnete Bahnen abstecken möchte. Hier tritt die Transzendenz mit wuchtiger Anklage gegen alle rationalen Abschwächungen ihres entscheidenden Sinnes auf. Sie gibt sich ebensowenig mit der bloßen Umkehrung des Rationalismus zufrieden. Die Flucht in die via negationis des Irrationalen befreit auf keine Weise von der durchschauten Unzulänglichkeit der via positionis gegenüber dem alle Position übertreffenden Jenseitigen. Die Transzendenz vertritt nicht nur ein "Anderes", sie ist nicht bloß die Transzendenz irgendeiner "besonderen" Sphäre, sie ist das "Andere" allen Sphären gegenüber, ja sie ist ein "All der Realität", demgegenüber alle menschlich faßbare Allheit zu einer kläglichen Besonderheit wird. Keine menschenmögliche Verwirklichung oder Entwirklichung führt an die Schwelle dieser Überwirklichkeit, die doch alles gegensätzlich uns umfangende Leben überschattet.

Gleichwohl bleibt auch dieser Versuch, die gänzliche Unberührbarkeit des Transzendenten vom Menschen her zu behaupten, in der Dialektik der Gegensätzlichkeit stecken. BARTH spricht ausdrücklich im Gegensatz zur "dogmatischen" und "mystischen" von der "dialektischen" Methode, um freilich sogleich auch darin als echter Dialektiker sich zu bezeugen, daß er diese Methode als "Methode" wiederum preisgibt und ihre grundsätzliche Unzulänglichkeit dem in ihr Gemeinten gegenüber behauptet. Aber das ließe sich bis ins Unendliche fortsetzen, ohne daß man dem Zirkel der Dialektik zu entrinnen vermöchte. Entscheidend ist, daß sich BARTH faktisch auf der via dialectica bewegt und die Methode - zwar nicht einer Realisierung durch die Gegensätze hindurch, sondern - des sic et non [ja und nein - wp] befolgt. Nun kann aber das Alter dieser Methode gerade auf dem Gebiet der theologischen Erörterung nicht für die Mängel entschädigen, die sie mit jeder anderen gemein hat. Jedes sic et non, das einem sie beide überspannenden Transzendenten gegenüber ohne weiteres zum Sowohl - als auch wird, ermöglicht es, in immer neuen Abwandlungen die Übermacht des Transzendenten - zumindest in weitgreifenden Negationen - spürbar zu machen; ein Vorzug, von dem ja BARTH in ausgiebigem Maß Gebrauch macht. Aber der Gegensatz oder der Widerspruch als das Grundelement der Dialektik bleibt ein menschliches Werkzeug und gilt daher um nichts mehr als irgendein anderes menschliches Werkzeug.

Jüngst ist auf das gerade in dieser Hinsicht dialektische Gepräge der paulinischen Briefe hingewiesen (1). Und auch sonst wäre an Zeugnissen dafür kein Mangel, daß die dialektische Sprache den Spannungen großer Theologen, ja prophetischer Religionserneuerer zum Ausdruck hilft. Aber zwischen dem, was hier stattfindet und dem, was die Asketik des Transzendenzbewußtseins zu ihrer dialektischen Unterbauung bewegt, ist ein folgenschwerer Unterschied. Dort ist die Dialektik Äußerung einer Glaubensrealität, die - das ist bei PAULUS weithin der Fall - in einer überkommenen oder aus der Umwelt ihr entgegenwachsenden Sprache sich Luft macht und dabei nicht leicht den Ausschlag von Tod zu Leben und von Sünde zu Gnade verkürzen wird. Hier aber ist die Dialektik nur das Mittel, um den Horizont von aller menschlichen Bedingtheit frei zu machen und dann wie durch eine Zauberwort die "Offenbarung" oder gar "Jesus Christus" über der zerbrochenen Welt auferstehen zu lassen. Die Dialektik als Mittel, um die Transzendenz zu erzwingen, ist um nichts besser als irgendein anderes Mittel, löst im Gegenteil gerade durch die ihr innewohnende technische Überlegenheit schwerste Gefahren aus. Auch die neueste Wendung, die Transzendenz auf irgendeine menschliche Weise zu vermitteln und dann wohl gar die eben gemachten Ansprüche mit überlegener Selbsterkenntnis wieder preiszugeben, hilft über die grundsätzliche Aussichtslosigkeit jedes solchen Versuchs nicht hinweg.

Die "Philosophie" der Transzendenz, ob man sich ihrer thetisch, antithetisch oder dialektisch entledigt, ist in sich selbst widersprechend. Jedes Eingehen auf eine solche Methode schränkt die Religion in die Grenzen der Humanität ein, leistet also das, was um jeden Preis vermieden werden sollte, wo die Transzendenz ernst genommen wird.


Faktum jeder solchen Erörterung über die Möglichkeit oder Nichtmöglichkeit einer Erfassung des Transzendenten aber unterliegt selbst dem gleichen verhängnisvollen Widerspruch und zwingt uns, uns mit diesem schlichten Abweis nicht zu bescheiden.

Zuvörderst könnte man jedoch die Situation umkehren. Vielleicht führt uns diese Umkehrung der bisher beobachteten Fragestellung noch entscheidender auf den Sinn dieser "Paradoxie". Es ist auf den grundsätzlichen Unterschied des Transzendentalen und Transzendenten bislang nur einseitig hingewiesen. Führt nicht aber gerade ein volles "Ernstnehmen" des Transzendenten auf der anderen Seite zu einer wesentlichen Verschärfung der transzendentalen Aufgabe der Philosophie?

Es bleibt COHENs historisches Verdienst um die Kant-Erneuerung, daß er sie unter den Gesichtswinkel des Transzendentalen rückte. Gleichwohl stand bei ihm die Interpretation dieses Grundbegriffs der kantischen Philosophie unter einem zeitgeschichtlichen Vorurteil, in das die Gegenwart sich nicht mehr hineinschränken will und das den wirklichen Ansprüchen der Synthesis a priori KANTs nicht gerecht wird. COHEN sieht im Transzendentalen geradezu den Bezug der apriorischen Grundlegungen der Philosophie auf das "Faktum der Wissenschaften" verbürgt. Für die theoretische Philosophie meint er dafür die einwandfreien Zeugnisse KANTs beigebracht zu haben, während er in der Mißachtung der strengen "transzendentalen" Richtlinien gerade die grundsätzliche Schwäche seiner Ethik und Ästhetik aufdecken zu können glaubt. Wie jedoch der Begriff des Transzendentalen, über dessen historische Tragweite KANT nicht im Unklaren war, zu einer solchen Bedeutung kommen sollte, ist schlechterdings unbegreiflich. Wer KANTs Transzendentalphilosophie aufgrund dieser Definition des Transzendentalen durchdenkt, kommt bereits rein terminologisch in ein undurchdringliches Dickicht hinein (2). COHEN selbst stellt notgedrungen fest, daß vielerorts das "Transzendentale" statt des Wissenschaftskritischen das Metaphysische alten Schlags bedeutet. Daß KANT aber gerade den Begriff, in dem sich für ihn der Sinn des kritischen Philosophierens am innerlichsten ausprägt, in lässiger Doppeldeutigkeit gebraucht haben sollte, ist nicht weniger unbegreiflich. KANT, der bei der Einführung des Wortes "Idee" genaue Rechenschaft über sein terminologisches Verfahren gibt, hat im Transzendentalen unter keinen Umständen ein gegen dessen historischen Sinn gleichgültiges, nur ihm eigentümliches und wohl gar durch den Eindruck von NEWTONs Wissenschaft hervorgerufenes systematisches Motiv ausdrücken können. Er hat den historischen Begriff des Transzendentalen, wie er ihm, versteck und verkümmert freilch, in seinen Vorlesungshandbüchern noch begegnete, aufgenommen, um ihn aus dem Geist seiner Kritik umzuschaffen und aus seiner dogmatischen Verfestigung für eine neue geschichtliche Aufgabe zu befreien.

Wenn daher KANT gelegentlich den "transzendentalen" Idealismus ob seiner faktischen Mißverstandenheit durch den "kritische" zu ersetzen vorschlägt, so läuft das gewiß nicht auf eine Gleichsetzung von "transzendental" und "kritisch" hinaus. So eindeutig, wie er die Aufgabe der "Kritik" von der der "Transzendentalphilosophie" scheidet, gerade so eindeutig bleiben die Begriffe des "Kritischen" und des "Transzendentalen" geschieden. Die "Krisis" ist eine Reinigung. Sie ist der "wahre Gerichtshof für alle Streitigkeiten" der reinen Vernunft und sie ist im Besonderen das Gericht über eine ganz besondere Synthesis a priori aus bloßen Begriffen. Gerade als solche kann sie nur "Propädeutik [Vorschule - wp] zum System der reinen Vernunft" sein und weist aus sich selbst auf eine Aufgabe hin, für die sie nur die Voraussetzungen schafft. Diese Aufgabe aber ist im Begriff des "Transzendentalen" am weitgreifendsten und tiefgründigsten gestellt.
    "Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt. Ein System solcher Begriffe würde Transzendentalphilosophie heißen."
Die Tragweite dieses Satzes läßt sich am ehesten durch eine kurze historische Erinnerung erfassen. Der Terminus transzendental entstammt der mittelalterlichen Scholastik. Seine Wurzeln liegen in der augustinischen Übersetzung des plotinischen epekeina mit transcendere. Das plotinische epekeina aber geht auf den platonischen Staat zurück. Diese Entwicklungslinie, die sich terminologisch von PLATON bis zu KANT in unverletzter Kontinuität herstellen läßt, besteht auch begriffsgeschichtlich zu Recht (3).

Zwei Gesichtspunkte sind dabei vor allem auseinanderzuhalten und zusammenzuschauen. Das epekeina PLATONs steht als das ahypotheton den hypotheseis der einzelnen Erkenntnisansätze gegenüber. Ebenso ist in der mittelalterlichen Metaphysik das transcendens, d. h. die begriffliche Auszeichnung des unum, verum, bonum (um mich der Einfachheit halber auf diese gebräuchlichste Zahl der "Transzendentien" zu beschränken), das Überkategoriale, das alle Kategorien Durchwirkende. In den Kategorien kommen die allgemeinsten Gattungen des Gegenständlichen zu ihrer Bestimmung; das transcendens greift über diesen gegenständlichen Bezug hinaus; ihm wohnt keinerlei "determinierende" Kraft inne, soweit der "Gegenstand" in Frage steht. Wohl aber bringen die Transzendentien (nicht secundum rem, sondern secundum rationem) die immanenten Attribut aller Gegenstandserkenntnis zum Ausdruck.

Damit ist schon eine unmittelbare Beziehung zur kantischen Definition des Transzendentalen hergestellt. Wenn KANT im § 12 der Kr. d. r. V. unter Bezugnahme auf die scholastische Lehre - die ihm aber jedenfalls nur aus der zeitgenössischen Literatur bekannt war - die "vermeintlich transzendentalen Prädikate der Dinge" nur als "logische Erfordernisse und Kriterien aller Erkenntnis der Dinge überhaupt" gelten lassen will, so nimmt er damit tatsächlich den eigensten methodischen Sinn dieser Begriffsbildung auf der Höhe der Scholastik auf; obgleich man sich gewiß dessen bewußt bleiben muß, das der "Erkenntnis"begriff KANTs von dem der Scholastik grundsätzlich geschieden ist.

Das Motiv der "Kritik" betrifft die Revolution des Erkenntnisbegriffs. Das Motiv der Transzendentalphilosophie geht - auf der anderen Seite im Gegensatz zur Philosophie des "Gegenstands", zur "Metaphysik der Natur" und "der Sitten" - auf die innere Systematik der Erkenntnis des Gegenstandes überhaupt. Das bringt als "allgemeine Aufgabe" die Frage: "Wie sind synthetische Sätze a priori möglich?" zum Bewußtsein; und das führt im Verfolg dieser Aufgabe die "Verbindlichkeit" für die Transzendentalphilosophie mit sich,
    "ihre Begriffe nach einem Prinzip aufzusuchen, weil sie aus dem Verstand als absoluter Einheit rein und unvermischt entspringen und daher selbst nach einem Begriff oder Idee unter sich zusammenhängen müssen."
Die besondere Fassung dieses Satzes drängt freilich den Zweifel auf, ob der "Verstand" diese "absolute Einheit" sein kann und ob infolgedessen eine "transzendentale Deduktion der Kategorien" - zumal in der Ausführung, die KANT ihr angedeihen läßt - nicht eine verhängnisvolle Beschränkung oder Verengung der transzendentalen Aufgabe bedeutet; ob sich nicht genau an diesem Punkt die Transzendentalphilosophie zu einem Zwitterding einer transzendentalen Kritik des "theoretischen" Bewußtseins entwickelt, dem dann eine "praktische" und schließliche "ästhetisch-teleologische" Sphäre sich entgegen- und wohl gar überordnet und sich dem damit am Ende eine neue, sehr viel weitergreifende transzendentale Aufgabe stellt, wie KANT sie in seinen letzten Lebensjahren vergeblich zu bewältigen suchte. Aber dieser Zweifel, der sich gegen die besondere Durchführung des transzendentalen Entwurfs KANTs richtet, kann in seinen Folgen durchgedacht die soeben umrissene Abzweckung der Transzendentalphilosophie nur umsi einleuchtender machen. "Nicht eine jede Erkenntnis a priori" kann transzendental heißen; nicht der "Raum" oder "irgendeine geometrische Bestimmung desselben a priori" ist eine "transzendentale Vorstellung", nicht - könnte man fortfahren - die bestimmte Kategorie ist ein transzendentaler Begriff, sondern nur die "Erkenntnis a priori", "dadurch wir erkennen, daß und wie gewisse Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffe) lediglich a priori angewandt werden oder möglich sind". Der transzendentale Gesichtspunkt fordert die Erhebung über die hypotheseis der Erfahrungswissenschaften, er "betrifft nicht die Beziehung der Erkenntnisse auf ihren Gegenstand", sondern er führt in die Gesetzlichkeit der Erkenntnis als Erkenntnis hinein; in ihm eröffnet sich die Fragestellung einer "Wissenschaftslehre" oder einer "Logik der Philosophie".

Schon das platonische epekeina will aber noch unter eine tiefere Betrachtung gerückt werden. Die "Idee des Guten" greift nicht bloß formal über die idealen Wissenschaftsgrundlegungen (um nur diese eine Seite der platonischen Idee herauszuheben) hinaus, indem sie gleichsam die Monarchie des "Logischen selbst" durch sich verbürft und darstellt, sondern sie ist darin zugleich Ausdruck einer "metaphysischen" Schöpfungsmacht, vielleicht gar "transzendenter" Urgrund in sich selbst. Die "Idee des Guten" ist nicht bloß der kaum sichtbare Gipfel einer ansteigenden Linie, Ausdruck souveräner Reinheit und jenseitiger Unberührtheit, sie ist durchaus auch der Ursprung einer absteigenden Linie, aus all dem Niederen erst Wesen und Wachstum zukommt. Am "überhimmlischen Ort" "befiedert" sich im Umschwung des Weltlaufs immer wieder alles in den Kosmos gebannte, also von "dort" Entsprungene; im Übersein der Idee des Guten empfängt die "Gemeinschaft" der Sonderideen erst ihre zeugende Macht. Die ursprüngliche Schau gibt dem spannungsreichen Ideendenken erst seine autonome Gewißheit. Die Anamnesis [Erinnerung - wp] erst verbürgt die "Wissenschaft". Die "Dialektik" kann sich nur auf den Wegen des Seins wissen, weil sich in ihr ein transzendenter Ursprung bekundet. Die politische Kritik kann nur von derart unerbittlicher Härte und bewegender Entschiedenheit sein, weil sich die Idee des Guten als ihr Nerv auswirkt. Die Ideenlehre hat nur solange Bestand, als sie "Transzendentalphilosophie" in dem so bedeuteten Sinn ist. Wo diese ihre jenseitige Bindung fehlt oder gelockert ist, ist sie wesentlich zerbrochen und der Auflösung preisgegeben, wie das Beispiel des ARISTOTELES es bezeugt (4).

Diese andere Seite der "transzendentalen" Grundlegung tritt noch viel mächtiger in der mittelalterlichen Metaphysik zutage. Vielleicht ist bei PLATON doch die anabasis das Beherrschende, die Sehnsucht hinauf zur strahlenden - aber doch eben strahlenden - Sonne. Für die christliche Welt ist das Transzendente als wirkende Kraft "offenbar" geworden. Gott ist Mensch, ist "dieser einzige Mensch Jesus von Nazareth" geworden. Das Jenseits greift unmittelbar zeugniskräftig in das menschliche Geschehen ein. Es ist aus der Sphäre der Spekulation befreit und in voller Anschaulichkeit unter die Menschen getreten und bestimmt das Leben in seiner konkreten Gestalt.

Für PLATON eröffnet das Denken oder die Schau durch Erscheinungswelt und Ideenordnung hindurch den Zugang zum Ursprung, der dann freilich auch ein weltverwandelnder Ursprung wird. Das Mittelalter setzt dagegen mit einer transzendenten Tatsache ein, ihm ist der Weg der Philosophie nicht die die Sicht eröffnende "Durchschau", sondern das Jenseits ist vorausgesetzt und bildet sich für die transzendentalphilosophische Besinnung nur ab; die göttliche Trinität spiegelt sich in der dunklen "Spur" des transzendentalen Dreiklangs. Jedenfalls aber ist das auch bei jedem Verzicht auf eine wirkliche Aufrollung der methodischen Fragestellung der mittelalterlichen Metaphysik deutlich, daß hier das zweite Motiv der Transzendentalphilosophie, die Bindung und Sicherung alles Menschlichen im Transzendenten weit entscheidender noch als bei PLATON mitwirkt.

Vielleicht wird dem Mittelalter gegenüber die Berechtigung von einer Transzendentalphilosophie zu sprechen, grundsätzlich bezweifelt. Indessen historisch ist die Differenz von transzendent und transzendental eine rein grammatische. Hier gilt sachlich die kantische Scheidung. Der Terminus des Transzendentalen wird da von uns gebraucht, wo das logische Interesse zu einem Anstieg zu oder zu einer Herleitung aus dem Transzendenten führt. Nur wer dem Mittelalter jedes logisch-philosophische Eigeninteresse abspricht, könnte daher seiner Metaphysik, insoweit sie sich in den Transzendentien verankert, auch den Namen der Transzendentalphilosophie streitig machen.

Daß bei KANT dieser Begriff eine sehr eigentümliche und sehr andersartige Prägung empfängt, wird gerade diesem zweiten Motiv gegenüber deutlich. Um dieses Eigentümliche in seiner ganzen Tragweite zu ermessen, ist es aber doppelt wichtig, sich vor Augen zu halten, daß Transzendentalphilosophie als solche keine kantische Entdeckung, sondern ein nie ganz verlorengegangenes Anliegen der abendländischen Philosophie überhaupt war.

Auch bei KANT ist der Rückgang aufs Transzendentale mehr als eine letzte logische Selbstsicherung. Gegenüber dem Mittelalter ist die gänzlich verwandelte Schätzung der Erfahrungswelt des Menschen im weitesten Sinn eingetreten. Und wie dem deutschen Denken seit NICOLAUS CUSANUS und LEIBNIZ die Inbeziehungsetzung von "Humanität" und "Glaube" am Herzen lag, so ruht auch KANT nicht eher, als bis er die radikale Gründung der Erfahrung vollzogen hat, die nicht anders als durch die transzendentale Besinnung geschehen kann.

Der Sinncharakter des Transzendentalen darf dabei nicht um den von ihm eingeschlossenen Nerv des Transzendenten gebracht werden. Die transzendentale Rechtfertigung besagt durchaus, daß das Bedingte im Unbedingten allein gegründet werden kann. Diese zweite Seite der Transzendentalphilosophie gipfelt bei KANT in der "Idee von einem All der Realität", die als "transzendentales Substratum" allem "Denken der Gegenstände überhaupt" und zwar "als das einzige eigentliche Ideal, dessen die menschliche Vernunft fähig ist", zugrunde liegt. Die transzendentale Dialektik bedeutet in logischer wie in gegenständlicher Hinsicht durchaus den Höhepunkt der Transzendentalphilosophie; und nur die Kampfstellung gegen die transzendental-philosophische Dogmatik zuletzt der WOLFFischen Schule kann äußerlich verkennen lassen. Die Transzendentalphilosophie realisiert sich für KANT tatsächlich als transzendentale Kritik. Das bedingt weithin ihre transzendentalphilosophische Unentschiedenheit in systematischer Hinsicht; es ermöglichte aber ebenso sehr ihre zeitgeschichtliche Durchschlagskraft den verstiegenen Ansprüchen jener Dogmatik gegenüber.

Für die Geschichte der Transzendentalphilosophie bedeutet die kritische Haltung KANTs das Entscheidende. Das transzendentale Substrat ist für die Philosophie nicht gegenständlich realisierbar. Wäre es das, so wäre es außerstand das zu leisten, was gerade transzendental erfordert ist. Es würde selbst in die Bedingtheit der rationalen Satzung einbezogen und vermöchte nicht das Verfahren der Rationalität überhaupt aus sich zu rechtfertigen. Wollte man von der transzendentalen Idee eines Alls der Realität einen "Gebrauch" machen (welches Wort bei KANT überall in terminologischer Bestimmtheit gegenständliche Realisierung besagt), und es als "Gegenstand" einer "transzendentalen Theologie" "Gott" nennen, so würde man den kritischen Sinn des Transzendentalen preisgeben.
    "Denn die Vernunft legte sie nur als den Begriff von aller Realität der durchgängigen Bestimmung der Dinge überhaupt zugrunde, ohne zu verlangen, daß alle diese Realität objektiv gegeben ist und selbst ein Ding ausmacht."
Nur diese kritische Entschlossenheit, läßt uns in KANT sowohl der griechischen wie der scholastischen Haltung gegenüber eine historische Umwertung der Transzendentalphilosophie sich vollziehen sehen, die wir schärfstens im Auge behalten müssen, wenn wir uns der Lockung entziehen wollen, HEGEL als den eigentlichen Höhepunkt der deutschen Transzendentalphilosophie zu begreifen.

Diese Lockung besteht nicht ohne Grund. Nachdem durch KANT das transzendente Motiv mit seinen konstruktiven Anreizen wieder erschlossen war, nachdem sich in ihm der Systemgeist der Philosophie wieder erneuern konnte, hat die junge Generation leidenschaftlich Gebrauch davon gemacht. Von FICHTE bis zu HEGEL ist man sich des transzendentalphilosophischen Grundsinns der kantischen Philosophie bewußt geblieben, den der Neukantianismus so lange fast ganz unbeachtet gelassen hat. Aber indem man einseitig nur die zuerst hervorgehobene Linie des Transzendentalen erfaßte und die Schöpfungssehnsucht des philosophischen Eifers in der Transzendentalität des Logischen sich voll auswirken ließ, übersah man das Zweite, daß nämlich die katabasis zum Gegenstand die unerbittliche Anerkennung der Transzendenz des Alls der Realität als eines Gegenstandes zur Voraussetzung hat. Die kritische Transzendentalphilosophei muß sich nicht nur in ihrer Auswirkung der transzendentalen Konstruktion enthalten; sie muß auch im Element des Transzendental-logischen selbst die Beziehung auf den Gegenstand dadurch wahren, daß sie sich der "Idealität" ihrer eigenen Grundlegung bewußt bleibt. Nur so vermag sie die "empirische Realität" zu begründen, wobei diese empirische Realität in der "Kritik der reinen Vernunft" freilich viel zu eng auf die Naturerfahrung bezogen bleibt, aber gleichwohl den eigentlichen kritischen Widerhalt gegen die "idealistische" Verflüchtigung abgibt.

Die transzendentalphilosophische Aufgabe ist für die Gegenwart eindeutig dahin gestellt: unter Anerkennung der kritischen Revolution KANTs die transzendentale Grundlegung seines Denkens in voller Umspannung zur Durchführung zu bringen. Die wirkliche Wahrung der Transzendentalität der philosophischen Grundlegung fordert für uns den Verzicht, nicht nur das Transzendente spekulativ zu umgrenzen und zu erdichten, sondern, noch viel ernster, im "Logos selbst" es sich auswirken zu lassen. Weder gegenständlich noch logisch kann das Transzendente in "Erscheinung" treten, wenn der Grundhaltung einer transzendentalen Rechtfertigung der Gesamterfahrung, der Gesamtgegenständlichkeit entsprochen werden soll.


Von dieser Entwicklung der transzendentalphilosophischen Haltung aus erscheint nun freilich die Frage nach einen religiösen a priori, die man sich doch gerade in Konsequenz der kritischen Philosophie stellte, in verschärftem Maß als in sich widersinnig. Nicht ein a priori der Transzendenz, sondern die Transzendentalität des Apriorischen steht in Frage und bedarf immerfort gründlichster methodischer Sicherung. Die Philosophie - das ist der Sinn des echten Transzendentalismus - soll nicht dem Religiösen seinen Ort anweisen, sondern sie soll als Philosophie sich aus dem Transzendenten rechtfertigen. Das geschah im Wandel der Zeiten auf sehr verschiedene Weise. Die kritische Philosophie fand es notwendig, gerade deswegen ihr transzendentales Fundament von jeder "dinglichen" oder "metaphysischen", "theologischen" Substantialität rein zu halten.

In dieser kritischen Darstellung der Transzendentalphilosophie scheint daher tatsächlich die Paradoxie aufgehoben oder gemildert, die den Ausgangspunkt dieser Betrachtung abgab. Gerade die Gründung im Transzendenten fordert ja die Vermeidung jeder Ontisierung der transzendentalen Grundlegung. Aber in Wirklichkeit besteht die Paradoxie ungeschwächt fort. Vielmehr jetzt erst ist sie auf ihre schroffste Form gebracht. Inwiefern darf eine Grundlegung transzendental zu sein beanspruchen, die doch ganz im Rahmen der Humanität und zwar der Logik des "Gegenstandes überhaupt" zu bleiben sich zu erklären Ziel setzt? So richtet sich die Paradoxie nicht in einzelnen letzten Grundlagen des Philosophierens auf, wie etwa im Mittelalter; die ganze Philosophie selber ist von dieser Paradoxie bedroht. Wie kann Philosophie Transzendentalphilosophie zu sein vorgeben? Die Naivität transzendentaler Spekulation ist durchschaut. Auch die Theologie der "Transzendentien" hält der "Kritik" nicht stand. Nun aber zeigt sich, daß das ganze Faktum auch der "kritischen" Transzendentalphilosophie unter einer unbegreiflichen Paradoxie steht. Hat aber dann nicht JACOBI recht? Ist es dann nicht besser offen einzugestehen, daß Philosophie eben wirklich Glaubenssache ist und daß jeder Versuch, "kritisch" zu sein, nur die Sachlage verschleiert? Was nützt es, die Autonomie der Vernunft bis in ihre letzten Möglichkeiten zu verfechten, wenn am Ende doch das Ganze dieser Selbstgesetzgebung des Denkens ein abgründiger Schein ist? Ist dann nicht sogar die Philosophie des Transzendenten wiederum gerechtfertigt, wenn sie auch die Dinge "auf den Kopf" stellt? Insofern sich doch jetzt ergibt, daß auch die menschliche Konstruktion gar nichts anderes vermag, als wozu sie durch ihre "letzte" Fundiertheit "ermächtigt" ist?

Aber offenbar führt dieser Einwand nicht weiter. Er bringt uns nur zu Bewußtsein, daß irgendwie die Problemebene, von der aus über das Mit- und Gegeneinander von Transzendenz und Transzendentalphilosophie etwas ausgemacht werden könnte, noch nicht gewonnen ist. Immerhin darf dies zunächst formal gegen das scheinbar Bedrohliche der jetzt sich ergebenden Lage gesagt werden: Die Relativierung, die die transzendente Überschattung oder Überlichtung alles Philosophierns für dieses im Gefolge zu haben scheint, geht an ihrer eigenen Beeinträchtigung des echten Jenseits wiederum zugrunde. Denn wenn eine "bestimmte" Lösung betroffen ist, dann ist offenbar ebenso sehr die "Unbestimmtheit" der Lösung betroffen, da dieser Gegensatz wiederum durchaus im Rational-Menschlichen bleibt. Und daher wird es gut sein, die Geschichte der Transzendentalphilosophie so gut wie die Geschichte der theologischen Entwicklung in ihrer Faktizität hinzunehmen und deren - wenn auch menschliche - Logik vorerst anzuerkennen; und statt ins Unbestimmte uns zu verflüchtigen, das Eindeutige und sehr Bestimmte, was die augenblickliche "theologische" Entwicklung und die bisher schärfste Ausprägung des Sinns der Transzendentalphilosophie darstellt, gegeneinander zu halten; und so Transzendenz und Transzendentalismus in dieser deutlichen Lage aneinander zu messen.

Die Frage lautet dann so: Hat die dialektische Theologie uns als Menschen etwas zu sagen; und zwar uns als jedenfalls philosophierenden Menschen? Hat - auf der anderen Seite - die kritische Transzendentalphilosophie irgendeine Berechtigung, sich als im Jenseits ihrer selbst gegründet anzusehen? Oder indem wir beide Fragen in eine zusammennehmen: Hat die auf doppelte Art sich herstellende Paradoxie etwas zu "bedeuten"? Und wenn ja: liegt in dieser "Bedeutung" zugleich ein Hinweis auf eine irgendwie geartete "Berührung" von Theologie und Philosophie? "Bedeutet" die Paradoxie etwas in beiderlei Gestalt, und haben diese Bedeutungen in diesem Fall irgendeinen Zusammenhang? Was "bedeutet" die Verkündigung der Transzendenz und die transzendentale Grundlegung der Philosophie, und was für Beziehungen gibt es zwischen Jenem und Diesem?

Kann jene "Dialektik" des Theologen noch einen anderen Sinn haben, den die dialektische Selbsterkenntnis nicht in Frage zu stellen vermöchte? Und kann die transzendentale Grundlegung einen Sinn behalten, auch ohne daß die "ernst genommene" Transzendenz jeden transzendentalen Anspruch als illusorisch erweist? Es wird gut sein, mit diesem letzten zu beginnen, weil hier der Ausgangspunkt vielleicht klarer zutageliegt. Welches ist der transzendentale Anspruch, wie er auf dem Boden der kritischen Philosophie als sinnvoll und möglich bleibt?

Eine transzendentale Begründung wird weder vom Empirisch-Besonderen noch vom Rational-Bedingten her zu leisten sein. Wo die Natur, die Sittlichkeit, die Kunst, die gesamte historisch-politisch-wirtschaftliche Welt in Frage steht, aber wo auch, darüber hinausgreifend vielleicht, Geist und Kirche, ja selbst Religion in irgendeiner empirischen Verfassung, mag sie noch so zugespitzt und entscheidend scheinen, sich uns darstellen, werden sie der Philosophie eine vielleicht wiederum sehr zugespitzte und entscheidende Aufgabe stellen, werden sie vielleicht tiefgreifende Wandlungen im Begriff der Philosophie hervorrufen, keinesfalls wird von ihnen aus der transzendentale Charakter der Philosophie betroffen oder gar bestimmt werden können. Die transzendentale Fragestellung überschreitet schlechthin jede Besonderung der "gegenständlichen" "Erfahrung" und fordert den Bezug auf Gegenständlichkeit auf Erfahrung "überhaupt"; ihr könnte nur genügt werden im Hinblick auf einen alles Empirische umgreifenden "transzendentalen" Gegenstand.

Aber auch nach der Seite der logischen Begründung des Gegenständlichen vermag keine irgendwie geartete besondere Form der Rationalität dem transzendentalen Anspruch Genüge zu leisten. Kantisch gesprochen würden daher weder "Verstand" noch "Vernunf" noch "Urteilskraft" von auszeichnend transzendentaler Struktur sein können. Weder die bestimmte Kategorie noch die bestimmte Idee oder die bestimmte Urteilskraft, aber auch nicht Kategorie, Idee oder Urteilskraft als Gattungsbegriff einer besonderen Funktion des Logischen, sondern nur ein sie ingesamt umgreifendes und vielleicht organisierendes "Logisches selbst" könnte eine Transzendentalphilosophie ermöglichen. Etwas der "transzendentalen Einheit der Apperzeption" entsprechendes könnte allein das transzendentale Apriori der Philosophie sein. Aber auch transzendentales Apriori und transzendentaler Gegenstand, so wie sie auf der Grundlage der kritischen Philosophie als mögliche Probleme nicht gegeben aber doch postulierbar sind, können jedes für sich nicht den Sinn des Transzendentalen erfüllen. Denn wollte man vom Logischen her die Philosophie transzendental rechtfertigen, so würde man notwendig in eine formale Konstruktion geraten, die ohne allen gegenständlichen Gehalt wäre. Oder aber man müßte das Logische zuvor substanzialisieren, d. h. vergegengständlichen, müßte im Logos den Gegenstand "ansich" produzieren oder doch erfassen können, damit die Identität des Logischen und Gegenständlichen Gehalt wäre. Oder man müßte das Logische zuvor substanzialisieren, d. h. vergegenständlichen, müßte im Logos den Gegenstand "ansich" produzieren oder doch erfassen können, damit die Identität des Logischen und Gegenständlichen voraussetzend, die doch die Problematik nicht transzendental begründen, sondern durch einen naiv metaphysischen Machtspruch erledigen würde. Ebensowenig kann einseitig der transzendentale Gegenstand für eine transzendentale Gründung der Philosophie einstehen; ja dieser Ausweg muß sich in einem verschärften Maß als ungangbar herausstellen, weil nur für die transzendentallogische Fragestellung der transzendentale Gegenstand einen zumindest als Problem faßbaren Sinn gewinnt; eine auf ihm fußende "Grundlegung" daher in völliger "Dunkelheit" bleiben, als gänzlich "blind" sich herausstellen würde.

Dann aber kann nur die faktische Verbundenheit von Logos und Gegenstand, ursprünglich daher die faktische Verbundenheit von Transzendental-Apriori und Transzendentalgegenstand als das nicht weiter abzuleitende "transzendentale Urphänomen" zu gelten haben. Urphänomen kann diese Verbundenheit jedoch nur sein, wenn sie sich nicht als ein Wechselverhältnis zwischen zwei für sich gegebenen "Realitäten" darstellt, sondern als ursprüngliche Verbundenheit das in ihr Verbundene erst aus sich heraussetzt. Die Spannung in aller empirischen Besinnung zwischen einem sinngebenden und einem sinnfordernden Element, ohne die nie getane Tat der Besinnung ermatten müßte, ist auch von der tranzendentalen Formulierung der Sinnfrage unablösbar; aber das Fundierende ist eben diese Spannung selbst, die "formuliert" erst und damit "einseitig", eben "rational" ausgedrückt, als Spannung zwischen zwei sich gegenüberstehenden "Realitäten" erscheint.

Die "transzendentale Hauptfrage" würde bei dieser Sachlage daher nicht lauten können: "Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" Denn in dieser Fragestellung scheint die bloß bedingte Geltung des apriorischen, d. h. des rationalen Faktors verkannt, scheint das a priori ohne weiteres transzendental legitimiert zu sein und das entscheidende Problem lediglich in der Erstreckung seiner Gültigkeit auf ein nur durch Synthesis in es einzubeziehendes Anderes, eben das Gegenständliche zu bestehen. Hier aber stoßen wir gerade auf den Punkt, wo KANTs Fragestellung und Lösung in einem rationalen Vorurteil befangen bleibt. Das a priori wie der Gegenstand müssen selber erst transzendental "deduziert" werden durch das sie zueinander in Beziehung setzende "Wirkliche", das wir als Urphänomen bezeichneten. "Wie sind a priori und Gegenstand als Synthesis wirklich?" In dieser Frage liegt die Entscheidung, die aber nicht durch eine Antwort herbeigeführt werden kann, in der selbst wieder eine apriorische Gewährleistung dieser Entscheidung zu geben versucht würde. Die transzendentale Hauptfrage ist der höchste Punkt, über den gar nicht hinausgefragt werden kann, sondern in dem die Fülle aller möglichen sonstigen Fragen und damit auch die Gesamtheit aller sonstigen transzendentalen Fragen gestellt sind. Nicht die transzendentale Kategorienlehre als das System der transzendentalen Apriorität und nicht die transzendentale Ideenlehre als das System der transzendentalen Gegenständlichkeit geben die Grundlagen der wirklichen Transzendentalphilosophie ab, sondern allein die Anerkennung der transzendentalen Hauptfrage kann ihrerseits das Problem einer transzendentalen Kategorien- und Ideenlehre aufrollen.

Wie sie das leisten würde und wie schwerwiegend damit die Grundlagen der kantischen Kategorienlehre erschüttert würden, darf hier nicht in Erwägung gezogen werden. Soviel leuchtet ohne weiteres ein, daß das System der Kategorien nicht nur als System ein "offenes System" bleiben muß, sondern daß auch der kategoriale Ansatz als solcher jedes Anspruchs auf gegenständlich sich erfüllende Apriorität verlustig geht. Hier kommt es einzig auf die letztentscheidende Erkenntnis an, daß eine transzendentale Rechtfertigung unter Ausschaltung jeder rationalen oder gegenständlichen Verabsolutierung lediglich die stets neu zu leistende Selbsteinsetzung der Philosophie als solcher gewährleistet. In Erinnerung an den platonischen Philebos ließe sich das dahin verdeutlichen, daß sich nicht in den drei Prinzipien der Grenze, des Unbegrenzten und des aus beiden Zusammengemischten, sondern einzig in dem deren Verbundenheit insogesamt Verursachenden die transzendentale Grundlegung vollziehen kann. Sie selbst aber darf schlechterdings nicht als ein besonderer logischer Akt angesehen werden, da sie erklärtermaßen gerade diesen Irrtum aus dem Grund überwinden muß. Die Transzendentalphilosophie darf auf keine Weise für eine besondere Veranstaltung der Philosophie angesehen werden, da sie doch Philosophie insgesamt und zwar transzendental ermöglichen soll. Diese Ermöglichung kann nur - negativ in der Warnung, irgendeine bestimmte Umgrenzung des Gegenstandes durch das Denken für die Verwirklichung der Philosophie zu halten, - positiv in dem Hinweis bestehen, daß die Wirklichkeit der Philosophie die Auswirkung jener alles in sich tragenden Aitia [Ursache, Erklärung, Grund - wp] ist, daß sie die Wirklichkeit jener Synthesis ist, durch die Denken und Sein in Spannung gegeneinander treten, daß sie in einem ungeendeten, obgleich stets erfüllten "Leben" dieser Synthesis mitte drin steht. Das ist das höchste, was in den Grenzen "kritischer" Betrachtung die transzendentale Begründung für die Philosophie zu besagen hat. Die Transzendentalphilosophie hat als grundlegende Aufgabe, die Wirklichkeit der Philosophie zu verbürgen, alles faktische Philosophieren vor die Entscheidung seiner eigentlichen Wirklichkeit zu stellen, die im Faktischen in nichts anderem besteht als in der Nötigung zu stets erneuter Selbstverwirklichung.

Mit dieser nicht ausschöpfenden und erst recht nicht systematisch entwickelnden, sondern lediglich das Problem als solches aufweisenden Klarstellung ist die Frage, was die Transzendenz im Hinblick auf die Transzendentalphilosophie bedeutet, grundsätzlich bereits entschieden. Von der Transzendentalphilosophie in die Transzendenz sich flüchten würde nichts anderes heißen, als die echte Bewährung jener Aitia dadurch zunichte machen, daß man sich vermißt, diese Aitia an einer bestimmten Stelle und mit sehr bestimmten Absichten in die philosophische Rechnung einzubeziehen. Damit aber überspannt man das der Philosophie Mögliche und verschließt sich vor jeder wirklichen Offenbarung der Transzendenz. Die unverzagte und unangefochtene Behauptung der Philosophie, wie sie das angedeutete Ziel der transzendental-kritischen Bemühung ist, ist daher in Wahrheit zugleich die Anerkennung ihrer Gegründetheit im Jenseits ihrer selbst. Sie ist zwar nicht imstande oder darf willens sein, diese ihre Gegründetheit positiv zu erhellen. Dieser Versuch müßte sich immer wieder als der im Letzten gleichsinnige Abweg herausstellen. Wo nur das Transzendente in den Rahmen einer philosophischen Begründung eingespannt wird, ist es von seinen Zaubern gelöst. Nur insofern die transzendente Begründung die uneingeschränkte Autonomisierung der Philosophie vollzieht, ist daher dem Transzendenten kein Abbruch getan; darf daher die Philosophie sich wahrhaftig im Jenseits ihrer selbst gegründet wissen; so gewiß dieses Wissen nicht anders als durch "Offenbarung" dem philosophierenden Menschen sich erfüllen könnte.

Es ist hier daher noch notwendig, auf das in dieser Hinsicht irreführende Heranziehen der platonischen Aitia hinzudeuten. Bei PLATON ist zumindest der Schein nicht vermieden, als ob in dieser Aitia das Transzendente selbst die Philosophie hervorbringt oder gewährleistet. In Wahrheit läßt sich diese Aitia gar nicht als etwas anderes behaupten denn als das, was als "Wirklichkeit" der unüberwindliche Widerstand jedweden Fragens und Rechtfertigens bleiben muß. Die Transzendenz vermag auf keine Weise ein Notanker der Philosophie zu werden. Sie "offenbart" sich allenfalls in der unangefochtenen transzendentalen Energie, kraft der Philosophie als seinsergreifende Sinngebung sich stets neu als ein unzerstörbar Jetziges erschafft.

Die zweite Frage ist danach verhältnismäßig einfach geklärt. Die "transzendentale Dialektik" hat nur dann den Menschen etwas zu sagen, wenn sie sich jedes Wetteiferns mit philosophischer Erkenntnis enthält; wenn sie mit ihrer Dialektik nichts Menschliches aufzurichten oder zu zerstören vorgibt. So wie der verwandelte Sinn der transzendentalen "Ermächtigung" der Philosophie gerade das besagt: Es darf keine Brücke geben, die den Bogen vom Jenseitigen zum Hiesigen spannt; so vermag die Dialektik des Theologen nur dann etwas Selbsteigenes durch sich zu bezeugen, wenn sie die Jllusion ihres menschlichen Sprechens durchschaut; wenn sie daher auch auf die Paradoxie sich nichts zu gute tut und sich nicht zu dem Wahn versteigt, in ihr ein bequemes Mittel zu haben, um vom Jenseitigen her alles Menschliche in Frage stellen zu können. Vollends aber würde sich diese Dialektik als "elende" Philosophie enthüllen, wenn sie gar über die "Sündhaftigkeit" alles Menschlichen meinte den Stab brechen zu dürfen. Das wäre etwas, was "vor Gott nicht erlaubt" wäre, wenn nicht diese Art zu reden in sich selbst eine allzumenschliche Torheit verraten würde.

Ist es hingegen wirkliche eine Tatsache, daß das Zeugnis vom Jenseitigen, wo es sich uns übermächtig zuwendet, in harten Widersprüchen zu uns redet und die Sprache der menschlichen Dialektik sucht, dann wird gerade das ein Zeichen ihrer Echtheit sein, daß sie nicht als "legitime" Dialektik die Sache des Menschen als Menschen zu verdammen oder zu rechtfertigen beansprucht, sondern daß sie ein durchaus uneigentliches Werkzeug zu sein begehrt. HERAKLIT sagt einmal: "Der Herr, der das Orakel in Delphi besitzt, sagt nichts und birgt nichts, sondern er deutet an." Das wird auch das Wahrzeichen jeder wirklichen dialektischen "Verständigung" sein. Das in ihr Aufgerichtete ist in keinem menschlichen Sinn aufgerichtet; und das in ihr Vernichtete ist in keinem menschlichen Sinn vernichtet. Sondern alles Aufrichten und Vernichten will nur ein Hindeuten sein. Was in ihr seine Hindeutung empfängt, das muß in einer methodologischen Erörterung gänzlich unausgesprochen bleiben. Es ist ihr gleichviel, ob dieses "Andere" das "Eine allein Weise" genannt wird oder ob es in anderen Zungen von sich reden macht. So wie das Transzendentale ernst genommen und radikal verstanden das Transzendente nicht in sich einbegreifen wollen darf, so darf das Transzendente oder doch aus seiner Kraft Verlautbarte nicht das Menschliche in seiner Menschlichkeit zu treffen glauben. Seine Verlautbarungen sind Gleichnisse, die hindeuten, aber nicht Sprüche und Widersprüche, die beweisen. Transzendentes und Transzendentales sind nur in ihrer schlechthinnigen Geschiedenheit schlechthin verbunden; nur ihre völlige Getrenntheit ermöglicht ihre völlige Verbundenheit.

LITERATUR Ernst Cassirer / Albert Görland (Hg), Festschrift für Paul Natorp zum siebzigsten Geburtstag von Schülern und Freunden gewidmet, Berlin und Leipzig 1924
    Anmerkungen
    1) Hans Leisegang, Der Apostel Paulus als Denker, Leipzig 1923.
    2) Abram Gideon hat in seiner Dissertation den gutgläubigen Versuch gemacht, den Sprachgebrauch der Kritik der reinen Vernunft daraufhin zu untersuchen ("Der Begriff transzendental in Kants Kritik der reinen Vernunft", Marburg 1903); er kommt dabei zur Feststellung einer Unzahl zum Teil gegensätzlichster Bedeutungen, die Kant nicht selten in einem Satz durcheinanderwirft.
    3) Über den terminologischen Zusammenhang unterrichtet meine Dissertation "Der Terminus transzendental in seiner historischen Entwicklung bis zu Kant", Marburg 1920.
    4) Die Darstellung Werner Jaegers (Aristoteles, Berlin 1923) macht das entwicklungsgeschichtlich deutlich.