ra-3 H. AlbertF. EulenburgKarl Popper    
 
RENATE MAYNTZ
Soziologie in der Eremitage?
[Kritische Bemerkungen zum Vorwurf des Konservatismus der Soziologie]

"Das Ungenügen an der Handhabung der strukturell-funktionalen Theorie liegt weniger in ihren statischen Strukturkategorien, ihrem Systembegriff und ihrem funktionalistischen Prinzip begründet als in ihrer Vernachlässigung von Phänomenen der Macht und des Konflikts."

"Wenn die strukturell-funktional orientierte Soziologie von der janusköpfigen Gesellschaft lieber und häufiger die Seite des friedlich-gerechten Leistungsaustausches beleuchtet und ihr von Machtkampf, Eroberung und Ausbeutung gezeichnetes Gesicht vergessen läßt, dann ist das rein begriffslogisch nicht zu erklären."

"Der Soziologe eines westlichen Landes lebt in einer Gesellschaft, die manch krasse Ausbeutungsverhältnisse und soziale Benachteiligung auf dem Weg zum demokratischen Rechts- und Wohlfahrtsstaat beseitigt hat, zugleich aber die im eigenen Inneren noch bestehenden Machtverhältnisse als Vertrags-, Kooperations-, Verwaltungs- und Delegationsverhältnisse zu deuten und damit Machtkonflikte auf nationaler Ebene ideologisch zu verschleiern und auf die internationale Ebene abzuschieben versucht."

"Dahrendorf betont, der heutigen Soziologie fehlt das umfassende Gesellschaftsbild, das als Modell zur Erklärung empirisch erhobener Tatbestände dienen könnte. Zu dem Soziologen, der somit von der empirischen Forschung zwangsläufig in die bloße Kontemplation des nun einmal Gegebenen und unabänderlich Geschenden, gegen das man nichts mehr einzuwenden vermag, geführt wurde, gehört dann auch das Menschenbild des durch seine Rollen determinierten Homo sociologicus, des angepaßten Menschen, der gern tut, was er tun muß und dessen Anspruchsniveau sich immer auf das Gegebene einstellt."

Die nachhaltigste Kritik erwächst der Soziologie gegenwärtig aus ihren eigenen Reihen. Für einen Teil dieser Kontroversen - etwa dem Streit zwischen Empirie und Theorie, zwischen problemorientierter Forschung und Methodologie, zwischen mikroskopischer und makroskopischer Forschung - gilt, was MERTON 1959 vor dem ISA-Kongreß in Stresa feststellte: daß in einem Prozeß gegenseitiger Stereotypisierung verschiedene Orientierungen zu unvereinbaren Gegensätzen gestempelt werden, während sie tatsächlich in einem Verhältnis notwendiger Ergänzungen stehen (1). Bei solchen Kontroversen spielt neben dem Bemühen, den jeweils eigenen Ansatz zu verabsolutieren und ihm und damit sich selbst mehr Bedeutung zuzuschreiben, das unklare Selbstverständnis der Soziologie hinsichtlich ihres Zieles eine wichtige Rolle. Bestände Klarheit und Übereinstimmung über das Ziel soziologischer Arbeit, dann wäre auch der arbeitsteilige Beitrag aller verschiedenartigen Bemühungen für dieses Ziel deutlicher erkennbar.

Gerade in jüngster Zeit wird jedoch der Lärm des Streites über nur scheinbare Gegensätze von einer Selbstkritik übertönt, die viel grundsätzlicherer Natur ist: Soziologen werfen der heutigen Soziologie vor, unkritisch, trivial und in der Wirkung konservativ zu sein. Dieser Vorwurf vermag tief zu verletzen, weil er dem Selbstbild wohl der meisten Soziologen entgegengesetzt ist. Es wird allerdings nicht behauptet, die Soziologen selber seien unkritische Konservative, die Freude am Banalen und Trivialen hätten; vielmehr sollen diese negativen Eigenschaften besonders in drei Stützpfeilern der gegenwärtigen Soziologie - dem Postulat der Wertfreiheit, der empirischen Sozialforschung und der strukturell-funktionalen Theorie - immanent bzw. deren logische Folge sein. Der Soziologe wird damit zum Konservativen wider Willen, eine Situation, deren Schilderung durch DAHRENDORF in dieser Zeitschrift (2) man die Worte von WRONG (3) zur Seite stellen kann: "Obwohl viele Soziologen in der Tat persönlich liberal sind ... teilt sich ihr Liberalismus in ein professionelles Bekenntnis zur Wissenschaft, das es ermöglicht mit Theorien und Forschungspraktiken zu koexistieren, die implizit eine konservative Neigung ausdrücken. Die liberale Tendenz bleibt persönlich und in ihrem Herzen, während die konservative Tendenz professionell bleibt und sich in ihren Kategorien und Methoden findet."

Die konservative Tendenz bezieht sich auf den jeweiligen Status quo und könnte demzufolge ebenso der Erhaltung einer sozialistischen wie einer spätkapitalistischen Gesellschaftsordnung dienen. Konservativ ist also nicht als politisch "rechts" im Gegensatz zu "links", sondern als bewahrend im Gegensatz zu erneuernd zu verstehen, eine Unterscheidung, die in der selbstkritischen Debatte meist nicht ausdrücklich gemacht wird.

Erklärt man die implizit konservative Haltung der gegenwärtigen Soziologie als ihrer Arbeitsweise immanent, dann geht man ähnlich vor wie MARX, als er den Konservatismus, den er HEGEL und der Schule des philosophischen Kritizismus vorwarf, aus der inneren Logik eines Denkens ableitete, das die Entfremdung auf philosophischer Ebene aufheben wollte. Jedes solche Argument wäre zunächst auf seine logische Richtigkeit zu prüfen. Die soziologische Selbstkritik geht jedoch noch einen Schritt weiter; sie behauptet eine reale konservative Wirkung der gegenwärtigen Soziologie und begründet damit einen sozialen Prozeß ideenlogisch - ähnlich POLYANI, wenn er den totalitären Kollektivismus aus der logischen Weiterentwicklung der Ideen der Aufklärung ableitet (4). Hier wäre zu fragen, warum, selbst wenn das logische Argument stimmt, der soziale Prozeß dieser Logik gefolgt ist. Was den soziologischen Konservatismus angeht, der als solcher hier nicht bestritten wird, möchte dieser Beitrag zeigen, daß strukturell-funktionale Theorie, Empirismus und das Postulat der Wertfreiheit  nicht  mit logischer Zwangsläufigkeit zu einer konservativen Haltung und Wirkung führen und daß man deshalb, um diese Tendenz zu erklären, auf soziale Situationsfaktoren zurückgreifen muß.


I.

Zur Begründung der These, die strukturell-funktionale Theorie impliziere eine konservative Tendenz (5), verweist man zunächst auf ihre ahistorisch-abstrakten und zu statischer Sicht verführenden Kernbegriff. Eine Verführung zu statischer Sicht bei ständiger Verwendung von Begriffen, die Prozesse in Momentaufnahmen zum Stillstand bringen, ist sicher nicht abzustreiten. Diese Verführung ist jedoch kein logischer Zwang, etwa über den Strukturen die sie ausmachenden Prozesse und über den Rollennormen die Interaktionsmuster zu vergessen. Prozessuale Kategorien - soweit solche in der Soziologie überhaupt möglich sind - lassen sich im Rahmen einer fortentwickelten strukturell-funktionalen Theorie prinzipiell durchaus verwenden.

Ein schwerwiegendes Argument für den implizierten Konservatismus der strukturell-funktionalen Theorie weist auf die Annahme hin, daß gesellschaftliche Institutionen und Verhaltensmuster zwar nicht in ihrem Ursprung, aber doch in ihrem Fortbestehen durch die Beiträge erklärbar sind, die sie zur Erhaltung des Systems leisten. Wenn die Erhaltung des Systems mit der Erhaltung des Status quo gleichgesetzt wird, was bei einer ahistorischen Sichtweise naheliegt, bedingt diese funktionalistische Annahme tatsächlich eine Tendenz, derzufolge das, was ist, als nützlich legitimiert wird. (6)

Nun zwingt die strukturell-funktionale Theorie aber gar nicht dazu, den Status quo zum Bezugspunkt funktionalistischer Aussagen zu machen und eine Gleichgewichtstendenz, die auf seine Erhaltung hinwirkt, anzunehmen. Der Bezugspunkt funktionalistischer Analyse kann entweder ein vom Betrachter angenommener, wünschenswerter Zustand sein, z. B. das Modell einer demokratischen Gesellschaft. Auf diesem Weg würde sich die funktionalistische Analyse der Denkweise nähern, die FIJALKOWSKI als kennzeichnend für den dialektischen Theoriebegriff beschreibt (7). Der Bezugspunkt funktionalistischer Analyse kann aber auch die Vorstellung eines Systems sein, dessen Funktionsvoraussetzungen optimal erfüllt sind. Daß dieser Zustand im Status quo schon erreicht wäre, postuliert die strukturell-funktionale Theorie keineswegs. Ein System aber, dessen Funktionsvoraussetzungen mangelhaft erfüllt sind, das dysfunktionale Prozesse und spannungsgeladene Strukturen einschließt, erscheint gerade dann instabil, wenn man eine Tendenz zum Gleichgewicht als Tendenz zu einem Zustand maximaler Erfüllung der Funktionsvoraussetzungen annimmt. Solange dieser Zustand nicht erreicht ist, muß eine solche Gleichgewichtstendenz selber fortwährend Wandlungsprozesse auslösen. Diese Prozesse schaffen jedoch nicht nur neue Spannungen in anderen Teilen des Systems und rufen so reaktiv weitere Änderungen hervor, sondern sie ändern auch die Art des Systems und damit seine Funktionsvoraussetzungen. Damit verschiebt sich der Zielpunkt der auf Gleichgewicht gerichteten Prozesse ständig, und man kommt auf dem Boden der funktionalistischen Systemtheorie zur Vorstellung einer in konstanter Änderung befindlichen Gesellschaft. Daß die Annahme einer Gleichgewichtstendenz fragwürdig ist, steht dabei hier nicht zur Debatte; es war lediglich zu zeigen, daß selbst  mit  dieser Annahme eine konservative Denkneigung nicht notwendig gegeben ist.

Sogar wenn man die Systemtheorie noch ausdrücklicher in Richtung auf kybernetische Vorstellungen entwickelt, kommt man nicht notwendig zu einer statisch-konservativen Sicht, wie CADWALLADER gezeigt hat (8). Er verweist auf den Begriff der Ultrastabilität, einer Eigenschaft, die es offenen Systemen ermöglicht, bei fortwährenden Änderungen ihrer Struktur und Funktionsweise als Systeme fortzubestehen. Diese Ultrastabilität ist eine Existenzvoraussetzung für alle offenen Systeme in einer veränderlichen Umwelt, mithin für alle sozialen Systeme. Innovation - nicht Konservation - ist die Voraussetzung der Erhaltung, und vom Begriff der Ultrastabilität geführt, richtet die Systemtheorie ihr Augenmerk auf jene Prozesse und strukturellen Merkmale, die die Fähigkeit des Lernens und dadurch der Innovation gewährleisten.

Das Ungenügen an der Handhabung der strukturell-funktionalen Theorie liegt weniger in ihren statischen Strukturkategorien, ihrem Systembegriff und ihrem funktionalistischen Prinzip begründet als in ihrer Vernachlässigung von Phänomenen der Macht und des Konflikts. Daß auch dieser Mangel kein logisch notwendiger ist, hat GOULDNER kürzlich gezeigt (9). Er führt aus, daß hinter der funktionalistischen Betrachtungsweise die Vorstellung der Reziprozität [Gegenseitigkeit - wp] steht: Wenn  A  für  B  eine Funktion erfüllt, erwidert  B  dies mit einer Leistung für  A,  wobei die weitere Leistung beider Partner von der fortgeführten Gegenseitigkeit abhängt. Dieses Austauschprinzip voller Reziprozität stellt jedoch nur einen Pol eines Kontinuums dar, an dessen anderem Ende sich der Grenzfall einseitig unerwiderter Leistung findet. Solche Ausbeutungsverhältnisse können durch starke Machtunterschiede zwischen Partnern, durch normative Kompensationsmechanismen ("Geben ohne zu nehmen") oder durch eine ersatzweise Belohnung eines der beiden Partner von dritter Seite stabilisiert werden.

Die strukturell-funktionale Theorie kann, wenn sie das ganze Kontinuum möglicher Verhältnisse von voller Reziprozität bis zu nur einseitiger Leistung einbezieht, anstatt sich nur auf einen Ausschnitt aus diesem Kontinuum zu beschränken, Machtphänomene bis hin zu Ausbeutungsverhältnissen erfassen. Auch das Phänomen der Residuen, scheinbar funktionslos fortbestehender Institutionen, würde damit innerhalb der strukturell-funktionalen Theorie erklärbar. Die stärkere Berücksichtigung von Machtverhältnissen würde auch den Bezugspunkt funktionalistischen Denkens von der Vorstellung maximaler Integration auf die eines gerade nocht tragbaren Integrationsminimums verschieben; neben der gegenseitig vorteilhaften Kooperation würde damit jene Form von sozialem Zusammenhalt besser sichtbar werden, die man bildhaft im Verlauf eines Ringkampfes gezeigt bekommt.

Wenn die strukturell-funktional orientierte Soziologie von der janusköpfigen Gesellschaft lieber und häufiger die Seite des friedlich-gerechten Leistungsaustausches beleuchtet und ihr von Machtkampf, Eroberung und Ausbeutung gezeichnetes Gesicht vergessen läßt, dann ist das rein begriffslogisch nicht zu erklären. Auch eine ideengeschichtliche Interpretation müßte nach jenen Faktoren fragen, die die Selektion gerade dieser Modellvorstellung beeinflußt haben. So ist man schließlich zurückverwiesen auf die gesellschaftliche Lage der Soziologen und ihre Rolle. Der Soziologe eines westlichen Landes lebt in einer Gesellschaft, die manch krasse Ausbeutungsverhältnisse und soziale Benachteiligung auf dem Weg zum demokratischen Rechts- und Wohlfahrtsstaat beseitigt hat, zugleich aber die im eigenen Inneren noch bestehenden Machtverhältnisse als Vertrags-, Kooperations-, Verwaltungs- und Delegationsverhältnisse zu deuten und damit Machtkonflikte auf nationaler Ebene ideologisch zu verschleiern und auf die internationale Ebene abzuschieben versucht. Sich der Wirkung dieses Klimas zu entziehen, bedarf einer gewiß auch unter Soziologen ungewöhnlichen geistigen Unabhängigkeit von den Einflüssen der eigenen Umwelt oder eines besonderen Anlasses. Diesen Anlaß findet der Soziologe aber gerade in seiner eigenen sozialen Lage kaum. Die Mittelklassenlage der meisten Soziologen und ihre Berufsrolle, ob sie nun lehrend, forschend oder die Praxis beratend tätig sind, bedingen, daß sie weder selbst ein großes Maß effektiver Macht besitzen, noch umgekehrt von ihr in bedrückender Abhängigkeit stehen. Sie vernachlässigen das Phänomen der Macht, weil sie mit ihm in seinen krasseren Spielarten selten in eine enge Berührung kommen. Das gilt allerdings nur für freiheitliche westliche Gesellschaften, während der Soziologe in totalitären Regimen ein bevorzugtes Opfer der herrschenden Macht war und ist. In der freien Gesellschaft spielt gelegentlich die Herkunft und Umgebung des einzelnen eine differenzierende Rolle. Man könnte wenigstens eine symbolische Bedeutung darin sehen, daß TALCOTT PARSONs im idyllischen Cambridge wohnt, während MILLs in der harten Stadt New York ansässig ist.


II.

Der gegen die empirische Sozialforschung erhobene Vorwurf der konservatien Wirkung tritt in zwei Varianten auf. Nach dem ersten Argument, das z. B. von SCHELSKY vertreten wird (10), ist die empirische Forschung selber neutral oder tendenzlos. Ob ihre Wirkung konservativ ist oder nicht, hängt davon ab, was empirisch untersucht wird und wozu man die Untersuchungsergebnisse verwendet. Der Vorwurf des Konservatismus wird also weitergegeben an die Auftraggeber und Verbraucher empirischer Forschung und trifft die Soziologen nur soweit, wie sie sich die Themen ihrer Arbeit vorschreiben lassen und sich um die Verwendung ihrer Ergebnisse nicht kümmern. Wenn Soziologen so handeln, wird das dem Postulat der Wertfreiheit zur Last gelegt. Damit mündet dieses Argument in den im nächsten Abschnitt zu behandelnden Vorwurf gegen die Wertfreiheit.

Im zweiten Argument richtet sich der Vorwurf gegen die empirische Forschung selbst. MOORE hat in knapper Formulierung zusammengefaßt: "Der Respekt für die Fakten tendiert immer mehr dazu zu einem Hemmnis für eine Kritik dieser Fakten zu werden." (11) Das kritiklose Nachzeichnen dessen, was ist, soll die empirische Soziologie kennzeichnen, seit mit der Diskreditierung der Vernunft die Einsicht in die Totalität des Geschichtsprozesses verlorenging. Seitedem, meint etwa BENDIX, findet die Soziologie als einzige Regelmäßigkeiten im sozialen Geschehen statistisch signifikante Korrelatonen zwischen Variablen. Damit untersuche man dann nur noch, "was sowieso geschieht" oder "was ist", und verfalle der Ansicht, "daß was immer auch  ist,  notwendigerweise so ist" ... und daher in jeder Möglichkeit alternativlos." (12) DAHRENDORF argumentiert ähnlich, wenn er betont, der heutigen Soziologie fehlt das umfassende Gesellschaftsbild, das als Modell zur Erklärung empirisch erhobener Tatbestände dienen könnte (13). Zu dem Soziologen, der somit von der empirischen Forschung zwangsläufig in die bloße Kontemplation des nun einmal Gegebenen und unabänderlich Geschenden, gegen das man nichts mehr einzuwenden vermag, geführt wurde, gehört dann auch das Menschenbild des durch seine Rollen determinierten  Homo sociologicus (14), des angepaßten Menschen, der gern tut, was er tun muß und dessen Anspruchsniveau sich immer auf das Gegebene einstellt (15).

Der Angelpunkt dieses Arguments liegt in der Annahme, daß Erklärung empirisch erhobener Tatbestände nur im Rahmen einer umfassenden Konzeption des sozialen Prozesses möglich sei, und wenn jene fehlt, bliebe lediglich die Oberflächenfotografie dessen, was ist und was geschieht. Diese Auffassung von der Erklärungsfunktion theoretischer Modelle eignet insbesondere den Vertretern des von FIJALKOWSKI so genannten erkenntnislogischen Theoriebegriffes in der Soziologie (16). Der Erklärungswert theoretischer Modelle steht außer Zweifel. Es gibt jedoch in der gegenwärtigen Soziologie zahlreiche Theorien der mittleren Reichweite, die zur Erklärung beobachteter Zusammenhänge herangezogen werden können und aus denen sich Hypothesen ableiten lassen. Eine theoretische Gesamtkonzeption des Gesellschaftsprozesses kann beim heutigen Wissensstand nicht anders als entweder inhaltsleer-abstrakt oder weitgehend spekulativ und unverifiziert sein und bietet so kaum ausschlaggebende Vorteile. Wenn man es nicht gerade mit NIETZSCHE hält und meint, es komme nicht darauf an, ob ein vermeintliches Wissen zutreffend ist, sondern daß es eine Orientierung für menschliches Handeln abgibt (17), dann muß man das Verschwinden der umfassenden Geschichtskonzeptionen der ersten Soziologen als einen Fortschritt in Richtung einer differenzierteren Einsicht in die Komplexität der sozialen Wirklichkeit begrüßen.

Das Fehlen einer umfassenden Modellvorstellung hindert nicht daran, in Kausalkategorien zu denken, nach Ursachen und Folgen der beobachteten Phänomene zu fragen und vielstufige Wechselwirkungsprozesse festzustellen. Ein solches Denken ist durchaus vereinbar mit der Feststellung dessen, was ist und was geschieht. Tatsachen, d. h. das was ist, kann man mit DEWEY als - verwirklichte - Alternativen betrachten, womit man sofort zur Frage nach dem "warum gerade so?" geführt wird. Das, was geschieht, ist, daß aufgrund der Gegebenheiten  A, B  und  C  das Phänomen  X  auftritt. Derartige Feststellungen über Beziehungen zwischen Phänomenen bedeuten nicht, daß man einem Unabänderlichen ohnmächtig gegenübersteht; denn sie sagen nichts darüber aus, wieweit diese Gegebenheiten manipuliert werden können. Im Gegenteil: BENDIX z. B. sagt selber, daß ein solches Wissen um Zusammenhänge zwischen Faktoren die Grundlage für Manipulation und Meisterung der sozialen Wirklichkeit bildet. (18) Schließlich ist auch gegen die Formulierung, die empirische Forschung untersuche, "was sowieso geschieht", nichts einzuwenden, sofern damit gemeint ist, daß nach Gesetzmäßigkeiten in den Beziehungen - auch den zeitlichen und kausalen Beziehungen - zwischen sozialen Phänomenen gesucht wird. Eine mögliche Nutzung oder Steuerung dieser Gesetzmäßigkeiten bleibt dabei durchaus offen: Nur wenn man sich des Eingriffs in die sozialen Abläufe enthält, ist nicht zu ändern, was geschieht, und das zu zeigen ist sicher sinnvoll.

Ein Empirismus, der Tatsachen objektiv darstellen will und sich dazu bemüht, soziale Phänomene als meßbare Variablen zu fassen und Beziehungen zwischen ihnen zu beweisen, war zunächst eine zweckmäßige Reaktion auf den Situationsdruck, unter dem die Soziologie stand, als sie sich zur selbständigen Disziplin emanzipieren und Anerkennung als Wissenschaft erhalten wollte. Der Empiriker, dessen Feststellungen auf ihre Gültigkeit und Zuverlässigkeit hin überprüfbar sind, kann seine Wissenschaftlichkeit besser demonstrieren als der unempirisch interpretierende und kritisch deutende Soziologe. Je weniger soziologische Aussagen in ihrer Richtigkeit überprüfbar sind, umso größer ist der Druck, die eigene Wissenschaftlichkeit wenigstens durch Neutralität glaubhaft zu machen: Wer nicht Partei nimmt, dessen "Tatsachen" glaubt man in einem ideologiekritischen Zeitalter eher. Hinzu kommt, daß der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit außer durch Objektivität auch noch durch die zumindest potentielle Nützlichkeit soziologischer Arbeit gerechtfertigt werden muß - wenn nicht vor Fachkollegen, so doch vor dem größeren Publikum. Je mehr die Naturwissenschaften für den Durchschnittsbürger zum Prototyp des Wissenschaftlichen geworden sind, umso mehr wird wissenschaftliche Arbeit in einer pragmatischen Perspektive beurteilt.

Das Dilemma dieser Situation ist klar. Empirische Forschung, die nach Zusammenhängen und ihren Erklärungen sucht und durch ihre dynamische Anschauungsweise zur Innovation eher als zur Konservation tendiert, ist prinzipiell möglich. Panelforschung, Multivariationsanalyse, Beachtung von Relations- und Kontextvariablen sind einige der methodologischen Hilfsmittel, die einer derart ausgerichteten Empirie schon zur Verfügung stehen. Diese Forschung wäre nicht deskriptiv, sondern verifizierend. Sie setzt Fragestellungen voraus, die sich aus Erwartungen über das Beschaffensein der sozialen Wirklichkeit ableiten. Derartige Fragestellungen implizieren aber eine Stellungnahme zur sozialen Wirklichkeit und geraten in Widerspruch zu der als Ersatz für eine beweisbare objektive Richtigkeit geforderten Neutralität des Empirikers. Entscheidet dieser sich um der Anerkennung seiner Wissenschaftlichkeit willen zur Neutralität, gerät er wiederum in einen Gegensatz zur Forderung nach bewußter Nützlichkeit. Man kann schlechterdings nicht neutral und zugleich bewußt auf Nützlichkeit bestrebt sein, ohne sich jemandem zu Diensten zu stellen, der einen als neutrales Instrument zu seinen Zwecken benutzt. Damit wird der Soziologe gedrängt, zum unkritischen Auftragsforscher zu werden.

Diese Situation braucht jedoch nicht mehr als ein Durchgangsstadium zu sein. Je besser sich die Gültigkeit und Zuverlässigkeit empirischer Ergebnisse beweisen lassen, umso weniger muß der Forscher seine Wissenschaftlichkeit durch demonstrative Neutralität glaubhaft machen. Ist der Soziologe auch noch nicht dem Genetiker vergleichbar, dessen Ergebnisse selbst dann glaubwürdig sind, wenn seine Forschung von der persönlichen Sorge über die Auswirkungen der Atomstrahlung angeregt wurde, so kann er es sich doch in zunehmendem Maß leisten, seine Arbeit von der eigenen kritischen Fragestellung leiten zu lassen. Und zwar kann er das umso mehr, je mehr er die Forderung der Wertfreiheit bei der  Durchführung  seiner Untersuchungen beherzigt.

Das Argument gegen die empirische Forschung führt also auch auf diesem Weg zu der Kardinalfrage, warum der Soziologe sich denn der kritischen Fragestellung enthält. Da keine Eigengesetzlichkeit der Empirie diesen Verzicht erzwingt, wird man zurückverwiesen auf das Postulat der Wertfreiheit, das in dieser Diskussion um die gegenwärtige Soziologie als Einbahnstraße in die innere Emigration der kritiklosen Hinnahme des Status quo erscheint. (19)


III.

Die Forderung nach wertbezogener Sozialwissenschaft, besonders in der Form, wie sie von Vertretern des von FIJALKOWSKI so genannten erkenntnislogischen Ansatzes vorgebracht wird, verlangt zunächst einmal eine bewußt wertbezogene Themenwahl oder, was dasselbe in anderen Worten sagt, eine auf "wichtige" Probleme orientierte Soziologie. Die Wichtigkeit einer Fragestellung ist dabei durch ihre Relevanz für die Grundfragen menschlicher Existenz in der Gesellschaft (20) bzw. für solche postulierten Grundwerte wie Freiheit und Vernunft gegeben (21). Mit einer wertbezogenen Sozialwissenschaft wird zweitens gefordert, daß das festgestellte So-Sein und Sich-so-Verhalten - das auch dynamische Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten einschließt - kritisch beurteilt werden soll. Die Aussage, ein festgestellter Zustand  X  sei schlecht, braucht dabei noch kein unmittelbares und wissenschaftlich unbeweisbares Werturteil zu sein. Sie kann bedeuten, daß Zustand  X  im Hinblick auf seine Konsequenzen beweisbar schlechter ist als ein - wirklicher oder vorgestellter - Zustand  Y.  (22). Zur Beurteilung der verglichenen Konsequenzen braucht man dann aber doch einen - wissenschaftlich nicht mehr ableitbaren - Wertmaßstab, zu dem der Forscher sich, genau wie bei der wertbezogenen Themenwahl, selber entscheiden muß.

Die Forderungen einer wertbezogenen Themenwahl und Ergebnisbeurteilung stehen nicht, wie öfters behauptet oder zumindest impliziert wird, mit dem Postulat der Wertfreiheit in Widerspruch. Folgt man MAX WEBER (23) und untersucht, wie ein gegebener, also als solcher vorausgesetzter Zweck zu erreichen ist bzw. welche Gegebenheiten welche Folgen haben, dann fragt man nach dem Zusammenhang zwischen Phänomenen. Für die Feststellung eines solchen Zusammenhangs ist der Wertcharakter der betreffenden Phänomene tatsächlich irrelevant: hier gelten nur die Kriterien der Gültigkeit und der Zuverlässigkeit. Das heißt aber nicht, daß der Wissenschaftler keine Wahl hinsichtlich der "gegebenen Zwecke" hätte. MAX WEBER sagte selber, daß die die Zeit und den Forscher beherrschenden Wertideen die Themenwahl bestimmen (24). Das schließt die Möglichkeit einer bewußten eigenen Wertentscheidung ein, schließt allerdings die Möglichkeit einer Auslieferung an die je herrschenden Kräfte in der Gesellschaft und ihre Zwecke nicht aus. Eine Parteinahme für spezifische Werte, wie sie nach MAX WEBER alles Handeln ist, liegt in jedem Fall in der Bestimmung der "gegebenen Zwecke", auf die sich Fragestellung und Ergebnisbeurteilung beziehen. (25) Das Postulat der Wertfreiheit zwingt den Forscher nicht, sich diese Parteinahme von außen oktroyieren zu lassen.

Nun ließe sich allerdings argumentieren, daß die Zuverlässigkeit des wissenschaftlichen Arbeitens beeinträchtigt wird, wenn der Forscher sein Thema bewußt in einem eigenen Wertbezug wählt. Es gibt jedoch keine logische Alternative: entweder Verzicht auf bewußten Wertbezug - oder falsche Ergebnisse. Das Bemühen um Begriffe mit einem klaren empirischen Bezug wird viel eher von einer implizierten als von einer bewußten Wertung gehindert. Die Meßbarkeit eines Phänomens ist prinzipiell unabhängig davon, wie und mit wie starkem Affekt man es bewertet. Wirkungsvoller als der Versuch, die eigenen Wünsche als Väter der Gedanken auszuschalten, indem man nicht bewußt wünscht, ist eine genaue Trennung von Hypothese und Verifikation, von Ergebnis und Deutung. Je wertfreier der Soziologe in seinem Arbeiten ist, umso gefahrloser kann er in der Fragestellung und der Ergebnisbeurteilung Wertmaßstäbe anlegen.

Wenn der Soziologe darauf verzichtet, ist das dann auch seltener ein auf dem Altar wissenschaftlicher Zuverlässigkeit dargebrachtes Opfer als die Folge eigener Wertunsicherheit: aus der Unfähigkeit oder dem mangelnden Willen zu einer eigenen Wertentscheidung zieht sich der Wissenschaftler zurück auf die Ausübung seiner rein instrumentell verstandenen Funktion. Dieses Verhalten führt den Sozialwissenschaftler, wie MOORE sagt, zu einem anthropologischen Relativismus, aus dem heraus er schließlich die üblen Praktiken totalitärer Zwangsregime ebensowenig verdammen kann wie die seltsamen Heiratsgebräuche eines Eingeborenenstammes (26). Hier richtet sich die Kritik nicht gegen das Prinzip der Wertfreiheit als wissenschaftliche Arbeitsnorm, sondern gegen die Ausdehnung dieser Norm über ihren Geltungsbereich hinaus und ihre Verallgemeinerung zu der Annahme, wertfrei untersuchte Tatbestände entzögen sich überhaupt den Kategorien einer wertbezogenen Beurteilung. Dieser Schritt ist aber logisch nicht notwendig und von MAX WEBER mit dem Postulat der Wertfreiheit nicht gemeint. Man muß deshalb versuchen, ihn anderweitig zu erklären.


IV.

Es gibt Berufsrollen, wie die des Arztes, in deren Aufgabendefinition bereits die Verwirklichung eines unbestrittenen Wertes - dort etwa Gesundheit, Heilung, Lebensbewahrung - beschlossen liegt. Der Soziologe befindet sich mit seiner Berufsrolle in einer weit weniger glücklichen Lage. Erkenntnis, Wissen unabhängig von einer vorgestellten Nützlichkeit ist kein unbestrittener Wert: hier liegt eine Wurzel wichtiger Konflikte, die der Soziologe in seiner Rolle auszutragen hat.

Zweifellos gibt es eine kontemplative Neugier, einen von Nützlichkeitserwägungen freien Wissensdrang als Arbeitsmotiv bei Soziologen, wahrscheinlich besonders bei jenen, die zur Laufbahn des akademischen Forschers tendieren. Eine Beobachtung ohne augenfällige Erklärung, eine von irgendwo aufgetauchte Frage werden zum intellektuellen Problem; die Antwort zu finden, wird zur aufregenden Aufgabe und zur Probe der eigenen intellektuellen Fähigkeit. Ein derartiger Wissensdrang kann sich auf beliebige Fragen richten: ihre Schwierigkeit eher als ihre inhaltliche Bedeutsamkeit in einem praktischen Bezugssystem bestimmen ihre Wahl durch die Soziologen.

Dieser reine, keiner weiteren Legitimierung bedürfende Wissensdrang wird jedoch außerhalb der akademischen Welt aus pragmatischer Perspektive abgewertet. Selbst innerhalb der Disziplin wird immer lauter zumindest als Lippenbekenntnis gefordert, die Soziologie soll nicht irgendein beliebiges, sondern ein durch seinen Problembezug wichtiges - und damit letztlich: ein für die Lösung wichtiger Probleme nützliches - Wisen suchen und vermitteln. Erkennt der Soziologe diese Forderung an, braucht er einen bewußten Wertbezug für seine Themenwal wie für eine Beurteilung der Verwendung seines Wissens. Damit zwingt er sich nicht nur ein unter Umständen seinem eigenen Arbeitsmotiv fremdes Bezugssystem auf, sondern begibt sich durch die ausdrückliche Entscheidung über die zu fördernden Werte in eine Abhängigkeit, die ihn schnell dem Vorwurf der Parteilichkeit, der mangelnden Objektivität oder gar der Prostitution an Tagesinteressen aussetzt.

In den verschiedenen Berufsrollen der Soziologen drücken sich unterschiedliche Reaktionen auf den Konflikt zwischen Problemorientierung und Nützlichkeit einerseits, wissenschaftlicher Unabhängigkeit und reiner Erkenntnis andererseits aus. Diejenigen Soziologen, die in der Auftragsforschung oder als Experten in Verbänden, Betrieben, Verwaltung usw. ihre Aufgaben gestellt erhalten, haben die Problemorientierung akzeptiert, überlassen aber die Problemwahl ihre Vorgesetzten und Auftraggebern. Das Unbehagen der so in die Praxis einverleibten Soziologen, die sich als Wissenschaftler von der akademischen Welt bezweifelt und als bürokratische Diener der Herrschenden kritisiert sehen (27), kann dazu führen, daß sie die Absichten ihrer Auftraggeber sabotieren. Sie benutzen dann die Aufträge und das Geld der Praktiker zur Erforschung anderer als der ihnen gestellten Probleme und suchen sich damit wissenschaftlich zu legitimieren. Eine andere und, wenn man MILLs glaubt, häufigere Reaktion auf dieses Unbehagen ist der Rückzug auf ein Arbeitsethos, bei dem der Soziologe nur noch die methodologische Finesse, die Zuverlässigkeit und Gültigkeit seiner Ergebnisse beurteilt. (28)

Diese letzte Reaktionsweise ist in der Struktur der heutigen Berufswelt angelegt. Mit der Herausbildung bürokratisch eingebauter Berufsrollen hat sich eine Spaltung zwischen Person und Aufgabenträger entwickelt, die gestützt wird durch die kennzeichnend instrumentelle Ausrichtung des Handelns in der leistungsorientierten Gesellschaft. Der Beruf erscheint als vorgeprägte Rolle, deren Erwartungen man möglichst gut zu erfüllen sucht. Diese Einstellung impliziert eine Orientierung auf die Normsender: man wird zum willigen Befehlsempfänger in der Ausübung des Berufes, nachdem man ihn in bewußter eigener Entscheidung einmal gewählt hat. Dieses im eigentlichen Wortsinn bornierte Rollenbewußtsein ist nicht zufällig gerade für jene neue Mittelklasse charakteristisch, deren Entwicklung unter dem Einfluß des protestantischen Ethos stand, ist es doch bereits vorgezeichnet in der lutherischen Polarität zwischen Obrigkeitsgehorsam und der im eigenen Gewissen internalisierten Privatmoral. Der durchschnittliche Soziologe gehört zu dieser Mittelklasse. Als Spezialist in einer bürokratischen Berufsumwelt ist er ein Auftragsempfänger wie der Forschungschemiker oder der Atomphysiker, die ihre Aufgaben, synthetisches Gift oder die Kernspaltung zu entwickeln, gut und schnell zu erfüllen suchen, ohne den Wertbezug der Aufgabe selbst zu beurteilen oder sich für die Verwendung ihrer Ergebnisse verantwortlich zu fühlen.

Allerdings wird dem Soziologen der Weg in die begrenzte Rollenmoral schwerer gemacht als den Spezialisten mancher anderen Disziplin. Gerade vom Soziologen verlangt man oft, daß er eine Art höheres Gewissen der Gesellschaft sein und als überparteiliches Röntgenauge die epochalen Gesellschaftsprobleme erkennen und analysieren soll. Diese Erwartung ist eingebaut in die Rolle des akademischen Soziologen, der sich seine Themen selber wählt. Da die Wirklichkeit aber weitgehend unproblematisch bleibt, wenn man sich ihr in der Haltung passiver Aufnahmebereitschaft nähert, stellt sich für den akademischen Soziologen die Frage, woher er seine Problemstellungen nimmt. Sich lediglich von einem auf kein besonderes Problem inhaltlich festgelegten, allgemeinen Wissensdrang leiten zu lassen, setzt ihn bald dem Vorwurf des planlosen Anhäufens von Trivialitäten aus. Aus seinem eigenen sozialen Standort, der auf Anpassung gerichteten, normativ integrierten Mittelklasse, leitet sich kaum jene heilsame Unzufriedenheit mit dem Bestehenden ab, die dem akademischen Soziologen in einer westlich-pluralistischen Gesellschaft auch keine Problemstellungen von allgemein anerkannter Priorität gleichsam vorgegeben: Er muß seine Fragen selber stellen und damit Partei nehmen für spezifische Werte. Im gleichen Augenblick verstößt der Soziologe aber gegen die Rollenerwartung der überparteilichen Objektivität.

Diese spannungsgeladene Situation drängt den akademischen Soziologen, eine bewußt wertbezogene Problemstellung zu vermeiden. Er wird diesem Druck umso eher nachgeben, je mehr seine Berufswahl durch kontemplative Neugier anstatt durch praktischen Wirkungsdrang motiviert wurde; hier taucht die Selbstselektion eines bestimmten Persönlichkeitstyps zur akademischen Laufbahn als zusätzlicher Bestimmungsfaktor auf. Der akademische Soziologe kann dann entweder in eine von vager Neugier geleitete Deskription und in die Begriffsanalyse - MILLs "Grand Theory" (29) - ausweichen, oder er läßt den Wertbezug seiner je nachdem aus dem Tagesgeschehen, dem Fragenvorrat der Klassiker oder seiner eigenen Biographie abgeleiteten Themen unreflektiert und unausgedrückt. Dieser Verzicht auf einen in der Problemwahr bewußt ausgedrückten Wertbezug wirkt dann leicht auf die Arbeitsmotivierung des Betreffenden zurück. Je weniger ein solcher akademischer Soziologe sein berufliches Selbstwertgefühl aus der inhaltlichen Bedeutsamkeit seiner Arbeit ableiten kann, umso mehr treten formale Beurteilungskriterien wie die logische Eleganz, die Originalität oder die Gelehrsamkeit seiner Darlegungen in den Vordergrund. Statt durch die drängende Wichtigkeit der von ihm behandelten Probleme wird seine Tätigkeit immer mehr durch das Bestreben motiviert, Anerkennung im Kollegenkreis zu gewinnen und seinen Status zu verbessern.

Die hier skizzierten Rollenkonflikte und Situationseinflüsse würden wahrscheinlich sehr viel seltener zum Verzicht des Soziologen auf eine kritische Fragestellung und Beurteilung führen, wenn dieser Verzicht nicht zugleich der Ausdruck einer Geisteshaltung wäre, die den Gebildeten der westlichen Welt mehr oder weniger allgemein kennzeichnet: der Toleranz. Diese Toleranz, die sich in der verständnisvollen Duldung Andersartiger und ihrer Ansprüche und Werte ausdrückt, hat sich als kennzeichnende Haltung der Menschen mit höherer Schulbildung, vor allem mit akademischer Bildung erwiesen (30). Damit kehrt sich der "intelligente" und "gebildete" Mensch von einer schematisch vereinfachenden Weltsicht und von der Selbstgerechtigkeit dessen ab, der sich im Besitz der absoluten Wahrheit glaubt. Eine solche verständnisvoll tolerante Handlung, aus welchen Gründen sie der Erziehungsprozeß in Schulen und Universitäten auch immer hervorbringt, ist bereits zum Aushängeschild des Gebildeten und damit zum Prestigesymbol geworden (31). Gefördert wird diese Neigung zu einer toleranten Haltung außerdem noch durch das Überhandnehmen partieller und zugleich instrumenteller Bindungen, die es wegen ihrer begrenzten Bedeutung erleichtern, Kompromisse zu schließen und Mängel ohne aktive Kritik hinzunehmen (32).

Als Gegensatz zum unduldsamen Autoritarismus erscheint eine tolerante Haltung als Positivum. Genauer betrachtet ist jedoch zumindest eine konsequente Toleranz der Ausdruck vollständiger Entfremdung und ein ebenso negatives Extrem wie ihr Gegenpol, der autoritäre Monismus. Konsequente Toleranz, die Duldung aller vom eigenen verschiedenen Standpunkte, bedeutet einen extrem verallgemeinerten Subjektivismus und führt zur achselzuckenden Passivität. Sofern dabei die Toleranz aus der Wert unsicherheit  bzw. aus der Angst erwächst, mit einer Stellungnahme einen Irrtum zu begehen, verbirgt sich in ihr sogar noch ein Glaube oder zumindest eine Sehnsucht nach absoluten Werten. Dieser versteckte Kern der Toleranz enthüllt sich, wenn sie plötzlich in ihr Gegenteil umschlägt, wie bei IONESCO, wo der verständnisvoll Tolerante zu den Nashörnern übergeht.

Der passiven Toleranz des extremen Subjektivismus, der auf der Annahme eines Wertatomismus gründet, entspricht die verallgemeinerte Wertfreiheit als wissenschaftliche Haltung. Die völlige Ablehnung der Wertfreiheit leitet sich umgekehrt aus dem Wertmonismus mit seinem normativen Totalitätsanspruch ab. Zwischen diesen beiden Extrempositionen scheint es für ein konsequentes Denken nur die Wahl in Form eines Entweder-Oder zu geben: In dem Augenblick, wenn ein Wertmonismus nicht mehr haltbar erscheint, führt der Weg konsequenz zum extremen Subjektivismus; wird diese Position wiederum bezweifelt, schlägt das Pendel zurück zum monistischen Extrem. Derartige Prozesse des Umschlagens von einem Extrem ins andere sind schon verschiedentlich aufgezeigt worden. POLANYI z. B. hat darauf hingewiesen, wie der monistisch extreme Vernunftglaube der Aufklärung gerade bei einer konsequenten Anwendung zum romantischen Immoralismus, zum amoralischen Subjektivismus und über jene Stufe zurück zum kollektivistischen Totalitarismus führen mußte (33). Ähnlich hat BENDIX zu zeigen versucht, wie der Zweifel an der absoluten Rationalität zum absoluten Zweifel an der Rationalität geführt hat (34). Man kann einen solchen Umschlag auch in der heute vielfach bemerkten Abkehr von fanatisch geglaubter Ideologie zur unpathetischen Nüchternheit, zum Privatismus und zur politischen Apathie sehen, einer Haltung, deren Gefährlichkeit besonders ADORNO betont (35).

Dem unseligen Zwang zum Entweder-Oder erliegt auch der Soziologe, wenn er meint, es bleibt nur die Wahl zwischen völliger Wertfreiheit, auch in der Fragestellung und Ergebnisbeurteilung, und gar keiner Wertfreiheit, auch nicht als wissenschaftliche Arbeitsnorm. Wenn DAHRENDORF SCHELSKY der totalen Wertfreiheit bezichtigt, dann darum, weil er diese Extremposition aus SCHELSKYs Aufgabendefinition für die empirische Soziologie und aus seiner vermeintlichen Identifizierung von Wirklichkeit und wissenschaftlichem Weltverständnis als logische Konsequenz ableiten zu müssen glaubt (36). Wenn also jemand die Wertfreiheit nicht völlig ablehnt, muß er für den Kritiker, der in sich ausschließenden Gegensatzkategorien denkt, die völlige Wertfreiheit vertreten.

Der Soziologe, der wertfrei analysieren, seine Themen aber wertbezogen wählen und seine Ergebnisse wertbezogen beurteilen will, steht damit in der geistigen Spannung zwischen den Polen des Wertatomismus und des Wertmonismus und stellt sich zu diesen beiden Extremhaltungen gleichermaßen in einen Gegensatz. Die gemeinsame Wurzel der wertfreien Analyse und des bewußten Engagements liegt im Wertpluralismus. So hing auch, wie von von FERBER kürzlich hervorgehoben hat, MAX WEBERs Forderung nach einer wertfrei arbeitenden Soziologie mit seinem Glauben zusammen, daß die letzten Kulturwerte einander unvereinbar gegenüberstehen (37). Ein solcher Wertpluralismus schließt eine normative Funktion der Wissenschaft aus und fordert gleichzeitig die persönliche Stellungnahme in der individuell zu treffenden Entscheidung zwischen den gegensätzlichen Werten. Diese Position ist alles andere als ein extremer Subjektivismus, dem jeder Wert unverbindlich ist. Die Haltung eines Wertpluralismus befreit nicht von der Notwendigkeit verantwortlicher eigener Entscheidung und kann doch nicht die Beruhigung "absoluter" Gültigkeit des eigenen Standpunktes geben: es ist eine Haltung, die den Sprung des Glaubens fordert, diesem Glauben aber verbietet, sich jemals als absolut gültige Erkenntnis zu fühlen. Damit verlangt der Wertpluralismus, daß das Individuum die Spannung der Unsicherheit in einer widersprüchlichen Welt aushält. In dieser Welt ist nichts endgültig entschieden: gerade das konstituiert die Freiheit der Wahl und zugleich die Notwendigkeit der aktiven Parteinahme.

Es ist leicht zu verstehen, daß die Haltung des Wertpluralismus eine geistig und psychisch anspruchsvolle, für viele Menschen vielleicht allzu anspruchsvolle ist. Sie muß für jeden schwer erträglich sein, dessen Sicherheitsbestreben ihn zur logischen Konsequenz drängt und der sich deshalb von der Spannung der Ambiguität ständig zu einer Entweder-Oder-Entscheidung zwischen den gleichermaßen logisch geschlossenen Positionen des Wertmonismus und des Wertatomismus getrieben fühlt. Überdies steht diese Haltung des Wertpluralismus mit ihrem Mut, sich zu letztlich Unbeweisbarem zu entscheiden, und mit der gleichzeitigen Hinnahme von unauflöslichen Widersprüchen und Antinomien dem ausgehenden Mittelalter gefühlsmäßig vielleicht näher als dem 19. Jahrhundert. Genug der Gründe jedenfalls, um den Soziologen, der diese Haltung zur Grundlage seines Arbeitens macht, innerlich zu bedrängen und kritischen Zweifeln Andersdenkender auszusetzen. So war es wohl auch letztlich der Wertpluralismus hinter seinem Prinzip der Wertfreiheit, was MAX WEBERs Gegner im Streit im  Verein für Sozialpolitik  bekämpften. In jener Auseinandersetzung spiegelte sich der gleiche Gegensatz wie in der Kritik, ,die etwa die katholische Kirche gemeinsam mit extremen Rationalisten wie VOLTAIRE an MONTESQUIEU übte, der die Pluralität letzter Zielsetzungen als selbstverständlich annahm (38). Eine ähnliche Auseinandersetzung stand - um nur noch ein Beispiel zu nennen - hinter der kommunistischen Kritik an ALEXANDER HERZEN, der gleichfalls die Existenz absoluter Werte verneinte und sich, selber als Revolutionär aus dem zaristischen Rußland ins Exil gegangen, gegen den totalitären Zwang jeder auf vermeintlich absolute Werte gegründeten Bewegung wandte (39). Das Beispiel HERZENs dokumentiert dabei noch besonders deutlich, was auch für MAX WEBER, den Verfechter des Prinzips der Wertfreiheit, galt: daß die Haltung des bewußten Wertpluralismus nicht zum Verzicht auf eine Stellungnahme in den großen Auseinandersetzungen einer Epoche führt. Wenn die heutigen Soziologen zu einem solchen Verzicht neigen, ist daran nicht das Postulat der Wertfreiheit bzw. der es bedingende Wertpluralismus schuld, sondern die von Rollenkonflikten, Wirkungen der sozialen Lage und der Toleranznorm verstärkte Haltung des Wertatomismus, er zur Passivität des extremen Subjektivismus führt.
LITERATUR: Renate Mayntz, Soziologie in der Eremitage?, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 13, 1961
    Anmerkungen
    1) ROBERT K. MERTON, Social conflict over styles of sociological Work, hektographier, 1959.
    2) RALF DAHRENDORF, "Betrachtungen zu einigen Aspekten der gegenwärtigen deutschen Soziologie", Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 11, 1959, Seite 145.
    3) DENNIS H. WRONG, "Political Bias and the Social Sciences", Columbia University Forum, II, 1959, Seite 32
    4) MICHAEL POLYANI, Beyond Nihilism, hektographiertes Referat des Kongresses für kulturelle Freiheit, Berlin 1960.
    5) Ausführlich bei RALF DAHRENDORF, "Out of Utopia",  American Journal of Sociology,  Bd. LXIV, 1958; deutsch: Pfade aus Utopia. Zu einer Neuorientierung der soziologischen Analyse, in RALF DAHRENDORF: Gesellschaft und Freiheit, München 1961.
    6) Ähnlich kritisiert auch BARRINGTON MOORE jr.,  Political Power and Social Theory,  Cambridge 1958, Kap. 4: Strategy in Social Science.
    7) Siehe den Aufsatz von JÜRGEN FIJALKOWSKI, "Über einige Theorie-Begriffe in der deutschen Soziologie der Gegenwart", Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. XIII, 1961, Seite 88f.
    8) MERVYN L. CADWALLADER, "The Cybernetic Analysis of Change in Complex Social Organizations",  American Sociological Review,  1960, Seite 161-178.
    9) ALVIN W. GOULDNER, "The Norm of Reciprocity. A Preliminary Statement",  American Sociological Review,  1960, Seite 161-178.
    10) HELMUT SCHELSKY,  Ortsbestimmung der deutschen Soziologie,  Düsseldorf-Köln 1959, Kapitel 3: Die empirische Sozialforschung.
    11) MOORE, a. a. O., Seite 121.
    12) REINHARD BENDIX, Social Science and the Distrust of Reason.  University of California Publications,  Berkeley und Los Angeles 1951, Seite 29f.
    13) DAHRENDORF, "Betrachtungen ..." a. a. O., Seite 143
    14) RALF DAHRENDORF, "Homo Sociologicus", Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1958.
    15) Das ist z. B. das Menschenbild im Buch von JAMES G. MARCH und HERBERT SIMON,  Organizations,  New York 1958.
    16) FIJALKOWSKI, a. a. O., dieselbe Ansicht findet man bei HANS L. ZETTERBERG, On Theory and Verification in Sociology, Stockholm 1954.
    17) Siehe hierzu BENDIX, a. a. O., Seite 15.
    18) BENDIX, a. a. O., Seite 37.
    19) DAHRENDORF, "Betrachtungen ..." a. a. O. Seite 145.
    20) MERTON, a. a. O.
    21) RALF DAHRENDORF, "Die drei Soziologien", Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 12, 1960, Seite 132f. C. WRIGHT MILLS; The Sociological Imagination, New York 1959, Kap. 9: On Reason and Freedom; deutsch: Kritik der soziologischen Denkweise, Neuwied 1963.
    22) JOHN DEWEY, The Theory of Valuation, in: International Encyclopedia of Unified Science, hrsg. von OTTO NEURATH, RUDOLF CARNAP und CHARLES MORRIS, Bd. II, Heft 4, Chicago 1939.
    23) MAX WEBER, Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, in: Soziologie - weltgeschichtliche Analysen - Politik, Stuttgart 1956, Seite 186f
    24) MAX WEBER, ebd.
    25) Näher ausgeführt bei CHRISTIAN von FERBER, "Der Werturteilsstreit 1909/1959", Kölner Zeitschrift etc., Bd. 11, 1959, Seite 21-37.
    26) MOORE, a. a. O., Kap. 3: The New Scholasticism and the Study of Politics.
    27) so von MILLs, a. a. O., Kap. 5: The Bureaucratic Ethos.
    28) MILLS, ebd. Kap. 3: Abstracted Empiricism
    29) MILLS, a. a. O., Kap. 2: Grand Theory.
    30) SEYMOUR MARTIN LIPSET, Political Man, New York 1960; deutsch:  Soziologie der Demokratie,  Neuwied 1963.
    31) Nach vom Verfasser persönlich mitgeteilten Ergebnissen des  Center for Studies in Higher Education  an der University of California in Berkeley. MARK ABRAMS, "Working Class Conservatives",  Encounter,  Bd. 60, 1960, berichtet eine interessante Auswirkung des Prestigewertes einer "intelligenten" - d. h. ideologiefeindlichen - Haltung, wenn er feststellt, daß zur Konservativen Partei überwechselnde Engländer, die bisher Labour wählten, dazu u. a. durch den Wunsch veranlaßt wurden, das Selbstbild der konservativen Wähler, das als wesentlichen Zug Intelligenz enthält, auf sich selber anwenden zu könen.
    32) Siehe hierzu die anhaltende Diskussion um die Wirkungen mehrfacher Gruppenzugehörigkeit etwa bei GEORG SIMMEL, Soziologie, Berlin 1958; Kapitel 4 und 6; bei DAVID B. TRUMAN,  The Governmental Process,  New York 1951; oder bei LEWIS A. COSER,  The Functions of Social Conflict,  Glencoe 1956.
    33) POLANYI, a. a. O., er kontrastiert dort diesen unseligen Prozeß mit der glücklichen Inkonsequenz in der Entwicklung von Englands politischer Verfassung.
    34) BENDIX, a. a. O.
    35) THEODOR W. ADORNO, "Zum gegenwärtigen Stand der deutschen Soziologie", Kölner Zeitschrift etc., Bd. 11, 1959, Seite 270-280.
    36) DAHRENDORF, "Die drei Soziologien", a. a. O., Seite 131
    37) von FERBER, a. a. O., vor allem Seite 27
    38) ISAIAH BERLIN, Montesquieu,  Proceedings of the British Academy,  Bd. XLI, 1955, Seite 267-296
    39) ALEXANDER HERZEN, From the other Shore, neu aufgelegt London 1956. Über HERZEN siehe auch: E. H. CARR, The romantic Exiles, New York 1933.