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System der kritischen Philosophie [1/2]
Vorwort Diesen Weg zu Lösung des philosophischen Problems hat der Verfasser eingeschlagen; wenn er ihn, wie natürlich, für den einzig richtigen hält, so ist er doch weit entfernt von der Meinung, daß ihm die befriedigende Lösung wirklich gelungen ist, da die Größe der Aufgabe die Kräfte des Einzelnen weit übersteigt. Aber das Wesen der Wissenschaft bringt es mit sich, daß auf unbedeutenden Anfängen durch die bessernde und fördernde Tätigkeit berufener Mitarbeit sich allmählich ein stattlicher Bau erhebt, jedoch nicht ohne diese Anfänge; ob dieselben die richtigen waren, kann erst die Weiterführung des Werkes lehren. So legt außer anderen Opfern die Wissenschaft ihren Jüngern auch noch dieses auf, daß sie Versuche, deren Unfertigkeit ihnen selbst am wenigsten verborgen ist, der öffentlichen Beurteilung übergeben müssen. Die Mitwirkung Anderer ist in diesem Werk bereits in Anspruch genommen worden, indem deren begründet erscheinende Ansichten teils wörtlich wiedergegeben, teils auf ihre Ausführungen verwiesen wurde. Von wem die Wahrheit kommt, ist gleichgültig; ebenso, ob sie alt oder neu ist. - Daß die erforderliche Polemik nur gegen die Sache, nie gegen die Person gerichtet ist, versteht sich allerdings von selbst, doch erscheint es sicherer, noch einmal ausdrücklich darauf hinzuweisen. Die Darstellung ist möglichst einfach und objektiv gehalten; in der Wissenschaft gilt es nicht, zu überreden, sondern Überzeugung zu bewirken, und die willensfreie, leidenschaftslose Stimmung zu erwecken, welche zum eigenen Denken und zur Mitforschung unentbehrlich ist. ![]() E i n l e i t u n g Der Anfang der Philosophie Daß die Geschichte der Philosophie sich in Gegensätzen bewegt, muß auch der NichtHEGEL zugestehen; der selbstgewisse Dogmatismus jugendfrischer Spekulation weicht der Verzweiflung an aller positiven Erkenntnis, die Skepsis treibt immer wieder zum Dogmatismus. Wenn aber HEGEL den Gegensatz für das treibende Moment der philosophischen Entwicklung erklärt, so gelangt eine vorurteilsfreie Auffassung zu ganz anderen Ergebnissen. Sie kennt die natürliche Neigung des Menschen, aus einem Extrem in das andere überzuspringen; auch auf dem Gebiet des Wissens wendet sich des Menschen Herz vom Trotz zur Verzagtheit. Auf der anderen Seite lehrt die Erfahrung unwidersprechlich, daß die Wissenschaften langsam, aber stetig wachsen, ohne vom "Gesetz" des Gegensatzes in ihrem sicheren Gang gestört zu werden. Diese beiden Tatsachen berechtigen zu der Schlußfolgerung, daß sich die Philosophie in Gegensätzen, oder nach dem treffenden Ausdruck F. A. LANGEs in Quertreibereien bisher deshalb bewegt hat, weil die natürliche Neigung und nicht die strenge Methode der Wissenschaft ihren Entwicklungsgang vorwiegend bestimmte. Das menschliche Wissen ist einem Kreis von ungeheurer Größe vergleichbar, dessen Konstruktion die vereinigten Kräfte Vieler erfordert, wie diese nur dann gelingen könnte, wenn alle Beteiligten sich über den Mittelpunkt geeinigt hätten, der ihren Bemühungen Ziel und Richtung gibt, so ist auch der Fortschritt des wissenschaftlichen Erkennens an die Anerkennung eines gemeinsamen, für Alle verbindlichen Ausgangspunktes gebunden. Denn die Masse und Veränderlichkeit der Objekte spottet aller Anstrengungen Einzelner, daher die Teilung der Arbeit als die unerläßliche Bedingung für das sichere Wachstum des Wissens anzusehen ist. Durch die Arbeitsteilung haben die Naturwissenschaften die größten Erfolge errungen; ihre Vertreter stellen daher mit gutem Recht die Kontinuität des wissenschaftlichen Bewußtseins als das Kriterium der Wissenschaftlichkeit einer Disziplin auf, und sprechen der Philosophie den Charakter der Wissenschaftlichkeit ab. Der naturwissenschaftliche Fanatismus der jüngst verflossenen Periode verwarf nun mit der Philosophie auch die philosophischen Probleme, oder meinte sie kurzer Hand mit "Tiegel, Retorten und Affenregistern" lösen zu können. Diese einst aus wissenschaftlichen Kreisen hervorgegangene Meinung beherrscht gegenwärtig nur noch den gesunden Menschenverstand "gebildeter", aber philosophisch ungeschulter Köpfe; die nahmhaftesten Vertreter der Naturwissenschaft haben sich von der Unentbehrlichkeit philosophischer Forschung für die Gesamtwissenschaft überzeugt. Umso bedauerlicher ist die Tatsache, daß die Philosophie, äußerlich betrachtet, als Wissenschaft noch nicht existiert; die oft gepriesene neu erwachte Bewegung des philosophischen Geistes in Deutschland entbehrt noch immer desjenigen Mittelpunktes, welcher die einzelnen Ergebnisse ihrer redlichen Bemühungen zu einem wertvollen Ganzen verbinden könnte. Von dieser Einsicht durchdringen hat sich jüngst REINHOLD HOPPE bewogen gefunden, einen originellen Versuch zur wissenschaftlichen Begründung der Philosophie zu machen. Weil deren zunächst hierzu berufene Vertreter "alle Mittel des Fortschritts aus Eigensinn und Verblendung von der Hand gewiesen haben" (siehe Verhandlungen der Leipziger Naturforscherversammlung von 1872, Seite 106), fordert er in den "Philosopohischen Monatsheften" Bd. IX, 2. Heft alle Mathematiker, Natur-, Sprach- und Altertumsforscher, Ärzte, Juristen und Pädagogen zur Gründung eines "Bundes" auf, der die Philosophie zu einer gesicherten Wissenschaft umwandeln soll. Diese gänzliche Verzweiflung an der Fähigkeit oder dem guten Willen der Philosophen von Fach erscheint nun zwar nicht gerechtfertigt; es kann aber nicht geleugnet werden, daß HOPPEs Auffassung des gegenwärtigen Zustandes der Philosophie wohlbegründet ist. Es verdient daher volle Beachtung, was er in dieser Hinsicht sagt:
Die Philosophie ist Wissenschaft, darüber sind gegenwärtig fast alle ihre Vertreter einig; aber es genügt nicht, diese Versicherung nachzusprechen. Wer jenen Satz anerkennt, darf sich den Konsequenzen nicht entziehen, die sich aus ihm für die Behandlungsweise der philosophischen Probleme ergeben. Daß dies dennoch bisher meist geschehen ist, hat einen besonderen Grund: Die gegenwärtige Überzeugung von der Notwendigkeit einer streng wissenschaftlichen Bearbeitung der Philosophie ist vornehmlich durch äußere Umstände herbeigeführt worden. Dies ist "natürlich" in demselben Sinne, in welchem KANT es natürlich findet, daß die kritischen Untersuchungen über das Erkenntnisvermögen gewöhnlich vernachlässigt wurden: in beiden Fällen trieb die natürliche Neigung dazu, den richtigen, aber beschwerlichen Weg zu verlassen, und es gehörten die harten Erfahrungen der Philosophie im Kampf mit der Naturforschung dazu, ums sie von den bequemen Irrwegen zurückzuführen und zu der Überzeugung gelangen zu lassen, daß die wissenschaftliche Erkenntnisweise die einzig zuverlässige, alle vermeintliche höhere Intuition etc. aber grobe Selbsttäuschung des ungeschulten Denkens ist. Eine eigentümliche, der allgemeinen und unbedingten Anerkennung der wissenschaftlichen Erkenntnisweise entgegenstehende Schwierigkeit ist es, daß ihre Notwendigkeit, ja sogar ihre Berechtigung nicht anders als mit Hilfe einer wissenschaftlichen Grundlage dargetan werden kann. Wenn die Ergebnisse der Wissenschaft den populären Ansichten widersprechen, so ist kein wissenschaftlich Gebildeter darüber in Zweifel, auf welcher Seite die Wahrheit zu suchen ist; die größere Sicherheit der wissenschaftlichen Methode erscheint Allen so selbstverständlich, daß sie an einen Beweis dafür überhaupt nicht denken. Gesetzt aber, dieser Beweis würde doch einmal gefordert, so würde die Schwierigkeit desselben bald an den Tag treten. Denn jeder Beweis setzt in letzter Instanz gewisse, nicht weiter zu beweisende, aber von den Parteien zugestandene Sätze voraus, aus denen nach den bekannten logischen Regeln der Beweis geführt wird. Soll also bewiesen werden, daß die wissenschaftliche Forschung an Sicherheit ihrer Resultate das gewöhnliche Denken weit übertrifft, so würde dies dem Verteidiger des letzteren nur ex concessis [nach Zugeständnis - wp] darzutun sein auf Grund unbeweisbarer, elementarer Einsichten. Nun würde aber ein auf keine Weise zu schlichtender Streit darüber entstehen, wie eben diese Grundlage des Beweises gewonnen werden soll. Jede Partei würde ihre Art, zu den Prämissen zu gelangen, für die einzig berechtigte erklären, und für sich anführen, daß sie nach ihrer Methode schon viele Erkenntnisse gewonnen hat. Hierbei würde sogar ein Umstand sich zugunsten des natürlichen Denkens geltend machen: dieses darf behaupten, daß seine Erkenntnisse von der größten subjektiven Gewißheit begleitet sind, während die Wissenschaft (die einzigartige Mathematik ausgenommen) eingestandenermaßen sich mit einer hohen Wahrscheinlichkeit begnügen muß. Wenn nun der Vertreter des gesunden Menschenverstandes hieraus folgert, daß seine Erkenntnisweise, weil sie subjektive Gewißheit mit sich führt, die bessere sei, so könnte die Wissenschaft dagegen nicht geltend machen, daß ihre Erkenntnisse objektiv gewiß sind; denn alle Gewißheit ist bloß subjektiv. Die Mehrzahl der Subjekte aber würde gegen die Wissenschaft Zeugnis ablegen, und diese demnach sich vollständig außerstande sehen, den Beweis ihres Vorzuges zu führen. Eine naheliegende Expemplifikation dieser allgemeinen Wahrheit wird dieselbe zugleich klarer und einleuchtender machen. Die Lehre von der Drehung der Erde um die Sonne findet bis auf den heutigen Tag im Volk sehr wenig Glauben, weil sie dem sinnenfälligen Augenschein widerspricht. Wer nun einem Ungebildeten die Wahrscheinlichkeit jener Hypothese klar machen wollte, der müßte zuerst die beiden Teilen gemeinsame Grundlage schaffen, von der aus dieser Nachweis geführt werden könnte. In diesem Fall hätte er zu zeigen, daß "Auge und Ohr dem Menschen, dessen Verstand in Barbarei liegt, schlechte Zeugen sind." Diese Überzeugung würde aber nur mit Hilfe der Wissenschaft bewirkt werden können, da die allbekannten in der Praxis des täglichen Lebens vorkommenden Sinnestäuschungen den naiven Glauben an die Untrüglichkeit der sinnlichen Wahrnehmung erfahrungsmäßig nicht im Geringsten zu erschüttern vermögen. Der Laie glaubt eben nur das, "was er sieht", und erst, wenn die Wissenschaft ihn von der Verkehrtheit dieses Kriteriums der Wahrheit überführt hat, wird er ihren Lehren zugänglich sein. Dann ist aber eben die Basis geschaffen, und zwar mit wissenschaftlichen Mitteln ohne welche eine Verständigung unmöglich ist. So gelangt man in jedem Fall zu dem Ergebnis, daß die Beweise der Wissenschaft nur für Diejenigen gelten, welche von der Sicherheit ihrer Erkenntnisweise bereits überzeugt sind; hierzu ist aber die tatsächliche Existenz der Wissenschaft erforderlich. Diese Betrachtung wird gewöhnlich nicht angestellt, weil der sichere Gang der anerkannten Wissenschaften durch die Einwürfe und Zweifel des ungeschulten Verstandes nicht im Geringsten gestört wird. Mit denen, welche nicht auf der Höhe der Wissenschaft stehen, hat sie nicht zu rechten; sie bietet allen die Gelegenheit zur Belehrung, ob sie dieselbe benutzen wollen, hängt von ihnen ab; solange dies aber nicht geschehen ist, stehen sie außerhalb der Wissenschaft. In dieser günstigen Lage befindet sich die Philosophie nicht; sie hat vielmehr ihre gefährlichsten Gegner im eigenen Lager. Der Streit zwischen wissenschaftlicher und natürlicher Erkenntnis wird innerhalb der Philosophie von der kritischen und dogmatistischen Richtung geführt; die Geschichte der Philosophie lehrt, daß die letztere an äußerem Erfolg sich unverhältnismäßig überlegen zeigt. Wie die Wissenschaft überhaupt nur ein Besitztum Weniger ist, so wurde auch die streng wissenschaftliche Richtung in der Philosophie nur von einer kleinen Anzahl gepflegt; die entgegengesetzte Strömung überließ sich dem Drang des blinden Wissenstriebes nach absolutem Wissen, und gewann durch die vermeintliche Befriedigung desselben zu allen Zeiten die Masse für sich. Es war vergeblich, daß der kantische Kritizismus die Grenzen des menschlichen Erkennens aufwies; der Dogmatismus überschritt sie mit keckem Mut und ließ es KANT büßen, daß er geäußert hatte: "Wer einmal Kritik gekostet hat, den ekelt für immer alles dogmatische Geschwätz." Dafür erklärte SCHELLING, daß dem kantischen Kritizismus "wenig (oder gar keine) Ansprüche bleiben, Philosophie, oder auch nur Grundlage von Philosophie zu sein." HEGEL aber meinte:
Durch diese Anmaßung der verblendeten Metaphysiker türmten sich die Irrtümer zu derjenigen Höhe empor, auf der sie schließlich auch blöden Augen sichtbar werden. Das Schauspiel, welches schon das Mittelalter gesehen hatte, der Kampf der "zweifachen Wahrheit", wurde diesmal mit unerwarteter Schnelligkeit zu Ende geführt. Für die Philosophie war es zugleich der Kampf ums Dasein, zumindest im Reich der Wissenschaften; in diesem vermochte sie sich schließlich nur dadurch zu behaupten, daß sie ihre Ansprüche auf eine vermeintlich höhere Erkenntnis gänzlich fallen ließ und die streng wissenschaftliche Bearbeitung der philosophischen Probleme für die einzig berechtigte erklärte. Dieser radikale Umschwung der allgemeinen wie der philosophischen Denkweise wird begreiflich, wenn man sich das oben dargestellte Verhältnis des wissenschaftlichen zum natürlichen Erkennen vergegenwärtigt mit der daraus sich ergebenden Schwierigkeit, dem letzteren seine Unzulänglichkeit klar zu machen, wenn es die Berechtigung der Wissenschaft hartnäckig leugnet. Daher fand der "unreife" Dogmatismus so lange allgemeinen Beifall gegenüber dem verachteten Kritizismus, als Wissenschaften im strengen Sinn noch nicht vorhanden, oder ihre Resultate noch nicht zum Gemeingut der Gebildeten geworden waren. Als aber die von den Fesseln der Naturphilosophie befreite exakte Naturforschung nach streng wissenschaftlicher Methode bald das höchste leistete, da begann allmählich in immer weiteren Kreisen die Wissenschaft und ihre Erkenntnisweise zum allgemeinen Vorurteil zu werden. Denn die Urteilsfähigen erkannten, daß von der streng wissenschaftlichen Methode die Sicherheit der Erkenntnisse verbürgt wird; die Masse aber wurde durch die "handgreiflichen" Resultate der Naturwissenschaft gewonnen. Die RÜckwirkung dieses Umschwungs auf die Philosophie bewirkte auch hier, daß die wissenschaftliche Behandlung der philosophischen Probleme zum Vorurteil wurde. Was Vernunftkritik und Prolegoma bewiesen hatten, daß vor allem Erkennen eine Kritik des Erkenntnisvermögens geboten ist, dies wurde durch die Methode der Wissenschaft implizit geleistet. Sie akzeptierte den von KANT gemachten Unterschied zwischen Denken und Erkennen, und ließ Gedanken nur als Erkenntnisse gelten, wenn sie durch Beweise unterstützt wurden. Daher wurde nun, nachdem die Nichtigkeit aller transzendenten Spekulation erkannt wwar, die Philosophie vorwiegend kritisch, und die Erkenntnistheorie das Feld, auf welchem die Versuche zur Neugestaltung der philosophischen Wissenschaft angestellt wurden. Wenn die Zurückführung eines einzelnen Falles auf eine allgemeine Regel als eine Erklärung gelten kann, so sind die fortwährenden Rückfälle aus der von ARISTOTELES angebahnten wissenschaftlichen Richtung des Philosophierens in den Dogmatismus des unkritischen natürlichen Denkens aus dem oben von uns aufgezeigten Verhältnis des wissenschaftlichen zum ungeschulten Denken genügend erklärt. Die Wissenschaft überhaupt kann ihre innere Berechtigung nur dem wissenschaftlich Gebildeten erweisen, weil sie Gründe für die Vorzüge ihres Verfahrens nur mittels anerkannter wissenschaftlicher Lehren beibringen kann. Daher wird auch die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Behandlung der Philosophie aus inneren Gründen nur dann bewiesen werden können, wenn bereits eine Wissenschaft der Philosophie existiert. Diese auf rein logischem Weg abgeleitete Wahrheit wird durch die Ursachen des in der neuesten Zeit vollzogenen Umschwungs der philosophischen Denkweise hinreichend bestätigt. Jeder, dem die HEGELsche Geschichtskonstruktion nicht mehr als eine bloße Chimäre ist, wird aus dem Entwicklungsgang der neuesten Philosophie die Überzeugung gewinnen, daß vornehmlich die harten Schicksale der einstigen Königin der Wissenschaften, verglichen mit den immensen Erfolgen der streng wissenschatlich verfahrenden Naturforschung die so nötige Umkehr von den früheren Abwegen bewirkt haben. Dafür ist der beste Beweis der, daß, seitdem die Anfänge der philosophischen Wissenschaft sich bereits eine geachtete Stellung im Reich der Wissenschaften errungen haben, die lange Zeit nicht gehörten Stimmen wieder laut werden, welche eine Rückkehr zu der alten unwissenschaftlichen Behandlung der Philosophie fordern (vgl. u. a. ROMUNDT, Die menschliche Erkenntnis und das Wesen der Dinge", Basel 1872). Der von SCHELLING entdeckte "Hang des Menschen zum Großen und seine Abneigung gegen das Kleine", unter welchen Eigenschaften sich bei näherer Betrachtung nichts anderes verbirgt, als der natürliche Widerwille der Trägheit gegen die mühevollen Einzeluntersuchungen des wissenschaftlichen Verfahrens, droht immer wieder in die glücklich überwundene Strömung einzulenken, in welcher die Phantasien des Subjekts unzertrennlich mit der Erkenntnis des "Seienden" verbunden sind. Der fertigen Wissenschaft schaden diese Quertreibereien so wenig, wie dem kopernikanischen System die Einwürfe des sinnlichen Vorurteils gegen die Drehung der Erde; die werdende Wissenschaft aber muß auf die Abwehr aller Störungen bedacht sein, welche ihrem Fortschritt dadurch hinderlich werden, daß sie die unentbehrliche Kontinuität des wissenschaftlichen Bewußtseins unterbrechen. Denn die Eigentümlichkeit jeder nichtwissenschaftlichen Behandlung der philosophischen Probleme ist es, daß sie "in jedem Kopf ansetzt". Diese Lieblingsneigung des seorsum sapere [subjektiven Wissens - wp] wird erst dann gänzlich unschädlich gemacht sein, wenn eine allgemein anerkannte Theorie des Wissens die unvermeidlichen Irrtümer des natürlichen Denkens aufgedeckt und zur Evidenz nachgewiesen haben wird, daß alle vermeintlichen höheren Erkenntnisweisen nichts weiter sind als grobe Selbsttäuschungen. Es ist aber verlorene Mühe, dies vorher beweisen zu wollen; die Philosophie muß demnach unbekümmert um etwaig Einwürfe ruhig den Weg der wissenschaftlichen Erkenntnis einschlagen, in der untrüglichen Überzeugung, daß sie, am Ziel angekommen, sich sowohl Rechenschaft über den eigenen Weg geben, als auch die Irrwege des unwissenschaftlichen Verfahrens aufzeigen kann. Wenn wir es nun als entschieden betrachten, daß die Philosophie wachsen muß, wie alle übrigen Wissenschaften, so folgt hieraus, daß sie sich das Verfahren derselben, soweit es durch die Verschiedenheit der Objekte nicht beeinflußt wird, zu eigen machen muß. Als werdende Wissenschaft hat sie in demjenigen Punkt von den anerkannten Disziplinen zu lernen, welcher alle gemeinsam vom unwissenschaftlichen Erkennen unterscheidet. Welches ist nun das charakteristische Merkmal der Wissenschaft in formaler Beziehung? Wir haben bereits gesehen, daß jedem wissenschaftlich Gebildeten die Sicherheit des wissenschaftlichen Verfahrens ohne weiteres feststeht. Wenn daher die Ergebnisse des ungeschulten Denkens mit gesicherten Erkenntnissen der Wissenschaft in Widerspruch geraten, so kann gewissermaßen a priori geschlossen werden, auf welcher Seite sich die Wahrheit befindet. Die unzähligen Irrtümer des gewöhnlichen Denkens oder common sense, von denen einige durch den consensus omnium gentium [Zustimmung aller Nationen - wp] noch ganz besonders ausgezeichnet sind, geben eine hinlängliche Bürgschaft dafür, daß auch in jedem neuen Fall mit denselben Mitteln dasselbe Resultat erzielt wird. Zweitens aber wird man ebenso den Sätzen der Wissenschaft ohne nähere Prüfung Glauben schenken, weil sie nachweislich viele genügend bewährte Erkenntnisse aufzuweisen hat. Die Wissenschaft besitzt also ein Mittel, welches die Sicherheit ihrer Erkenntnisse verbürgt; das ist die Methode. Dies dem ungeschulten Verstand begreiflich zu machen, würde ein vergebliches Bemühen sein; ebenso fruchtlos ist es aber, wenn eine werdende Wissenschaft aus inneren Gründen die Richtigkeit ihrer Methode zu erweisen unternimmt. Denn das einzige Kriterium für die Richtigkeit einer Methode ist dies, daß durch sie eine Wissenschaft geschaffen worden ist. Fragt man also vom Standpunkt der fertigen Wissenschaft: Wie mußte die Methode sein, damit sie Wissenschaft begründen kann? so ist die einzig mögliche Antwort die: sie mußte genau so sein, wie sie war. Erst wenn mehrere Wissenschaften und mit ihnen auch mehrere Methoden vorhanden sind, ist es möglich, mittels der Abstraktion allgemeine methodologische Regeln aufzustellen. Eine entstehende Wissenschaft experimentiert also lediglich mit ihrer Methode und muß ihren Erfolg abwarten, um über ihre Brauchbarkeit entscheiden zu können. Bei der ersten Anwendung der wissenschaftlichen Methode ist daher die Wahrscheinlichkeit, daß sie sich bewähren wird = ½; sie wächst aber bei der zweiten und jeder folgenden Anwendung immer mehr, so daß sie schließlich der Gewißheit nahe kommt. Die Philosophie befindet sich nun im günstigen Fall, eine Anzahl anerkannter Wissenschaften mit ihrer Methode für die Entscheidung der Frage nach der eigenen Methode benutzen zu können. Natürlich kann sich der Einfluß der vorhandenen wissenschaftlichen Methode auf ihre Anwendung in einer werdenden Wissenschaft nicht weiter erstrecken, als auf das formale Moment, welches die Erkenntnisweise der Wissenschaften charakterisiert, da ihre Erkenntnisse in materieller Beziehung verschieden sind. Das charakteristische Merkmal des wissenschaftlichen Verfahrens ist aber dieses, daß nichts als Erkenntnis angesehen wird, was nicht auf irgendeine Art bewiesen werden kann. Man wird daher den Unterschied des wissenschaftlichen und des gewöhnlichen Erkennens im Allgemeinen dahin angeben können, daß das Letztere alle Gedanken eo ipso [schlechthin - wp] für Erkenntnisse hält, die Wissenschaft aber den Beweis für die objektive Begründung des Gedankens fordert, kurz sie macht die schon von KANT aufgestellte Unterscheidung zwischen Denken und Erkennen. Wenn sich die Wissenschaft ablehnend gegen jeden Gedanken verhält, der nicht mehr als subjektive Wirklichkeit hat, und das Denken erst dann als Erkennen gelten läßt, sobald es einen "objektiv" zureichenden Grund hat, so ist dies eine Unterscheidung, welche vom kritischen Standpunkt leicht angefochten werden kann. Doch haben wir uns um ihre Richtigkeit im streng philosophischen Sinn hier vorläufig nicht zu kümmern; es genpgt zu konstatieren, daß alle Wissenschaften zwischen Denken und Erkennen unterscheiden und damit tatsächlich zu ihrer gemeinschaftlichen formalen Grundlage, oder wenn man lieber will, zur allgemeinen wissenschaftlichen Propädeutik [Vorschule - wp] eine Kritik des Erkenntnisvermögens machen (vgl. TRENDELENBURG, "Logische Untersuchungen", Seite 10). Denn die allgemeine Anwendung der wissenschaftlichen Methode schließt eo ipso das Verfahren des natürlichen Denkens aus, welches von der Wissenschaft als untauglich für die Erkenntnis befunden worden ist, und muß demnach als eine implizite angestellte Kritik des Erkenntnisvermögens angesehen werden. Hiermit fällt der von philosophischer Seite oft erhobene Vorwurf, daß die nichtphilosophischen Wissenschaften dogmatisch verfahren, in sich zusammen, und kann nur etwa vom Skeptiker, welchem überhaupt alles Erkennen als dogmatisch und darum als unzulässig gilt, aufrecht erhalten werden, trifft aber dann auch jede Philosophie, die eine positive Erkenntnis erstrebt. Wenn also alle Wissenschaften mit der Kritik des Erkenntnisvermögens beginnen, so ist dies Grund genug für die wissenschaftliche Behandlung der Philosophie, ihren zu erwerbenden materiellen Erkenntnissen als allgemeine Grundlage eine Theorie des Erkennens oder Wissens vorauszuschicken. Damit sind wir auf unserem besonderen Weg zu einer Einsicht gelangt, welche die wissenschaftliche Richtung in der Philosophie seit ARISTOTELES verteidigt hat, und welche gegenwärtig von der überwiegenden Mehrheit der Philosophen geteilt wird. Es könnte hiernach scheinen, als ob unsere Begründung überflüssig gewesen wäre, da sie nach keiner Seite hin Erfolg haben könnte: denn die Anh#nger der wissenschaftlichen Richtung haben ja ohnehin jene Überzeugung längst gehabt, und die Gegner werden sich doch nicht überzeugen lassen. Hierauf ist Zweierlei zu erwidern: Erstens ziemt es der Philosophie, sich über die Gründe ihres wissenschaftlichen Verfahrens die größtmögliche Klarheit zu verschaffen; zweitens aber haben wir für die Notwendigkeit, die Erkenntnistheorie an die Spitze der Philosophie zu stellen, den einzigen Grund beigebracht, der vor der Existenz einer allgemein als wissenschaftlich anerkannten Philosophie Beweiskraft hat: die Analogie der Erkenntnisweise der übrigen Wissenschaften. Damit könnten wir die Frage nach dem Anfang der Philosophie für erledigt erklären und unsere kritische Untersuchung des Erkenntnisvermögens beginnen, wenn nicht von zwei bedeutenden philosophischen Systemen, deren einem der Charakter der Wissenschaftlichkeit nicht abgesprochen werden kann, gegen die Zuverlässigkeit dieses Anfanges Einsprache erhoben worden wäre. Von entgegengesetzten Standpunkten aus haben HEGEL und HERBART behauptet, daß das kantische Unternehmen einer Vernunftkritik vor der Metaphysik gänzlich verfehlt ist. Die HEGELschen Einwendungen sind vom Standpunkt der Identitätsphilosophie aus gemacht und treffen daher im Ganzen überein mit der Ansicht der unwissenschaftlichen Denkweise, welche Denken und Erkennen identifiziert. An zwei Stellen hat sich HEGEL über den kritischen Anfang der Philosophie ausgesprochen; in den "Vorlesungen über Geschichte der Philosophie", zweite Auflage, Seite 503 und in der "Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften", deren zweite Auflage 1827 von ihm herausgegeben wurde. Da die Ausführungen der ersteren Stelle populär witzelnd gehalten sind, so legen wir unserer Prüfung billigerweise die strengere wissenschaftliche Fassung der zweiten Stelle zugrunde. Enzyklopädie, § 10 heißt es:
Das Gleichnis vom Scholastikus ist jüngst wieder von einem Hegelianer in Schutz genommen worden, daher gehen wir hier etwas näher darauf ein. Betrachten wir zuerst die Vergleichungspunkte, so entspricht dem ins Wasser Gehen das ungeschulte Denken, dem Schwimmen das Erkennen. Man kann ins Wasser gehen, ohne schwimmen zu können, man kann denken, ohne zu erkennen (im wissenschaftlichen Sinn); das Erste braucht in beiden Fällen nicht gelernt zu werden, zum Zweiten gehört eine Ausbildung der natürlichen Anlage. Um das Zweite zu lernen, muß man in beiden Fällen das Erste tun; man muß ins Wasser gehen, um schwimmen, man muß denken, um erkennen zu lernen. Der Scholastikus scheute die Gefahren des Wassers und konnte daher nie schwimmen lernen; die kritische Philosophie aber scheut die Gefahren des natürlichen Denkens für das Erkennen, und will daher nicht eher erkennen, bis das Denken dazu geschickt ist, d. h. im Gleichnis, sie will nicht eher ohne Hilfe von jemandem, der Schwimmen lehrt, schwimmen, bsi sie sich richtig im Wasser zu bewegen gelernt hat. HEGEL aber dreht das Verhältnis um und schiebt dem Kritizisten unter, er wolle nicht eher denken, bis er erkennen kann; er selbst verfuhr umgekehrt, er wollte wie alle Dogmatiker erkennen, ehe er denken konnte. Hierüber äußerst sich ASMUS "Das Ich und das Ding ansich", Halle 1873, Seite 36:
"Wird das Subjekt jener ursprünglichen Identität mit der Gegenständlichkeit beraubt, so wird dasjenige, welches wesentlich den Charakter der allgemeinen Form zu tragen erscheint und woran die Einzelheit nur akzidental [nicht wesentlich - wp] ist, in das Gebiet des Subjektiven, und ebenso das wesentlich Einzelne und nur akzidental Allgemeine in das des Objektiven gesetzt werden. So tragen die subjektiven Vorstellungen vorherrschend das Gepräge der Allgemeinheit; nach ihrer Einzelheit erscheinen sie nur als verschwindende Modifikationen, von der Schöpferkraft des allgemeinen Ich willkürlich erzeugt; und umgekehrt: was sich der Macht der Allgemeinheit entzieht, als eine von ihr nicht erzeugte, sondern ihr notwendig sich aufdringende Einzelheit erscheint, wird als ein dem Ich Anderes, ein Ansich angesehen. - Wie schon bemerkt, bietet sich als ursprünglich Einzelnes das, was wir mit unseren Sinnen erfassen. So geschieht es, daß wir den Sinnendingen den Charakter eines selbständig Anderen zu erteilen gewohnt sind, nennen wir im Gegensatz zu jenem den Begriff des Ich erst mitkonstituierenden Ansich I. diese in den Sinnendingen vorausgesetzte Selbständigkeit von unserer schon konstituierten Subjektivität: Ansich II." Für den naiven Realisten" ist jedes Ansich I. im ASMUSschen Sinne eo ipso auch ein Ansich II. und dies ist die Quelle allen Irrtums. Hingegen ist für uns in Wirklichkeit jedes Ansich II. nur vorhanden, ndem es Ansich I. ist, d. h. alles Gegenständliche ist für uns zunächst nur etwas Gedachtes, wenn auch eben als Gegenständliches Gedachtes. Die Frage ist nun die: Welchen unter unseren Gedanken von der Qualität des Ansich I. sind wir berechtigt die Qualität des Ansich II. beizulegen? Dies können wir niemals aus einer Untersuchung des Ansich II lernen, das für uns ja nur als Ansich I. existiert und über dessen von uns als objektiv angenommene Existenzweise wir nichts anderes aussagen dürfen, als daß wir es eben als existierend denken. Alle kritische Philosophie geht davon vom Ansich I. aus, mit der deutlichen Einsicht, daß und warum sie dies tut. Der natürliche Realismus aber und ebenso der philosophische Dogmatismus gehen in Wahrheit ebenfalls vom Ansich I. aus, weil in keinem Bewußtsein sich etwas anderes findet als dieses Ansich I., sie bilden sich aber ein, vom Ansich II. auszugehen und richten nun gegen den Kritizismus die bekannten Vorwürfe. Unter diesen ist einer der sonderbarsten der, daß KANT auch "seiner Kritik der Subjektivität den subjektiven Stempel hätte aufdrücken" und lehren sollen, nicht daß wir das Ansich der Dinge nicht erkennen, sondern daß wir unsere Anschauungen und Begriffe nicht erkennen, wie sie wirklich sind. Um eine solche Behauptung aufzustellen, muß man das "Ich" für ein unabhängig von seinen Vorstellungen, Anschauungen und Begriffen existierendes Wesen halten, welches mit irgendwelchen Mitteln, nur aber nicht mittels der Vorstellungen, Anschauungen und Begriffe erkennt, daß seine Vorstellungen nicht so sind, wie sie wirklich sind. Denn genau das heißen die Worte: "Unsere Anschauungen und Begriffe werden von uns nicht erkannt, wie sie wirklich sind;" nur versteckt sich dieser Sinne, der kein Sinn mehr ist, unter der Entgegenstellung des Erkennens und des "wirklichen Seins", welche philosophisch aber ganz und gar unzulässig ist, weil alles Sein für uns nur im Denken und Erkennen existiert. Wir dürfen nie vergessen, daß da, wo wir nach der Gewohnheit unserer vorphilosophischen Zeit vom "wirklichen Sein" reden, in der streng philosophischen Ausdrucksweise nicht anders als das von uns gedachte Sein gemeint sein kann. Aus demselben Grund wird die von ASMUS aufgestellte Unterscheidung des Ansich I. vom Ansich II. nur in sehr modifizierter Weise aufrecht zu erhalten sein. Der natürliche Mensch legt allen seinen Vorstellungen das Ansich II. bei, indem er sie als Gegenstände denkt, d. h. indem er seine Vorstellungen zu Gegenständen macht; der philosophisch Gebildete besinnt sich, daß er überhaupt nichts hat als seine Vorstellungen, und daß demnach die vermeintlichen Gegenstände seiner sinnlichen Wahrnehmung nichts anderes sind als seine Vorstellungen, verbunden mit dem Gedanken der äußeren Existenz. Diesen Sachverhalt hat BAUMANN überzeugend nachgewiesen und gegen alle möglichen Einwendungen des naiven wie des philosophischen Realismus mit überlegenem Scharfsinn in seinem Buch "Philosophie als Orientierung über die Welt" verteidigt. Der Philosoph wird daher zwischen Vorstellungen unterscheiden, welche nicht anders denn als Vorstellungen gedacht werden (Ansich I. bei ASMUS), und zwischen anderen Vorstellungen, mit denen er den Gedanken der Existenz ihres Inhalts verbindet (Ansich II. bei ASMUS). Die ASMUSschen Vorwürfe treffen KANT überhaupt gar nicht, dessen Absicht vor allem darauf gerichtet war, zu entscheiden, mit welchen Vorstellungen der Gedanke der Existenz verknüpft werden muß. Diese allein waren ihm das Objekt der wissenschaftlichen und philosophischen Untersuchung, während seine Vorgänger sich fast ausschließlich um Vorstellungen von einer Beschaffenheit gemüht hatten, die nach den Ergebnissen der Vernunftkritik gar nicht auf den Gedanken der Existenz führen konnte. Bevor aber die Philosophie sich mit ihrem Gegenstand, den als existierend gedachten Vorstellungen, näher beschäftigt, untersucht sie die Berechtigung der Verknüpfung dieses Gedankens mit einer Vorstellung, um ihre Mühe nicht an Hirngespinste zu verschwenden. Daher stellt sie eine Untersuchung des Erkenntnisvermögens an, um bestimmen zu können, welche Vorstellungen den Gedanken der Existenz notwendig machen, welche anderen nur vom Irrtum des ungeschulten Verstandes mit der Existenz bekleidet werden. Die ersteren sind die Objekte der Philosophie, die letzteren überläßt sie der Phantasie und ihren Spielen. In der gewöhnlmichen Ausdrucksweise wird man demnach der Philosophie die Aufgabe zuteilen, zuerst zu entscheiden, welche Gedanken zugleich Erkenntnisse sind ("Erkennen heißt immer ein Seiendes erkennen", TRENDELENBURG), oder welche Vorstellungen und wieviel an ihnen durch existierende Gegenstände verursacht ist. Weil man damit nicht den philosophisch allein zulässigen, sondern den gewöhnlichen Sinn des naiven Realismus verbindet, nur deshalb kann mit einigem Schein über die Berechtigung einer Kritik des Erkenntnisvermögens gestritten werden. Denn wer sich vollständig klar gemacht hat, daß "die Welt meine Vorstellung" ist, oder daß Gegenstand, Existenz, Wirklichkeit nichts weiter ist als der Gedanke des Gegenstandes, der Existenz, der Wirklichkeit, der muß die Notwendigkeit der Erkenntnistheorie ohne weiteres einsehen; für ihn handelt es sich nicht mehr darum, vom Sein zum Denken, sondern vom Denken überhaupt zum Gedanken des Seins zu gelangen. Da es ihm nun durch Erfahrungen hinlänglich feststeht, daß nicht alles Denken zum Gedanken des Seins führt, so sucht er die Bedingungen auf, unter welchen der Gedanke des Seins berechtigt ist; eine Untersuchung, welche durch den natürlichen Entwicklungsgang des Denkens aller Menschen unumgänglich notwendig wird. Denn dieser ist umgekehrt wie der Gang der philosophischen Erkenntnis; er führt vom vermeintlichen Sein zum Denken, daher der gänzlich ungebildete Mensch, durch die Analogie irregeleitet, allen seinen sinnlichen Eindrücken, Vorstellungen, Gedanken das Prädikat der Wirklichkeit oder Wahrheit eo ipso beilegt. Der Erfahrene aber weiß, daß dies eine grobe Selbsttäuschung ist, er weiß ferner, daß er über seine Vorstellungen und Gedanken im Allgemeinen keine Herrschaft hat; nur das Eine steht in seinem Belieben, seinen Vorstellungen das Prädikat der Wirklichkeit oder Wahrheit entweder beizulegen oder abzusprechen. Aber auch dies ist nur dem Erfahrenen, d. h. wissenschaftlich Gebildeten möglich, da er erst durch die Wissenschaft über die Unzuverlässigkeit seiner Sinneswahrnehmungen und der sich an sie knüpfenden Gedanken belehrt werden mußte. Da es nun wohl nicht bestritten werden kann, daß die Wissenschaft zu ihren Objekten nur die Vorstellungen hat oder zumindest haben soll, welchen Wirklichkeit beigelegt werden muß, so ist notwendigerweise die Vorfrage aller Wissenschaft überhaupt: Welches sind die Vorstellungen, die mit dem Gedanken des Seins verbunden werden müssen? Der Dogmatismus aber kehrt dieses sachliche Verhältnis um und fragt: Welches ist das Sein, das vorgestellt werden muß? Da er vom Sein in Wahrheit nur den Gedanken hat und demnach selbstverständlich über das Sein nichts vermag, so richtet er seine Tätigkeit ebenso wie der Kritizismus auf das Denken. Wenn aber der letztere seine Aufgabe so formuliert:
In der "Enzyklopädie" heißt es, nachdem die einleitende Bemerkung vorausgeschickt ist, daß die kritische Philosophie sich zur Anknüpfung für einige Bemerkungen, die auf philosophische Methode und Systematik den wesentlichsten Einfluß haben, recht füglich benutzen lasse (Bd. II, Seite 50):
Die späteren Versuch der Kantianer in dieser Richtung waren nicht geeignet, HERBARTs Überzeugung zu erschüttern. Es war ihr eigentümliches Ungeschick, daß sie ihren richtigen Standpunkt teils nicht gegen Angriffe genügend zu verteidigen wußten, teils geradezu das Gegenteil von dem taten, was ihr Standpunkt konsequenterweise erforderte. Daher hat es HERBART sehr leicht, die einzelnen Lehren der Kantianer zu widerlegen, selbst da, wo sie unzweifelhaft sich auf dem richtigen Weg befanden, weil sie Wahrheit und Irrtum miteinander vermischt vortrugen. Ihre ansich richtigen Bemühungen, die Philosophie dadurch in den sicheren Gang einer Wissenschaft zu bringen, daß sie eine von Allen anerkannte gemeinsame Grundlage des Philosophierens aufstellten, riefen durch die Art ihrer Ausführung nur den Spott HERBARTs hervor (siehe dessen "Metaphysik als historische Tatsache, Bd. III, Seite 230). Ebenso hatten die Kantianer darin Recht, "daß man so viel Psychologie, als die Vernunftkritik, als Propädeutik zur Metaphysik, erfordert, vor aller Metaphysik leicht erlangen kann;" trotz dieser Einsicht aber "setzte FRIES die ganze Metaphysik in Bewegung", indem er Probleme der rationalen Psychologie zu lösen unternahm. Die Aufgabe der Erkenntnistheorie wurde von FRIES so bestimmt:
Wir müssen HERBART vollständig darin beistimmen, daß die rationale Psychologie nur von einem System der Philosophie aus bearbeitet werden darf. Da nun die Erkenntnistheorie wesentlich auf einer psychologischen Grundlage beruth, so dreht sich der Streit, ob Erkenntnistheorie oder Metaphysik den Anfang des Systems zu machen hat, in letzter Instanz um die Stellung der Psychologie innerhalb der philosophischen Disziplinen. Diese Frage ist deshalb so schwierig zu beantworten und hat zu entgegengesetzten Irrtümern geführt, weil man es sich nicht klar genug gemacht hat, daß die Psychologie eine eigentümliche Doppelstellung zur Philosophie einnimmt, sofern das Objekt jener die Denktätigkeit ist. Einerseits ist das Denken die notwendige Voraussetzung der Philosophie wie aller anderen Wissenschaften; andererseits ist es gleich den übrigen Erscheinungen im Objekt der philosophischen Spekulation. Berücksichtigt man nur die erste Beziehung der Psychologie, so verfällt man in den Irrtum der psychologischen kantischen Schule, den auch BENEKE teilt, alle Philosophie in Psychologie oder Anthropologie aufzulösen; hat man vorwiegend die andere Seite im Auge, nach welcher das Denken ein zu erklärendes Faktum ist, so gelangt man wie HERBART dazu, die Metaphysik als Grundlage der Psychologie zu betrachten, und damit das natürliche und notwendige Verhältnis umzukehren, welches zwischen der Psychologie in der oben angegebenen ersten Hinsicht und der Metaphysik stattfindet. Dieses Verhältnis wird bestimmt je nach der Entscheidung der Fragen: Kann man richtig denken, ohne zu spekulieren? und: Kann man richtig spekulieren, ohne richtig zu denken? Wenn die scholastische Philosophie unbedenklich die zweite Frage bejahen mußte, sofern sie sich selbst richtig verstanden hätte, so hat man doch seit KANT sich dahin entschieden, daß man erst richtig denken muß, um richtig spekulieren zu können, wenn wir von der bewußten nachkantischen Scholastik absehen. HERBART suchte durch die Bearbeitung der Begriffe, welche er für die Aufgabe der Metaphysik erklärte, beides zu vereinigen, indem er das gewöhnliche wie das wissenschaftliche Denken für widerspruchsvoll hielt und die "gegebenen" Widersprüche durch Spekulation zu entfernen suchte. Diese Vereinigung gelang ihm aber nur dadurch, daß er die Gesetze des wissenschaftlichen, nicht spekulativen Denkens auch der Spekulation zugrunde legte; denn die Gesetze der Identität und des Widerspruchs, welche das treibende Moment der HERBARTschen Spekulation sind, entstammen durchaus dem erfahrungsmäßigen Denken. So wurde auch HERBART wider seinen Willen durch die Natur der Sache gezwungen, Metaphysik auf der Grundlage der Erkenntnistheorie aufzubauen und gibt hierdurch die beste Bestätigung der kritischen Grundanschauung, daß die Erkenntnistheorie im System an die Spitze gestellt werden muß. Die Bedenken, welche HERBART hinichtlich der Psychologie hegte, sind durch unsere obige Unterscheidung bereits im Ganzen erledigt. In den einzelnen Punkten, welche er Seite 227 des "Lehrbuchs zur Psychologie" anführt, können wir ihm durchaus beistimmen. Der Begriff des "Erkenntnisvermögens" ist allerdings aus einer Summe von Tatsachen des Bewußtßseins herausgedeutet; aber der Streit um die Theorie der Seelenvermögen geht die Erkenntnistheorie nicht das Mindeste an. Auch die Glaubwürdigkeit der inneren Wahrnehmung oder des inneren Sinnes können wir HERBART preisgeben; die Erkenntnistheorie besitzt andere Mittel zur Begründung ihrer Lehren. Schließlich gestehen wir HERBART bereitwillig zu, daß die Prinzipien der rationalen Psychologie in die metaphysischen Hauptprobleme zurückfallen. Nur verlangen wir unsererseits die Anerkennung des Satzes, daß für die Tätigkeit des Erkennens als solche das metaphysische Wesen der Seele durchaus irrelevant ist, und daß es für das Erkennen nicht den geringsten Unterschied macht, ob die Seele ein einfaches unveränderliches Wesen ohne Vermögen oder ein ebensolches mit mehreren Vermögen, oder ob sie ein räumliches, zusammengesetztes Wesen, oder aber, ob sie ein Resultat der Gehirnfunktion ist. Alle diese Fragen können erst von einem System der Philosophie genügend beantwortet, das richtige System aber nur mit Hilfe der Erkenntnistheorie begründet werden. Diese letztere Überzeugung wird gegenwärtig auch von den hervorragendsten Anhängern der HEGELschen und HERBARTschen Philosophie geteilt. ROSENKRANZ sagt in seinen Erläuterungen zu HEGELs Enzyklopädie zu Seite 10:
THILO beginnt seine Darstellung der LOCKEschen Philosophie in der "Zeitschrift für exakte Philosophie", 1871, Seite 358 mit den Worten:
Hiermit glauben wir den sachlich gebotenen Anfang der Philosophie außer Zweifel gestellt zu haben und können zum Schluß unserer Ausführungen auf das Zeugnis der Geschichte der Philosophie hinweisen. Der Gedanke, durch eine Aufstellung bestimmter Regeln und Normen das Denken zum Erkennen geschickt zu machen, ist so alt wie die wissenschaftliche Behandlung der Philosophie. ARISTOTELES lehrt (Metayphysik IV, 3), daß die Beschäftigung mit der prote philosophia [erste Philosophie - wp] die Bekanntschaft mit der Analytik (= Logik) schon voraussetzt, und seine Autorität genügte, um bis auf WOLFF die Logik unbestritten die Stelle der philosophischen Propädeutik und Methodenlehre einnehmen zu lassen. Daß aber die Logik nichts als ein Teil der Theorie des Wissens ist, wird weiter unten bewiesen werden. ![]() |