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CARL GÖRING
System der kritischen Philosophie
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"Die größere Sicherheit der wissenschaftlichen Methode [gegenüber den bloß populären Ansichten] erscheint so selbstverständlich, daß an einen Beweis dafür überhaupt nicht gedacht wird. Gesetzt aber, dieser Beweis würde doch einmal gefordert, so würde die Schwierigkeit desselben bald an den Tag treten. Denn jeder Beweis setzt in letzter Instanz gewisse, nicht weiter zu beweisende, aber von den Parteien zugestandene Sätze voraus, aus denen nach den bekannten logischen Regeln der Beweis geführt wird."

"Es war vergeblich, daß der kantische Kritizismus die Grenzen des menschlichen Erkennens aufwies; der Dogmatismus überschritt sie mit keckem Mut und ließ es  Kant  büßen, daß er geäußert hatte: Wer einmal Kritik gekostet hat, den ekelt für immer alles dogmatische Geschwätz."

"Seit  Kants  Kritizismus ist der als gültig behauptete Standpunkt des unmittelbaren Wissens unmöglich geworden."


Vorwort

Dem historischen Kritizismus oder Kantianismus gehört das vorliegende System der kritischen Philosophie nicht an; doch ist diese Bezeichnung gewählt worden, weil die Kritik im allgemein wissenschaftlichen Sinn die Grundlage des Systems bildet. Das Geschäft dieser Kritik ist ein doppeltes: einmal soll sie die Erkenntnis von den vorhandenen Irrtümern befreien, sodann fällt ihr die positive Aufgabe zu, den festen Punkt aufzuzeigen, von welchem alles Erkennen und Wissen ausgeht, und welcher daher die unumgängliche Voraussetzung der Erkenntnis - und somit auch der Kritik - ist. Die einseitig negative Kritik, welche sich gebärdet, als ob sie absolut voraussetzungslos ist, steht der Begründung der wissenschaftlichen Philosophie nicht minder im Weg, als der kritikslose Dogmatismus, dessen Phantasiegebilde den Wissenstrieb täuschen. Erst die Verbindung der Kritik mit der systematischen Philosophie ist es, welche den Fortschritt auf philosophischem Gebiet ermöglicht.

Diesen Weg zu Lösung des philosophischen Problems hat der Verfasser eingeschlagen; wenn er ihn, wie natürlich, für den einzig richtigen hält, so ist er doch weit entfernt von der Meinung, daß ihm die befriedigende Lösung wirklich gelungen ist, da die Größe der Aufgabe die Kräfte des Einzelnen weit übersteigt. Aber das Wesen der Wissenschaft bringt es mit sich, daß auf unbedeutenden Anfängen durch die bessernde und fördernde Tätigkeit berufener Mitarbeit sich allmählich ein stattlicher Bau erhebt, jedoch nicht  ohne  diese Anfänge; ob dieselben die richtigen waren, kann erst die Weiterführung des Werkes lehren. So legt außer anderen Opfern die Wissenschaft ihren Jüngern auch noch dieses auf, daß sie Versuche, deren Unfertigkeit ihnen selbst am wenigsten verborgen ist, der öffentlichen Beurteilung übergeben müssen.

Die Mitwirkung Anderer ist in diesem Werk bereits in Anspruch genommen worden, indem deren begründet erscheinende Ansichten teils wörtlich wiedergegeben, teils auf ihre Ausführungen verwiesen wurde. Von wem die Wahrheit kommt, ist gleichgültig; ebenso, ob sie alt oder neu ist. - Daß die erforderliche Polemik nur gegen die Sache, nie gegen die Person gerichtet ist, versteht sich allerdings von selbst, doch erscheint es sicherer, noch einmal ausdrücklich darauf hinzuweisen.

Die Darstellung ist möglichst einfach und objektiv gehalten; in der Wissenschaft gilt es nicht, zu überreden, sondern Überzeugung zu bewirken, und die willensfreie, leidenschaftslose Stimmung zu erwecken, welche zum eigenen Denken und zur Mitforschung unentbehrlich ist.



E i n l e i t u n g
Der Anfang der Philosophie

Daß die Geschichte der Philosophie sich in Gegensätzen bewegt, muß auch der NichtHEGEL zugestehen; der selbstgewisse Dogmatismus jugendfrischer Spekulation weicht der Verzweiflung an aller positiven Erkenntnis, die Skepsis treibt immer wieder zum Dogmatismus. Wenn aber HEGEL den Gegensatz für das treibende Moment der philosophischen Entwicklung erklärt, so gelangt eine vorurteilsfreie Auffassung zu ganz anderen Ergebnissen. Sie kennt die natürliche Neigung des Menschen, aus einem Extrem in das andere überzuspringen; auch auf dem Gebiet des Wissens wendet sich des Menschen Herz vom Trotz zur Verzagtheit. Auf der anderen Seite lehrt die Erfahrung unwidersprechlich, daß die Wissenschaften langsam, aber stetig wachsen, ohne vom "Gesetz" des Gegensatzes in ihrem sicheren Gang gestört zu werden. Diese beiden Tatsachen berechtigen zu der Schlußfolgerung, daß sich die Philosophie in Gegensätzen, oder nach dem treffenden Ausdruck F. A. LANGEs in Quertreibereien bisher deshalb bewegt hat, weil die natürliche Neigung und nicht die strenge Methode der Wissenschaft ihren Entwicklungsgang vorwiegend bestimmte.

Das menschliche Wissen ist einem Kreis von ungeheurer Größe vergleichbar, dessen Konstruktion die vereinigten Kräfte Vieler erfordert, wie diese nur dann gelingen könnte, wenn alle Beteiligten sich über den Mittelpunkt geeinigt hätten, der ihren Bemühungen Ziel und Richtung gibt, so ist auch der Fortschritt des wissenschaftlichen Erkennens an die Anerkennung eines gemeinsamen, für Alle verbindlichen Ausgangspunktes gebunden. Denn die Masse und Veränderlichkeit der Objekte spottet aller Anstrengungen Einzelner, daher die Teilung der Arbeit als die unerläßliche Bedingung für das sichere Wachstum des Wissens anzusehen ist.

Durch die Arbeitsteilung haben die Naturwissenschaften die größten Erfolge errungen; ihre Vertreter stellen daher mit gutem Recht die Kontinuität des wissenschaftlichen Bewußtseins als das Kriterium der Wissenschaftlichkeit einer Disziplin auf, und sprechen der Philosophie den Charakter der Wissenschaftlichkeit ab. Der naturwissenschaftliche Fanatismus der jüngst verflossenen Periode verwarf nun mit der Philosophie auch die philosophischen Probleme, oder meinte sie kurzer Hand mit "Tiegel, Retorten und Affenregistern" lösen zu können. Diese einst aus wissenschaftlichen Kreisen hervorgegangene Meinung beherrscht gegenwärtig nur noch den gesunden Menschenverstand "gebildeter", aber philosophisch ungeschulter Köpfe; die nahmhaftesten Vertreter der Naturwissenschaft haben sich von der Unentbehrlichkeit philosophischer Forschung für die Gesamtwissenschaft überzeugt. Umso bedauerlicher ist die Tatsache, daß die Philosophie, äußerlich betrachtet, als Wissenschaft noch nicht existiert; die oft gepriesene neu erwachte Bewegung des philosophischen Geistes in Deutschland entbehrt noch immer desjenigen Mittelpunktes, welcher die einzelnen Ergebnisse ihrer redlichen Bemühungen zu einem wertvollen Ganzen verbinden könnte.

Von dieser Einsicht durchdringen hat sich jüngst REINHOLD HOPPE bewogen gefunden, einen originellen Versuch zur wissenschaftlichen Begründung der Philosophie zu machen. Weil deren zunächst hierzu berufene Vertreter "alle Mittel des Fortschritts aus Eigensinn und Verblendung von der Hand gewiesen haben" (siehe Verhandlungen der Leipziger Naturforscherversammlung von 1872, Seite 106), fordert er in den "Philosopohischen Monatsheften" Bd. IX, 2. Heft alle Mathematiker, Natur-, Sprach- und Altertumsforscher, Ärzte, Juristen und Pädagogen zur Gründung eines "Bundes" auf, der die Philosophie zu einer gesicherten Wissenschaft umwandeln soll. Diese gänzliche Verzweiflung an der Fähigkeit oder dem guten Willen der Philosophen von Fach erscheint nun zwar nicht gerechtfertigt; es kann aber nicht geleugnet werden, daß HOPPEs Auffassung des gegenwärtigen Zustandes der Philosophie wohlbegründet ist. Es verdient daher volle Beachtung, was er in dieser Hinsicht sagt:
    "Entweder man weise einen allgemein anerkannten Anfang der Philosophie auf, oder man erkläre unumwunden, daß die Philosophie als Wissenschaft bis jetzt noch nicht betrieben worden ist. Im letzteren Fall kann es nicht fraglich sein, daß die Realisierung eines solchen Anfangs im kleinsten Umfang mehr Wert hat als alles fernere Arbeiten ohne gemeinsame Basis."
Diese Ansicht teilt auch ULRICI, der es in der Vorrede zu seinem "Naturrecht" lebhaft beklagt, daß die von Jahr zu Jahr vermehrten philosophischen Detailforschungen aus Mangel an innerem Zusammenhang größtenteils allen Erfolges entbehren. Diesem Zustand gänzlicher Zerfahrenheit und wissenschaftlicher Anarchie muß ein Ende gemacht werden; die große Frage ist nur,  wie  dies geschehen soll?

Die Philosophie ist Wissenschaft, darüber sind gegenwärtig fast alle ihre Vertreter einig; aber es genügt nicht, diese Versicherung nachzusprechen. Wer jenen Satz anerkennt, darf sich den Konsequenzen nicht entziehen, die sich aus ihm für die Behandlungsweise der philosophischen Probleme ergeben. Daß dies dennoch bisher meist geschehen ist, hat einen besonderen Grund: Die gegenwärtige Überzeugung von der Notwendigkeit einer streng wissenschaftlichen Bearbeitung der Philosophie ist vornehmlich durch  äußere  Umstände herbeigeführt worden. Dies ist "natürlich" in demselben Sinne, in welchem KANT es natürlich findet, daß die kritischen Untersuchungen über das Erkenntnisvermögen gewöhnlich vernachlässigt wurden: in beiden Fällen trieb die natürliche Neigung dazu, den richtigen, aber beschwerlichen Weg zu verlassen, und es gehörten die harten Erfahrungen der Philosophie im Kampf mit der Naturforschung dazu, ums sie von den bequemen Irrwegen zurückzuführen und zu der Überzeugung gelangen zu lassen, daß die wissenschaftliche Erkenntnisweise die einzig zuverlässige, alle vermeintliche höhere Intuition etc. aber grobe Selbsttäuschung des ungeschulten Denkens ist.

Eine eigentümliche, der allgemeinen und unbedingten Anerkennung der wissenschaftlichen Erkenntnisweise entgegenstehende Schwierigkeit ist es, daß ihre Notwendigkeit, ja sogar ihre Berechtigung nicht anders als mit Hilfe einer  wissenschaftlichen  Grundlage dargetan werden kann. Wenn die Ergebnisse der Wissenschaft den populären Ansichten widersprechen, so ist kein wissenschaftlich Gebildeter darüber in Zweifel, auf welcher Seite die Wahrheit zu suchen ist; die größere Sicherheit der wissenschaftlichen Methode erscheint Allen so selbstverständlich, daß sie an einen Beweis dafür überhaupt nicht denken. Gesetzt aber, dieser Beweis würde doch einmal gefordert, so würde die Schwierigkeit desselben bald an den Tag treten. Denn jeder Beweis setzt in letzter Instanz gewisse, nicht weiter zu beweisende, aber von den Parteien zugestandene Sätze voraus, aus denen nach den bekannten logischen Regeln der Beweis geführt wird. Soll also bewiesen werden, daß die wissenschaftliche Forschung an Sicherheit ihrer Resultate das gewöhnliche Denken weit übertrifft, so würde dies dem Verteidiger des letzteren nur  ex concessis  [nach Zugeständnis - wp] darzutun sein auf Grund unbeweisbarer, elementarer Einsichten. Nun würde aber ein auf keine Weise zu schlichtender Streit darüber entstehen,  wie  eben diese Grundlage des Beweises gewonnen werden soll. Jede Partei würde ihre Art, zu den Prämissen zu gelangen, für die einzig berechtigte erklären, und für sich anführen, daß sie nach ihrer Methode schon viele Erkenntnisse gewonnen hat. Hierbei würde sogar ein Umstand sich zugunsten des natürlichen Denkens geltend machen: dieses darf behaupten, daß seine Erkenntnisse von der größten  subjektiven Gewißheit  begleitet sind, während die Wissenschaft (die einzigartige Mathematik ausgenommen) eingestandenermaßen sich mit einer hohen Wahrscheinlichkeit begnügen muß. Wenn nun der Vertreter des gesunden Menschenverstandes hieraus folgert, daß seine Erkenntnisweise, weil sie subjektive Gewißheit mit sich führt, die bessere sei, so könnte die Wissenschaft dagegen nicht geltend machen, daß ihre Erkenntnisse  objektiv  gewiß sind; denn alle Gewißheit ist bloß subjektiv. Die Mehrzahl der Subjekte aber würde gegen die Wissenschaft Zeugnis ablegen, und diese demnach sich vollständig außerstande sehen, den Beweis ihres Vorzuges zu führen.

Eine naheliegende Expemplifikation dieser allgemeinen Wahrheit wird dieselbe zugleich klarer und einleuchtender machen. Die Lehre von der Drehung der Erde um die Sonne findet bis auf den heutigen Tag im Volk sehr wenig Glauben, weil sie dem sinnenfälligen Augenschein widerspricht. Wer nun einem Ungebildeten die Wahrscheinlichkeit jener Hypothese klar machen wollte, der müßte zuerst die beiden Teilen gemeinsame Grundlage schaffen, von der aus dieser Nachweis geführt werden könnte. In diesem Fall hätte er zu zeigen, daß "Auge und Ohr dem Menschen, dessen Verstand in Barbarei liegt, schlechte Zeugen sind."

Diese Überzeugung würde aber nur mit Hilfe der Wissenschaft bewirkt werden können, da die allbekannten in der Praxis des täglichen Lebens vorkommenden Sinnestäuschungen den naiven Glauben an die Untrüglichkeit der sinnlichen Wahrnehmung erfahrungsmäßig nicht im Geringsten zu erschüttern vermögen. Der Laie glaubt eben nur das, "was er sieht", und erst, wenn die Wissenschaft ihn von der Verkehrtheit dieses Kriteriums der Wahrheit überführt hat, wird er ihren Lehren zugänglich sein. Dann ist aber eben die Basis geschaffen, und zwar  mit wissenschaftlichen Mitteln  ohne welche eine Verständigung unmöglich ist. So gelangt man in jedem Fall zu dem Ergebnis, daß die Beweise der Wissenschaft nur für Diejenigen gelten, welche von der Sicherheit ihrer Erkenntnisweise bereits überzeugt sind; hierzu ist aber die tatsächliche Existenz der Wissenschaft erforderlich.

Diese Betrachtung wird gewöhnlich nicht angestellt, weil der sichere Gang der anerkannten Wissenschaften durch die Einwürfe und Zweifel des ungeschulten Verstandes nicht im Geringsten gestört wird. Mit denen, welche nicht auf der Höhe der Wissenschaft stehen, hat sie nicht zu rechten; sie bietet allen die Gelegenheit zur Belehrung, ob sie dieselbe benutzen wollen, hängt von ihnen ab; solange dies aber nicht geschehen ist, stehen sie  außerhalb  der Wissenschaft.

In dieser günstigen Lage befindet sich die Philosophie nicht; sie hat vielmehr ihre gefährlichsten Gegner im eigenen Lager. Der Streit zwischen wissenschaftlicher und natürlicher Erkenntnis wird  innerhalb  der Philosophie von der kritischen und dogmatistischen Richtung geführt; die Geschichte der Philosophie lehrt, daß die letztere an äußerem Erfolg sich unverhältnismäßig überlegen zeigt. Wie die Wissenschaft überhaupt nur ein Besitztum Weniger ist, so wurde auch die streng wissenschaftliche Richtung in der Philosophie nur von einer kleinen Anzahl gepflegt; die entgegengesetzte Strömung überließ sich dem Drang des blinden Wissenstriebes nach absolutem Wissen, und gewann durch die vermeintliche Befriedigung desselben zu allen Zeiten die Masse für sich. Es war vergeblich, daß der kantische Kritizismus die Grenzen des menschlichen Erkennens aufwies; der Dogmatismus überschritt sie mit keckem Mut und ließ es KANT büßen, daß er geäußert hatte: "Wer einmal Kritik gekostet hat, den ekelt für immer alles dogmatische Geschwätz."

Dafür erklärte SCHELLING, daß dem kantischen Kritizismus "wenig (oder gar keine) Ansprüche bleiben, Philosophie, oder auch nur Grundlage von Philosophie zu sein." HEGEL aber meinte:
    "Es kann bei  Kant  nicht zu dem kommen, zu was es kommen will, weil es selbst dies ist, - nicht zu sich zu kmmen, weil es bei sich ist; es geht ihm dann wie den Juden, der Geist geht mitten hindurch, und sie merken es nicht."
Diese Mißverständnisse der kantischen Philosophie wurden für höhere Offenbarungen gehalten und das Beifallsgeschrei der Menge, welche ihre Lieblingsneigungen in den glänzenden Systemen des Dogmatismus wiederfand, ermutigte die Inhaber allen Wissens zu immer größeren Leistungen. Es galt nunmehr, die eigenen Phantasien gegen alle Angriffe der Wissenschaft sicherzustellen. Zu diesem Zweck erfand SCHELLING die intellektuelle Anschauung, HEGEL hob die Gesetze der "vormaligen" Logik auf; auch SCHOPENHAUER, welcher im Übrigen die Reaktion des wieder erwachenden kritischen Geistes gegen diese beiden repräsentiert, konnte sich nicht vom Grundirrtum seiner Zeit befreien und erklärte die Philosophie für ein "geschlossenes Wissen" zu welchem Tatsachen nichts hinzutun könnten, weshalb sie aus dem Reich der Wissenschaften in das der Künste überzutreten habe.

Durch diese Anmaßung der verblendeten Metaphysiker türmten sich die Irrtümer zu derjenigen Höhe empor, auf der sie schließlich auch blöden Augen sichtbar werden. Das Schauspiel, welches schon das Mittelalter gesehen hatte, der Kampf der "zweifachen Wahrheit", wurde diesmal mit unerwarteter Schnelligkeit zu Ende geführt. Für die Philosophie war es zugleich der Kampf ums Dasein, zumindest im Reich der Wissenschaften; in diesem vermochte sie sich schließlich nur dadurch zu behaupten, daß sie ihre Ansprüche auf eine vermeintlich höhere Erkenntnis gänzlich fallen ließ und die streng wissenschaftliche Bearbeitung der philosophischen Probleme für die einzig berechtigte erklärte.

Dieser radikale Umschwung der allgemeinen wie der philosophischen Denkweise wird begreiflich, wenn man sich das oben dargestellte Verhältnis des wissenschaftlichen zum natürlichen Erkennen vergegenwärtigt mit der daraus sich ergebenden Schwierigkeit, dem letzteren seine Unzulänglichkeit klar zu machen, wenn es die Berechtigung der Wissenschaft hartnäckig leugnet. Daher fand der "unreife" Dogmatismus so lange allgemeinen Beifall gegenüber dem verachteten Kritizismus, als Wissenschaften im strengen Sinn noch nicht vorhanden, oder ihre Resultate noch nicht zum Gemeingut der Gebildeten geworden waren. Als aber die von den Fesseln der Naturphilosophie befreite exakte Naturforschung nach streng wissenschaftlicher Methode bald das höchste leistete, da begann allmählich in immer weiteren Kreisen die Wissenschaft und ihre Erkenntnisweise zum allgemeinen Vorurteil zu werden. Denn die Urteilsfähigen erkannten, daß von der streng wissenschaftlichen Methode die Sicherheit der Erkenntnisse verbürgt wird; die Masse aber wurde durch die "handgreiflichen" Resultate der Naturwissenschaft gewonnen.

Die RÜckwirkung dieses Umschwungs auf die Philosophie bewirkte auch hier, daß die wissenschaftliche Behandlung der philosophischen Probleme zum Vorurteil wurde. Was Vernunftkritik und Prolegoma bewiesen hatten, daß vor allem Erkennen eine  Kritik  des Erkenntnisvermögens geboten ist, dies wurde durch die Methode der Wissenschaft implizit geleistet. Sie akzeptierte den von KANT gemachten Unterschied zwischen Denken und Erkennen, und ließ Gedanken nur als Erkenntnisse gelten, wenn sie durch Beweise unterstützt wurden. Daher wurde nun, nachdem die Nichtigkeit aller transzendenten Spekulation erkannt wwar, die Philosophie vorwiegend kritisch, und die Erkenntnistheorie das Feld, auf welchem die Versuche zur Neugestaltung der philosophischen Wissenschaft angestellt wurden.

Wenn die Zurückführung eines einzelnen Falles auf eine allgemeine Regel als eine Erklärung gelten kann, so sind die fortwährenden Rückfälle aus der von ARISTOTELES angebahnten wissenschaftlichen Richtung des Philosophierens in den Dogmatismus des unkritischen natürlichen Denkens aus dem oben von uns aufgezeigten Verhältnis des wissenschaftlichen zum ungeschulten Denken genügend erklärt. Die Wissenschaft überhaupt kann ihre innere Berechtigung nur dem wissenschaftlich Gebildeten erweisen, weil sie Gründe für die Vorzüge ihres Verfahrens nur mittels anerkannter  wissenschaftlicher  Lehren beibringen kann. Daher wird auch die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Behandlung der Philosophie aus  inneren  Gründen nur dann bewiesen werden können, wenn bereits eine Wissenschaft der Philosophie existiert. Diese auf rein logischem Weg abgeleitete Wahrheit wird durch die Ursachen des in der neuesten Zeit vollzogenen Umschwungs der philosophischen Denkweise hinreichend bestätigt. Jeder, dem die HEGELsche Geschichtskonstruktion nicht mehr als eine bloße Chimäre ist, wird aus dem Entwicklungsgang der neuesten Philosophie die Überzeugung gewinnen, daß vornehmlich die harten Schicksale der einstigen Königin der Wissenschaften, verglichen mit den immensen Erfolgen der streng wissenschatlich verfahrenden Naturforschung die so nötige Umkehr von den früheren Abwegen bewirkt haben. Dafür ist der beste Beweis der, daß, seitdem die Anfänge der philosophischen Wissenschaft sich bereits eine geachtete Stellung im Reich der Wissenschaften errungen haben, die lange Zeit nicht gehörten Stimmen wieder laut werden, welche eine Rückkehr zu der alten unwissenschaftlichen Behandlung der Philosophie fordern (vgl. u. a. ROMUNDT, Die menschliche Erkenntnis und das Wesen der Dinge", Basel 1872). Der von SCHELLING entdeckte "Hang des Menschen zum Großen und seine Abneigung gegen das Kleine", unter welchen Eigenschaften sich bei näherer Betrachtung nichts anderes verbirgt, als der natürliche Widerwille der Trägheit gegen die mühevollen Einzeluntersuchungen des wissenschaftlichen Verfahrens, droht immer wieder in die glücklich überwundene Strömung einzulenken, in welcher die Phantasien des Subjekts unzertrennlich mit der Erkenntnis des "Seienden" verbunden sind. Der  fertigen  Wissenschaft schaden diese Quertreibereien so wenig, wie dem kopernikanischen System die Einwürfe des sinnlichen Vorurteils gegen die Drehung der Erde; die  werdende  Wissenschaft aber muß auf die Abwehr aller Störungen bedacht sein, welche ihrem Fortschritt dadurch hinderlich werden, daß sie die unentbehrliche Kontinuität des wissenschaftlichen Bewußtseins unterbrechen. Denn die Eigentümlichkeit jeder nichtwissenschaftlichen Behandlung der philosophischen Probleme ist es, daß sie "in jedem Kopf ansetzt". Diese Lieblingsneigung des  seorsum sapere  [subjektiven Wissens - wp] wird erst dann gänzlich unschädlich gemacht sein, wenn eine allgemein anerkannte Theorie des Wissens die unvermeidlichen Irrtümer des natürlichen Denkens aufgedeckt und zur Evidenz nachgewiesen haben wird, daß alle vermeintlichen höheren Erkenntnisweisen nichts weiter sind als grobe Selbsttäuschungen. Es ist aber verlorene Mühe, dies  vorher  beweisen zu wollen; die Philosophie muß demnach unbekümmert um etwaig Einwürfe ruhig den Weg der wissenschaftlichen Erkenntnis einschlagen, in der untrüglichen Überzeugung, daß sie, am Ziel angekommen, sich sowohl Rechenschaft über den eigenen Weg geben, als auch die Irrwege des unwissenschaftlichen Verfahrens aufzeigen kann.

Wenn wir es nun als entschieden betrachten, daß die Philosophie wachsen muß, wie alle übrigen Wissenschaften, so folgt hieraus, daß sie sich das Verfahren derselben, soweit es durch die Verschiedenheit der Objekte nicht beeinflußt wird, zu eigen machen muß. Als  werdende  Wissenschaft hat sie in demjenigen Punkt von den anerkannten Disziplinen zu lernen, welcher alle gemeinsam vom unwissenschaftlichen Erkennen unterscheidet. Welches ist nun das charakteristische Merkmal der Wissenschaft in formaler Beziehung? Wir haben bereits gesehen, daß jedem wissenschaftlich Gebildeten die Sicherheit des wissenschaftlichen Verfahrens ohne weiteres feststeht. Wenn daher die Ergebnisse des ungeschulten Denkens mit gesicherten Erkenntnissen der Wissenschaft in Widerspruch geraten, so kann gewissermaßen a priori geschlossen werden, auf welcher Seite sich die Wahrheit befindet. Die unzähligen Irrtümer des gewöhnlichen Denkens oder  common sense,  von denen einige durch den  consensus omnium gentium  [Zustimmung aller Nationen - wp] noch ganz besonders ausgezeichnet sind, geben eine hinlängliche Bürgschaft dafür, daß auch in jedem neuen Fall mit denselben Mitteln dasselbe Resultat erzielt wird. Zweitens aber wird man ebenso den Sätzen der Wissenschaft ohne nähere Prüfung Glauben schenken, weil sie nachweislich viele genügend bewährte Erkenntnisse aufzuweisen hat.

Die Wissenschaft besitzt also ein Mittel, welches die Sicherheit ihrer Erkenntnisse verbürgt; das ist die  Methode.  Dies dem ungeschulten Verstand begreiflich zu machen, würde ein vergebliches Bemühen sein; ebenso fruchtlos ist es aber, wenn eine werdende Wissenschaft aus  inneren Gründen  die Richtigkeit ihrer Methode zu erweisen unternimmt. Denn das einzige Kriterium für die Richtigkeit einer Methode ist dies, daß durch sie eine Wissenschaft geschaffen worden ist. Fragt man also vom Standpunkt der fertigen Wissenschaft: Wie mußte die Methode sein, damit sie Wissenschaft begründen kann? so ist die einzig mögliche Antwort die: sie mußte genau so sein, wie sie  war.  Erst wenn mehrere Wissenschaften und mit ihnen auch mehrere Methoden vorhanden sind, ist es möglich, mittels der Abstraktion allgemeine methodologische Regeln aufzustellen. Eine entstehende Wissenschaft  experimentiert  also lediglich mit ihrer Methode und muß ihren Erfolg abwarten, um über ihre Brauchbarkeit entscheiden zu können. Bei der  ersten  Anwendung der wissenschaftlichen Methode ist daher die Wahrscheinlichkeit, daß sie sich bewähren wird = ½; sie wächst aber bei der zweiten und jeder folgenden Anwendung immer mehr, so daß sie schließlich der Gewißheit nahe kommt.

Die Philosophie befindet sich nun im günstigen Fall, eine Anzahl anerkannter Wissenschaften mit ihrer Methode für die Entscheidung der Frage nach der eigenen Methode benutzen zu können. Natürlich kann sich der Einfluß der vorhandenen wissenschaftlichen Methode auf ihre Anwendung in einer werdenden Wissenschaft nicht weiter erstrecken, als auf das formale Moment, welches die Erkenntnisweise der Wissenschaften charakterisiert, da ihre Erkenntnisse in materieller Beziehung verschieden sind. Das charakteristische Merkmal des wissenschaftlichen Verfahrens ist aber dieses, daß nichts als Erkenntnis angesehen wird, was nicht auf irgendeine Art bewiesen werden kann. Man wird daher den Unterschied des wissenschaftlichen und des gewöhnlichen Erkennens im Allgemeinen dahin angeben können, daß das Letztere alle Gedanken  eo ipso  [schlechthin - wp] für Erkenntnisse hält, die Wissenschaft aber den Beweis für die objektive Begründung des Gedankens fordert, kurz sie macht die schon von KANT aufgestellte Unterscheidung zwischen  Denken und Erkennen. 

Wenn sich die Wissenschaft ablehnend gegen jeden Gedanken verhält, der nicht mehr als subjektive Wirklichkeit hat, und das Denken erst dann als Erkennen gelten läßt, sobald es einen "objektiv" zureichenden Grund hat, so ist dies eine Unterscheidung, welche vom kritischen Standpunkt leicht angefochten werden kann. Doch haben wir uns um ihre Richtigkeit im streng philosophischen Sinn hier vorläufig nicht zu kümmern; es genpgt zu konstatieren, daß alle Wissenschaften zwischen Denken und Erkennen unterscheiden und damit tatsächlich zu ihrer gemeinschaftlichen formalen Grundlage, oder wenn man lieber will, zur allgemeinen wissenschaftlichen Propädeutik [Vorschule - wp] eine  Kritik des Erkenntnisvermögens  machen (vgl. TRENDELENBURG, "Logische Untersuchungen", Seite 10). Denn die allgemeine Anwendung der wissenschaftlichen Methode schließt  eo ipso  das Verfahren des natürlichen Denkens aus, welches von der Wissenschaft als untauglich für die Erkenntnis befunden worden ist, und muß demnach als eine implizite angestellte Kritik des Erkenntnisvermögens angesehen werden. Hiermit fällt der von philosophischer Seite oft erhobene Vorwurf, daß die nichtphilosophischen Wissenschaften dogmatisch verfahren, in sich zusammen, und kann nur etwa vom Skeptiker, welchem überhaupt alles Erkennen als dogmatisch und darum als unzulässig gilt, aufrecht erhalten werden, trifft aber dann auch jede Philosophie, die eine positive Erkenntnis erstrebt.

Wenn also alle Wissenschaften mit der Kritik des Erkenntnisvermögens beginnen, so ist dies Grund genug für die wissenschaftliche Behandlung der Philosophie, ihren zu erwerbenden materiellen Erkenntnissen als allgemeine Grundlage eine Theorie des Erkennens oder Wissens vorauszuschicken. Damit sind wir auf unserem besonderen Weg zu einer Einsicht gelangt, welche die wissenschaftliche Richtung in der Philosophie seit ARISTOTELES verteidigt hat, und welche gegenwärtig von der überwiegenden Mehrheit der Philosophen geteilt wird. Es könnte hiernach scheinen, als ob unsere Begründung überflüssig gewesen wäre, da sie nach keiner Seite hin Erfolg haben könnte: denn die Anh#nger der wissenschaftlichen Richtung haben ja ohnehin jene Überzeugung längst gehabt, und die Gegner werden sich doch nicht überzeugen lassen. Hierauf ist Zweierlei zu erwidern: Erstens ziemt es der Philosophie, sich über die Gründe ihres wissenschaftlichen Verfahrens die größtmögliche Klarheit zu verschaffen; zweitens aber haben wir für die Notwendigkeit, die Erkenntnistheorie an die Spitze der Philosophie zu stellen, den einzigen Grund beigebracht, der vor der Existenz einer allgemein als wissenschaftlich anerkannten Philosophie Beweiskraft hat: die Analogie der Erkenntnisweise der übrigen Wissenschaften.

Damit könnten wir die Frage nach dem Anfang der Philosophie für erledigt erklären und unsere kritische Untersuchung des Erkenntnisvermögens beginnen, wenn nicht von zwei bedeutenden philosophischen Systemen, deren einem der Charakter der Wissenschaftlichkeit nicht abgesprochen werden kann, gegen die Zuverlässigkeit dieses Anfanges Einsprache erhoben worden wäre. Von entgegengesetzten Standpunkten aus haben HEGEL und HERBART behauptet, daß das kantische Unternehmen einer Vernunftkritik vor der Metaphysik gänzlich verfehlt ist.

Die HEGELschen Einwendungen sind vom Standpunkt der Identitätsphilosophie aus gemacht und treffen daher im Ganzen überein mit der Ansicht der unwissenschaftlichen Denkweise, welche Denken und Erkennen identifiziert. An zwei Stellen hat sich HEGEL über den kritischen Anfang der Philosophie ausgesprochen; in den "Vorlesungen über Geschichte der Philosophie", zweite Auflage, Seite 503 und in der "Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften", deren zweite Auflage 1827 von ihm herausgegeben wurde. Da die Ausführungen der ersteren Stelle populär witzelnd gehalten sind, so legen wir unserer Prüfung billigerweise die strengere wissenschaftliche Fassung der zweiten Stelle zugrunde.  Enzyklopädie,  § 10 heißt es:
    "Ein Hauptgesichtspunkt der  kritischen  Philosophie ist, daß, ehe daran gegangen wird, Gott, das Wesen der Dinge usw. zu erkennen, das  Erkenntnisvermögen  selbst vorher zu untersuchen ist, ob es solches zu leisten fähig ist; man muß das  Instrument  vorher erst kennen lernen, ehe man die Arbeit unternimmt, die mittels desselben zustande kommen soll; wenn es unzureichend ist, würde sonst alle Mühe verschwendet sein." - Dieser Gedanke hat so  plausibel  geschienen, daß er die größte Bewunderung und Zustimmung erweckt, und das Erkennen aus seinem Interesse für die  Gegenstände  und dem Geschäft mit demselben, aus sich selbst, auf das Formelle, zurückgeführt hat. Will man sich jedoch nicht mit Worten täuschen, so ist leicht einzusehen, daß wohl andere Instrumente sich auf sonstige Weise etwa untersuchen und beurteilen lassen, als durch das Vornehmen der eigentümlichen Arbeit, der sie bestimmt sind. Aber die Untersuchung des Erkennens kann nicht anders als  erkennend  geschehen; bei diesem sogenannten Werkzeug heißt dasselbe untersuchen, nicht anders als es erkennen. Erkennen wollen aber,  ehe  man erkennt, ist ebenso ungereimt, als der weise Vorsatz jenes Scholastikers,  schwimmen zu lernen, ehe er sich ins Wasser wagt." 
Diese Auslassungen HEGELs sind bereits von verschiedenen Seiten als unberechtigt zurückgewiesen worden; so von KUNO FISCHER, "Geschichte der neueren Philosophie"; Bd. III, Seite 21, welcher hervorhebt, daß eine  Theorie  des Erkennens nicht mit dem Erkennen selbst verwechselt werden darf. Eine Theorie des Sehens kann ja auch nicht deshalb als widersinnig erscheinen, weil man zu ihrer Aufstellung des Sehens selbst benötigt. ÜBERWEG sagt "Geschichte der Philosophie", Bd. III., Seite 94, indem er HEGELs geringschätziges Urteil über LOCKE bespricht, in dessen Philosophieren ebenso wie im kantischen HEGEL eine flache Veräußerlichung der eigentlichen philosophischen Aufgabe erblickt:
    "Das  Hegelsche  Urteil würde richtig sein, wenn zwischen dem objektiven Dasein und dem subjektiven Bewußtsein nur Übereinstimmung und nicht auch Diskrepanz in wesentlichen Beziehungen bestände."
Uns scheint der prinzipielle Grundirrtum der HEGELschen Philosophie, welche die natürliche und wissenschaftliche Erkenntnis als Erzeugnisse des gesunden Menschenverstandes und der Reflexion als qualitativ gleich untereinander, dagegen als spezifisch verschieden von  höheren  philosophischen Erkenntnis aus betrachtet, auch die falsche Auffassung der Vernunftkritik verschuldet zu haben. HEGEL wußte sehr wohl, daß das natürliche Denken zum philosophischen Denken ungeschickt ist; er beklagt sich ausdrücklich darüber, daß die Philosopie allen unberufenen Einmischungen der Laien ausgesetzt ist, die sich für geborene Philosophen halten, weil sie von Natur denken, während keiner sich deshalb schon für einen Schuhmacher hält, weil er Hände zum Arbeiten und die Füße als Maß hat. Die Notwendigkeit einer philosophischen Erkenntnistheorie zu bestreiten, konnte daher HEGEL gar nicht in den Sinn kommen; umso weniger, als er selbst durch seine Aufhebung der logischen Denkgesetze und die hierdurch ermöglichte dialektische Selbstbewegung der Begriffe eine neue Erkenntnislehre schuf. Zwischen dieser und der kantischen war freilich der Unterschied, daß die erstere die HEGELsche Metaphysik einleitete, während die zweite allerdings den "Geschäften" aller bisherigen Metaphysik nicht günstig war. HEGELs Bestrebungen gingen dahin, vom fertigen System aus seine eigene, ihm unentbehrliche Erkenntnislehre zu begründen; daher verstand er KANT nicht, welcher aufgrund der Kritik des Erkenntnisvermögens Metaphysik begründen wollte. Dem ersteren stand die  Notwendigkeit  der Metaphysik vor aller Untersuchung fest, während der letztere eben ihre  Möglichkeit  untersuchte; HEGELs Werke, Bd. 17, Seite 15:
    "Kant  stellte die Frage auf: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? statt die  Notwendigkeit dieser Urteile  als den Gegenstand der Philosophie zu bestimmen."
Bei diesem Stand der Sache sind natürlich alle Gründe HEGELs sehr leicht als nicht stichhaltig nachzuweisen. Er meint, andere Instrumente ließen sich wohl auf andere Weise untersuchen, als durch das Vornehmen der eigentümlichen Arbeit, zu der sie bestimmt seien. Wie dies möglich ist, hat er leider nicht gesagt, und es ist durchaus nicht abzusehen; hat man sie vorher auf ihre Arbeit hin einmal oder öfters erprobt, dann kann man wohl allgemeine Grundsätze über ihre zweckentsprechende Beschaffenheit aufstellen und aufgrund derselben die einzelnen Instrumente etwa ohne spezielle Probe nach dem äußeren Schein für tauglich oder untauglich erklären, ganz dasselbe aber gilt vom Werkzeug des Erkennens, dem Denken; man weiß eben durch unzählige Erfahrungen, daß es im natürlichen Zustand zum wissenschaftlichen Erkennen ungeschickt ist, und darf sich für berechtigt halten, aus den vorhandenen Wissenschaften die Regeln zu abstrahieren, welche das Werkzeug des Erkennens zu seinem Gebrauch geschickt machen. Dazu braucht man nicht mehr und nicht weniger zu erkennen, als bei der Untersuchung jedes anderen Instruments.

Das Gleichnis vom Scholastikus ist jüngst wieder von einem Hegelianer in Schutz genommen worden, daher gehen wir hier etwas näher darauf ein. Betrachten wir zuerst die Vergleichungspunkte, so entspricht dem ins Wasser Gehen das ungeschulte Denken, dem Schwimmen das Erkennen. Man kann ins Wasser gehen, ohne schwimmen zu können, man kann denken, ohne zu erkennen (im wissenschaftlichen Sinn); das Erste braucht in beiden Fällen nicht gelernt zu werden, zum Zweiten gehört eine Ausbildung der natürlichen Anlage. Um das Zweite zu lernen, muß man in beiden Fällen das Erste tun; man muß ins Wasser gehen, um schwimmen, man muß denken, um erkennen zu lernen. Der Scholastikus scheute die Gefahren des Wassers und konnte daher nie schwimmen lernen; die kritische Philosophie aber scheut die Gefahren des natürlichen Denkens für das Erkennen, und will daher nicht eher erkennen, bis das Denken dazu geschickt ist, d. h. im Gleichnis, sie will nicht eher ohne Hilfe von jemandem, der Schwimmen lehrt, schwimmen, bsi sie sich  richtig im Wasser zu bewegen gelernt hat.  HEGEL aber dreht das Verhältnis um und schiebt dem Kritizisten unter, er wolle nicht eher denken, bis er erkennen kann; er selbst verfuhr umgekehrt, er wollte wie alle Dogmatiker erkennen, ehe er denken konnte.

Hierüber äußerst sich ASMUS "Das Ich und das Ding ansich", Halle 1873, Seite 36:
    "Man hat diese  Hegelsche  Kritik einen Witz genannt, mit dem  Hegel  wohlfeilen Kaufes den kantischen Standpunkt zu überwinden gedenkt. Man hat die hohe BEdeutung dieses Einwurfs eben nicht verstanden. Drücken wir es mit unseren Worten aus:  Kant  hat die vor ihm herrschende unbefangene Identität des Subjekts mit dem Ansich II. überwunden, indem er das Ding-ansich als ein dem Ich Anderes auffaßte, ist aber in der unbefangenen Identität des Ich mit dem Ansich I., ohne den darin liegenden Widerspruch zu erkennen, verblieben. Wenn wir in kantischer Weise etwa einen Tisch betrachten, so ist seine Farbe, Gestalt, kurz alles, was wir an ihm wahrnehmen und denken, subjektiv; welches Ansich diesem Tisch zugrunde liegt, erkennen wir nicht, es findet also zwischen und und diesem Ansich II. keine Identität statt. Nun untersucht  Kant  das auf die Sinnendinge gerichtete Erkennen, findet, daß wir Anschauungen, Begriffe usw. haben; diese sollen genau erkannt werden, sowohl in ihrer eigenen Einteilung, als auch in ihren Unterschieden voneinander, z. B. worin sich die Anschauung vom Begriff unterscheidet. So muß er jene als zum Objekt seines Denkens machen. Nun gilt ihm für alle Sinnendinge die Behauptung; sie verlieren als Objekt unserer Anschauung, unseres Denkens ihr Ansich; weil  wir  sie anschauen, sie denken, so sind sie auch nur  unsere subjektiven  Anschauungen, Gedanken, ohne Anspruch auf objektive Wahrheit. Entsprechend sollte es nun heißen: unsere Anschauungen und Begriffe werden von uns nicht erkannt, wie sie wirklich sind; ob die Formen der Anschauung in Raum und Zeit, ob die Begriffe in die vier Klassen wirklich zerfallen, wissen wir nicht; wir stellen sie uns nur vor, als ob sie so zerfielen, ohne mit dieser subjektiven Vorstellung Anspruch auf Wahrheit zu machen. Warum glaubte  Kant  seiner Kritik der Subjektivität nicht selbst den nur subjektiven Stempel aufdrücken zu müssen? Warum glaubte er, der uns den Blick in das Ansich der Außendinge verwehrte, das Wesen der Anschauung, des Begriffs rein erfassen zu können? Weil er zwar das in den Außendingen liegende Ansich II. nicht aber das in der Gegenständlichkeit überhaupt, in dem, was das Objekt zum Objekt macht, ruhende ursprüngliche Ansich I. erkannte."
Zwischen Ansich I. und Ansich II. unterscheidet ASMUS folgendermaßen: Ansich I. ist das ursprüngliche Ansich, das in der Gegenständlichkeit überhaupt besteht, damit also zum Begriff des Ich gehört, der sich ohne dieses Ansich überhaupt nicht abschließen kann. Schon im Begriff des Ich liegt seine Gemeinschaft mit dem Andern. Nun
    "bietet das Ich sich uns als eine Einheit der Allgemeinheit und Einzelheit. In all seinen Bestimmungen, die durch sein Versenktseins in Anderes gewonnen werden, ist es das sich selbst gleiche  eine  Ich - das ist seine Allgemeinheit; es ist aber nie in seiner bloßen Allgemeinheit rein für sich, sondern immer nur in einzelnen Bestimmungen - das ist seine Einzelheit. Denselben Charakter der mit der Allgemeinheit geeinten Einzelheit hat aber kraft jener ursprünglichen Identität (des Denkens und Seins) auch das Gegenständliche" ...

    "Wird das Subjekt jener ursprünglichen Identität mit der Gegenständlichkeit beraubt, so wird dasjenige, welches wesentlich den Charakter der allgemeinen Form zu tragen erscheint und woran die Einzelheit nur akzidental [nicht wesentlich - wp] ist, in das Gebiet des Subjektiven, und ebenso das wesentlich Einzelne und nur akzidental Allgemeine in das des Objektiven gesetzt werden. So tragen die subjektiven Vorstellungen vorherrschend das Gepräge der Allgemeinheit; nach ihrer Einzelheit erscheinen sie nur als verschwindende Modifikationen, von der Schöpferkraft des allgemeinen Ich willkürlich erzeugt; und umgekehrt: was sich der Macht der Allgemeinheit entzieht, als eine von ihr nicht erzeugte, sondern ihr notwendig sich aufdringende Einzelheit erscheint, wird als ein dem Ich Anderes, ein Ansich angesehen. - Wie schon bemerkt, bietet sich als ursprünglich Einzelnes das, was wir mit unseren Sinnen erfassen. So geschieht es, daß wir den Sinnendingen den Charakter eines selbständig Anderen zu erteilen gewohnt sind,  nennen wir im Gegensatz zu jenem den Begriff des Ich erst mitkonstituierenden Ansich I. diese in den Sinnendingen vorausgesetzte Selbständigkeit von unserer schon konstituierten Subjektivität: Ansich II." 
Diese hier gegeben Probe HEGELscher Dialektik beweist aufs Neue, wie not der Philosophie die klarste und genaueste Begriffsbestimmung tut, vornehmlich bei denjenigen Begriffen, welche, wie das  Ich,  von jedem anders gefaßt werden. Wenn sich unter dem "Ich" zugleich das Subjekt des Erkennens in formaler Hinsicht, sodann das Subjekt als Geist dem Körper gegenüber gedacht, ferner das Subjekt-Objekt, schließlich noch das Selbstbewußtsein verbirgt, so haben alle Dialektiker von Profession den ersehnten Tummelplatz der Widersprüche gefunden. Wie dieselben sehr einfach zu lösen sind, wird im Verlauf unserer Untersuchung dargetan werden. Hinsichtlich des von ASMUS gegen KANT gerichteten Vorwurfs, "daß er in der unbefangenen Identität des Ich mit dem Ansich I. verblieben ist", ist Folgendes zu bemerken.

Für den naiven Realisten" ist jedes Ansich I. im ASMUSschen Sinne eo ipso auch ein Ansich II. und dies ist die Quelle allen Irrtums. Hingegen ist für uns in Wirklichkeit jedes Ansich II. nur vorhanden, ndem es Ansich I. ist, d. h. alles Gegenständliche ist für uns zunächst nur etwas  Gedachtes,  wenn auch eben  als Gegenständliches Gedachtes.  Die Frage ist nun die: Welchen unter unseren Gedanken von der Qualität des Ansich I. sind wir berechtigt die Qualität des Ansich II. beizulegen? Dies können wir niemals aus einer Untersuchung des Ansich II lernen, das  für uns  ja nur als Ansich I. existiert und über dessen von uns als objektiv angenommene Existenzweise wir nichts anderes aussagen dürfen, als daß wir es eben als  existierend denken.  Alle kritische Philosophie geht davon vom Ansich I. aus, mit der deutlichen Einsicht, daß und warum sie dies tut. Der natürliche Realismus aber und ebenso der philosophische Dogmatismus gehen in Wahrheit ebenfalls vom Ansich I. aus, weil in keinem Bewußtsein sich etwas anderes findet als dieses Ansich I., sie bilden sich aber ein, vom Ansich II. auszugehen und richten nun gegen den Kritizismus die bekannten Vorwürfe. Unter diesen ist einer der sonderbarsten der, daß KANT auch "seiner Kritik der Subjektivität den subjektiven Stempel hätte aufdrücken" und lehren sollen, nicht daß wir das Ansich der Dinge nicht erkennen, sondern  daß wir unsere Anschauungen und Begriffe nicht erkennen, wie sie wirklich sind.  Um eine solche Behauptung aufzustellen, muß man das "Ich" für ein unabhängig von seinen Vorstellungen, Anschauungen und Begriffen existierendes Wesen halten, welches mit irgendwelchen Mitteln, nur aber  nicht mittels der Vorstellungen, Anschauungen und Begriffe  erkennt, daß seine Vorstellungen nicht so sind, wie sie wirklich sind. Denn genau das heißen die Worte: "Unsere Anschauungen und Begriffe werden von uns nicht erkannt, wie sie wirklich sind;" nur versteckt sich dieser Sinne, der kein Sinn mehr ist, unter der Entgegenstellung des Erkennens und des "wirklichen Seins", welche philosophisch aber ganz und gar unzulässig ist, weil alles Sein für uns nur im Denken und Erkennen existiert. Wir dürfen nie vergessen, daß da, wo wir nach der Gewohnheit unserer vorphilosophischen Zeit vom "wirklichen Sein" reden, in der streng philosophischen Ausdrucksweise nicht anders als das von uns  gedachte  Sein gemeint sein kann. Aus demselben Grund wird die von ASMUS aufgestellte Unterscheidung des Ansich I. vom Ansich II. nur in sehr modifizierter Weise aufrecht zu erhalten sein.

Der natürliche Mensch legt allen seinen Vorstellungen das Ansich II. bei, indem er sie als Gegenstände denkt, d. h. indem er seine Vorstellungen  zu Gegenständen macht;  der philosophisch Gebildete besinnt sich, daß er überhaupt nichts hat als seine Vorstellungen, und daß demnach die vermeintlichen Gegenstände seiner sinnlichen Wahrnehmung nichts anderes sind als seine Vorstellungen,  verbunden mit dem Gedanken der äußeren Existenz.  Diesen Sachverhalt hat BAUMANN überzeugend nachgewiesen und gegen alle möglichen Einwendungen des naiven wie des philosophischen Realismus mit überlegenem Scharfsinn in seinem Buch "Philosophie als Orientierung über die Welt" verteidigt. Der Philosoph wird daher zwischen Vorstellungen unterscheiden, welche nicht anders denn als Vorstellungen gedacht werden (Ansich I. bei ASMUS), und zwischen anderen Vorstellungen, mit denen er den  Gedanken der Existenz  ihres Inhalts verbindet (Ansich II. bei ASMUS).

Die ASMUSschen Vorwürfe treffen KANT überhaupt gar nicht, dessen Absicht vor allem darauf gerichtet war, zu entscheiden, mit welchen Vorstellungen der Gedanke der Existenz verknüpft werden muß. Diese allein waren ihm das Objekt der wissenschaftlichen und philosophischen Untersuchung, während seine Vorgänger sich fast ausschließlich um Vorstellungen von einer Beschaffenheit gemüht hatten, die nach den Ergebnissen der Vernunftkritik gar nicht auf den Gedanken der Existenz führen konnte. Bevor aber die Philosophie sich mit ihrem Gegenstand, den als existierend gedachten Vorstellungen, näher beschäftigt, untersucht sie die Berechtigung der Verknüpfung dieses Gedankens mit einer Vorstellung, um ihre Mühe nicht an Hirngespinste zu verschwenden. Daher stellt sie eine Untersuchung des Erkenntnisvermögens an, um bestimmen zu können, welche Vorstellungen den Gedanken der Existenz notwendig machen, welche anderen nur vom Irrtum des ungeschulten Verstandes mit der Existenz bekleidet werden. Die ersteren sind die Objekte der Philosophie, die letzteren überläßt sie der Phantasie und ihren Spielen. In der gewöhnlmichen Ausdrucksweise wird man demnach der Philosophie die Aufgabe zuteilen, zuerst zu entscheiden, welche Gedanken zugleich Erkenntnisse sind ("Erkennen heißt immer ein Seiendes erkennen", TRENDELENBURG), oder welche Vorstellungen und wieviel an ihnen durch  existierende Gegenstände verursacht ist.  Weil man damit nicht den philosophisch allein zulässigen, sondern den gewöhnlichen Sinn des naiven Realismus verbindet, nur deshalb kann mit einigem Schein über die Berechtigung einer Kritik des Erkenntnisvermögens gestritten werden. Denn wer sich vollständig klar gemacht hat, daß "die Welt meine Vorstellung" ist, oder daß  Gegenstand, Existenz, Wirklichkeit  nichts weiter ist als der  Gedanke  des Gegenstandes, der Existenz, der Wirklichkeit, der muß die Notwendigkeit der Erkenntnistheorie ohne weiteres einsehen; für ihn handelt es sich nicht mehr darum, vom Sein zum Denken, sondern vom Denken überhaupt zum  Gedanken des Seins  zu gelangen. Da es ihm nun durch Erfahrungen hinlänglich feststeht, daß nicht alles Denken zum Gedanken des Seins führt, so sucht er die Bedingungen auf, unter welchen der Gedanke des Seins berechtigt ist; eine Untersuchung, welche durch den natürlichen Entwicklungsgang des Denkens aller Menschen unumgänglich notwendig wird. Denn dieser ist umgekehrt wie der Gang der philosophischen Erkenntnis; er führt vom vermeintlichen Sein zum Denken, daher der gänzlich ungebildete Mensch, durch die Analogie irregeleitet, allen seinen sinnlichen Eindrücken, Vorstellungen, Gedanken das Prädikat der Wirklichkeit oder Wahrheit  eo ipso  beilegt. Der Erfahrene aber weiß, daß dies eine grobe Selbsttäuschung ist, er weiß ferner, daß er über seine Vorstellungen und Gedanken im Allgemeinen keine Herrschaft hat; nur das Eine steht in seinem Belieben, seinen Vorstellungen das Prädikat der Wirklichkeit oder Wahrheit entweder beizulegen oder abzusprechen. Aber auch dies ist nur dem  Erfahrenen,  d. h. wissenschaftlich Gebildeten möglich, da er erst durch die Wissenschaft über die Unzuverlässigkeit seiner Sinneswahrnehmungen und der sich an sie knüpfenden Gedanken belehrt werden mußte. Da es nun wohl nicht bestritten werden kann, daß die Wissenschaft zu ihren Objekten nur die Vorstellungen hat oder zumindest haben soll, welchen Wirklichkeit beigelegt werden muß, so ist notwendigerweise die Vorfrage aller Wissenschaft überhaupt: Welches sind die Vorstellungen, die mit dem Gedanken des Seins verbunden werden müssen? Der Dogmatismus aber kehrt dieses sachliche Verhältnis um und fragt: Welches ist das  Sein,  das  vorgestellt  werden muß? Da er vom Sein in Wahrheit nur den Gedanken hat und demnach selbstverständlich über das Sein nichts vermag, so richtet er seine Tätigkeit ebenso wie der Kritizismus auf das Denken. Wenn aber der letztere seine Aufgabe so formuliert:
    "Wie muß das Denken überhaupt beschaffen sein, damit seinen einzelnen Produkten der Gedanke des Seins zugeteilt werden kann? so fragt der Dogmatismus: Wie muß das  Sein  beschaffen sein, damit es  gedacht  werden kann? Er hat aber außer Acht gelassen, daß es philosophisch gesprochen dieses bedeutet: Wie muß  der Gedanke des Seins  beschaffen sein, um gedacht werden zu können? und konstruiert nun seine Gedanken so zurecht, daß sie  formell  denkbar sind. Aus der Logik weiß er, daß Widersprüche im Denken nicht vorkommen dürfen, daß demnach von zwei sich widersprechenden Vorstellungen nur die eine als  existierend gedacht  werden darf. Dieses Gesetz des  Denkens  verwandelt sich aber unter der Hand in ein Gesetz des  Seins,  daher dasjenige Seiende, welches nicht ohne Widerspruch  gedacht  werden kann, folgerichtig entweder als  nichtseiend  angenommen, oder der Widerspruch in das "Sein" selbst verlegt wird. Diese Art zu philosophieren kommt im Grunde gar nicht über die Erkenntnistheorie hinaus; wie diese beschäftigt sie sich mit den Irrtümern des natürlichen Erkenens, welches sich in Widersprüchen aller Art recht heimisch fühlt, und  legt so den Grund  zur Entscheidung der Frage: Welchen Vorstellungen ist der Gedanke des Seins zuzuteilen? Sie gelangt zur Entscheidung der Frage selbst nur durch eine  metabasis eis allo genos  [Sprung auf fremdes Gebiet - wp], indem sie ihre Gedanken plötzlich als das Denken des Seienden hinstellt, dessen Begriff sie aus der naiven Anschauung beibehalten hat." -
HERBART, welcher unter den Dogmatikern nach KANT den kritischen Geist sich am meisten bewahrt hat, nimmt in unserer Frage eine eigentümliche Stellung ein. Die Notwendigkeit einer Untersuchung der Begriffe erkennt er bereitwillig an; in der Vorrede zum "Lehrbuch der Psychologie" sagt, daß man sich der psychologischen Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis nirgends erwehren kann, wo etwas mit Entschiedenheit als Wahrheit und als frei vom Verdacht des verborgenen Irrtums anerkannt und festgestellt werden soll. Wenn er nach dieser Äußerung ganz auf einem kritischen Standpunkt zu stehen scheint, da er die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis in den Vordergrund stellt, so hat er selbst in seinem Philosophieren das Entgegengesetzte getan, indem er zuerst Metaphysik als abgeschlossene Erkenntnis hinstelle und von dieser aus nachträglich die Kritik übte. Die Gründe dieses Verfahrens hat er an mehreren Stellen angegeben, wo er sich mit der kantischen Philosophie auseinandersetzt.

In der "Enzyklopädie" heißt es, nachdem die einleitende Bemerkung vorausgeschickt ist, daß die kritische Philosophie sich zur Anknüpfung für einige Bemerkungen,  die auf philosophische Methode und Systematik den wesentlichsten Einfluß haben,  recht füglich benutzen lasse (Bd. II, Seite 50):
    "Zu jeder metaphysischen Untersuchung, welche von einem gegebenen Hauptbegriff aus vorwärts geht, um den Kreis des Wissens zu erweitern, gehört eine psychologische Untersuchung des nämlichen Begriffs in Anbetracht seines Ursprungs."
Dazu die Anmerkung:
    "Und rückwärts, zu jeder von diesen psychologischen Untersuchungen gehört die entsprechende metaphysische. Das sei denen gesagt, welche meinen, Psychologie ohne Metaphysik treiben zu können."
"Lehrbuch zur Psychologie", Seite 227:
    "Die nämliche Ehre aber, an die Spitze der Metaphysik gestellt zu werden, müßte vielmehr der Psychologie widerfahren, wenn das berühmte Unternehmen der Vernunftkritik, ich will nicht sagen, richtig ausgeführt worden, sondern nur in der ersten Anlage ein richtiger Gedanke gewesen wäre, oder jemals werden könnte. - Eine Vernunftkritik hat zu ihrem Gegenstand die Vernunft, oder besser das gesamte Erkenntnisvermögen; diesen Gegenstand muß sie als bekannt voraussetzen und hierin liegen Irrtümer, die sich durch gar nichts wieder gut machen lassen. Vom Erkenntnisvermögen wissen wir als von einer Summe von Tatsachen des Bewußtseins. Noch glücklich, wenn uns diese durch innere Wahrnehmung, oder, wenn man lieber will, durch eine Anschauung des inneren Sinns bekannt geworden sind. Alsdann aber fragt sich sogleich, wieviel Glauben die innere Anschauung verdient? Eine Frage, welche die Anschauung selbst immermehr beantworten kann. - Allein es ist nicht einmal wahr, daß wir eine so unmittelbare Kenntnis vom sogenannten Erkenntnisvermögen besitzen, dessen Begriff wir vielmehr aus den vorgefundenen  Produkten  unserer geistigen Tätigkeit herausgedeutet haben."
Wenn durch die Erkenntnis des Irrtums überhaupt die Wahrheit gefördert wird, so kann man von den Irrtümern bedeutender Denker behaupten, daß sich aus ihnen in jedem Fall sehr viel lernen läßt. Denn es ist von vornherein anzunehmen, daß gewichtige Gründe vorhanden sind, welche ihren Scharfsinn über den wahren Sachverhalt täuschen. In diesem Fall befindet sich die Polemik HERBARTs gegen den kritischen Anfang der Philosophie. HERBART fürchtete durch denselben eine Wissenschaft auf Abwege geraten zu sehen, für deren sicheren Aufbau er selbst eine hervorragende Tätigkeit entwickelte: die Psychologie. Dies hat er ausdrücklich ausgesprochen im "Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie", Bd. I, Seite 55:
    "Zu den ersten Bedingungen des Philosophierens zählen viele Neuere vor allem andern gewisse Vorkenntnisse von der Natur und der Entwicklung des menschlichen Geistes."
Nachdem gegen diese Ansicht zwei Gründe aufgeführt sind, heißt es weiter:
    "Drittens:  Man gerät durch die Erwähnung der Psychologie leicht in das Gleis des Irrtums von den Seelenvermögen,  womit auch diejenigen befangen sind, die dagegen protestieren."
In dieser Ansicht wurde HERBART durch die vorhandenen Versuche einer Kritik des Erkenntnisvermögens lediglich bestärkt; alle begingen mehr oder weniger den Fehler, in der philosophischen Propädeutik Lehren der sogenannten  rationalen  Psychologie vorzutragen, welche, wie HERBART mit gutem Recht behauptete, nur auf der Grundlage einer Metaphysik aufgestellt werden dürfen. Ihm erschienen daher alle Leistungen des Kritizismus als ein Gemisch von Psychologie und Metaphysik, durch welches beide Disziplinen verdorben wurden; (a. a. O., Bd. III, Seite 118):
    "Betrachtet man den Umriß der Vernunftkritik: so kann man einen Augenblick zweifelhaft bleiben: ist sie eine Psychologie? oder eine ganze Metaphysik?"
Diesen Zweifel sucht zwar JÜRGEN BONA-MEYER niederzuschlagen ("Kants Psychologie etc.", Seite 38), indem er als die eigentliche Absicht der Vernunftkritik angibt, daß sie als Propädeutik eine Metaphysik als Wissenschaft vorbereiten soll. Indessen ist diese Behauptung, welche FICHTE auch auf die übrigen Kritiken ausdehnte, noch von KANT selbst energisch zurückgewiesen worden, in der "Jenaischen allgemeinen Literaturzeitung" 1729:
    "Hierbei muß ich bemerken, daß die Anmaßung, mit die Absicht unterzuschieben: ich habe bloß eine  Propädeutik  zur Transzendentalphilosophie, nicht das  System  dieser Philosophie selbst liefern wollen, mir unbegreiflich ist. Es hat mir eine solche Absicht nie in Gedanken kommen können" etc. (vgl.  Liebmann,  "Kant und die Epigonen", Seite 75)
Man hat durchaus keinen Grund, an dieser bestimmten Erklärung herumzudeuteln, oder sie etwa aus einem durch Altersschwäche verursachten Irrtum KANTs herzuleiten. Die Vorrede zur ersten Auflage der Vernunftkritik läßt nicht den geringsten Zweifel darüber, daß KANT an die Stelle des "wurmstichigen" Dogmatismus seiner Vorgänger eine neue, unangreifbare Metaphysik zu setzen beabsichtigte; denn er "schmeichelt sich nicht nur, auf dem einzigen übrig gelassenen Weg, dem der Kritik des Vernunftvermögens alle Irrungen des Dogmatismus abgestellt zu haben," sondern er "erkühnt sich zu sagen, daß nicht eine einzige metaphysische Aufgabe sein muß, die hier nicht aufgelöst oder zu deren Auflösung nicht wenigstens der Schlüssel dargereicht wird." Die letztere restringierende Erklärung, die öfters wiederkehrt, z. B. am Ende der Vorrede zur ersten Auflage, wie auch zum Schluß des Werkes, wo KANT die baldige völlige Befriedigung des metaphysischen Bedürfnisses verspricht, scheint jenes Mißverständnis veranlaßt zu haben, daß auf die Vernunftkritik noch ein System folgen soll. So werden wir HERBART mindestens darin beistimmen müssen, daß die Kritik der reinen Vernunft Metaphysik enthält, wenn auch mit Recht bestritten werden kann, daß sie eine "Psychologie" ist.

Die späteren Versuch der Kantianer in dieser Richtung waren nicht geeignet, HERBARTs Überzeugung zu erschüttern. Es war ihr eigentümliches Ungeschick, daß sie ihren richtigen Standpunkt teils nicht gegen Angriffe genügend zu verteidigen wußten, teils geradezu das Gegenteil von dem taten, was ihr Standpunkt konsequenterweise erforderte. Daher hat es HERBART sehr leicht, die einzelnen Lehren der Kantianer zu widerlegen, selbst da, wo sie unzweifelhaft sich auf dem richtigen Weg befanden, weil sie Wahrheit und Irrtum miteinander vermischt vortrugen. Ihre ansich richtigen Bemühungen, die Philosophie dadurch in den sicheren Gang einer Wissenschaft zu bringen, daß sie eine von Allen anerkannte gemeinsame Grundlage des Philosophierens aufstellten, riefen durch die Art ihrer Ausführung nur den Spott HERBARTs hervor (siehe dessen "Metaphysik als historische Tatsache, Bd. III, Seite 230). Ebenso hatten die Kantianer darin Recht, "daß man so viel Psychologie, als die Vernunftkritik, als Propädeutik zur Metaphysik, erfordert, vor aller Metaphysik leicht erlangen kann;" trotz dieser Einsicht aber "setzte FRIES die ganze Metaphysik in Bewegung", indem er Probleme der  rationalen  Psychologie zu lösen unternahm. Die Aufgabe der Erkenntnistheorie wurde von FRIES so bestimmt:
    "Wir schaffen keine Welt; wir wollen nur die Regeln kennenlernen, nach denen die  richtige  menschliche Ansicht der Welt in unserem Geist erfolgt."
Dagegen fragt HERBART:
    "Die richtige menschliche Ansicht? Wenn diese schon vorhanden und fertig ist: dann freilich läßt sie sich beobachten. Dann aber kommt die Beobachtung zu spät; denn für ein schon fertiges Werk können wir keine Hilfe mehr brauchen. Sie ist aber noch nicht fertig; also läßt sie sich auch nicht beobachten."
Hätte FRIES gesagt: "Wir wollen die Regeln aufstellen, nach denen die  richtige  menschliche Ansicht erfolgen  soll",  so wäre jeder Grund zur Bekämpfung dieses Satzes weggefallen. Denn wie wir oben gesehen haben,  experimentiert  jede Wissenschaft zunächst und kann die Richtigkeit ihrer Erkenntnisse weder verbürgen noch beweisen, solange die  richtige Ansicht noch nicht vorhanden ist.  Hat man aber hinreichenden Grund zu der Annahme, daß auf bestimmten Wissensgebieten die richtige Ansicht gefunden ist, so kann man die Entstehung derselben  "beobachten und die Ergebnisse dieser Beobachtung in Regeln bringen, welche eine gewisse Wahrscheinlichkeit für ihre erfolgreiche Anwendung seitens der  werdenden  Wissenschaft bieten.

Wir müssen HERBART vollständig darin beistimmen, daß die  rationale  Psychologie nur von einem System der Philosophie aus bearbeitet werden darf. Da nun die Erkenntnistheorie wesentlich auf einer psychologischen Grundlage beruth, so dreht sich der Streit, ob Erkenntnistheorie oder Metaphysik den Anfang des Systems zu machen hat, in letzter Instanz um die Stellung der Psychologie innerhalb der philosophischen Disziplinen. Diese Frage ist deshalb so schwierig zu beantworten und hat zu entgegengesetzten Irrtümern geführt, weil man es sich nicht klar genug gemacht hat, daß die Psychologie eine eigentümliche  Doppelstellung  zur Philosophie einnimmt, sofern das Objekt jener die  Denktätigkeit  ist. Einerseits ist das Denken die notwendige  Voraussetzung  der Philosophie wie aller anderen Wissenschaften; andererseits ist es gleich den übrigen Erscheinungen im  Objekt  der philosophischen Spekulation. Berücksichtigt man nur die erste Beziehung der Psychologie, so verfällt man in den Irrtum der psychologischen kantischen Schule, den auch BENEKE teilt, alle Philosophie in Psychologie oder Anthropologie aufzulösen; hat man vorwiegend die andere Seite im Auge, nach welcher das Denken ein  zu erklärendes Faktum ist,  so gelangt man wie HERBART dazu, die Metaphysik als Grundlage der Psychologie zu betrachten, und damit das natürliche und notwendige Verhältnis umzukehren, welches zwischen der Psychologie in der oben angegebenen  ersten  Hinsicht und der Metaphysik stattfindet. Dieses Verhältnis wird bestimmt je nach der Entscheidung der Fragen: Kann man richtig denken, ohne zu spekulieren? und: Kann man richtig spekulieren, ohne richtig zu denken? Wenn die scholastische Philosophie unbedenklich die zweite Frage bejahen mußte, sofern sie sich selbst richtig verstanden hätte, so hat man doch seit KANT sich dahin entschieden, daß man erst richtig denken muß, um richtig spekulieren zu können, wenn wir von der  bewußten  nachkantischen Scholastik absehen. HERBART suchte durch die  Bearbeitung der Begriffe,  welche er für die Aufgabe der Metaphysik erklärte, beides zu vereinigen, indem er das gewöhnliche wie das wissenschaftliche Denken für widerspruchsvoll hielt und die "gegebenen" Widersprüche durch Spekulation zu entfernen suchte. Diese Vereinigung gelang ihm aber nur dadurch, daß er die Gesetze des wissenschaftlichen,  nicht  spekulativen Denkens auch der Spekulation zugrunde legte; denn die Gesetze der Identität und des Widerspruchs, welche das treibende Moment der HERBARTschen Spekulation sind, entstammen durchaus dem erfahrungsmäßigen Denken. So wurde auch HERBART wider seinen Willen durch die Natur der Sache gezwungen, Metaphysik auf der Grundlage der Erkenntnistheorie aufzubauen und gibt hierdurch die beste Bestätigung der kritischen Grundanschauung, daß die Erkenntnistheorie im System an die Spitze gestellt werden muß.

Die Bedenken, welche HERBART hinichtlich der Psychologie hegte, sind durch unsere obige Unterscheidung bereits im Ganzen erledigt. In den einzelnen Punkten, welche er Seite 227 des "Lehrbuchs zur Psychologie" anführt, können wir ihm durchaus beistimmen. Der Begriff des "Erkenntnisvermögens" ist allerdings aus einer Summe von Tatsachen des Bewußtßseins herausgedeutet; aber der Streit um die Theorie der Seelenvermögen geht die Erkenntnistheorie nicht das Mindeste an. Auch die Glaubwürdigkeit der inneren Wahrnehmung oder des inneren Sinnes können wir HERBART preisgeben; die Erkenntnistheorie besitzt andere Mittel zur Begründung ihrer Lehren. Schließlich gestehen wir HERBART bereitwillig zu, daß die Prinzipien der  rationalen  Psychologie in die metaphysischen Hauptprobleme zurückfallen. Nur verlangen wir unsererseits die Anerkennung des Satzes, daß für die Tätigkeit des Erkennens als solche das metaphysische Wesen der Seele durchaus irrelevant ist, und daß es für das Erkennen nicht den geringsten Unterschied macht, ob die Seele ein einfaches unveränderliches Wesen  ohne  Vermögen oder ein ebensolches mit mehreren Vermögen, oder ob sie ein räumliches, zusammengesetztes Wesen, oder aber, ob sie ein Resultat der Gehirnfunktion ist. Alle diese Fragen können erst von einem System der Philosophie genügend beantwortet, das richtige System aber nur mit Hilfe der Erkenntnistheorie begründet werden.

Diese letztere Überzeugung wird gegenwärtig auch von den hervorragendsten Anhängern der HEGELschen und HERBARTschen Philosophie geteilt. ROSENKRANZ sagt in seinen Erläuterungen zu HEGELs  Enzyklopädie  zu Seite 10:
    "Seit  Kants  Kritizismus ist der assertorische Standpunkt des unmittelbaren Wissens unmöglich geworden. Die kantische Philosophie hat die Philosophie überhaupt für immer  zur wirklichen Wissenschaft erhoben,  was  Hegel  selber anerkennt."
DROBISCH spricht sich in der Vorrede zur dritten Auflage seiner Logik [drob-log0] dahin aus, daß er mit einer  Zergliederung  der Erkenntnis als eines Phänomens des Bewußtseins, als Einleitung in die Logik bis auf einen gewissen Punkt einverstanden ist; das Denken sei ein wesentlicher Faktor der Erkenntnis und die elementarsten Formen des Begriffs und Urteils seien mit der Erkenntnis  gegeben,  nicht willkürlich erdacht.

THILO beginnt seine Darstellung der LOCKEschen Philosophie in der "Zeitschrift für exakte Philosophie", 1871, Seite 358 mit den Worten:
    "Lockes  Philosophie gehört zu den ebenso seltenen wie auch notwendigen Elementaruntersuchungen des philosophischen Denkens."  "Locke  gebührt der Ruhm, zuerst unter allen Philosophen die Notwendigkeit einer Kritik der Begriffe [locke1], welche wir zur Erkenntnis gebrauchen, eingesehen und eine solche Kritik begonnen zu haben."
Rekapitulieren wir kurz das Ergebnis unserer Untersuchungen über den Anfang, welcher als der einzig berechtigte von der wissenschaftlichen Philosophie anzuerkennen ist, so hat uns das nämliche Resultat auf positive und negative Weise herausgestellt. Die Analogie der übrigen, allgemein anerkannten Wissenschaften erfordert, daß die wissenschaftliche Behandlung der Philosophie sich gegen die den rohen Produkten des psychischen Mechanismus anhaftenden Irrtümer sicher stellt; dies geschieht, indem sie vor der Erwerbung materialer Erkenntnisse dem Werkzeug des Erkennens, dem Denken, die nötige formale Ausbildung gibt, um richtig erkennen zu können, kurz indem die Erkenntnistheorie zur philosophischen Propädeutik erhoben wird. Die Einwürfe HEGELs und HERBARTs hiergegen haben sich uns als nicht stichhaltig erwiesen; beide bestätigen dazu indirekt die Notwendigkeit der Erkenntnistheorie, indem der Erstere die bisherige Basis allen wissenschaftlichen Erkennens zu beseitigen versucht durch eine Erkenntnislehre ganz eigener Art, während HERBART die obersten Prinzipien der Logik, also auch der Wissenschaft, zum Kriterium der Richtigkeit des spekulativen Philosophierens macht, welches demnach in letzter Instanz auf der Erkenntnistheorie beruth.

Hiermit glauben wir den sachlich gebotenen Anfang der Philosophie außer Zweifel gestellt zu haben und können zum Schluß unserer Ausführungen auf das Zeugnis der Geschichte der Philosophie hinweisen. Der Gedanke, durch eine Aufstellung bestimmter Regeln und Normen das Denken zum Erkennen geschickt zu machen, ist so alt wie die wissenschaftliche Behandlung der Philosophie. ARISTOTELES lehrt (Metayphysik IV, 3), daß die Beschäftigung mit der  prote philosophia  [erste Philosophie - wp] die Bekanntschaft mit der Analytik (= Logik) schon voraussetzt, und seine Autorität genügte, um bis auf WOLFF die Logik unbestritten die Stelle der philosophischen Propädeutik und Methodenlehre einnehmen zu lassen. Daß aber die Logik nichts als ein Teil der Theorie des Wissens ist, wird weiter unten bewiesen werden.
LITERATUR - Carl Göring, System der kritischen Philosophie, Bd. 1, Leipzig 1874