p-3R. AvenariusF. PaulsenE. BoutrouxH. ReichenbachH. Rickert     
 
JULIUS BAUMANN
Philosophie als Orientierung
über die Welt

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"Der Begriff des Wissens, der Grundbegriff aller Philosophie und aller Wissenschaft, ist weder als ursächliches, noch als genetisches Wissen  ansich  zu fassen, sondern er geht, wie man sich auch bei der Sache zu drehen und zu wenden versucht hat, er geht zurück auf ein nicht einmal mehr anschauliches oder im logischen Sinne klares, nichtsdestoweniger aber unzweifelhaftes und gewisses  Vorstellen." 

"In irgendeinem Gegenstand, einem Stein, einem Baum sieht der Fetischanbeter etwas Höheres, was ihm schaden oder nützen kann. Er denkt das ihm schädliche oder nützliche Geschehen nicht von selbst eintretend und ohne daß es von jemand getan und vollbracht würde, er setzt bei seiner rohen und wüsten Vorstellung doch eine Ursache, von der es ausgeht, er setzt diese Ursache nicht als diesen Stein, sondern als etwas Geheimnisvolles, Nichtgesehenes, Unsichtbares, was unter diesem Stein verhüllt ist. Wobei wir in unserem entwickelten Wissen anlangen, die letzten Gründe des Seins und Geschehens nicht mehr im Sichtbaren, sondern im Unsichtbaren zu finden, mag dies nun ein Atom oder ein Geist oder ein Gott sein, das hat er von vornherein auch, nur ist die Art, wie der diese Begriffe verwendet und im Einzelnen ansetzt, eine ganz verkehrte."


Vorrede

Eine Philosophie pflegt von zwei Seiten aufgefaßt zu werden, von Seiten ihrer Resultate und von Seiten ihrer Argumentation. Was die Resultate betrifft, so kann der Verfasser behaupten, daß dieselben die stärksten Berührungspunkte mit den exakten Wissenschaften haben, ohne darum das moralische und religiöse Leben der Menschheit preiszugeben. Er sagt von diesen Resultaten hier nichts weiter, weil sie nicht durch sich, sondern durch die Art und Weise, wie sie gewonnen werden, d. h. durch die Argumente philosophisch allein Halt und Wert bekommen dürfen. Auf diese methodischen Eigentümlichkeiten der Untersuchungen möchte ich daher lieber mit ein paar Worten hinweisen. Der Gedanke, welcher diesem Buch nicht im Voraus zugrunde gelegt ist, sondern sich durch die Untersuchung selbst ergibt, ist dieser. Der Begriff des Wissens, der Grundbegriff aller Philosophie und aller Wissenschaft, ist weder als ursächliches, noch als genetisches Wissen  ansich  zu fassen, sondern er geht, wie man sich auch bei der Sache zu drehen und zu wenden versucht hat, er geht zurück auf ein nicht einmal mehr anschauliches oder im logischen Sinne klares, nichtsdestoweniger aber unzweifelhaftes und gewisses  Vorstellen.  Das ursächliche und genetische Moment ist nicht seinem Wesen einverleibt, sondern es findet sich nur als eine mögliche Art an ihm; so daß sich als abschließender voller Begriff des Wissens ergibt: Wissen heißt äußere oder innere Tatsachen in ihrer Eigentümlichkeit auffassen, und nur wo und sofern Ursächliches und Genetisches zu diesen Eigentümlichkeiten mitgehört, wird das Wissen gleichfalls ein ursächliches oder genetisches. Das Ursächliche oder Genetische gehört also nicht zum Begriff des Wissens als solchem, es muß vielmehr jedesmal erst untersucht werden, ob sich in den eigentümlichkeiten der Sache eine Hindeutung auf Ursächliches oder Genetisches findet. Es liegt auf der Hand, von welchem Einfluß dieser Satz auf die Gewinnung der letzten oder Fundamentaltatsachen sein muß; er läßt das Denken frei, sich nach der Natur der Dinge zu richten, und nicht diese nach sich oder vielmehr seinem bloß eingebildeten Beschaffenheiten zu beugen. Zu jenem Satz gelangt man aber nicht durch ein sogenanntes Vernunftgesetz in der Gestalt notwendiger und allgemeiner Wahrheiten oder durch die beliebte Postulierungsmanier: wenn Wissen möglich sein soll, so muß das und das so gedacht werden. Alle diese Lehren, so sehr die Philosophie bisher überwiegend auf ihnen beruhte, müssen weichen vor der Frage und ihrer Beanwortung: was ist tatsächlich das Sichere und wirklich Vorhandene in dem, was alle Welt  Wissen  nennt und immer genannt hat? Denn das muß allein gelten, nicht die sogenannten notwendigen und allgemeinen Wahrheiten, die nie leisten würden, was sie sollen, nicht ein Postulieren von einem angeblichen Begriff des Wissens aus, der sich gar nicht bewährt. Was Wissen ist, muß feststehen, wirklich und tatsächlich feststehen, nicht beliebig angenommen werden, um dann aufgrund einer solchen Willkürannahme vornehm und doch immer erfolglos abzusprechen über die, welche sich zur Hühe dieser philosophischen Aufgabe freilich nicht erheben können. Der Unterschied zwischen der gewöhnlichen Ansicht und dem Verfasser ist, wie sich herausstellt, im letzten Grund der, daß die gewöhnliche Ansicht auf gewissen verschwiegenen oder auch eingestandenen teleologischen Voraussetzungen beruth, die, weil sie weder direkt noch indirekt erweisbar sind, der Verfasser verwerfen mußte. Von den vielen möglichen Gedanken unseres Geistes sind auch nicht einige von vornherein mit dem Merkmal der Wahrheit und Gültigkeit ausgestattet, sondern sie sind zunächst alle gleich an Anspruch, aber einige von ihnen erweisen sich als fest, das sind die Wirklichkeiten, und ihre Auffassung ist die Wahrheit. Die Gedanken, welche sich nicht realisieren lassen, mag man noch so sehr Vernunftwahrheiten nennen, es sind tatsächlich nichts als leere Möglichkeiten, auf welche sich stets der Skeptizismus gestürzt hat, der aber hier durch die Lehre von den leeren Möglichkeiten überwunden wird.

Daß der Begriff des Wissens zunächst zum vollen und rückhaltlosesten Idealismus führte, wird heutzutage nicht mehr überraschen. Der Verfasser hat sich nur bemüht, denselben so populär und anschaulich zu machen, daß er mit Händen gegriffen werden kann; denn er ist und bleibt der Ausgangspunkt alles ordentlichen Wissens. Umso auffallender wird es vielleicht sein, daß, von diesem Idealismus und sein Resultat, daß alles, was wir kennen, unsere Vorstellungen sind, beibehaltend, der Verfasser zum krassesten Realismus übergeht, und zwar von einem idealistischen Argument aus, nicht dem Begriff der Ursache, der nicht leistet, was auch immer er hier sollte, sondern von dem unvertilgbaren Trieb des menschlichen Geistes, zu einer  mehreren  Erklärung zunächst seiner Wahrnehmungsvorstellungen zu gelangen. Es ist mit Nachdruck daselbst hervorgehoben, daß  mehr  erklären nicht heißt  alles  erklären, wie denn der Verfasser durchweg behaupten mußte, daß wir zwar tatsächlich kennen, was Vorstellen, was Sein, was Wirken ist, aber das  Wie  derselben uns völlig dunkel ist und bleibt. Die Eigentümlichkeit des Realismus, zu welchem der Verfasser aufgrund jenes idealistischen Arguments gelangt, besteht nun darin, daß er alle Sinneswahrnehmungen als Sinnesdinge ansetzt, ganz wie der gewöhnliche praktische Mensch und auf zeigt, daß man durch jenes Argument zu diesem und nicht zu einem halben oder von vornherein modifizierten Realismus kommt. Erst durch eine genauere Untersuchung der Wahrnehmung ergibt sich dann eine Scheidung in das, was den Dingen gelassen, und das, was dem auffassenden Geist zugesprochen werden muß. Aber der Dualismus von Materie und Geist bleibt, wenn auch nicht in DESCARTESscher Weise, und sowohl die kantische Ansicht von den Dingen ansich überhaupt, als auch der jetzt beliebte geisterartige Realismus werden als unhaltbar nachgewiesen. - Auf diesen Grundlagen und nach derselben Methode werden die Grundbegriffe der einzelnen Wissenschaften und ihre tatsächlichen Beziehungen zueinander festgestellt.

Ich will hier nicht den Ergebnissen vorgreifen und nur noch darauf hindeuten, daß die große Lehre KANTs, wonach Denken und Erkennen zweierlei ist, überalle ihre Bestätigung erhält, indem das bloße Denken, die vielen Möglichkeiten unseres Geistes, zurücktreten müssen vor dem wirklichen Tatbestand, sei dieser ein innerlich oder äußerlich Gegebenes, und sei diese Wirklichkeit in den bloßen Gedanken vorgebildet oder etwa nur von außen gelernt. - Den letzten Kampf hat der Begriff des Wissens, wie ihn der Verfasser glaubt herausgestellt zu haben, bei der Lehre von Gott zu bestehen, da, wo es sich um die Einheit des Wissens handelt, die angebliche oder die tatsächliche, welche im Begriff des Wissens liegt. Diese Einheit des Wissens wird von ihm behauptet als eine formale, als die mögliche Verknüpfbarkeit der Tatsachen des Wissens zu einem Ganzen. Die wirkliche Verknüpfung, wie sie durch das ganze Buch gegeben ist, kann zwar die Bezeichnung eines Systems der Philosophie in Anspruch nehmen, weist aber den mit dem Wort  System  jetzt gewöhnlich verbundenen Nebensinn von  einem  Prinzip, aus dem alles abgeleitet wird, von  Monismus  und wie die Worte alle heißen, die jedermann leicht im Mund führen kann, zu denen aber die wirklichen Dinge nie jemand gezeigt hat, als leere, phantastische Möglichkeiten zurück, welche gegen die Wirklichkeit der Tatsachen, d. h. gegen die Wahrheit nicht aufkommen.


Erstes Kapitel
Begriff der Philosophie

Philosophieren heißt im Allgemeinen sich durch Nachdenken in der Welt orientieren. Es ist dies der allgemeinste Ausdruck für das Bestreben des menschlichen Geistes, welchem man jenen Name der Liebe zur Weisheit beigelegt hat. Ich könnte mich darauf verlassen, daß die gegebene Erklärung einen Widerhall in jeder Seele findet, welche die Worte hört; jedoch kann man auch die Tatsache, daß ein Streben nach einer solchen Orientierung in uns Menschen ist, je nachdem man Neigung hat entweder auf die Geschichte oder auf das individuelle Bewußtsein zurückzugehen, sich auf die eine oder andere Weise zur sicheren Erkenntnis zu bringen. Aus der Geschichte zeugen dafür alle Völker, bei denen wir etwas dem Ähnliches finden, was wir Philosophie nennen. Es sind dies meist die Kulturvölker, also diejenigen, bei denen eine größere oder geringere Herrschaft des Menschen über die Natur erreicht worden ist, und die sich eine mehr oder weniger kunstreiche gesellschaftliche und staatliche Einrichtung geschaffen haben, beides in einem engen Zusammenhang miteinander. Aber die Kulturvölker sind nicht die einzigen, bei denen sich Philosophie in jenem Sinne findet. Bei den Naturvölkern wird sie nicht vermißt. Nur muß amn sich durch die Äußerlichkeiten nicht täuschen lassen: die Form unserer Philosophie ist nicht da, aber ähnliche Resultate nur im Rohen un bloß in Umrissen sind vorhanden. Alle jene Völker haben, selbst wenn man keine Religion bei ihnen gefunden hätte, gewisse Vorstellungen über die Dinge, zumindest soweit sie zu menschlichen Hoffnungen und Befürchtungen in einer Beziehung stehen, die nicht als Äußerungen des Instinkts aufgefaßt werden können. Diese Auffassung wird verboten durch das Bizarre und sachlich Unrichtige, was sich in den Vorstellungen ausspricht, die sie sich darüber gemacht haben. Der Instinkt leitet richtig, die Vorstellungen jener Völker aber sind für unsere bessere Erkenntnis voller Sonderbarkeiten und Irrtümer, also können sie nicht als Aussprüche eines Naturinstinktes angesehen werden. Als Nachklänge einer Uroffenbarung an die Menschheit, als gerettete Trümmer aus dem Paradies, sind sie auch nicht zu fassen; denn häufig klingt von allem, was man je eine solche Offenbarung genannt hat, nichts in ihnen durch, und das, was man findet, läßt sich nicht irgendwie einreihen in eine solche Offenbarung, wie es doch gelingen müßte, wenn man es als ein übriggebliebenes Stück eines Ganzen wollte ansehen. So tief uns daher solche Vorstellungen zu stehen scheinen, so niedrig wir sie taxieren, so steckt doch in ihnen derselbe Grundzug, welcher uns auch beherrscht und uns zwingt das zu tun, was wir  sich in der Welt orientieren  genannt haben. Welche eine Fülle von Nachdenken liegt im Fetischismus und Schamanismus nicht verborgen, sondern für den, welcher sehen will, klar zutage! In irgendeinem Gegenstand, einem Stein, einem Baum sieht der Fetischanbeter etwas Höheres, was ihm schaden oder nützen kann. Er denkt also das ihm schädliche oder nützliche Geschehen nicht von selbst eintretend und ohne daß es von jemand getan und vollbracht würde, er setzt also bei seiner rohen und wüsten Vorstellung doch eine Ursache, von der es ausgeht, er setzt diese Ursache nicht als diesen Stein, sondern als etwas Geheimnisvolles, Nichtgesehenes, Unsichtbares, was unter diesem Stein verhüllt ist. Wobei wir in unserem entwickelten Wissen anlangen, die letzten Gründe des Seins und Geschehens nicht mehr im Sichtbaren, sondern im Unsichtbaren zu finden, mag dies nun ein Atom oder ein Geist oder ein Gott sein, das hat er von vornherein auch, nur ist die Art, wie der diese Begriffe verwendet und im Einzelnen ansetzt, eine ganz verkehrte. Aber das können wir aus dem Gesagten ersehen, wir haben im Fetischdiener einen Menschen vor uns, wie wir, er ist wie unsereiner, ohne daß wir darum den Unterschied in unserer Auffassung und seiner für unbedeutend zu schätzen brauchen. Nehmen wir den anderen Zug solcher Naturvölker, der uns lehrt, daß auch eine andere Ähnlichkeit mit uns bei ihnen nicht fehlt, diejenige, durch welche wir eben Kulturvölker sind, wie wir durch die Art der Anwendung der vorigen Begriffe wissenschaftlich gebildete Nationen zu heißen verdienen. Alle solche Naturvölker glauben an Zauberei und üben sie, um Krankheiten zu heilen, Seuchen abzuwenden, Regen herbeizuziehen, Wolken zu verscheuchen usw. Das Streben, welches sich darin ausspricht, haben wir auch, es ist eben ausgeprägt in dem, was wir unsere Kultur nennen. Diese ist nichts anderes als die Beherrschung der Naturkräfte zum Wohl des Menschen, dasselbe, was jene auch wollen. Der Unterschied liegt in den Mitteln. Wir haben gelernt, daß wir die Natur bloß in unsere Gewalt bekommen können, indem wir sie selbst gegen sich selbst benützen; wir beschwören die Naturkräfte nicht mit Worten, sondern wir versuchen sie zu erkennen, welche von ihnen einen gewissen Effekt hervorbringen, und gebens uns Mühe, diese dann in unsere Gewalt zu bekommen. Was wilde Völker tun, wenn sie zwei Hölzer reiben, um Feuer zu erzeugen, daß sie nämlich die Naturkräfte in Wirksamkeit setzen, um einen nicht vorhandenen Erfolg, der ihnen aber wünschenswert ist, zu erzielen, das tun wir durchaus und schlechthin. Damit wir aber nicht versucht sind, jene Naturvölker mit ihrem Beschwörungsregiment über die Natur zu verachten, so brauchen wir uns bloß daran zu erinnern, daß bei uns in Städten und auf dem Land das Beschwören von Krankheiten sehr gebräuchlich ist, daß also hier in einem Fall inmitten unserer Bildung geschieht, was unsere Vorfahren in grauer Vorzeit in vielen versucht haben. Und hat nicht der religiöse Glaube es mit unter seine Wünsche und Hoffnungen aufgenommen, das der Fromme, von Gott Begnadete eine Herrschaft über die Natur bloß durch den Geist und das aus ihm quellende Wort einst erlangen möge? Die vom Glauben ersehnte Verklärung der Natur am Ende der Tage wird von vielen nicht anders gedacht denn als eine solche Folgsamkeit der Naturkräfte gegen das reine Gemüt, eine Dienstbarkeit derselben ohne die Umwege, auf denen wir heutzutage nur mühsam zum Ziel gelangen und nur zu einem kleinen Teil. Was also bei uns und bei den Naturvölkern dasselbe ist, ist der Wunsch die Natur zu beherrschen, gleichsam das dunkle Gefühl, daß dem so sein muß, daß wir es können und dürfen. Der Unterschied ist dabei wieder unendlich. Wir haben die Mittel gefunden, durch die jenes gelingt, die Naturvölker sind im Großen und Ganzen bei der verkehrten Versuchsweise stehen geblieben. Gleichsam im Vorbeigehen mag noch erwähnt werden, daß auch das dritte große Gebiet eigentümlicher menschlicher Tätigkeit neben den zwei anderen, welche bei uns zur Wissenschaft und Kultur geführt haben, sich bei den Naturvölkern aufzeigen läßt; ich meine die Kunst. Sie stellt sich dort ein, wo sie auch bei uns anfängt sich einzustellen, wenn nämlich der Mensch der nächsten Not des Lebens Herr geworden ist. Sobald der Mensch mehr hat, als er braucht, und sich Muße gönnen darf, verfällt er unwillkürlich auf die Sucht sich nicht damit zu begnügen, wie er die Dinge vorfindet, er läßt sie nicht in dem Zustand, in welchem er sie von der Natur erhält, selbst wenn sie in demselben ganz gut seine Wohl dienen, sondern er will sie verschönern nach seinen Begriffen. Gewöhnlich fängt er mit sich selbst an, er tätowiert sich etwa, um sich schöner zu machen, als er sich von Natur vorkommt. Dieser Trieb ansich und die Dinge zu ändern, damit sie uns besser gefallen, als sie das von Haus aus tun, kann wiederum sehr in die Irre gehen, aber als wesentlich einheitlicher Grundzug menschlicher Natur ist er unter allen Himmelsstrichen da. Doch ich vergesse beinahe, wozu diese ganze Auseinandersetzung gemacht wurde; sie sollte dazu dienen, uns nahe zu bringen, daß der Mensch zu allen Zeiten und an allen Orten sich in der Welt zu orientieren gesucht hat, indem er gewisse Gedanken über die Welt und unseren Zusammenhang mit derselben sich gebildet hat, als könnte es nicht anders sein. Ursache, Kraft, die wir nicht sehen, von denen die Dinge gegenseitig abhängen, von denen wir zu hoffen und zu fürchten haben, das sind nicht Sachen, die man sieht, hört, schmeckt, riecht, sondern die man sich zu dem, was man sieht hört, schmeckt, riecht, hinzudenkt. Das ist das Erste. Zweitens zeigen die Beschwörungen den Gedanken an eine Beherrschung der Natur durch den Menschen; und wenn wir die Sucht zur Verschönerung der umgebenden Dinge und der eigenen Person mit hereinziehen, so verkündet sich darin die Meinung, als müßte alles, was ist, vom Menschen gleichsam noch einmal zurecktgemacht werden, um ganz ordentlich und nett zu sein. Hat sich in diesen Vorstellungen der Mensch nicht orientiert über die Welt? er schaut in ihr Mächte, von denen Wirkungen ausgehen, er möchte die ihm förderlichen und schädlichen Dinge beherrschen mit Hilfe jener Kräfte und er will, nicht zufrieden mit den Dingen, wie sie sind, ihnen von sich aus ein neues Gepräge geben. Daß aber diese Art sich in der Welt zu orientieren nicht ohne Nachdenken gemacht worden ist, das beweist, wie gesagt, ihre verkehrte Ausführung. Die Stimme der Natur als analog dem tierischen Instinkt gedacht, die Offenbarung Gottes, diese im Sinne einer Mitteilung von Erkenntnissätzen gefaßt, würden einen besseren, einen fehlerlosen Vorstellungskreis ergeben haben. Also philosophier haben bis jetzt alle Völker, welche wir kennengelernt haben, mögen sie heißen, wie sie wollen, und mögen wir sie hoch oder niedrig titulieren: sie haben sich in wesentlich gleicher Weise über die Welt durch Nachdenken orientiert. Um allen Streit zu vermeiden, hebe ich hervor, daß es mir hier gar nicht darauf ankommt, das Wort  alle  Völker zu pressen. Ich fasse es in dem weitschichtigen Sinn, wie wir es gewöhnlich gebrauchen. Ich habe gar nichts dagegen, wenn man mir einwendet, glaubwürdige Reisende hätten Völker ohne alle Religion gefunden. Ich würde zwar abwarten, ob andere Reisende, welche es besser verstehen zu beobachten, nicht andere Wahrnehmungen machen würden; denn es gibt viele, die, wenn sie nicht Kirche, Priester und den unsrigen ähnliche Gebräuche sehen, gleich entweder klagend oder triumphierend ausrufen: hier ist ein Volk ohne Gott. Allein im Obigen ist nicht von Religon als solcher die Rede gewesen, der Fetischismus wurde nur der leichteren Anschaulichkeit wegen benutzt, es genügt vollkommen, daß sich ein Volk nur irgendwelche Vorstellungen von irgendeiner Kraft gemacht hat, welche wirkt, und nicht als solche gesehen wird, oder deren angenommene Wirksamkeit zumindest zu dem, was an ihr sichtbar ist, in keinem Verhältnis steht; ich will sagen, wenn z. B. von einem Kieselstein gesagt wird, er habe die Kraft, ohne sich von der Stelle zu bewegen, einen Menschen in einer Entfernung von 200 Stunden umzubringen und Ähnliches. In diesem Sinne wird sich das oben Gesagte bei allen Völkern nachweisen lassen; wollte jemand auch dann noch Schwierigkeiten machen, gut, so kommt es uns auch nicht so auf das Wort  alle  an, genug, daß er es von den meisten nicht leugnen kann, sondern sogar dann noch mehr zugeben muß, als wir verlangen. Uns kommt es nur darauf an festzustellen, daß nicht bloß die Kulturvölker philosophiert haben in dem Sinne, daß sie sich über die Welt durch Nachdenken zu orientieren suchten, sondern daß die sogenannten Naturvölker dies in ihrer Weise auch getan haben. Bloß dies sollte bewährt werden, daß Philosophie in jenem Verstand ein sehr allgemeines Eigentum immer und überall gewesen ist. Weiteres soll daraus nicht gefolgert, es soll nicht einmal Gewicht darauf gelegt werden, daß die allgemeinen Grundzüge dieser Orientierung überall eine so auffallende Ähnlichkeit zeigen. Es wäre uns gerade so recht, wenn dies sich nicht gezeigt hätte, wenn ganz verschiedene Umrisse der Gedankenbildung sichtbar geworden wären. Wir wollten bloß nachsehen, ob Philosophie etwas Apartes, ein nur Wenigen verliehender Vorzug ist, oder ob sich etwa, wie die menschliche Gestalt, Essen, Trinken, Verlieben bei allen Völkern gleich ist, sich Philosophie in ähnlicher Weise nicht als ein Privileg, sondern als ein sehr verbreiteter Grundzug vorfindet.

Soviel von dem Beweis, daß Philosophie menschlich ist, aus der Geschichte. Es gibt noch einen anderen Weg sich davon zu überzeugen, über den ich mich kurz fassen will. Dieser andere Weg ist, sich auf seine eigene Erinnerung zu besinnen oder entsprechende sehr alltägliche Beobachtungen an Anderen zurückzurufen. Es ist bekannt, daß Kinder mit 5, 6 Jahren erstaunliche Philosophen sind, was die Anforderungen an Andere betrifft. Sie stellen Fragen über Himmel und Erde, die kein PLATO und ARISTOTELES, kein NEWTON oder KANT zu beantworten vermag. Weiter ist es bekannt, daß, was einen Teil der Philosophie, die Moral, betrifft, die Schulknaben von 10 Jahren an und früher meisterhafte Beurteiler ihrer Lehrer und Eltern in Bezug auf Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in Ausübung ihres Eltern- und Lehrerberufs sind. Der gemeine Mann, d. h. der nicht weiter gebildete Mensch behält diese Gabe der sittlichen Beurteilung, falls er nämlich in keiner Weise persönlich bei einer erlebten oder gehörten Sache betese Gabe der sittlichen Beurteilung, falls er nämlich in keiner Weise persönlich bei einer erlebten oder gehörten Sache beteiligt ist, sein Leben lang bei, eine Wahrnehmung, die KANT so überraschte, daß er darauf eine Ansicht baute, es könne ein großer Umschwung in der praktischen Sittlichkeit, ein allgemeiner Aufschwung der ausübenden Moral durch die Benutzung derselben erreicht werden: man dürfe, meint er, nur diese Anlage zu moralisieren, d. h. ein moralisches Urteil über jede Tat abzugeben, gehörig ausbilden, so werde der Mensch auch nicht umhin können, sein eigenes Tun stets derselben moralischen Beurteilung zu unterziehen, woraus nichts anderes als eine Neigung folgen kann, stets moralisch so zu handeln, daß wir vor unserer Selbstbeurteilung standhalten. In dieser Erwartung hat sich der Weise von Königsberg freilich betrogen, aber die Wahrnehmung selbst, auf der seine kühne Hoffnung fußte, kann man alltäglich machen. Was den oben erwähnten Wissenstrieb der 5 bis 6-jährigen Kinder, Knaben und Mädchen betrifft, so wird er durch die Schulzeit unterbrochen oder vielmehr er wird vorläufig beschwichtigt durch das Viele, was da gelernt und getrieben werden muß und was auch allerlei Orientierungsansichten über die Welt enthält. Nach dieser Zeit, in den Jünglings- und Mädchenjahren, bricht er wieder mit größerer Selbständigkeit hervor, bei den Mädchen äußert er sich mehr in gefühlsmäßiger Weise dadurch, daß sie sich allerlei Gründe für das suchen, was ihnen im Religionsunterricht gelehrt worden ist, daß sie sich z. B. dem Gefühlseindruck hingeben, es könne doch nicht die Welt so von selbst da sein, und dann, diesem Eindruck folgend, ein allgemeines günstiges Vorurteil für Religion und Kirche fassen. Bei den Jünglingen dauert der philosophische Trieb länger; die Franzosen rechnen ihn bis zum 30. Jahr. Es ist durchaus nicht gesagt, daß jener Trieb sich gerade als Beschäftigung mit der Philosophie äußert, aber das Nachdenken, um sich in der Welt zu orientieren, ist da, und man hat oft seltsame Gelegenheit es da zu finden, wo man es gar nicht ahnte. Dieses Nachdenken wird meist ganz einsam und in der Stille geführt, nur zuweilen verrät es sich durch zufällige Äußerungen oder in der Art der Lektüre; manchmal auch in sehr merkwürdiger Weise, etwa so, daß jemand, der sich in der Art der Philosophen mit der Philosophie abgibt, von einem Bekannten, der von nichts so weit als vom Grübeln entfernt schien, plötzlich abgeholt wird, um bei einem Glas Bier befriedigende Aufschlüsse über die Unsterblichkeit der Seele zu erteilen. Diese Art philosophischen Nachdenkens - so können wir kurz sagen statt des ausführlicheren Ausdrucks: sich durch Nachdenken über die Welt zu orientieren - ist, wie angedeutet, gewöhnlich unmethodisch, man kann wohl sagen, innerhalb unserer Kultur jenem undisziplinierten Denken des Fetischismus ähnlich, zwar nicht in den Resultaten, wohl aber in der freien, ungebundenen, regellosen Manier. Seine Hauptgegenstände sind begreiflicherweise Fragen über Gott und Unsterblichkeit. Man kann dabei den seltsamsten Widersprüchen unter verschiedenen Menschen begegnen. Dem Einen macht die Zweckmäßigkeit in der Welt einen überwältigenden Eindruck, dem Andern erscheint sie als ein sehr begreiflicher, bloß scheinbarer Nebeneffekt der bloßen Kausalursachen. Der Eine neigt sich der Ansicht zu, daß in allen Geistern bloß ein und derselbe Geist ist, weil er nicht weiß, wo er mit den unzähligen individuellen Geistern hin sollte; er fürchtet, es möchte bei individueller Unsterblichkeit kein Raum im Weltall für die immer nachdrängenden neu erzeugten Geisterscharen sein, deshalb greift er zu der Ansicht, daß immer derselbe Geist von Neuem die Generationen der Menschheit beseelt. Einem Andern scheint das nicht so. Sein Grund ist originell, aber für den Ersten imponierend; er nennt irgendeinen Menschen von gemeiner Gesinnung, den beide gekannt haben, und fragt, was man davon hat, nach dem Tod mit dessen Seele zusammenzufließen. Diese Mitteilungen können wunderlich erscheinen, wer jedoch viel mit Menschen Gedankenaustausch getrieben hat in einfacher, kunstloser Weise, wird durch verwandte Erlebnisse und Erfahrungen überzeugt sein, daß sie nicht erfunden sind. Es wird eben in der Stille viel mehr philosophier, als die Philosophen von Fach sich träumen lassen und dieses wild wachsende Philosophieren ist nichts anderes als ein sich durch Nachdenken in der Welt orientieren wollen. Wo dies nicht recht gelingt, tritt sehr gewöhnlich in der Jugend die Weltschmerzperiode ein. Der Mensch weiß sich die Welt und sich selbst nicht in einer Weise zu deuten, daß er sich zurechtfände, es erscheint ihm alles fremd, unverständlich, unvernünftig, widerspruchsvoll; im hohen Sinn des Wortes ist dieser Weltschmerz das Faustische Element des Menschen, nur daß die weitere Entwicklung von da aus nicht immer wie in GOETHEs  Faust  zu verlaufen braucht. Warum aber soll mit dem 30. Jahr nach den Franzosen das philosophische Nachdenken aufhören? Eigentlich hört es nicht auf, es wird nur zurückgedrängt durch die Praxis, deren mancherlei Ansprüchen, größeren und kleineren, der Mensch in diesen Jahren meist sich nicht mehr zu entziehen vermag. Gewöhnlich erwacht mit dem 25. Jahr schon der Trieb praktisch zu werden, d. h. nicht mehr überwiegend im Nachdenken zu leben, sondern irgendwie in der äußeren Welt handelnd und gestaltend sich mit zu tummeln. Zu diesem praktischen Trieb muß auch gerechnet werden, daß z. B. die im engeren Sinne des Wortes  Philosophierenden  anfangen ein Fazit aus ihrem Denken zu ziehen, sich gewisse Aufgaben zu setzen, denen sie ihr Leben und sein vorwiegendes Nachdenken weihen. Die Denkweise, die man sich nun bis dahin in der Stille erworben hat, nimmt man in das praktische Leben mit; hier hat sie sich in konkreten Anwendungen zu bewähren, zwar nicht so, daß man sie stets in lebhafter Weise dabei hätte, gewöhnlich herrscht sogar die in der Gesellschaft, zu der man zählt, gerade rezipierte Denkweise über die individuelle vor. Auch die Berufsgeschäfte werden getrieben nach der angeeigneten und noch selbstvervollkommneten Manier, aber das füllt keinen Menschen ganz aus, und was bleibt nicht für Gelegenheit gerade bei der Berufsausübung Stoff zum Nachdenken zu sammeln und ihn, manchmal uns selbst unbemerkt, zu verarbeiten; wie oft wundern wir uns, daß wir uns, ohne es zu wollen, auf dem und dem Gedanken immer wieder ertappen, wie wir uns ausdrücken. Dieses freie, gleichsam in Mußestanden und Mußeaugenblicken getriebene Nachdenken hat seinen Ertrag; dieser zeigt sich in der ganzen Welt- und Lebensansicht, welche der ins Leben gewürfelte Mensch hat, oder der er sich hingibt. Daß in dieser Beziehung jeder meist seine eigene Weltansicht hat, ist nicht zu leugnen, sie tritt nur sehr selten zutage. Meist betrachten sie die Menschen als einen werten, lieben, ihnen persönlich teuren Besitz, den sie nicht gern zeigen, als fürchteten sie, er könne ihnen von Anderen entrissen werden, nicht mit der Gewalt der Hände, aber durch die Kraft der dagegen gerichteten Zweifel, häufig auch durch die Macht des Lächerlichen, die zwar eine fest gewachsene Ansicht nicht entwurzeln, aber doch in den Augen dessen, der sie hat, gleichsam entweiht. Diese wild gewachsenen philosophischen Ansichten sind nicht bloß Lebensansichten, sie beziehen sich keineswegs bloß auf das menschliche Tun und Lassen, auf die Gerechtigkeit der Weltgeschicke oder die sittliche Gleichgültigkeit derselben, sie sind mit einem Wort nicht bloß praktisch, sondern oft ganz eigentlich theoretisch; wie die Welt gemacht ist und sich erhält, oder wie sie in ihrem eigentlichen Wesen ist, davon handeln sie nicht weniger als von Klugheits- und Weisheitsregeln des Lebens. Bei uns merkt man selten etwas von diesen Ansichten infolge der allgemeinen Verbreitung methodisch-wissenschaftlichen Denkens. Diesem gegenüber getraut sich die selbsterzeugte Philosophie nicht laut zu werden. Wenn wir aber einmal dahin kommen, wie bei den Griechen und Römern der späteren Jahrhunderte oder wie in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, eine große Freiheit des philosophischen Denkens praktisch zu haben; wenn unsere wissenschaftliche Philosophie einmal, und es steht sehr nahe an diesem Punkt, so diskreditiert ist, daß man denkt, die kann doch nichts und man braucht sich vor ihr nicht zu verkriechen, - dann wird sich eine Fülle solchen philosophischen Nachdenkens, das durch keinen Zwang einer Schule gegangen ist, gleichsam über uns entladen, wir werden staunen, woher das alles auf einmal kommt, und uns nach und nach allgemein davon überzeugen, daß es immer dagewesen ist, nur gehemmt und geniert, wie das Heidentum am Ausgang der alten Welt, im Mittelalter und auch in der Neuzeit immer da war, aber das Feuer der kirchlichen und wissenschaftlichen Zensur scheuend und darum in der stillen Verborgenheit des Herzens und Kopfes. In dieser Privatphilosophie der Menschen sind alle erdenklichen Ansichten kunterbunt vertreten, die wunderlichsten und die tiefsinnigsten; es fällt nicht schwer fast zu jeder, die uns begegnet, das Analogon aus der Geschichte der Philosophie aufzuzeigen.

Soviel mag hinreichen, um die allgemeine Verbreitung der Philosophie zu bezeugen, wenn man damit das Bestreben der Menschen meint, sich durch Nachdenken in der Welt und über dieselbe zu orientieren. Wie wir alle, wenn uns etwas erzählt wird bloß seinen allgemeinen Zügen nach, sehr geneigt sind das fehlende Detail in dieser oder jener Weise zu ergänzen, uns die Sache, wie wir sgen, so oder so zurecht zu legen, so macht es auch jeder Mensch mit der Welt in seiner Weise. Dies ist der Begriff der Philosophie im Allgemeinen, er zeigt die Allgemeinheit des philosophischen Bestrebens, er ist der lebendige Anknüpfungspunkt für einen anderen Begriff der Philosophie, zu dem wir jetzt übergehen. Denn es ist ersichtlich, daß die Philosophie in diesem weiteren Sinn nicht diejenige ist, die wir meinen, wenn wir im prägnanten Wortverstand, in einem emphatischen Ton von Philosophie sprechen. Wir haben alle einmal von ihr reden gehört als der Königin aller Wissenschaften, und unsere Erwartung von ihr ist nicht auf etwas Schüchternes und Bescheidenes gerichtet, das sich kaum heraustraut, sondern wir sind gewärtig in ihr die Wahrheit selbst zu schauen und zwar nicht so, daß diese geduldig harrt, bis es uns gefällig ist sie zu verehren und als Herrscherin unserer Gedanken anzuerkennen, sondern wir verlangen, daß sie uns zwingt durch unwiderlegliche Beweise ihr zu huldigen und daß sie uns in das Reich einführt, wo wir nicht glauben, meinen, wähnen, hoffen, sondern schauen von Angesicht zu Angesicht den geheimen Ursprung der Welt, das Triebwerk, das sie in Gang hält, und den Zusammenhang aller Dinge in ihr, so daß unsere Begierde, orientier zu sein, Aufklärung zu erhalten über Gott, Welt, uns selbst, völlig gestillt ist, und versprechen uns von dieser Aufklärung Wunder an Beruhigung, Zuversicht und geistiger Erhebung.

Wodurch unterscheidet sich nun diese Philosophie, wie wir sie eben geschildert haben, von jener verbreiteten Philosophie, die wir vorhin schilderten? Bloß durch ein eingeschaltetes Wörtchen. Die Erklärung von dieser lautete: sich durch Nachdenken über die Welt orientieren; die Erklärung von jener ist: sich durch  wissenschaftliches  Nachdenken über die Welt orientieren. Dieses eine Wort bringt den gewaltig großen Unterschied zwischen beiden Arten zu philosophieren hervor, d. h. wohl zu merken, es sind diese zwei Arten nicht so zu verstehen, als ob die eine von der anderen total verschieden wäre, ihr Unterschied ist bloß der, daß die zweite, die wissenschaftliche Philosophie, eine höhere Ausbildung von dem ist, was die erstere gleichfalls ist und will. Es ist ungefähr der Unterschied zwischen ihnen, der zwischen Natur- und Kulturvölkern ist, nur daß man nicht sagen kann, die eine Philosophie ist bloß bei den Naturvölkern, die andere bei den Kulturvölkern, sondern die allgemeine Art findet sich bei beiden, die besondere nur bei den schon zur Kultur fortgeschrittenen, aber nicht allgemein bei allen Einzelnen, die ihnen angehören, sondern sie kann sich bei diesen finden, während sie sich bei den Naturvölkern nicht auszubilden vermag. Was macht aber, aß das wissenschaftliche Nachdenken vor dem bloßen Nachdenken so viel voraus hat? Überlegen wir zuerst, was Nachdenken selbst ist und heißt. Nachdenken unterscheidet sich sofort vom bloßen Wahrnehmen: Wahrnehmen heißt einen Eindruck empfangen, mag er von innen oder von außen zu stammen scheinen, d. h. den Gedanken eines äußeren Gegenstandes oder eines Seelenzustandes des Wahrnehmenden überwiegend mit sich führen. Ich nehme wahr, daß die Sonne scheint, daß der Bach nach der und der Richtung fließt, daß dieses Haus größer ist als jenes. Das sind äußere Wahrnehmungen, wie sie sich jedem Menschen bei gesunden Sinnen und sonst normalem Befinden ganz von selber aufdrängen, er mag sonst geistig beschaffen sein, wie er will, mag ihn die Wahrnehmung kalt lassen oder irgendwie erregen, mag er davon Anlaß nehmen zu weiteren, nicht in der Wahrnehmung als unmittelbarer schon mitliegenden Gedanken, oder mag er sein Leben lang damit zufrieden sein, daß das Wasser talabwärts und nicht bergaufwärts läuft, ohne sich irgendeinen Gedanken über diese und andere Erscheinungen zu machen. Diese Wahrnehmungen, das dürfen wir vorläufig annehmen, bis wir genauer darauf zurückkommen, sind im Großen und Ganzen dieselben. Wie es mit diesen äußeren Wahrnehmungen beschaffen ist, so auch mit den inneren. Wir freuen uns und betrüben uns, wir begehren und verabscheuen, ein jeder weiß, was das heißt, insofern nichts weiter damit gemeint ist, als daß ihm dabei so und so zumute ist. Ja, in diese inneren Wahrnehmungen setzen die Menschen meist den eigentlichen Wert auch jener äußeren; nur soweit diese auf Lust und Unlust, Hoffen und Fürchten des menschlichen Herzens Bezug haben, scheinen sie ihnen von Wert und Bedeutung. Der virgilische Vers:  hinc metuunt cupiuntque, dolent gaudentque  [Sie fürchten und wünschen und leiden und jubeln. - wp], schildert nach den Stoikern in unübertrefflicher Kürze das Sein des Menschen auf dieser Stufe; Lust und Leid, Begehren und Meiden ist es, was sein Herz erfüllt. Es ist dem Menschen nicht gegeben, auf dieser Stufe zu bleiben; sie bildet zwar fortwährend den Naturgrund unseres Lebens, auch unseres geistigen, so daß SPINOZA sagen konnte und HOBBES: mit der letzten Begierde stirbt der Mensch, aber ebenso gewiß ist es, daß von den Wahrnehmungen und in ihnen der Mensch zum Nachdenken gedrängt wird. Auch der bloß praktische Mensch kann nicht umhin, unter den mancherlei Dingen, die ihn umgeben, eine Auswahl zu treffen, welche ihm die angenehmsten und wünschenswertesten sind, und nicht bloß unter diesen äußeren Dingen, sondern auch unter den verschiedenen Weisen zu sein, sich zu bewegen, zu tun, welche sich ihm darstellen. Der eine hält das stille Leben für das höchste, der andere das unruhige; selbst wenn einer in einem Volk geboren ist, welches sich für eine besondere Art des Lebens entschieden hat, ich will sagen für Ackerbau und Viehzucht, so gibt es auch da noch verschiedene Seiten innerhalb des Nämlichen, und es kann nicht fehlen, daß der Mensch die Seite, welche er sich davon erwählt, vergleicht mit den andern, und so Betrachtungen anstellt, welche auf den Wert von diesem und jenem für das Ganze Bezug haben, etwa daß es höher sei als anderes oder nicht geringer sei als anderes, oder daß auch für dieses oder jenes Leute da sind. So wird eine, freilich noch sehr elementare, praktische Philosophie dargestellt, eine praktische Philosophie, wie sie sehr viel in den Sprichwörtern und Volkserzählungen, d. h. den wirklich in und aus dem Volk entstandenen, nicht bloß ihm angedichteten, enthalten ist. Im meine das ganz ernsthaft und in einem hohen Sinn. Wenn ein Bauernbursche oder ein Bauernmädchen nach der Konfirmation in die Stadt geht, um in einen Dienst zu treten, selbst wenn er zuhause bleiben und dort Verwendung finden könnte, so folgt er ebensogut einer Idee, einerm auf die letzten und höchsten Ziele gerichteten Gedanken, wie der Gebildete bei einem ähnlichen Tun, nämlich der Idee, daß der Mensch unter fremden Leuten lernen muß, selbständig zu sein, sich fremde Verhältnisse ansehen muß, um vielseitig zu werden. Selbständigkeit und Vielseitigkeit, natürlich so weit es die Verhältnisse erlauben oder mit sich bringen, sind die Gedanken, welche ihn in die Fremde führen. Er drückt das vielleicht nicht so aus, er sagt etwa: wer wird denn immer zu Hause hocken, man muß sich tummeln, Welt und Menschen gesehen haben etc., aber es schwebte ihm jenes Ziel vor und ist es ist auch das praktische Resultat seines Tuns.

Dies mag genügen, um zu zeigen, daß in jenem elementaren Nachdenken über Tun und Lassen der Sache nach das Höchste enthalten sein kann, wenn auch eingehüllt in Worte, welche die Idee nicht rein und scharf aussprechen. Mit dem Nachdenken, so weit es sich nicht auf Wohl und Weh, Angenehmes und Unangenehmes bezieht, hat es eine ähnliche Bewandtnis. Zu diesem elementaren Nachdenken mehr theoretischer Art gehört schon alles, was oben gewissermaßen als natürliche Philosophie aller Völker und Zeiten hingestellt worden ist; alle Religion und aller Aberglaube ist etwas über das unmittelbar sinnlich Wahrgenommene Hinausgreifende, welches unsichtbare Kräfte hinter den sinnlichen Erscheinungen annimmt. Zunächst ist dieses Nachdenken noch mit dem menschlichen Hoffen und Fürchten eng verschmolzen; alle Religion ist mehr von praktischem als von bloß theoretischem Interesse beherrscht; sie will das zeitliche oder ewige Glück ihrer Bekenner sicherstellen. Bis hierher ist aber das Nachdenken noch sehr ungenügend; es hat zwar etwas Erstaunliches, wenn man seine großen Grundzüge betrachtet, diese stehen so im Mißverhältnis mit der unmittelbaren Wahrnehmung, daß man die Religion z. B., in welcher es sich am augenscheinlichsten zeigt, von jeher geneigt war entweder für die Ausgeburt verrückter Menschen oder für eine Offenbarung Gottes selbst zu halten; aus dem gewöhnlichen Menschen sollte sie nicht stammen, eben weil diese Vorstellung von einer Macht hinter den unmittelbar sinnlichen Dingen, von einer übergreifenden, durch Raum und Zeit nicht gehemmten Wirksamkeit derselben ein ungeheurer Sprung ist, wenn man von der Welt der Wahrnehumungen ausgeht, in welcher das Gemüt zunächst befangen scheint. Allein die Verwunderung schwindet, sobald man sich überzeugt hat, daß dieselben Ideen auch die gebildetsten Zeiten beherrschen, dem wissenschaftlichen Nachdenken unverloren geblieben sind, nur die Art, wie sie gefaßt werden, sehr gewechselt haben. Wir sind mit dieser Erörterungen aber immer noch nicht vorgedrungen zu einer Antwort darauf, was denn das wissenschaftliche Nachdenken vom bloß natürlichen unterscheidet und vor diesem auszeichnet. Wir suchen nunmehr eine vorläufige Antwort darauf zu gewinnen. Zunächst ist daran zu erinnern, daß wir nicht bloß eine augenblickliche Wahrnehmung haben, sondern auch Erinnerung an die Wahrnehmung, äußere und innere, die wir gehabt haben; diese Erinnerungen tun uns zur Wissenschaft noch mehr Dienste als die Wahrnehmungen selbst, wiewohl man diese mit Recht als die Grundlagen der Erinnerung und der in ihr enthaltenen Vorstellungen hochhält. Das Nächste nun, was geschehen muß, damit Wissenschaft herauskommt, ist dies, daß man die Wahrnehmungen und Wahrnehmungsvorstellungen (so nennen wir die Erinnerungen an die gehabten Wahrnehmungen, wenn sie sich uns mit einiger Lebhaftigkeit vor der Seele erneuern), daß man diese nach ihrer Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, Verwandtschaft und Fremdheit teils zusammen- teils auseinanderstellt. Dabei werden wir von unserer natürlichen Geistesrichtung sehr unterstützt; denn es ist eine ganz allgemeine Eigenschaft unseres Geistes, verwandte Wahrnehmungen zusammenzuordnen und fremdartige zu trennen. Ich schildere hier, das darf man nicht vergessen, bloß ein tatsächliches Statthaben, eine Erklärung oder philosophische Rechtfertigung dieses Verfahrens ist hier noch nicht beabsichtigt. Ehe eine solche Ordnung des Zusammengehörigen vorgenommen ist, ist nach dem Zeugnis der Erfahrung an keine Wissenschaft zu denken. Ein kriegerisches Volk hat in sich, in seinen soldatischen Teilen, alle Elemente zu einer Kriegskunst als Theorie der Kriegsführung; wenn jeder seine Beobachtungen und Erfahrungen im Krieg, so vereinzelt sie auch sein mögen, mitteilen würde und alle gesammelt und dann das auf einen Punkt, z. B. die Belagerung von Städten, Bezügliche zusammengestellt und auch diese letzte Zusammenstellung nach Ähnlichkeiten und Unterschieden gegliedert würde, ob z. B. eine stark oder schwach befestigte Stadt gemeint ist, so würde mit einer solchen Vereinigung des Zusammengehörigen noch lange nicht die höchste Wissenschaft, wohl aber der eigentliche Anfang einer solchen über die Kriegsführung gemacht worden sein. Daß dies der Gang in der Entwicklung der Wissenschaften war, mag man am Beispiel der Geographie sehen; diese ist bis auf KARL RITTER eine solche Zusammenstellung von Mitteilungen über Bodenbeschaffenheit, Flüsse, Berge, Dörfer und Städte eines Landes nach den dort üblichen Abteilungen gewesen; durch ihn ist ihr dann die noch höhere Aufgabe geworden, die Wechselwirkungen zwischen dem so beschaffenen Boden und dem darauf lebenden Volk überall mit zur Darstellung zu bringen. Die Zusammenstellungen über die Beobachtungen am gestirnten Himmel sind so der Anfang der Astronomie als Wissenschaft gewesen; aus den Bemerkungen, die man bis zu seiner Zeit über die Seele gemacht hatte, und aus seinen eigenen Beobachtungen und Gedanken über dieselbe hat ARISTOTELES zuerst eine Psychologie als Wissenschaft geschrieben. Daß der Zusammenhang der einzelnen Sätze der so entstehenden Wissenschaft kein bloß äußerlicher ist, daß man dabei auf die Kräfte oder Mächte zurückzugehen suchte, welche sich in den einzelnen herausgesonderten Gebieten zeigen, versteht sich nach dem Früheren von selbst; denn dieser Gedanke, daß es Tätiges, Hervorbringendes, Wirkendes in der Welt gibt, ist ein mit dem Nachdenken in seiner elementarsten Weise sofort vorhandener. Wir, die wir mitten im entwickeltsten wissenschaftlichen Nachdenken stehen, können uns gar nicht oft genug darauf besinnen, aus wie unscheinbaren Anfängen dieselben entstanden sind. Die Grammatik ist bei den Griechen entstanden, als die Sophisten einige Redeteile, wie Aussage, Wunsch, Befehl, unterschieden; daraus hat man später die Redeteile entwickelt, die Formen der Verba und Nomina beachtet, unterschieden und klassifiziert. Warum aber diese Formen im Griechischen gerade so und nicht anders sind, und woher sich gerade die und die Klassen gebildet haben, das hat man sich erst zu beantworten vermocht, als man aufmerksam geworden war auf die ursprüngliche Ähnlichkeit vieler europäischer Sprachen untereinander und mit dem Altindischen. Da war die Antwort bald gegeben, die europäischen Völker sind Nachkommen desselben Volkes, von welchem die heutigen Inder abstammen, und nicht nur die Sprache, auch die sonstigen geschichtlichen Zustände sprechen für diesen Zusammenhang. Mit anderen grammatischen Fragen ist man, trotzdem man das ganze Gebeit der Beobachtungen inne hat, noch nichts ins Reine gekommen, z. B. damit, was der Optativ [Wunschform - wp] im Griechischen dem Sinn nach letztlich oder ursprünglich ausdrückt, ob er einen Wunsch, also die subjektive Hoffnung des Redenden bezeichnet, oder ob er die Aussage als von einer ausdrücklichen oder stillschweigenden Bedingung und zwar einer subjektiven, d. h. einer nach Ansicht des Redenden bestehenden abhängen läßt. Wir können nach dem Ausgeführten sagen: Wissenschaften entstehen durch eine Zusammenordnung des Gleichartigen in Wahrnehmungen und Vorstellungen, durch Gliederung desselben nach den in ihm selbst wieder hervortretenden Unterschieden und Ähnlichkeiten, und durch ein Heraussuchen der ursächlichen Verknüpfung, welche etwa diesen besonderen Kreis des Zusammengehörigen beherrscht.

Wenden wir uns jetzt zu unserer zweiten Erklärung von Philosophie zurück; sie lautete: Philosophie heißt, sich durch wissenschaftliches Nachdenken über die Welt orientieren. Wie weit sind wir jetzt gelangt? Haben wir bereits die Philosophie in diesem Sinn gefunden oder sind wir ihm zumindest näher gekommen? Sehen wir genau zu, damit wir uns nicht mit zu früher Zuversicht täuschen. Wissenschaftliches Nachdenken haben wir, es liegt uns in den einzelnen Wissenschaften vor. Aber diese einzelnen Wissenschaften beschäftigen sich jede nur mit  einem  Gegenstand, mit einem Stück der Welt, welches zwar mannigfaltig in das Ganze derselben verflochten sein kann, aber zum Zweck der besonderen Wissenschaft möglichst isoliert betrachtet und behandelt wird. Der Geometer beschäftigt sich mit den Raumgebilden, der Arithmetiker mit der Zahl, der Physiker mit den Zustandsänderungen der Körper, der Chemiker mit den Stoffänderungen usw.; alle behandeln einen Teil der Welt, nicht so, daß diese Teile räumlich geschiedene Partieen sind, in Wirklichkeit ist alles ineinander, die Wissenschaft hält es zum Zweck der übersichtlichen und geordneten Behandlung auseinander. Sie wendet vielleicht ein Stück der Wissenschaft auf das andere an, wie die mathematische Naturerklärung Mathematik auf Physik anwendet und so eine höhere Erklärung, eine Theorie der physikalischen Erscheinungen gibt, aber selbst dann ist dies wieder etwas Besonderes, nicht beide Wissenschaften zusammen, sondern eine neue und anders geartete als die bloße Mathematik und die bloße Physik, welche durch jene nicht überflüssig werden, sondern neben ihr in alter, sich immer wieder bewährender Selbständigkeit einhergehen. Also in den einzelnen Wissenschaften haben wir zwar wissenschaftliches Nachdenken, insofern stimmen sie mit der Philosophie überein, aber wir haben in ihnen bloß Orientierungen über einzelne Teile der Welt, nicht über diese als Ganzes. Die einzelnen Wissenschaften sind also nicht die Philosophie. Die Sache, so gesehen, fordert unwillkürlich zu dem weiteren Gedanken auf, daß, wenn die einzelnen Wissenschaften als solche nicht die Philosophie sind, man bloß alle zusammenzunehmen braucht, um sie zu erhalten. Jede Wissenschaft für sich stellt ein Stück Weltorientierung dar, alle zusammen also die ganze Orientierung; jede Wissenschaft ist entstanden durch kunstgemäßes Nachdenken, nicht durch das bloß natürliche, sich von selbst mit der Wahrnehmung einstellende, also philosophier der, welcher alle Wissenschaft inne hat oder studiert; denn eben darin orientiert er sich durch wissenschaftliches Nachdenken über die Welt, welches ja unsere Beschreibung von Philosophie ist. Diesem Schluß scheinen wir nicht entgehen zu können. Er hat das Ansehen, als brauchten wir ihn gar nicht zu machen, als mache er sich aus dem Entwickelten von selbst. Er stimmt übrigens auch mit einer sehr verbreiteten Ansicht überein, wonach die Philosophie die allgemeine, die universelle Wissenschaft ist; was man dann so versteht, als ob die allgemeinsten höchsten Sätze aller Wissenschaften zusammengenommen eben die Philosophie sind.

Diese Ansicht ist, wie gesagt, sehr verbreitet und hat auf den ersten Blick viel für sich. Wenn die Philosophie überhaupt etwas für sich ist, so scheint ihr nichts übrig zu bleiben, als dies zu sein, die Zusammenfassung aller einzelnen Wissenszweige darzustellen. Nach dem BACONischen Vergleich laufen alle einzelnen Seiten des Wissens zusammen in der Philosophie als ihrer Spitze, sie bilden so eine Pyramide, die einzelnen Wissenschaften sind die Grundlagen der Seitenflächen, die aufsteigend in jenem abschließenden höchsten Punkt zusammentreffen. Wie sollte auch, so denkt man, die Sache anders sein können? Die einzelnen Wissenschaften sind Orientierungen durch allseitiges, geordnetes Nachdenken über einzelne Gebiete der Welt, das kann die Philosophie nicht leugnen, sie ist aus derselben Quelle entsprungen, aus der die Wissenschaften es auch sind; entweder also ist gar kein Unterschied zwischen Philosophie und den einzelnen Wissenschaften, oder die Philosophie ist ihre letzte zusammenfassende Zuspitzung. Diese Alternative scheint unvermeidlich. Manche sind geneigt sich dem ersten Teil derselben zuzuwenden. Nach ihnen ist Philosophie und Wissenschaft nicht unterschieden. Die Philosophie ist überflüssig, sie war eine Täuschung, man meinte das Ganze haben zu können vor den Teilen und ohne sie; allein das wäre, so sagt man, ein Unding; das Ganze setzt sich aus den Teilen zusammen. Früher war es möglich, daß  ein  Mann alle Hauptgebiete des Wissens inne zu haben glauben konnte; die das bis zu einem gewissen Grad wirklich vermochten, zogen aus den einzelnen Wissenschaften eine Art Summe, stellten aus ihnen allen gewisse letzte Abstraktionen auf, höchste Verallgemeinerungen oder Generalisationen; diese waren ihnen die Philosophie, und sie taten, als ob dieses noch etwas Abgesondertes von den einzelnen Wissenschaften sei. Heutzutage, wo jede einzelne Wissenschaft, selbst die Mathematik nicht ausgenommen, so vielseitig und reichhaltig geworden ist, daß ein einzelner Mensch kaum  eine  Wissenschaft völlig zu beherrschen imstande ist, geschweige denn mehrere, ist diese Jllusion zerstört. Die Chemiker teilen sich in solche, welche sich vorwiegend mit den anorganischen Teilen ihrer Wissenschaft abgeben, und in solche, die sich ganz mit den organischen beschäftigen; obwohl beide Teile sich nicht scharf abgrenzen lassen, so hat sich dieses Prinzip der Teilung der Arbeit doch als unumgänglich notwendig erwiesen eben wegen des unendlichen Reichtums beider im Großen und Ganzen auseinanderzuhaltender Gebiete. Die Historiker sind nicht in gleicher Weise auf allen Gebieten der Geschichte quellenmäßig zuhause; die einen haben vorwiegend das Altertum, andere das Mittelalter, wieder andere die Neuzeit zu erforschen übernommen, und selbst da gibt es wieder engere Gebiete, welche mehr als ein ganzes Menschenleben auszufüllen vermögen; deutsche, englische, russische, französische neuere Geschichte werden getrennt getrieben, getrennt auch in Bezug auf die handelnden Personen. Philosophisches Interesse im Unterschied vom wissenschaftlichen kann hier bloß allenfalls der Umstand sein, daß der Spezialforscher sich nicht begnügt bloß das Seine zu wissen, sondern auch Sinn für das behält, was Aufgabe und Gegenstand der anderen Wissenschaften ist. Wer bemüht ist sich mit den Resultaten der anderen Wissenschaften in Bekanntschaft zu erhalten und den Zusammenhang, der zwischen ihnen stattfindet, da sie doch alle zu einer Welt gehören, sich lebendig vorhält, wer mit anderen Worten ein universales wissenschaftliches Interesse hat, der treibt seine Wissenschaft philosophisch, und der eigentliche Philosoph würde der sein, welcher sich die Resultate aller Wissenschaften so anzueignen verstände, daß er ein Gesamtbild der Welt nach ihnen zu entwerfen vermöchte, ein Gesamtbild nicht als eine tote Enzyklopädie, in welcher so und so viele Fachwerke nacheinander aufgeführt werden, je nach der Zahl der einzelnen Wissenschaften eines, sondern wo die Wechselbeziehungen aller Wissenschaften lebendig erfaßt und aufgezeigt werden, so daß uns ein zusammenstimmendes Bild der Wirklichkeit nach dem jedesmaligen Stand der Einzelforschung vorgeführt wird. Dies ist Philosophie nach dieser Ansicht; und wie sich dies augenscheinlich ergibt, ist sie für jede Zeit eine andere. Sie hängt ab von dem Grad, wie es gelungen ist alle Einzelgebiete zu durchforschen; ändert sich dieser, so ändert sich auch notwendig der zusammenfassende Überblick. Ich habe hier nicht ein Phantasiebild vorgeführt, sondern es liegen zwar noch nicht nach diesem Plan ausgeführte vollständige Übersichten über die Wissenschaften als Ganzes vor - dazu findet man die Forschungen im Einzelnen noch nicht durchgeführt genug - aber die Idee ist schon oft ausgesprochen worden, und einzelne Erscheinungen in der Literatur hat man als Schritte zu ihrer Erfüllung bezeichnet und vielfach so aufgenommen. Ich erinnere an den HUMBOLDTschen Kosmos, welcher zwar nicht nach der Ansicht seines Verfassers, wohl aber nach der vieler seiner Bewunderer eine solche reellere Ausfürhung dessen sein soll, was man früher Naturphilosophie genannt hat; an THOMAS BUCKLEs "Geschichte der Zivilisation in England", in der man eine auf jener solideren Basis beruhende Überholung der früher sogenannten Geschichtsphilosophie bewundert. Andere sind mehr des Sinnes, daß die Philosophie, als die letzte zusammenfassende Zuspitzung der Wissenschaften, immerhin noch für etwas von den einzelnen Wissenschaften Verschiedenes angesehen werden kann. Es sei eine verschiedene Geistestätigkeit und erfordere eine andere Geistesrichtung, sich in die Fülle des Details einer einzelnen Wissenschaft zu versenken und die Gabe zu haben, die Haupttatsachen und Grundgesetze derselben klar und deutlich für sich herauszustellen. Wer das Letztere vermöge und die Fähigkeit habe, dies auf alle Hauptgebiete des Wissens auszudehnen, der sei mehr philosophisch angelegt, der Einzelforscher mehr wissenschaftlich im engeren Sinne. Wer also die Hauptsätze und Hauptgesetze der reinen und angewandten Mathematik, der einzelnen Teile der Naturwissenschaften, der Physik, Chemie, Botanik, Zoologie, Anatomie, Physiologie etc., endlich die der Lehre vom Menschen in seinem gesamten Tun und Lassen, der Geschichte, des Rechts, der Politik etc. säuberlich aus der ungeheuren Masse der Einzelheiten, wo man in Gefahr ist den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen, herauszusondern, gut zu formulieren, geschickt zu gruppieren und zu einem Ganzen zu ordnen vermag, der ist der wahre Philosoph.

Eine solche Zusammenstellung enthalte die Quintessenz aller Wissenschaft, sie sei nicht ein totes Gerippe, sondern es werde des Ganzen belebende Kraft in derselben zur Anschauung gebracht. Aber im Grunde sei der Unterschied der Philosophie von den einzelnen Wissenschaften bloß der, daß jene mehr auf das Allgemeine gerichtet ist, wie es sich aus dem Besonderen durch Abstraktion gewinnen läßt, diese sich mehr auf dasselbe Allgemeine in den einzelnen Erscheinungen wenden, wo es sein wirkliches Leben und Dasein hat. Der Philosoph habe mehr Geschick im Generalisieren und Gruppieren, der Mann der einzelnen Wissenschaft mehr Sinn und Lust für das Detail. Es sei nicht ein Unterschied im Wissen selbst, sondern es seien bloß zwei Seiten des Nämlichen, und der Philosoph hänge dabei offenbar ganz ab von den Männern des Faches; denn ohne daß diese ihre Einzeluntersuchungen gemacht hätten, sei er nicht imstande seine Generalisationen zu machen, wenn er nicht in die Luft bauen will, was doch schließlich aus aufgegeben zu erwarten sei, nachdem die spekulative Philosophie, die bis in die dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts unser Vaterland in einem so unruhigen Atem hielt, sich als völlig nichtig, leer, unfruchtbar und ganz vergeblich mehr als ausreichend dokumentiert hat. Der Unterschied zwischen Wissenschaft und Philosophie wird so zu dem von einem konkreteren und abstrakteren Denken; das konkrete, mit dem Einzelnen sich abgebende Denken ergibt die Wissenschaft, das abstraktere, d. h. aus dem Konkreten das Allgemeine abstrahierende, die Philosophie. Wer mathematische Sätze erfindet, treibt mathematische Wissenschaft; wer das in den mathematischen Sätzen erscheinende Allgemeine sucht, treibt mathematische Philosophie; wer das Allgemeine aller Wissenschaften zu finden und zu einem Gesamtbild zu vereinigen bestrebt ist, ist der eigentliche Philosoph in dem einzigen Sinn, welcher Anspruch auf Wert und Beachtung hat. Einen weiteren Unterschied zwischen Wissenschaft und Philosophie gibt es nicht; das abstrakte Denken muß im konkreten wurzeln und sich beständig auf dasselbe als seine Wurzel zurückbeziehen. Das Wissen ist  eines  in Wissenschaft und Philosophie; nur die Darstellung ist verschieden in beiden nach Umfang und Ausdrucksweise. - Diese Ansicht ist gleichfalls sehr verbreitet; sie enthält gleichsam das äußerste Zugeständnis, welches man glaubt der Philosophie machen zu müssen. Im Grunde ist sie nicht sehr verschieden von der anderen, vorhin entwickelten. Der einzige Unterscheidungspunkt ist, daß die erstbeschriebene meint, das Allgemeine entwickelt sich aus den einzelnen Wissenschaften mehr von selbst, während die zuletzt besprochene anerkennt, daß die glückliche und elegante (elegant im Sinne der Mathematiker, welche damit meinen, daß eine Aufgabe auf dem möglichst einfachen Weg zu lösen ist) - daß, sage ich, eine solche Behandlung des Allgemeinen sich nicht von selbst einfindet, sondern eine besondere Anlage erfordert; wer diese hat, hat auch das Zeug zum Philosophen; durch ihn würden dann die einzelnen Wissenschaften mit der Philosophie, wie sie allein denkbar ist, beschenkt.

Was ist von diesen Ansichten zu halten? werden wir uns ihnen zu ergeben und nach der ersten einen zusammenfassenden Überblick über die Fachwissenschaften zu liefern haben und damit unsere Aufgabe als Philosophen erfüllen, oder werden wir allenfalls nach der zweiten den Versuch machen, eine Summe von Abstraktionen, von Hauptsätzen und Gesetzen aus den einzelnen Wissenschaften scharf und präzise herauszuziehen, und in ihnen dann die Philosophie erblicken, welche wir suchen? Wir sind nicht in der glücklichen Lage es so machen zu können und unserer Aufgabe auf diese Weg Genüge zu leisten. Der Weg wäre zwar nicht so leicht, wie er dem ersten Blick zu sein scheint, aber er wäre immerhin doch erklecklich leichter, als man sonst wohl Philosophie gefunden hat. Man würde doch von vornherein klar und bestimmt das Ziel sehen, worauf es ankommt, und selbst die Methode wäre unschwer zu finden. Was nämlich den Leuten, welche jene Ansicht von Philosophie vertreten und den Philosophen empfehlen (sie selbst treiben gewöhnlich keine, weil sie mit ihren Spezialwissenschaften zuviel zu tun haben, und möchten den Philosophen nur gerne helfen durch Winke und Fingerzeige, wie sie es anfangen müßten, wieder zu etwas zu kommen, wodurch sie sich in die Reputation zurückversetzen könnten, die sie so sehr verloren haben, und was doch auch der Welt und den einzelnen Wissenschaften einen Gewinn bringen wird, während diese mit dem bisher für Philosophie ausgegebenen nichts anzufangen vermöchten), - was also diesen Ansichten vorschwebt, ist nicht das philosophische Ideal, sondern das logische. Letzte Grundsätze aus den Wissenschaften zu ziehen, diese einander so über- und unterzuordnen, wie es ihnen entspricht, die Abhängigkeit des Einzelnen vom Allgemeinen aufzuzeigen sind nämlich die Ratschläge, welche man für die Wissenschaft aus der Logik lernt. Darum ist die Logik auch unentbehrlich für alle Wissenschaften, denn eben für Abstraktionen und deren Verknüpfung braucht man sie. Alle Wissenschaften auf das logische Ideal gebracht haben, hieße nach dieser Ansicht sie in Philosophie verwandelt haben; einen Extrakt aus dieser logischen Fassung gemacht zu haben, welcher die Hauptsachen aller Wissenschaften enthält, wäre die wahre Philosophie. Was da herauskäme, wäre z. B. Folgendes: der EUKLID wäre nicht ein vorzügliches Lehrbuch streng beweisender Mathematik, er wäre eine sehr ausführliche Philosophie der Mathematik. Er stellt z. B. die allgemeinsten Hauptsätze der Geometrie dar und leitet aus ihnen durch Beweise die wichtigsten Sätze eines großen Teils dieser Wissenschaft ab; machte man aus ihm nun einen guten Auszug, so hätte man damit eine kurze Philosophie der Mathematik nach jener Ansicht. In der theoretischen Astronomie hätte man bloß die Lehre von der Anziehung der Weltkörper kurz aufzustellen, ihre Folgerungen für die Erklärung der Himmelsbewegungen an schlagenden Beispielen darzulegen, so wäre das eine Philosophie der Astronomie. Wenn die Nationalökonomie den allgemeinen Satz aufstellt, daß die Menschen nach ihrem Interesse, nach dem für sie Vorteilhaftesten, also eigennützig in Handel und Wandel verfahren, und daraus die Hauptgesetze des Verkehrs ableitet, so hätten wir damit die Philosophie der Volkswirtschaft. Wenn man schließlich alle Wissenschaften so behandelt und ein Ganzes daraus macht, die mannigfachen Bezüge der einen zur anderen heraushebt, so hätte man hiermit die abschließende, vollendende Philosophie. Ich behaupte dagegen, man hätte damit logisch geordnete Darstellungen der Wissenschaften im Überblick, die eigentliche Philosophie ginge danach erst an. Das, was jene Ansicht der Philosophie als Aufgabe setzt ist zwar sehr viel, und es wäre herrlich, wenn wir mit allen Wissenschaften so weit wären, aber wir wären dann doch immer noch erst an der Schwelle des eigentlichen Philosophierens.

Es verhält sich aber damit so, und wir nähern uns jetzt dem wirkliche Begriff, den man mit Philosophie verbinden muß. Die Sache läßt sich ungefähr so faßlich auseinandersetzen und zugleich in einer Weise, daß die lebendigen Wurzeln des Philosophierens im menschlichen Geist bloßgelegt werden. Denn solche muß die Philosophie haben, wenn sie wachsen und nicht als ein parasitischer Eindringling vom gesunden Baum des Lebens entfernt werden soll. Darüber sind wir nun mit den vorhin erörterten Ansichten einig, daß die Philosophie ein Wissen sucht, die Frage ist, ob sie sich dadurch von den einzelnen Wissenschaften unterscheidet, welche dies gleichfalls tun, oder ob sie eben als Wissenschaft wesentlich mit ihnen identisch ist. Ein solcher Unterschied findet allerdings statt; denn die einzelnen Wissenschaften geben sich als solche nicht damit ab, lange Untersuchungen darüber anzustellen, was es denn überhaupt heißt zu wissen und welches die besondere Art und Eigentümlichkeit des einzelnen in jeder von ihnen behandelten Wissens ist; sie setzen ganz naiv voraus, daß jedermann eine für die Aneignung ihres betreffenden Wissens genügende Vorstellung davon mitbringt, was Wissen ist, oder sie rechnen darauf, daß ihm die besondere Art, wie sich das Wissen in einer einzelnen Wissenschaft darstellt, aus der Beschäftigung mit derselben hinreichend verständlich wird. Wenn wir z. B. zuerst Mathematik lernen oder uns später mit der Erfindung mathematischer Lehrsätze abgeben, so wird uns weder gesagt, noch denken wir auch daran, was Wissen überhaupt und was das mathematische Wissen ansich und im Unterschied von anderem Wissen sein soll, und ob z. B. die Sicherheit seiner Methode und die Gewißheit seiner Grundbegriffe auf der äußeren Erfahrung beruth und auf einer bloß logischen Weiterverarbeitung derselben, oder auf einer inneren Anschauung des Geistes, zu welcher die Erfahrung wohl den Anstoß gibt, daß sie hervortritt, aber nicht ihren wahren Gehalt, oder ob etwa das mathematische Wissen etwas ist, was sich sehr kunstreich aus der äußeren und inneren Erfahrung zusammensetzt, - wie gesagt, an all das denken wir nicht, wenn es uns nicht einfällt das zu tun, was man im strengsten Sinn des Wortes zu allen Zeiten  ;philosophieren  genannt hat, daß wir nämlich fragen, was heißt es eigentlich mathematisches Wissen haben, und hat dieses Wissen etwas Eigentümliches und Besonderes im Unterschied von anderem Wissen? Diese Frage drängt sich gar nicht von selbst auf und findet auch nicht so im Verlauf der wissenschaftlichen Beschäftigung, gleichsam mitunterlaufend neben dem Anderen, Wichtigeren, ihre Lösung. Die Mathematiker von Fach, nicht die kleinen, sondern gerade die großen, halten sich dieselbe meist ab, wenn sie nicht, was aber selten der Fall ist, ebenso große Philosophen als Mathematiker sind, wie dies bei DESCARTES und noch mehr bei LEIBNIZ der Fall war. Es ist sogar oft sehr schwer, herauszubringen, welcher Ansicht die Mathematiker waren, selbst wenn man weiß, sie waren philosophische Köpfe, wie dies bei NEWTON wohl zutrifft; oder sie sagen mehr, welcher Ansicht sie sich zuneigen, ohne in eigentliche Beweise einzutreten, also mehr in der Form des individuellen Bekenntnisses, als in der der Wissenschaft; sie mögen die Wahrheit und Gültigkeit ihrer Sätze nicht abhängig machen von Untersuchungen, die ihnen außerhalb ihrer Fachwissenschaft zu liegen scheinen. - Wir sind jetzt schon imstande einen Unterschied zwischen Wissenschaft im engeren Sinne und zwischen philosophischen Wissenschaft anzugeben. Dieser Unterschied ergibt sich z. B. aus dem besprochenen Fall der Mathematik so, daß die Wissenschaft der Mathematik ausgeht von gewissen Grundsätzen und nach gewissen Regeln von ihnen aus den ganzen Reichtum mathematischer Bestimmungen zu entfalten sucht; daß aber die Philosophie der Mathematik gerade diese Axiome und Regeln, die ganze Natur des Raums zum Gegenstand ihrer Untersuchung macht. Die Philosophie stimmt darin ganz mit den Fachwissenschaften überein, daß sie sich durch wissenschaftliches Nachdenken zu orientieren sucht, aber die Philosophie hat da ihren Anfang, wo die Wissenschaft als solche sich zufrieden gibt; sie untersucht die letzten Prinzipien, welche einer Wissenschaft zugrundeliegen; das auszeichnende Merkmal der Philosophie ist das auf die letzten Prinzipien gerichtete Nachdenken. Indem sich aber der Philosoph über eine Wissenschaft und ihre letzten Prinzipien zu orientieren sucht, wird er unvermeidlich weiter getrieben. Die Eigentümlichkeit des Wissens in einem Fach zwingt ihn die Blicke auf den Unterschied oder die Verwandtschaft dieses Fachs von anderen oder mit anderen zu lenken; er muß sich dann fragen, was ist überhaupt Wissen, was ist im Besonderen mathematisches Wissen? Diese letztere Frage enthält eben die Hindeutung auf andere Arten des Wissens, die wir haben oder zu haben glauben; denn das Wissen tritt uns sofort in vielfacher Gestalt entgegen, als mathematisches, physikalisches, chemisches, physiologisches, psychologisches, ästhetisches, ethisches etc. Man kann sich den Unterschied des philosophischen und des gewöhnlichen Wissens sehr anschaulich machen an der Ästhetik. Man kann eine sehr feine und vielseitige ästhetische Bildung haben, in einzelnen Künsten oder auch in allen zusammen; man kann die Technik und die Kunstgesetze sehr wohl inne haben und so ein kompetenter und feinsinniger Beurteiler sein, ohne sich je die Frage vorgelegt und mit ihr abgequält zu haben, was eigentlich in der Kunst heißt:  das und das ist schön, das und das gefällt.  Daß etwas schön ist, und daß etwas bei der Betrachtung gefällt, empfinden wir alle leicht, und durch den Umgang mit Kunstwerken und der Vergleichung der an ihnen erscheinenden Schönheiten bringen wir es zu einer großen Virtuosität darin, rasch zu finden, was schön an einem Gemälde oder in einer Tragödie ist, und was uns weniger anspricht. Man kann aus der bloßen Virtuosität heraus es auch bis zur Beurteilung nach bewußten Regeln bringen, man kann so selbst Regeln auffinden, nach denen die Kunst verfahren ist und verfährt, ohne sich jemals über den eigentlichen Sinn des ästhetischen Wissens von Schön und Nichtschön bei sich oder durch Andere verständigt zu haben. Man kann sogar mit falschen oder zumindest nicht sehr zutreffenden Ansichten über diesen Sinn sehr vorzügliche einzelne Regeln über Kunst und verschiedene Künste aufstellen, wie dies z. B. der Fall von LESSING ist, der sein Leben lang von der leibniz-wolffischen Definition des Schönen ausging, daß nämlich die Schönheit die sinnliche Vollkommenheit ist, einer Definition, die wir kaum mehr als triftig anerkennen werden, und der doch im  Laokoon  und sonst in mustergültiger Weise Grundgesetze und Grundunterschiede verschiedener Künste ans Licht gezogen hat, freilich eben darum so ans Licht gezogen hat, weil er wohl jene Definition hatte und behielt, aber nicht aus ihr, sondern aus der Betrachtung der Künste als solcher argumentierte. -

Wir fassen das Gesagte zunächst dahin zusammen, daß wir urteilen: die Philosophie hat es mit dem Begriff des Wissens als solchem zu tun und zwar nach zwei Seiten, zunächst hat sie zu untersuchen, was es überhaupt heißt:  wissen,  das ist ihre Fundamtentalfrage und sodann wie der Begriff des Wissens sich in den einzelnen Wissenschaften. Also, um ein Beispiel aus den Naturwissenschaften zu nehmen, so fragt die Philosophie, welches ist die Wahrheit und Realität, welche den äußeren Dingen überhaupt zukommt, und was heißt: Materie, Kräfte, Naturgesetze, wie sind diese Begriffe zu denken, und welcher ist ihr Ursprung, werden sie allein der äußeren Erfahrung verdankt oder mischt sich bei ihrer Aufstellung noch etwas Anderes mit ein? Man wird das Gesagte nicht mißverstehen. Es ist nicht gemeint, als ob der Naturforscher von Fach sich nicht mit diesen Fragen abgeben kann und soll, im Gegenteil ist es ein großer Segen, für die Philosophie, wenn er es tut; aber zur Vollkommenheit seiner Wissenschaft als einer besonderen gehört die Beschäftigung mit diesen Fragen nicht, und es hat sehr ausgezeichnete Forscher gegeben, welche sich wenig oder gar nicht mit dieser mehr allgemeinen Seite ihres Fachs abgegeben haben, aber soweit dies geschieht, ist es ein Tun, welches im Unterschied zum gewöhnlich wissenschaftlichen ein philosophisches zu nennen ist. Zu diesem Merkmal der Philosophie, daß sie sich auf die Entwicklung der Begriffe vom Wissen überhaupt und auf die Grundbegriffe und Methoden der einzelnen Wissenschaften richtet, muß aber noch Eins hinzukommen, um ihn vollständig zu machen, nämlich die Richtung darauf, zu untersuchen, ob diese verschiedenen Begriffe und Methoden und der allgemeine Begriff des Wissens irgendetwas haben, was sie wie ein gemeinsames Band umschlingt und zu irgendeinem Ganzen verknüpft, oder ob sie lose und getrennt auseinander liegen und nur in einem äußerlichen Merkmal übereinstimmen, daß sie alle eine Art des Wissens sind. Diese Richtung, die einzelnen Wissenschaften nicht als vereinzelte dastehen zu lassen, sondern ihre Verknüpfung zu suchen, ob sie sich findet, ist eine wesentliche Seite der Philosophie; durch sie wird sie Orientierung über die Welt und nicht bloß Orientierung über einzelne Seiten oder Partieen derselben. In eine bestimmte Erklärung zusammengefaßt, was zuletzt erörter wurde, ergibt sich als Begriffsbestimmung der Philosophie diese: die Philosophie hat es zu tun mit dem Begriff des Wissens und zwar nach seinen verschiedenen Seiten, wie es sich in den Grundbegriffe und Verfahrensweisen der einzelnen Wissenschaften auseinanderlegt, und sie hat dies zu tun in Verbindung mit dem Versuch, die etwaigen Beziehungen und Verknüpfungen dieser Seiten zu einem Ganzen zur Anschauung zu bringen.

Sehen wir jetzt auf unsere erste Ausdrucksweise zurück, so ergibt sich folgende Stufenfolge im Begriff der Philosophie. Zuerst erklärten wir sie für das Bestreben sich durch Nachdenken über die Welt zu orientieren. Wir fanden, daß dies ihr allgemeinster Begriff ist; in diesem Sinne ist jedermann Philosoph, auch der allerungebildetste. Alle Religionen, alle Mythologien, alle kosmogonischen Sagen und Dichtungen sind aus diesem allgemeinen philosophischen Bestreben hervorgegangen. Das Nachdenken kann dabei ein sehr unselbständiges sein, indem es annimmt, was ihm als gute und verbürgte Antwort auf die leise Frage des Herzens und sein Verlangen orientiert zu sein geboten wird; aber ohne jene Anknüpfung im Gemüt würde keine Religion, keine Mythologie jemals entstanden sein und noch weniger Ausbreitung gefunden haben. Wir konnten uns aber mit diesem erst Begriff von Philosophie nicht begnügen; es war zu ersichtlich, daß es einen Unterschied zwischen Philosophie und Philosophie gibt. Dieser Unterschied konnte nicht in dem Wunsch und dem Bestreben sich über die Welt zu orientieren; dieser ist und bleibt für jede Art von Philosophie das Gemeinsame. Also mußte der Unterschied in einer Verschiedenheit des Nachdenkens gesucht werden. Hier war er leicht zu finden. Es gibt ein naturwüchsiges Nachdenken und ein diszipliniertes oder sich selbst Zucht auferlegendes. Dieses disziplinierte Nachdenken zeigte sich uns als Wissenschaft. Es zerfiel dabei in eine Mehrheit einzelner Wissenschaften. Die Zusammenfassung ihrer Resultate wurde uns von einer verbreiteten Ansicht als die wissenschaftliche Orientierung über die Welt, somit als die wahre Philosophie bezeichnet. Wir wiesen auf, daß den Männern dieser Ansicht hierbei ein logisches Ideal der Wissenschaft vorschwebt, daß ihnen Philosophie soviel ist wie allseitige Bekanntschaft mit den Hauptergebnissen der so gefaßten Wissenschaft. Wir können jetzt diesen Standpunkt als den der Bildung kennzeichnen; denn gebildet sein heißt durch vielseitige allgemeine Kenntnisse aufgeklärt sein. Aber daß dies die Philosophie ist, konnten wir nicht zugeben. Es fehlte offenbar etwas zu Wesentliches; und wir fanden dieses Fehlende darin, daß die Wissenschaften als solche sich nicht auf die letzten Gründe einlassen, daß sie, ohne ihrem Gedeihen und ihrer Sicherheit zu schaden, eine Menge Fragen beiseite lassen können. Diese letzten Fragen aller Wissenschaften nahm die Philosophie auf. Wir können sie in den bezeichneten Stufengang eingliedern als das Bestreben, sich durch wissenschaftliches Nachdenken über die letzten Prinzipien in der Welt zu orientieren.

Man wird sich überzeugt haben, daß unser Begriff von Philosophie nicht in der Luft schwebt, daß er recht eigentlich aus dem allgemeinen Leben und insbesondere aus dem Leben der Wissenschaften hervorwächst. Er stellt einerseits den Unterschied und andererseits die Berührungen der Philosophie mit den einzelnen Wissenschaften von vornherein klar. Er stellt den Unterschied klar: denn die Philosophie hat danach eine Aufgabe, welche mit derjenigen keiner einzelnen Wissenschaft zusammenfällt, und die weder von einer einzelnen für sich noch von allen zusammengenommen gelöst werden kann, abgesehen noch davon, daß manche, wie z. B. die Moral, wo sie von der Theologie getrennt war, nur von Philosophierenden behandelt worden ist; denn die Philosophie setzt eine eigene in den einzelnen Wissenschaften ansich keineswegs in Ausübung kommende Seite menschlichen Denkens und Interesses in Tätigkeit. Sodann werden aber auch durch unsere Erklärung die Berührungen hervorgehoben, in welchen die Philosophie mit den einzelnen Wissenschaften steht. Denn eben weil es die Philosophie wesentlich auch mit den Grundbegriffen und Methoden der einzelnen Wissenschaften zu tun hat, ist sie zu einer lebendigen Beziehung zu ihnen aufgefordert und kann ohne dieselben die Aufgabe, welche sie an sich stellen muß, in keiner Weise lösen. Welche furchtbaren Winke gibt uns diese Ansicht, ohne daß wir bei ihrer Erzeugung an so etwas dachten, für das Verständnis des Einzellebens und der Geschichte! Der Einzelne unter uns geht meist diesen Gang: erst nimmt er eine Menge von Ansichten über die Welt auf und bildet sie häufig im Stillen nach seinen besonderen Beobachtungen oder Reflexionen um; dann wird er inne, daß diese angenommenen und selbstgebildeten Ansichten nicht so sicher und gewiß sind, wie er geträumt hatte. Da gibt er das naturwüchsige Philosophieren, zweifelnd an seinem Wert auf gegen die Durchforschung einer einzelnen Wissenschaft. Hat er diese gründlich getrieben und sich sein Interesse für andere Zweige menschlichen Wissens bewahrt und mannigfache praktische Bekanntschaft mit Welt und Menschen gemacht, so entsteht von Neuem das Bedürfnis nach einer gründlichen und zusammenhängenden Orientierung über die Welt. Mit ganz anderen Mitteln entwirft er nun entweder selbst die Grundlinien einer Weltansicht oder beschäftigt sich von Neuem, wenn auch nur ab und zu, mit den Werken derer, welche Philosophie zu ihrer besonderen Lebensaufgabe gemacht haben. Daß dies ein sehr häufiger Verlauf unter uns ist, ist dem Erfahrenen wohlbekannt. Es ist nicht so, daß Philosophie eine von den mancherlei Jugendträumereoem wäre, von denen der reifere Geist zurückkommt. Das Interesse für Philosophie ist unaustilgbar, und es braucht den Fachwissenschaften nicht verloren zu gehen; diese haben ganz Recht, daß man nicht von den Fachwissenschaften verlangen darf, sie sollten Philosophie sein, aber darum fehlt die Hinüberleitung zur Philosophie keinen Augenblick. Aber nicht bloß für das Verständnis des Einzelnen ist unsere Ansicht lehrreich, auch für die Würdigung der Geschichte der Philosophie bietet sie uns unerwartete Aufschlüsse. Durch sie wird es von selbst klar, warum Philosophie in irgendeiner Form als naturwüchsiges Produkt menschlichen Geistes überall den Wissenschaften vorausging. Man will eben über die Welt orientiert sein, so gut es geht, und unter Welt versteht man da nicht sofort, was wir so nennen nach unseren jetzigen Kenntnissen, sondern das, was jedem Volk als seine Welt erscheint. Dem Chinesen ist diese Welt sein Reich der Mitte, dem Griechen, der doch so fließend philosophierte, ging sie nicht viel über die Küstenländer des Mittelmeeres, dem Grönländer ist sie seine Umgebung und das, was ihm in seinem engen Bezirk vorkommt. Dieses Bestreben führt zu Gedanken über die Welt, oft zu kuriosen, häufig zu sinnreichen, immer aber zu Gedanken, die im Formellen der Begriffe eine wesentliche Ähnlichkeit zeigen. Diese Philosophie kann sich in Bezug auf menschliche Dinge und auf allgemeine Begriffe sehr aus dem Rohen herausarbeiten, wie die griechische Philosophie dafür Zeuge ist, aber auch auch hier ist der Einfluß der erwachenden Wissenschaft unverkennbar, z. B. bei den Pythagoreern der der Mathematik und Musik, bei HERAKLIT der des schärferen Beobachtens des natürlichen Geschehens usw. Wo sich aber die Wissenschaft nicht gleichzeitig als solche mit der Philosophie bildet oder ihr vorangehend, da gerät die Philosophie nicht; so taugt die ganze Naturphilosophie der Alten nicht, weil sie gebildet wurde von Leuten, welche überwiegend bloß philosophische oder bloß geistige philosophische Interessen hatten. Eine eigentliche Naturwissenschaft bekamen die Griechen erst nach ALEXANDER dem Großen, aber da war das Ansehen der Philosophie schon so groß, daß man, so gut es ging, die genauer beobachteten Erscheinungen mit der Philosophie in Einklang zu setzen versuchte, welche ihre Begriffe selbst reflektierend über Beobachtungen, nur über sehr kunstlose, gebildet hatte. So erklärt sich z. B. aus der Neuzeit der Aufschwung, welchen die Ästhetik seit dem vorigen Jahrhundert genommen hat. Sie wurde fast gleichzeitig als Philosophie und als Wissenschaft ausgebildet; als Philosophie durch BAUMGARTEN, aber mit starker Anlehnung an die Wissenschaft, BAUMGARTEN nahm seine Beispiele meist aus der Rhetorik, also aus einer als Zusammenstellung technischer Regeln mannigfach behandelten Kunst; als Wissenschaft durch LESSING als Kritiker und WINKELMANN als Vertreter einer auf ästhetisches Verständnis der Kunst abzweckenden Kunstgeschichte. Vorher gab es wohl Äußerungen über die Natur des Schönen bei den Philosophen, aber fragmentarisch und gelegentlich; von da an hat fast jede neue Philosophie auch eine eigene Auffassung des Ästhetischen zu begründen versucht.

Unsere Begriffsbestimmung von Philosophie, wie sie sich uns in einer dem natürlichen Denken möglichst angeschmiegten Betrachtung ergeben hat, bietet aber noch weitere Seiten, welche nicht zu ihren Ungunsten sprechen. Sie ist nämlich rein formal, sagt in keiner Weise voraus, wie eine einzelne Philosophie ausfallen oder welchen Inhalt sie haben wird; ob sie materialistisch sein wird, ob spiritualistisch, ob nach ihr nichts als Materie existiert und der Geist bloß die höchste Sublimation des Stoffes ist, oder ob bloß Geister existieren und die materielle Welt in einer Reihe geordneter und zusammenhängender Erscheinungen besteht, darüber ist durch ihren Begriff nichts im Voraus entschieden. Ebensowenig steht in ihm etwas davon, ob das Wissen sensualistisch, intellektualistisch oder in gemischter Weise zustande kommt; ob die Vernunft aus den Sinnen als deren Quintessenz herausgezogen wird, oder die Sinne nichts sind als eine Art verdichteter und vergröberter reiner Vernunft, oder ob der Stoff des Wissens durch die Sinne kommt, seine Form durch den Geist hinzugetan wird, von all dem kann man ihrem Begriff nichts anmerken. Dies ist insofern ein Vorzug unseres Begriffs, als es der wahre Sinn dessen ist, was man die Voraussetzungslosigkeit der Philosophie genannt hat. Diese Voraussetzungslosigkeit kann die Philosophie nicht aufgeben. Wenn im Menschen das philosophische Bedürfnis erwacht, so will er überhaupt  gewiß  werden und würde zu nichts Ordentlichem kommen, könnte sich überdies seine ganze Arbeit erspraren, wollte er sich schon im Voraus sagen: du willst aber nur dieses oder jenes Inhaltes gewiß werden. Zur philosophischen Voraussetzungslosigkeit gehört aber noch dies, daß bei aller Begeisterung für Philosophie wir doch mit Resignation an die philosophische Arbeit gehen. Ich meine das so: wir dürfen nicht daraus, daß es dem Menschen natürlich ist zu philosophieren, uns die Ansicht bilden, als wäre dieser natürliche Zug eine Art Anweisung auf das Gelingen des Unternehmens. Aus unserem natürlichen Trieb und Hang zum Philosophieren folgt nicht, daß wir es auch zu einer vollkommenen Philosophie bringen. Gewiß, ein natürliches Zutrauen zur Lösung der Aufgabe haben wir von Anfang an, aber damit ist nicht verbürgt, daß der Fortgang dieses natürlichen Zutrauen rechtfertigt, erhält und steigert; es wäre nicht ausgeschlossen, wiewohl dies keineswegs meine Ansicht ist, daß es sich durch die Untersuchung herausstellte, das Wissen, das wir suchen, sei uns gar nicht wirklich beschieden. Es könnte sich treffen, daß wir mit Zutrauen anfingen und mit Ergebung in unser Nichtwissen oder mit Verzweiflung an allem Wissen enden. Es gehört so zum Philosophieren eine starke Seele, ein mutiges Herz. Jene andere Ansicht, daß aus der Natürlichkeit des Triebes zum Philosophieren eine Art Anwartschaft auf das Erreichen einer befriedigenden Philosophie gegeben ist, beruth auf einer Menge von Voraussetzungen, welche bereits die Lösung der Aufgabe in einer bestimmten Richtung enthalten. Entweder leitet man nämlich den natürlichen Trieb im Stillen daraus ab, daß Gott ihn in uns gelegt hat, also uns auch um die Erfüllung dieser Sehnsucht nicht betrügen wird; oder man sieht in diesem Trieb den Keim der sich selbst entwickelnden Vernunft, welche es drängt sich auszugestalten, sich über sich selbst ganz und vollständig klar zu werden, da gehört es dann, sozusagen, zur natürlichen Entwicklungsgeschichte der Vernunft, daß sie zur wahren Philosophie hindurchdringt. Jenes ist die theistische, dieses die pantheistische Deutung jenes Triebes. Oder man denkt mehr naturalistisch so: im Trieb kündigt sich überhaupt in der Natur eine Entwicklungsstufe an, welche im Begriff ist erreicht zu werden; so reibt sich der junge Eber sein Zahnfleisch an den Baumstämmen, ehe noch und wenn gerade die Zähne herausbrechen wollen; so kündigt sich auch im Trieb zu philosophieren das Herannahen des Denkprozesses zuz seiner höchsten Steigerung an. Es ist klar, daß man diese Deutungen allenfalls am Ende der Philosophie haben kann, aber nicht am Eingang, wenn man nicht auf der Schwelle bereits mit einer Menge Begriffe operieren will, welche man erst innerhalb der Philosophie zu bilden und zu bewähren hat. Wer weiß denn auf der Schwelle der Philosophie mehr, als daß er den Trieb hat zu philosophieren, und daß er diesem Trieb folgend sich an die Aufgabe macht? Hat denn jeder Trieb die Gewährung seiner Erfüllung in sich, hat der Trieb vieler Menschen die Quadratur des Zirkels zu entdecken oder ein  perpetuum mobile  zu konstruieren irgendeine Aussicht auf Erfolg bei den Verständigen? und docht gibt es immer wieder welche, die da meinen, das Verlangen nach einer Aufgabe gibt auch die Gewähr ihrer Lösbarkeit. Man hat viel gespottet über das Argument von der Unsterblicbkeit der Seele, welches auf die dem Menschen innewohnende Sehnsucht nach einem nie endenden Dasein gebaut ist. Ich lasse dahingestellt, ob das sich Argument nicht so wenden läßt, daß es diesem Spott nicht ausgesetzt ist, aber das ist zuzugeben, das bloße starke Verlangen nach etwas kann keineswegs irgendwie als ein Wink für seine Erreichbarkeit gelten. Der Ausdruck  natürliches  Verlangen, den man bei solchen Betrachtungen, wenn sie dem gerügten Vorurteil günstig ausfallen, gerne einschiebt statt des bloßen Verlangens kann gesagt werden im Gegensatz zu einem künstlichen, von uns erst erzeugten, gemachten; Natürlich versteht man dann in dem Sinne, daß es von Anfang an in uns gelegt ist und zwar von der Natur in uns gelegt, d. h. entweder von der Ordnung des Weltalls, die man gern als zweckmäßig denkt und nichts umsonst tun läßt, oder von einem Urheber der Natur, von Gott selbst. Aber dann müßte erst bewiesen sein, daß diese Deutung von  Natürlich  die richtige ist; was offenbar weit vorgreift und eine Hauptfrage der Philosophie bereits als gelöst vorwegnimmt. Versteht man aber unter  Natürlich  nichts, als was in uns ist, ohne unser bewußtes Zutun sich in uns einstellt und auftut, ohne daß man sich schon im Stillen eine Ansicht darüber gebildet hat, woher das kommt und wie es zu deuten ist, daß dem so ist, so hat die Natürlichkeit unseres Strebens nach Philosophie durchaus noch keine besondere Würde an sich; sie ist etwas rein Tatsächliches, wie unsere ganze gegebene geistige Ausstattung, und was wir davon halten sollen, ist erst noch zu untersuchen, darf in keiner Weise vor einer solchen Untersuchung im Geheimen bereits entschieden sein.

Doch genug von dieser Voraussetzungslosigkeit der Philosophie, welche stets gefordert und so selten bewahrt wird; denn gewöhnlich wird man finden, daß in den ersten paar Sätzen einer Philosophie bereits die ganze Philosophie des Mannes darin steckt, zwar unausgeführt, aber sehr bestimmt, alles Weitere ist dann ein bloßes Explizieren des implizit bereits Vorhandenen. Nur noch einem Gefühl möchte ich begegnen, welches der aufgestellte Begriff von Philosophie leicht erzeugen kann, einem Gefühl, mit dem man nur ungern an Philosophie geht, von der man ganz andere Stimmungen des Gemüts erwartet und in solche versetzt zu werden verlangt. Kann man denn, so wird man denken, sich für so etwas begeistern, was, wie jener Begriff, sich so kühl, ja so kalt anläßt? unterscheidet er sich dadurch nicht zu seinem Nachteil von anderen Begriffen von Philosophie die im Land herumlaufen und allen zu Ohren gekommen sind? Ein solcher vielgehörter Begriff von Philosophie ist z. B., sie sei das Wissen des Wissens. Das klingt sehr stattlich, hat überdies etwas von Halbdunkel an sich und kann dadurch einen gewissen Zauber ausüben, sagt aber, genau besehen, nicht mehr, als was wir aufgestellt haben, daß nämlich die Philosophie es mit dem Begriff des Wissens und seiner Entfaltung in den einzelnen Wissenschaften zu tun hat; insofern ist sie allerdings ein Wissen des Wissens. Allein jener halbdunkle Ausdruck ist eben wegen seines Halbdunkels mißlich; entweder wird dabei das Wort  wissen  hintereinander jedesmal in einem etwas verschiedenen Sinn gebraucht, einmal als philosophisches, sodann als das der Fachwissenschaften, oder, wenn das nicht sein soll, so sieht man nicht ab, was denn Besonderes daran ist, das Wissen noch einmal zu wissen. Eine andere Bestimmung, die lange im Schwang war, weil sie gleichfalls durch einen gewissen Schwung zu bestechen wußte, war die: die Philosophie geht auf das Unbedingte und Absolute im menschlichen Wissen. Aber diese hat den einleuchtenden Fehler, daß sie der Untersuchung vorgreift, indem sie ihr von vornherein sagt, was sie in bestimmter Eigenschaft von vornherein zu suchen und zu finden hat und diesem überdies durch die gewählten Bezeichnungen des Unbedingten und Absoluten etwas Hohes und Majestätisches sofort anhaftet. Wir sagen: die Philosophie geht auf das Wissen und die Grundbegriffe der einzelnen Wissenschaften. Damit sagen wir einfache, sie geht innerhalb des allgemeinen Begriffs von Wissen, nachdem sie ihn festgestellt hat, auf die letzten und fundamentalen Begriffe der einzelnen Wissenschaften und ihre Untersuchung ein. Jene Ansicht aber erweckt die Nebenvorstellung und macht sie sogar tatsächlich und zwar vor der Untersuchung der Hauptvorstellung, daß diese letzten Begriffe etwas Unbedingtes und Absolutes an sich haben. Wer kann es dabei vermeiden, bei  Unbedingt  an das Göttliche Wesen zu denken, was nicht mehr als begründet, sondern als Grund von Allem gedacht wird, und bei  Absolut  an etwas Vollkommenstes, dem nichts mehr von irdischer Mangelhaftigkeit und bloßer Relativität anklebt? und indem er an so etwas, durch die gewählten Ausdrücke verführt, denkt, überträgt er unwillkürlich diese Gedanken auf seinen Begriff von Philosophie und erwartet etwas Unbedingtes und Absolutes in ihr zu finden etwa in der Art, daß er im menschlichen Geist die Wurzeln aller Dinge entdeckt und darin zugleich die höchste Befriedigung gewinnt. Aber indem er so denkt, verfälscht er den Begriff der Philosophie, der es geziemt nüchtern zuzusehen und abzuwarten, was sich finden wird, nicht in Begeisterung trunken ein Gewünschtes als ein Erwiesenes oder Selbstverständliches zu betrachten. Es ist ja sicher sehr erfreulich, wenn sich durch die Untersuchungen der Philosophie so etwas ergibt, wenn es gelingt etwas in diesem Sinne Unbedingtes und Absolutes zu entdecken, sei es subjektiv im Geist des einzelnen Menschen, sei es objektiv als der selige und beseligende Grund von Natur und Menschenleben; allein es von vornherein gleichsam als das Ziel aufzustecken, welches erreicht werden muß, wenn überhaupt etwas erreicht werden soll, hat sein sehr Bedenkliches. Es geht in diesen Dingen wie im gewöhnlichen Leben, wo man auch das, was man gerne wünscht, leicht glaubt. Wir bleiben daher bei unserer Erklärung, vertrauend, daß das Kühle der Worte sich in Wärme des Lebens umsetzen, daß das Kalte des Ausdrucks sich in ein Feuer des Gedankens verwandeln wird, wenn es gelingt die Aufgabe auch nur annähernd zu lösen, welche die Erklärung darstellt. Denn es leuchtet ein: wenn der Begriff des Wissens uns durchsichtig wäre, wenn die Grundbegriffe und Methoden der einzelnen Wissenschaften, von ihm durchleuchtet, klar und hell vor unserem Geist stünden, wenn ihre etwaigen Beziehungen und Verknüpfungen untereinander zu einem Ganzen deutlich übersehen würden, dann könnte es nicht fehlen, da dieses Wissen und die Wissenschaften Natur und Geschichte, göttliche und menschliche Dinge in sich befassen, daß dem Philosophen eine bewunderungswürdige Einsicht in die Tiefe und Breite der Dinge zum Eigentum geworden ist; er würde an seiner Philosophie den Faden haben, mit dem er sich wohl zurechtzufinden wüßte in den verwickeltsten Fragen des LEbens, mögen sie theoretischer oder praktischer Art sein; so daß Philosophie schließlich, aber erst schließlich, als eine  scientia rerum divinarum  [Erkenntnis des Göttlichen - wp], im alten Sinne des Wortes, wo es Gott und die Natur umfaßt,  et humanarum  [das Menschliche - wp] gepriesen zu werden verdient. -

Aus dem gegebenen Begriff ist aber auch trotz seiner scheinbaren Kühle vollständig klar, warum die Philosophie etwas Selbständiges für sich is, und warum sie den anderen Wissenschaften, wenn sie mehr sein wollen als glänzende Bruchstücke und innerhalb eines gewissen Kreises wohlbegründete Meinungen, durchaus unentbehrlich ist; warum sie vornehmlich dem werdenden Jünger der Wissenschaft neben seiner Fachwissenschaft dasjenige ist, was ihn stets dazu hinleitet, sich auf die letzten Gründe seiner besonderen Wissenschaft zu besinnen und unaufhörlich die etwaigen Beziehungen derselben zu anderen Wissenschaften und zum Begriff des Wissens im Auge zu behalten. In diesem Sinne ist die Philosophie ein wesentliches Stück unseres Universitätsstudiums, insofern dieses nicht bloß die einzelnen Wissenschaften in ihrer Vereinzelung zu pflegen und zu überliefern, sondern die äußerste Vertiefung des Wissens anzustreben und die Beziehungen des Wissens untereinander zu Bewußtsein zu bringen die Aufgabe hat. Wie vorhin angedeutet, der Mann der Wissenschaft, der einzelnen oder auch mehrerer, kann die Philosophie erübrigen, dem Mann des Wissens ist sie ein Lebensbedürfnis, insofern er nicht bloß Wissenschaft im Einzelnen, sondern Wissen überhaupt will. Und die sind auch stets die größten Fachmänner gewesen, welche philosophisches Interesse und philosophischen Geist mit ausgezeichneten Kenntnissen und Fertigkeiten in einzelnen Zweigen menschlichen Wissens verbanden.

So hat auch unser Begriff von Philosophie etwas Großartiges; er schreitet zwar auf der Erde, aber er möchte versuchen, ob er sein Haupt in die Wolken erheben und zugleich seinen Blick in die Tiefe zu erstrecken vermag. Ein großartiges Streben erweckt auch ein großartiges Gefühl, eine erhabene Stimmung, aber dies darf nicht so ausgelegt werden, als ob das Wissen eine Art göttlicher Seligkeit bei sich führt als sein Kennzeichen. Es ist von ARISTOTELES bis auf HEGEL soviel von der Wonne der Theorie die Rede gewesen, von der ungetrübten Freude des philosophischen Denkens, vom reinen Genuß im Äther des herrlichsten Ideenflugs, daß man gewöhnlich meint, man dürfe an Philosophie bloß anrühren, so werde man in einen Himmel erhoben, in welchem keine Träne mehr weint, kein Seufzer mehr gehört, keine Beklemmung des Herzens mehr gefühlt wird. Aber das alles ist gar nicht die philosophische Stimmung als solche. Was diese Philosophen so schildern, ist gar nicht die allgemeine Stimmung des Philosophierens, sondern die individuelle der einzelnen betreffenden Männer, welche philosophierten. Wem das Denken am liebsten ist, dem ist es  seine  Seligkeit sich ihm ganz hinzugeben, er vergißt darüber alles andere, aber das ist nicht ein Vorzug des Philosophen. NEWTON, in mathematische oder mechanische Probleme vertieft, vergaß Hunger und Durst, fühlte so wenig im Augenblick dergleichen Bedürfnisse, daß er schon glaubte gegessen zu haben, obgleich er keinen Bissen im Leib hatte; die Liebe vergißt auch Erde und Himmel, einzig versunken im Anschauen des geliebten Gegenstandes. Philosophie hat nur, wie alle wissenschaftliche Beschäftigung, das voraus, daß sie ein reueloses Vergnügen ist für den, der sein Vergnügen darin setzt; reuelos mindestens in sich, wenn nicht indirekt dadurch andere wichtige Pflichten versäumt werden. Was also jene Männer schildern, ist von einer Seite etwas Allgemeines, nicht bloß der Philosophie Eigentümliches, von anderer Seite aber etwas Individuelles. Diese Männer waren so selig in ihrem Philosophieren, weil sie entweder glaubten das Ersehnte wirklich und abschließend gefunden zu haben oder auf dem besten Weg dazu zu sein. Dies hat aber wiederum auch eine allgemeine Seite. Es ist das die Freude, welche bei jeder Tätigkeit empfunden wird, die da gelingt; diese Freude hat auch der Tor, wenn er einen Unsinn glücklich ausführt, sie ist gar kein Privileg des sinnenden Verstandes. Jene Stimmung wird uns also nicht entgehen, wenn unser Unternehmen glückt, aber es läßt sich nicht der Philosophie als eine besondere Zierde umhängen immer vergnügt zu sein. Mir scheint, daß man auch hierin nichts Apartes für die Philosophie beanspruchen darf; man schadet ihr sogar durch solche Versicherungen und Verheißungen von Seligkeit; denn wenn irgendjemand sie nachher nicht findet, und sobald er nur an  einem  Satz einer solchen Philosophie zweifelt, ist sie verloren, so wird auch seine Verzweiflung umso größer sein; je größer die Erwartungen, desto leichter die Enttäuschungen. Die Stimmung, welche der Philosophie ziemt, ist die ganz ordinäre der menschlichen Arbeit. Der Philosoph  denkt,  er träumt nicht, er läßt sich nicht von Phantasien wiegen und schaukeln, sondern eben weil er auf den Grund dringt, hat er alle Kräfte aufzubieten, um hindurchzudringen. Er arbeitet überdies mit einem spröden Material; die Gedanken sind gar nicht so willfährig, wie man glaubt, nicht so leicht zu traktieren, wie man immer sagt, wenn man die Welt der Vorstellungen wie ein leichtes, lustiges Völkchen beschreibt, das sich tummelt ohne die Schwere und Verwickeltheit der Sinnendinge. Nur eine richtige Definition von irgendetwas, auch bloß Gedankenmäßigem, zu geben, gehört anerkanntermaßen zum Schwierigsten, womit man darum nie eine Untersuchung anfangen, sondern womit man als Resultat einer gründlichen Untersuchung schließen muß. Und wieviel Zweifel erheben sich innerhalb der philosophischen Arbeit beständig; hat man einen beseitigt, so regen sich drei andere; oft hat es das Aussehen, als stecke man fest, könne nicht von der Stelle und nicht weiter, während man doch einsieht, daß man nicht da bleiben kann, wo man ist; wahrlich es gehört Mut und Ausdauer zum Philosophieren in einem Grad, wie sie nur bei irgendeinem schweren Unternehmen verlangt werden können. Ob das Endergebnis die Zufriedenheit des Gelingens oder die Zufriedenheit der Resignation sein wird, kann nicht vorausgewußt werden. Beide Gemütszustände sind aber sehr verschieden; die Zufriedenheit des Gelingens ist reine, ungetrübte Freude, die Zufriedenheit der Resignation ist ein gemischtes Gefühl; es entstünde, wenn es sich erwiese, daß unsere Hoffnung auf Wissen, wie wir es dachten, nicht erfüllbar ist, und das ist Trauer, Gefühl des Nichtgelingens; aber in diesem Nichtgelingen läge auch wieder ein Gelingen, es wäre die positive Einsicht gewonnen, wie weit Philosophie geht und wohin sie nicht dringt, oder was sie bietet und war gar nicht in ihr zu finden ist. Es wäre damit allerdings etwas erreicht und Freude dadurch erweckt, es wäre aber nicht alles erreicht, was wir hofften und dadurch wird Trauer erregt; beide Gefühle würden in der Resignation zu jenem süßen Mischgefühl von Schmerz und Lust verschmelzen, für das wir so empfänglich sind. Welches aber die letzte Stimmung wirklich sein wird, ob pure Freude, ob wehmütige Entsagung, wir wissen es hier nicht; wir führen uns nur die Möglichkeit vor, damit wir uns nicht in der Zuversicht verstricken, es müsse etwas ganz Bestimmtes in dieser Beziehung von vornherein erwartet werden; der Weise ist vor der Untersuchung auf alles gefaßt.

Schließlich, d. h. zum Schluß dieser Einleitung noch ein Wort über den Namen, den ich diesen Untersuchungen gegeben habe und die anderen, die ich ihnen hätte geben können. Ich habe die Philosophie als Orientierung über die Welt genannt, weil diese Bezeichnung die Wurzel alles Philosophierens im menschlichen Gemüt zugleich mit bloßlegt; ich hätte sie auch stattdessen  Erkenntnistheorie  oder  Metaphysik  nennen können. Und zwar würde ich dann beide Namen zusammengenommen und durch ein  oder  verbunden haben. Dieses  oder  würde hier soviel heißen wie: was dasselbe ist, Erkenntnistheorie, mit einem anderen Namen  Metaphysik;  man könnte auch umdrehen, ich hätte nichts dagegen, und stellen: Metaphysik oder Erkenntnistheorie; auch schreiben  Erkenntnistheorie als Metaphysik,  oder  Metaphysik  als Erkenntnistheorie. Gewöhnlich macht man einen Unterschied zwischen beiden Wissenschaften. Metaphysik heißt dann mehr das Denken, welches sich an die letzten Prinzipien begibt mit dem Vertrauen, daß sie zu erreichen sind; daher hat man auch die Metaphysiker als Dogmatiker bezeichnet, als solche, die bestimmte Lehrsätze als gewiß und unzweifelhaft aufzustellen der menschlichen Vernunft von vornherein die Berechtigung zuschreiben. Erkenntnistheorie heißt gewöhnlich: Untersuchungen über das menschliche Erkennen, geführt in der ausgesprochenen Absicht, erst die Berechtigung zu einer Metaphysik dadurch zu prüfen, daß man die Kräfte des menschlichen Geistes in eingehender Analyse untersucht, um zu sehen, ob sie denn zu einem metaphysischen Unterfangen ausreichen. In diesem Sinne schrieb KANT seine  Kritik der reinen Vernunft und indem er eine Kritik der praktischen Vernunft und eine dritte der Urteilskraft hinzufügte, glaubte er das menschliche Erkenntnisvermögen ganz durchmessen und dabei für zu gering, für nicht ausreichend an Kräften zu einer Metaphysik befunden zu haben. KANT ging bei dem Gegensatz, den er erfand, von der Namenserklärung der Metaphysik aus, wie er sie sich machte; er verstand darunter die Wissenschaft, welche über die Natur, d. h. die Erfahrung hinausgehen will, also die Philosophie über das Nichtsinnliche, und da lag die Frage nahe, ob wir denn überhaupt mit unseren Begriffen darüber hinauskönnten, da die Sinne uns bekanntlich nicht über das Sinnliche hinausleiten. Diese Begriffsbestimmung von Metaphysik ist, ich brauche kaum daran zu erinnern, nicht die historisch richtige.  Metaphysik  ist ein zufällig entstandener Name für das, was ARISTOTELES selbst, dessen einem Werk er von den Kommentatoren beigelegt wurde, als erste, d. h. der Rangordnung, nicht der Zeitordnung nach erste, Wissenschaft bestimmt, als Fundamental- oder Prinzipialphilosophie, als Wissenschaft von den letzten Prinzipien, wobei die Frage nach Sinnlich und Übersinnlich mit eingeschlossen war. Aber in  einem  Punkt hatte KANT Recht. Ist Metaphysik die Wissenschaft der letzten Prinzipien, so ist vor allem die Frage zu erörtern, was denn Wissenschaft überhaupt sein soll, so daß man zuerst zu untersuchen hat: was heißt Wissen? Mit dieser Frage muß man beginnen. Dadurch gewinnt das ganze Unternehmen der Metaphysik vielleicht eine ganz andere Wendung. NIcht, weil wir erst untersuchen wollen, ob überhaupt Metaphysik möglich ist, und wie sie möglich ist, und ob die Bedingungen, unter denen sie möglich ist, auch wirklich in uns sind, nicht weil wir erst Erkenntnistheorie treiben und dann Metaphysik, sondern weil überhaupt beides, das Forschen nach den Grundbegriffen und das Forschen nach dem Begriff des Wissens gar nicht getrennt werden können, darum könnte auch das Ganze Erkenntnistheorie oder Metaphysik genannt werden. Es ist übrigens noch zu bemerken, daß der kantische Begriff der Metaphysik schon eine bestimmte Ansicht vorwegnimmt; er setzt bereits vorhandene Metaphysiken voraus, welche das Übersinnliche zu erforschen unternommen haben, und fragt: "Können wir Menschen denn das überhaupt? wir müssen doch auf alle Fälle erst sehen, ob wir das Zeug und die Fähigkeiten dazu besitzen." Die Art, wie wir den Begriff der Philosophie und der Metaphysik gewonnen haben, ist viel allgemeiner, er ist aus der Beschaffenheit der Wissenschaft und unseres Denkens überhaupt abgeleitet, nicht mit Bezug auf bestimmte angebliche Lösungen der in ihm gestellten Aufgabe gewonnen. Dieser besondere Ausgangspunkt muß stets im Auge behalten werden, wenn man die kantische Kritik richtig beurteilen will. Sie tritt mitten in die philosophischen Unternehmungen hinein, knüpft dabei selbständ, teils zustimmend, teils verneinend, an dieselben an. Aber eben deshalb setzt sie wahre Unmassen von Sätzen als bereits vereinbart voraus. In dieser glücklichen Lage sind wir nicht. Nach unserem Begriff von Philosophie bleibt uns allerdings nichts übrig, als ganz von vorn anzufangen, bloß von unserem formalen Begriff von Philosophie aus, der, wie gezeigt, so sehr bloß Form, Umriß einer Aufgabe ist, daß er mit dem verschiedensten Inhalt, gleichsam mit den verschiedensten Farben oder dem entgegengesetztesten Material ausgefüllt werden kann. Deshalb kann man aber auch hier nicht sagen: "Er philosophiert nicht, er hat bereits fertig philosophiert, indem er anfägt; in den ersten sechs Zeilen seiner Philosophie steckt bereits das ganze Resultat in nuce [im Kern - wp]; dies wird nachher nicht gewonnen, sondern ist von Anfang an vorhanden und wird vor dem Leser bloß entfaltet."
LITERATUR - Julius Baumann, Begriff der Philosophie, Philosophie als Orientierung über die Welt, Leipzig 1872