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System der kritischen Philosophie [2/2]
Theorie des Wissens Kapitel I Das Verhältnis der Theorie des Wissens zur Metaphysik und Psychologie Die große Mehrzahl der erkenntnistheoretischen Untersuchungen wurzelt im Boden des kantischen Kritizismus und hält, ohne dessen Fundament näher zu prüfen, am prinzipiellen Standpunkt der Vernunftkritik fest. Nur die neueste Erkenntnislehre von größerer wissenschaftlicher Bedeutung stellt sich in einen gewissen Gegensatz zu KANT. BAUMANN gibt in seiner "Philosophie als Orientierung über die Welt", Seite 180 als das charakteristische Merkmal der vorkantischen Metaphysik an, daß sie in dogmatischer Weise gewisse Begriffe als Grundbegriffe aufstellte, diese aus all unseren Vorstellen herausnahm und aus ihnen alles Weitere herleitete, und fährt fort:
Sieht man lediglich auf die Ergebnisse der transzendentalen Analytik, so ist allerdings eine äußere Übereinstimmung des kantischen und des dogmatischen Philosophierens leicht zu entdecken. Indessen muß, wie neuerdings HERMANN COHEN in seinem Buch "Kants Theorie der Erfahrung" nachdrücklich betont und urkundlich bewiesen hat, die kantische Lehre im Zusammenhang beurteilt werden, und dann stellt sich heraus, was wir hier als Resultat unserer später folgenden Zergliederung derselben vorwegnehmen, daß KANT die alten psychologischen Irrlehren über das Wesen und den Ursprung der abstrakten Begriffe unkritisch aufgenommen hat, wodurch trotz der kritischen Untersuchung des "Vernunftvermögens" seine Theorie der Erfahrung in formaler, rein erkenntnistheoretischer Beziehung der des Dogmatismus allerdings sehr nahe gerückt ist. Hiergegen muß mit Ausnahme dieses proton pseudos [erster Irrtum - wp] KANTs "Kritik der reinen Vernunft" als durchaus kritisch bezeichnet werden, wie er überhaupt in Bezug auf materiale Erkenntnis nicht mit dem mindesten Schein beschuldigt werden kann, daß er "aus gewissen Grundbegriffen alles Weitere hergeleitet hat." Immerhin aber ist BAUMANNs Vorwurf insofern begründet, daß die Theorie des Wissens nicht an den kantischen Kritizismus anknüpfen darf, weil dieser die Kritik nicht bis auf die letzten der Untersuchung zugänglichen Elemente ausgedehnt hat. Wie die Theorie des Wissens zu verfahren hat, wird sich uns ohne eine Berücksichtigung der Autorität KANTs oder irgendeines anderen Philosophen aus einer Prüfung des Zwecks jener ergeben. Die Theorie des Wissens stellt die Regeln auf, durch deren Anwendung Erkenntnis oder Wissen bewirkt werden soll; sie ist als eine demonstrative, nicht deskriptive Wissenschaft, d. h. sie beschreibt nicht, wie von Natur erkannt oder vielmehr gedacht wird, bringt also nicht die Naturgesetze des Denkens, sondern sie schreibt vor, wie zum Zweck der Erkenntnis gedacht werden soll, gibt also die Normal- oder Normativgesetze des Denkens. Demnach ist sie eine formale Wissenschaft; sie beschränkt sich darauf, allgemeine Regeln des Denkens aufzustellen und kümmert sich nicht um deren Anwendung auf das konkrete, materiale Erkennen. Sie steht demnach zu der gegenwärtigen Philosophie in demselben Verhältnis, in welchem die formale Logik zur vorkantischen Metaphysik stand, nämlich in dem einer philosophischen Propädeutik. Die üblichen Einwände, welche gegen die formale Logik gerichtet werden, treffen nicht die Theorie des Wissens in unserem Sinn. Schon in der Einleitung haben wir gezeigt, daß jede Methodenlehre von der Existenz der Wissenschaft abhängig ist; die Vorschriften, wie Wissen gewonnen werden soll, lassen sich erst aufstellen, wenn bereits Wissen gewonnen worden ist. Die Theorie des Wissens benutzt demnach die materialen Erkenntnisse der Wissenschaft, um aus ihnen die Regeln des Erkennens zu abstrahieren; sie selbst aber ist und bleibt eine formale Wissenschaft (vgl. DROBISCH, Logik, Vorrede zur zweiten Auflage). Diesen Charakter unserer Wissenschaft müssen wir fest im Auge behalten, um zunächst über ihre Stellung innerhalb der philosophischen Disziplinen die erforderliche Klarheit zu gewinnen. Als demonstrative Wissenschaft hat die Theorie des Wissens eine doppelte Beziehung: sie dient erstens einem bestimmten Zweck, der Erkenntnis oder dem Wissen, und hat nur durch und in Rücksicht auf diesen Zweck ihre Berechtigung als Wissenschaft. Da nun dieser Zweck durch die freie Entschließung der Menschen gesetzt ist, beabsichtigt er, wie alle menschlichen Zwecke, eine Änderung oder Verbesserung des natürlichen Laufes der Dinge und bestimmt hierdurch die andere Beziehung der ihm dienenden Disziplin: wenn Regeln für das richtige Denken gegeben werden, so ist damit implizit ausgesprochen, daß das natürliche Denken zu Irrtümern führt, welche eben durch die Regeln der Theorie beseitigt werden sollen. Dies setzt nun die Kenntnis der natürlichen Irrtümer des ungeschulten Denkens und somit eine *Wissenschaft voraus, welche die Naturgesetze des Denken kennen lehrt; diese deskriptive Wissenschaft ist die *Psychologie, welche demnach als die naturgemäße und notwendige Basis der Erkenntnistheorie zu betrachten ist. Die Richtigkeit dieser logischen Folgerung wird durch die Analogie der übrigen demonstrativen Disziplinen hinlänglich bestätigt. Es kommt gegenwärtig keinem wissenschaftlich Gebildeten in den Sinn, etwa Pädagogik unabhängig von der Psychologie, Nationalökonomie ohne Statistik, praktische Medizin ohne Anatomie, Physiologie etc. zu betreiben. Denn die Geschichte der Wissenschaften lehrt unwidersprüchlich, daß die demonstrativen Disziplinen teils erst durch ihre korrespondierende deskriptive Grundlage zum Rang einer Wissenschaft erhoben werden, teils ihren Zweck umso besser erfüllen, je größer die Sicherheit der Resultate der ihnen zugrunde liegenden deskriptiven Wissenschaft ist. Wenn trotzdem einmal eine demonstrative Disziplin sich von ihrer natürlichen Basis losreißt, um mit Hilfe aprioristisch-logischer Konstruktionen zur vermeintlichen Selbständigkeit zu gelangen, so führen die in der Praxis sofort fühlbaren und unerträglichen Übelstände dieser Trennung früher oder später zur Wiederherstellung des notwendigen Zusammenhangs zurück. Dieses Korrektiv fehlt der theoretischen Wissenschaft; daher haben wir noch das Eintreten der Zeit zu erwarten, in welcher die bisherigen, aus der getrennten Behandlung der Erkenntnistheorie stammenden Irrtümer als unerträglich für die philosophische Wissenschaft erscheinen werden. Es gibt kein anderes Mittel, die Notwendigkeit der psychologischen Grundlage der Erkenntnistheorie darzulegen, als den freilich selbstverständlichen Satz, daß jede beabsichtigte Verbesserung eine genaue Kenntnis des zu verbessernde Objekts voraussetzt. Dies ist, abgesehen von der Analogie der übrigen demonstrativen Disziplinen, das einzige positive Argument, welches sich gegen die kantische Abweisung der "psychologischen Empirie" von der Logik (und somit auch von der Theorie des Wissens) geltend machen läßt, aber es genügt zur Widerlegung jenes Standpunktes. Indirekt läßt sich dessen Unhaltbarkeit, freilich erst aufgrund der psychologischen Erfahrung, darlegen durch den Nachweis, daß jede die *Erfahrung verschmähende Erkenntnislehre ihren Zweck niemals erreichen kann, weil sie die stärksten Hindernisse des richtigen Denkens nicht kennen lernt, also auch nicht beseitigt. Sie schließt logisch ganz richtig, weil nur das Denken dem Erkennen dient, so reicht für ihren Zweck die Untersuchung des Denkprozesses aus; hiermit ignoriert sie den tatsächlichen Zusammenhang des wirklichen Denkens mit den übrigen seelischen Funktionen, und gelangt von ihrer Theorie aus zu der Behauptung, daß das Denken keinem Einfluß des Wollens und Fühlens unterliegt, wodurch sie mit der Erfahrung in Widerspruch gerät. Nun bemißt man aber gegenwärtig die Richtigkeit einer Theorie nach ihrer Übereinstimmung mit der Erfahrung, und weil man in unserem Fall den Irrtum aus der Abweisung der psychologischen Empirie herleiten muß, so ist damit die Notwendigkeit ihrer Zuziehung indirekt erwiesen. Es bedarf kaum der Andeutung, daß der Theorie des Wissens keine vollständige Psychologie vorauszuschicken ist. Die Grenzen unserer psychologischen Untersuchung sind durch ihren Zweck bestimmt; sie hat den natürlichen Verlauf des Denkprozesses zu ermitteln und zu diesem Zweck zunächst festzustellen, ob eine Einwirkung auf denselben durch die im psychischen Mechanismus mit ihm verbundenen übrigen Tätigkeiten stattfindet, und, wenn dies der Fall ist, die Art und Weise dieser Beeinflussung anzugeben. Die einwirkenden Faktoren selbst sind nur soweit in den Bereich der Forschung zu ziehen, als dies für die zu lösende Aufgabe notwendig erscheint. Methode der Forschung. Kussmauls Beobachtungen an Neugeborenen. Folgerungen daraus. Die natürlichen Triebe. Die in der neuesten Philosophie vorherrschende wissenschaftliche Strömung bringt es mit sich, daß sich den früher prinzipiell vernachlässigten Detailforschungen in den einzelnen Disziplinen gegenwärtig die allgemeinen Teilnahme zugewandt hat. Den redlichen Bemühungen vieler scharfsinniger Forscher auf psychologischem Gebiet hat bisher freilich der äußere Erfolg durchaus gemangelt; unter allen philosophischen Disziplinen entbehrt die Psychologie am meisten die allgemein anerkannte Grundlage, welche eine gemeinsame Bearbeitung ihrer Problem ermöglichen würde. So kann man auch heute noch in die Klage einstimmen, welche BENEKE im Jahr 1845 erhob, daß in der Psychologie noch gewissermaßen alles strittig, zu einer allgemeinen Anerkennung nirgends auch nur der Anfang gemacht ist; und eben nicht anders, als in der Metaphysik und den übrigen philosophischen Wissenschaften, muß jeder Forscher für sich allein arbeiten unnd den Grund wieder von Neuem legen. Dieser beklagenswerte Zustand der Psychologie erscheint den Laien, vornehmlich den naturwissenschaftlich gebildeten, in der Regel ganz unbegreiflich. Sie meinen, daß gerade auf psychologischem Gebiet die Beobachtung reiches Material zusammentragen kann, aufgrund dessen sich hinlänglich gesicherte Gesetze über die Erscheinungen des Seelenlebs aufstellen lassen. Und in der Tat kann darüber wohl kaum ein Zweifel bestehen, daß die Methode der Induktion allein geeignet ist, in der psychologischen Forschung angewandt zu werden, was seit langer Zeit auch von philosophischer Seite nachdrücklich genug hervorgehoben worden ist. HERBART, der in der Blütezeit der aprioristischen Konstruktionen mit seiner wissenschaftlichen Behandlung der Psychologie fast ganz allein stand, sagt am Anfang des Lehrbuchs zur Psychologie":
In neuerer Zeit ist man nicht mehr zweifelhaft darüber, daß die aus der Metaphysik stammenden, vorgefaßten Meinungen dem Fortschritt der Psychologie am meisten hinderlich sind. TRENDELENBURG schickt seiner Abhandlung über die metaphysischen Hauptpunkte in HERBARTs Psychologie (Historische Beiträge III, Seite 97) folgende methodologische Regeln voraus:
Die sorgfältigste Beschränkung auf die induktive Methode und die Fernhaltung jedes metaphysischen Einflusses kann allerdings nicht dringend genug empfohlen werden. Die entscheidende Wichtigkeit, welche gerade der Ansicht über die Seele für jede Weltanschauung zukommt, und die hiermit unvermeidlich zusammenhängenden Wünsche und Interessen, welche mit keiner anderen Disziplin so eng wie gerade mit der Psychologie verbunden sind, machen eine unbefangene Auffassung der psychischen Tatsachen äußerst schwierig. Wenn eine getreue, von Vorurteilen sich frei erhaltende Beobachtung im Allgemeinen nur Wenigen gelingt, weil nur zu leicht vorgefaßte Meinungen sich überall eindrängen, so wird sie noch seltener da möglich sein, wo ihr Gegenstand ein so lebhaftes, nicht sachliches, Interesse mit sich führt, wie die psychologischen Probleme. Es kommt hinzu, daß jedem Forscher aus seiner Jugend die üblichen Erklärungen und Theorien geläufig sind, welche die wissenschaftliche und praktische Theologie aufstellt. Hiervon aber gilt das alte Wort des ANTISTHENES: Das Schwerste ist, das einmal Gelernte wieder zu vergessen. Wenn wir hinzufügen, daß es für den Fortschritt der Wissenschaft das Nötigste ist, so haben wir damit eine der wichtigsten Forderungen der Methodologie ausgesprochen. Außer der gesuchten Befriedigung der "Herzensbedürfnisse" ist es noch eine aus der unwissenschaftlichen Behandlung der Psychologie beibehaltene Gewohnheit, welche folgendschwere Irrtümer in diese Disziplin hineinkonstruiert hat. Die Naivität früherer Zeiten bezeichnete das auf theologischen und moralischem Gebiet Gelernte, soweit es mit den herrschenden Neigungen übereinstimmte, kurzweg als apriorisches Wissen oder als Tatsachen des Bewußtseins. Dies hat man nun zwar fast allgemein aufgegeben und nimmt die aposteriorische Entstehung aller materialen Erkenntnis an, aber die Mittel zu dieser, die logischen Gesetze, hält man immer noch mit mehr oder weniger deutlichem Bewußtsein für einen ursprünglichen, angeborenen Besitz des menschlichen Verstandes. So verwirft SCHOPENHAUER die Logik als gänzlich überflüssig, weil sie doch nur das in abstracto lehrt, was Jeder in concreto schon weiß und anwendet. Die Beobachtung des erstbesten ungebildeten Menschen hätte freilich sofort das Gegenteil ergeben; allein dieser sehr einfache Weg der Erkenntnis wurde bisher von der Philosophie meist nur mit Widerstreben betreten. So wird die psychologie durch jenen Überrest des platonischen mathesis anamnesis [Lernen ist Erinnern - wp], wonach man wenigstens die Mittel zum wissenschaftlichen Erkennen jedem Menschen von Geburt an innewohnen läßt, bis in die Gegenwart hinein verdorben. Dem Mißbrauch, der die idealen Forderungen der Religion, Moral und Wissenschaft von Natur aus erfüllt sehen wollte, dient die Methode der Selbstbeobachtung aufs Beste. Schon HERBART rügte es nachdrücklich, daß jeder das, was er in seinem gebildeten Bewußtsein vorfand, für allgemeine Tatsachen des Seelenlebens ausgab, und verwarf die Selbstbeobachtung als durchaus unbrauchbar und irreleitend. Demselben Bedenken unterliegen natürlich auch die Beobachtungen an anderen ausgebildeten Personen; daher bietet nur die Beobachtung des Menschen im natürlichen Zustand und die aus derselben gezogenen Schlußfolgerungen ein zuverlässiges Material psychologischer Induktion. Sie konstatiert, unbekümmert um die metaphysische Erklärung der psychischen Phänomene, ihre Wirklichkeit. Von methodisch angestellten Beobachtungen auf psychologischem Gebiet sind bis jetzt nur die "Untersuchungen über das Seelenleben des neugeborenen von Dr. ADOLF KUSSMAUL, Professor der Medizin in Erlangen", der Öffentlichkeit übergeben worden. Der Verfasser betrachtet als seelische Tätigkeiten das Empfinden, Vorstellen, Denken und Begehren und das aus diesen hervorgehende Bewegen; seine an zwanzig und einigen Neugeborenen angestellten Untersuchungen ergaben, abgesehen von individuellen und graduellen Verschiedenheiten im Allgemeinen die folgenden Resultate: Geschmackssinn und Ekelgefühl, Tastgefühl, Wärme- und Kältegefühl, Geruch sind verhältnismäßig stark entwickelt; das Licht wird schon in den ersten Stunden nach der Geburt empfunden und zwar bei mäßigem Reiz angenehm, sonst unangenehm. Dagegen "lernen die Kinder erst später die Gegenstände fixieren, vielleicht von der dritten bis sechsten Woche an." -
Die Begehrungen Neugeborener beschränken sich auf Hunger und Durst, welche sich 6-24 Stunden nach der Geburt durch verschiedene Äußerungen kundgeben:
Zwischen den häufig synonym gebrauchten Begriffen Gefühl und Empfindung statuieren wir folgenden Unterschied: "Gefühl" umfaßt Lust und Schmerz, Freude und Leid, angenehme und unangenehme Affektionen körperlicher und geistiger Art in allen ihren verschiedenen Nuancen und Schattierungen. Was aber Lust und Schmerz etc. sind, kann nicht begrifflich bestimmt, sondern muß "gefühlt" werden. "Empfindung" dagegen ist uns jeder unmittelbar durch ein körperliches Organ verursachte bewußte Eindruck, welcher ansich weder Lust noch Unlust mit sich führt, oder populär gesprochen: dem Subjekt gleichgültig ist. Unter "Vorstellung" verstehen wir die Reproduktion einer Empfindung der Sinnesorgane, womit schon gesagt ist, daß der Vorstellung ansich Lust und Unlust fremd bleiben. Das "Denken" definieren wir, um nicht, wie meistens geschieht, das falsche Denken auszuschließen, ganz allgemein als Operation mit den elementaren psychischen Tätigkeiten, wonach es selbst als sekundäre Funktion erscheint. Dem Fühlen, Empfinden, Vorstellen und Denken ist es gemeinsam, daß sie in sich abgeschlossene Zustände sind; anders verhält es sich mit dem Begehren oder Wollen. Wir bemerken unter Hinweis auf die folgende Rechtfertigung unseres Verfahrens, daß wir unbewußtes und bewußtes Wollen, Trieb, Begierde Streben, Neigung etc. unter dem Begriff "Willen" befassen und finden in ihnen ein gemeinschaftliches charakteristisches Merkmal: alle diese seelischen Äußerungen sind nämlich auf die Veränderung des gegenwärtigen Zustandes gerichtet, gehen also auf die Zukunft. Die entgegengesetzte Ansicht beruth auf einer mißverständlichen Auffassung der Willensrichtung. So sagt z. B. LOTZE "Medizinische Psychologie", Seite 300:
Wenden wir uns nun zu den Beobachtungen KUSSMAULs zurück, so werden wir keinen Augenblick anstehen, dem neugeborenen Kind Empfinden, Fühlen und Wollen beizulegen. Die Äußerungen dieser Tätigkeiten von Seiten des Kindes sind denen Erwachsener ähnlich, daß ein Bedenken gegen den Schluß auf die gleiche Ursache nicht vorliegt. Anders verhält es sich mit dem Vorstellen, sofern wir es von der Empfindung und dem Gefühl unterschieden haben. Wir werden KUSSMAUL darin beistimmen müssen, daß aus Empfindungen und Gefühlen "allmählich sinnliche Vorstellungen der einfachsten Art erwachsen", also im ersten Lebensalter noch nicht vorhanden sind. Der letztere, negative Teil dieser Ansicht vom späteren Entstehen der Vorstellungen wird gegenwärtig auch von dielen philosophischen Forschern angenommen; so bezeichnet z. B. JÜRGEN BONA-MEYER in "Kants Psychologie", Seite 92
Die elementaren Funktionen des Kindes im ersten Lebensalter sind demnach Gefühl, Empfindung und Wille, über deren gegenseitiges Verhältnis wir zunächst die erforderliche Klarheit zu gewinnen suchen. Die Natur der Sache bringt es mit sich, daß hier die direkten Beobachtungen durch Schlußfolgerungen nach Analogie des Seelenlebens Erwachsender ergänzt werden müssen; doch gibt die Einfachheit der zugrunde liegenden psychischen Verhältnisse von vornherein eine gewisse Bürgschaft dafür, daß falsche Schlüsse, wenn nicht immer vermieden, so doch leicht erkannt werden können. Auch hat jeder die Möglichkeit, die Richtigkeit der von uns angeführten Beobachtungen sofort durch eigene Untersuchungen zu prüfen, da es sich um alltäglich wiederkehrende Vorgänge im Leben kleiner Kinder handelt. Daß der Säugling durch Schreien ein Gefühl, und zwar eins der Unlust oder des Schmerzes kundgibt, unterliegt wohl keinem Zweifel; wenigstens ist man in der Praxis des Lebens sofort von diesem Zusammenhang der äußeren Wirkung mit der inneren Ursache überzeugt. Aber mit dieser Überzeugung begnügt sich die Umgebung des Kindes nicht, sondern forscht vielmehr nach der Ursache des Gefühls, um sie und mit ihr die Wirkung zu beseitigen. Zunächst wird bei jedem Kind das Schreien dahin gedeutet, daß es ein Verlangen nach Nahrung anzeigt, und diese Deutung meist bestätigt gefunden, indem mit der Befriedigung des Nahrungstriebes auch die Äußerungen der Unlust aufhören, und im Gegenteil ein Gefühl der Lust eintritt, welches wegen physischer Hindernisse allerdings im zartesten Lebensalter nicht kundgegeben werden kann. Es ist nun wohl klar, daß das Gefühl des Hungers, welches das Schreien des Kindes verursachte, seinerseits wieder durch den Trieb nach Nahrung verursacht wurde. Wir dürfen also in diesem Fall den Trieb als Ursache, das entsprechende Gefühl als Wirkung auffassen, und zwar den unbefriedigten Trieb als Ursache des unangenehmen Gefühls der Unlust oder des Schmerzes, wie die Lust oder das Behagen als Wirkung der Befriedigung des Triebes. Nach der Sättigung geben auch als gesund erkannte Kinder oft Äußerungen der Unlust von sich, welches von ihrer erfahrenen Umgebung auf das Verlangen nach Befriedigung der Bedürfnisse der Sinnesorgane gedeutet werden. Gewöhnlich hat man damit das Richtige getroffen, indem das Kind durch den Anblick glänzender Gegenstände oder durch das Hören nicht zu starker Töne nicht nur sofort beruhigt wird, sondern auch Lustgefühle verrät (vgl. KUSSMAUL a. a. O., Seite 26 und 39). Wegen der entscheidenden Wichtigkeit, welche den Sinnesorganen und ihren Affektionen für die richtige Auffassung des sinnlichen Erkennens zukommt, müssen wir etwas länger bei diesem Punkt verweilen. Der bekannte Physiologe ROKITANSKY nimmt einen "ursprünglichen Drang der Sinne nach Funktion" an und stellt sich damit in einen direkten Gegensatz zur Lehre SCHOPENHAUERs, der, wie wir gleich sehen werden, die Sinne vom Willen beherrscht werden läßt. Diese abweichende Ansicht ROKITANSKYs, welcher im Übrigen SCHOPENHAUERs Philosophie ergeben ist, hat ihren genügenden Grund in Tatsachen der Erfahrung. Die physiologische Beobachtung hat dieses längst entdeckt; BENEKE lehrt in der "Neuen Psychologie", Seite 105:
Ein schlagender Beweis für das Vorhandensein eines ursprünglichen Triebes der Sinnesorgane liegt ferner in der Tatsache, daß alle Sinnesempfindungen von einem Gefühl der Lust oder Unlust begleitet werden, wenn dieses auch meist wegen seiner geringen Intensität nicht ins Bewußtsein tritt, daher man es streng genommen nicht als "Gefühl" bezeichnen sollte, weil die objektiv vorhandenen Bedingungen noch nicht ausreichend sind für den Eintritt eines "Gefühls". Sehen wir jedoch hier davon ab und halten wir uns an die Tatsache, daß jede Sinnesempfindung einen Vorgang im Organismus mit sich führt, der bei gehöriger Stärke als Gefühl empfunden wird, so ist schon hierdurch die Annahme der "Sinnestriebe" gerechtfertigt. Eigentümlicherweise widerspricht dieser Lehre gerade SCHOPENHAUER, dem sie eine willkommene Bestätigung seiner Metaphysik hätte sein sollen. Er will über die Sinne nur einzelne eigenen Betrachtungen geben, weil von Andern Gesagtes zu wiederholen nicht der Zweck seiner Schriften ist. Dieses Haschen nach Originalität hat die leicht vorauszusehende Folge, daß seine Ansicht der Erfahrung durchaus widerspricht. Er sagt in der "Welt als Wille und Vorstellung", Bd. 2, Seite 30:
Mit SCHOPENHAUER stimmt auch BONA-MEYER darin überein, daß er vornehmlich aufgrund der Selbstbeobachtung die Eindrücke der oberen Sinne für objektiv erklärt (Kants Psychologie, Seite 107):
Auf solche und ähnliche Erfahrungen gestützt, lehrte schon CONDILLAC, daß jede Empfindung ohne Ausnahme mit einem Gefühl von Lust oder Unlust verbunden ist. Von den neueren Forschern behauptet LOTZE "Medizinische Psychologie", Seite 254 und "Mikrokosmus", Bd. 1, Seite 284 eine "Allgegenwart der Gefühle", ebenso CZOLBE, "Über die Grenzen und den Ursprung der menschlichen Erkenntnis", Seite 200 und im Anschluß an diese beiden JOHNSON in der Vorrede zu CONDILLACs Abhandlung "Über die Empfindungen". Der Letztere sagt gegen BONA-MEYER, welcher behauptet, nach seiner Selbstbeobachtung sei es möglich vorzustellen ohne die Begleitung irgendeines Gefühls von Lust oder Unlust, a. a. O., Seite 9:
Sehr richtig bezeichnet BERGMANN den Begriff der bewußtlosen Empfindung als einen in sich widersprechenden, weil wir nur unmittelbar von unseren Empfindungen wissen, also die Empfindung nicht anders denn als bewußte, d. h. eben empfundene wahrnehmen können. Gegen die Lehre ULRICIs,
Wenden wir dies auf ULRICIs Beispiel an, so ergibt sich, daß der Druck des Sessels und der Kleider die erforderliche Stärke des Reizes besitzt, um mit Hilfe des gewöhnlichen Maßes der Aufmerksamkeit empfunden zu werden; die Reize verschwinden aber unter die Schwelle des Bewußtseins, sobald die Aufmerksamkeit von ihnen auf andere Gegenstände gelenkt wird. Diese Tatsachen machen es vollkommen erkärlich, daß die Selbstbeobachtung eines Menschen unter normalen Verhältnissen längere Zeit keinerlei Gefühle von Lust oder Unlust wahrnimmt, während andererseits die Physiologie mit unzweifelhaftem Recht eine Allgegenwart der Gefühle lehrt, natürlich in dem Sinne, daß jede Empfindung oder Vorstellung von den objektiven Vorgängen im Organismus begleitet wird, welche beim Hinzutritt der erforderlichen subjektiven Bedingungen als Gefühle empfunden werden, oder deutlicher gesprochen, daß die Empfindungen, objektiv betrachtet, nur Gefühl von geringerer Stärke sind. Denn in Krankheitszuständen wird die Intensivität der Empfindungen derartig gesteigert, daß sie ihren "objektiven", d. h. lust- und schmerzfreien Charakter gänzlich verlieren, und an ihre Stelle die rein subjektiven Schmerzgefühle der Organe treten, wobei der sogenannte Inhalt der Empfindung als objektiver ganz und gar verschwindet; siehe EULENBURG, "Lehrbuch der funktionellen Nervenkrankheiten", Seite 31:
Wir rechnen im Gegensatz zu den üblichen Darstellungen der Psychologie, welche als natürliche, d. h. in der Organisation wurzelnder Triebe nur den Nahrungs-, Bewegungs-, Geselligkeits- und Geschlechtstrieb aufzählen, den Drang der Sinnesorgane zu den natürlichen Trieben, weil er von Natur jedem Menschen gegeben ist, daher, wie ULRICI sagt, ein Mensch ohne alle Sinnesempfindungen kein Mensch ist. Die unzertrennliche Verbindung von Wille und Gefühl haben wir am Nahrungs- und Sinnestrieb ausführlich nachgewiesen; hinsichtlich der übrigen natürlichen Triebe begnügen wir uns mit dem Hinweis darauf, daß sie in gleicher Weise Gefühle der Lust und Unlust nach sich ziehen, was ohnehin nicht leicht bezweifelt werden wird, da jeder die nötigen Erfahrungen bereits an sich selbst gemacht hat. ![]() |