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CARL GÖRING
System der kritischen Philosophie
[2/2]

"Die Theorie des Wissens dient einem bestimmten Zweck, der Erkenntnis oder dem Wissen, und hat nur durch und in Rücksicht auf diesen Zweck ihre Berechtigung als Wissenschaft. Da nun dieser Zweck durch die freie Entschließung der Menschen gesetzt ist, beabsichtigt er, wie alle menschlichen Zwecke, eine Änderung oder Verbesserung des natürlichen Laufes der Dinge."

"Für die Verständigung über das Wesen der psychischen Tätigkeiten ist es von entscheidender Wichtigkeit, daß mit demselben Wort in jedem einzelnen Fall auch dieselben Vorstellungen verbunden werden. Dies erscheint umso nötiger, weil eine schulmäßige Definition der elementaren psychischen Phänomene nicht gegeben werden kann, und sich ihre Beschreibung daher vornehmlich auf das Negative ihrer Unterscheidung voneinander beschränken muß."

"Es steht fest, daß jeder Reiz eine gewisse Stärke haben muß, um empfunden oder bewußt zu werden, daher in jedem Augenblick unzählige Reize auf uns eindringen, aber wegen ihrer Schwäche unter der Schwelle des Bewußtseins bleiben, also für uns nicht existieren."


Die psychologische Grundlage der
Theorie des Wissens


Kapitel I
Das Verhältnis der Theorie des Wissens
zur Metaphysik und Psychologie


Die große Mehrzahl der erkenntnistheoretischen Untersuchungen wurzelt im Boden des kantischen Kritizismus und hält, ohne dessen Fundament näher zu prüfen, am prinzipiellen Standpunkt der Vernunftkritik fest. Nur die neueste Erkenntnislehre von größerer wissenschaftlicher Bedeutung stellt sich in einen gewissen Gegensatz zu KANT. BAUMANN gibt in seiner "Philosophie als Orientierung über die Welt", Seite 180 als das charakteristische Merkmal der vorkantischen Metaphysik an, daß sie in dogmatischer Weise gewisse Begriffe als Grundbegriffe aufstellte, diese aus all unseren Vorstellen herausnahm und aus ihnen alles Weitere herleitete, und fährt fort:
    "Untersuchungen, wie wir sie bis jetzt gemacht haben, gehen auf der Spur von Kants großem Grundgedanken, der aber nicht rein in ihm zum Ausdruck gekommen ist. Dieser war, man müsse vor allem, ehe man Metaphysik als Wissenschaft der letzten Prinzipien macht, untersuchen, was Wissen selbst ist; dies wurde bei ihm den Worten nach zur Kritik der Vernunft gegen sich selbst, in Wahrheit aber zu einer Kritik der Leibniz-Wolffischen Behauptungen. Aber jener Gedanke ist wahr und muß befolgt werden, und zwar muß man mit ihm die metaphysischen Untersuchungen anheben, nicht abschließen."
Von eigentlicher "Kritik der Vernunft" findet BAUMANN bei KANT so wenig, daß er ihn "in den Dogmatismus trotz seiner gegenteiligen Versicherung durchaus einrechnen muß."

Sieht man lediglich auf die Ergebnisse der transzendentalen Analytik, so ist allerdings eine äußere Übereinstimmung des kantischen und des dogmatischen Philosophierens leicht zu entdecken. Indessen muß, wie neuerdings HERMANN COHEN in seinem Buch "Kants Theorie der Erfahrung" nachdrücklich betont und urkundlich bewiesen hat, die kantische Lehre im Zusammenhang beurteilt werden, und dann stellt sich heraus, was wir hier als Resultat unserer später folgenden Zergliederung derselben vorwegnehmen, daß KANT die alten psychologischen Irrlehren über das Wesen und den Ursprung der abstrakten Begriffe unkritisch aufgenommen hat, wodurch trotz der kritischen Untersuchung des "Vernunftvermögens" seine Theorie der Erfahrung in formaler, rein erkenntnistheoretischer Beziehung der des Dogmatismus allerdings sehr nahe gerückt ist. Hiergegen muß mit Ausnahme dieses proton pseudos [erster Irrtum - wp] KANTs "Kritik der reinen Vernunft" als durchaus kritisch bezeichnet werden, wie er überhaupt in Bezug auf materiale Erkenntnis nicht mit dem mindesten Schein beschuldigt werden kann, daß er "aus gewissen Grundbegriffen alles Weitere hergeleitet hat." Immerhin aber ist BAUMANNs Vorwurf insofern begründet, daß die Theorie des Wissens nicht an den kantischen Kritizismus anknüpfen darf, weil dieser die Kritik nicht bis auf die letzten der Untersuchung zugänglichen Elemente ausgedehnt hat. Wie die Theorie des Wissens zu verfahren hat, wird sich uns ohne eine Berücksichtigung der Autorität KANTs oder irgendeines anderen Philosophen aus einer Prüfung des Zwecks jener ergeben.

Die Theorie des Wissens stellt die Regeln auf, durch deren Anwendung Erkenntnis oder Wissen bewirkt werden soll; sie ist als eine demonstrative, nicht deskriptive Wissenschaft, d. h. sie beschreibt nicht, wie von Natur erkannt oder vielmehr gedacht wird, bringt also nicht die Naturgesetze des Denkens, sondern sie schreibt vor, wie zum Zweck der Erkenntnis gedacht werden soll, gibt also die Normal- oder Normativgesetze des Denkens. Demnach ist sie eine formale Wissenschaft; sie beschränkt sich darauf, allgemeine Regeln des Denkens aufzustellen und kümmert sich nicht um deren Anwendung auf das konkrete, materiale Erkennen. Sie steht demnach zu der gegenwärtigen Philosophie in demselben Verhältnis, in welchem die formale Logik zur vorkantischen Metaphysik stand, nämlich in dem einer philosophischen Propädeutik. Die üblichen Einwände, welche gegen die formale Logik gerichtet werden, treffen nicht die Theorie des Wissens in unserem Sinn. Schon in der Einleitung haben wir gezeigt, daß jede Methodenlehre von der Existenz der Wissenschaft abhängig ist; die Vorschriften, wie Wissen gewonnen werden soll, lassen sich erst aufstellen, wenn bereits Wissen gewonnen worden ist. Die Theorie des Wissens benutzt demnach die materialen Erkenntnisse der Wissenschaft, um aus ihnen die Regeln des Erkennens zu abstrahieren; sie selbst aber ist und bleibt eine formale Wissenschaft (vgl. DROBISCH, Logik, Vorrede zur zweiten Auflage). Diesen Charakter unserer Wissenschaft müssen wir fest im Auge behalten, um zunächst über ihre Stellung innerhalb der philosophischen Disziplinen die erforderliche Klarheit zu gewinnen.

Als demonstrative Wissenschaft hat die Theorie des Wissens eine doppelte Beziehung: sie dient erstens einem bestimmten Zweck, der Erkenntnis oder dem Wissen, und hat nur durch und in Rücksicht auf diesen Zweck ihre Berechtigung als Wissenschaft. Da nun dieser Zweck durch die freie Entschließung der Menschen gesetzt ist, beabsichtigt er, wie alle menschlichen Zwecke, eine Änderung oder Verbesserung des natürlichen Laufes der Dinge und bestimmt hierdurch die andere Beziehung der ihm dienenden Disziplin: wenn Regeln für das richtige Denken gegeben werden, so ist damit implizit ausgesprochen, daß das natürliche Denken zu Irrtümern führt, welche eben durch die Regeln der Theorie beseitigt werden sollen. Dies setzt nun die Kenntnis der natürlichen Irrtümer des ungeschulten Denkens und somit eine *Wissenschaft voraus, welche die Naturgesetze des Denken kennen lehrt; diese deskriptive Wissenschaft ist die *Psychologie, welche demnach als die naturgemäße und notwendige Basis der Erkenntnistheorie zu betrachten ist.

Die Richtigkeit dieser logischen Folgerung wird durch die Analogie der übrigen demonstrativen Disziplinen hinlänglich bestätigt. Es kommt gegenwärtig keinem wissenschaftlich Gebildeten in den Sinn, etwa Pädagogik unabhängig von der Psychologie, Nationalökonomie ohne Statistik, praktische Medizin ohne Anatomie, Physiologie etc. zu betreiben. Denn die Geschichte der Wissenschaften lehrt unwidersprüchlich, daß die demonstrativen Disziplinen teils erst durch ihre korrespondierende deskriptive Grundlage zum Rang einer Wissenschaft erhoben werden, teils ihren Zweck umso besser erfüllen, je größer die Sicherheit der Resultate der ihnen zugrunde liegenden deskriptiven Wissenschaft ist. Wenn trotzdem einmal eine demonstrative Disziplin sich von ihrer natürlichen Basis losreißt, um mit Hilfe aprioristisch-logischer Konstruktionen zur vermeintlichen Selbständigkeit zu gelangen, so führen die in der Praxis sofort fühlbaren und unerträglichen Übelstände dieser Trennung früher oder später zur Wiederherstellung des notwendigen Zusammenhangs zurück. Dieses Korrektiv fehlt der theoretischen Wissenschaft; daher haben wir noch das Eintreten der Zeit zu erwarten, in welcher die bisherigen, aus der getrennten Behandlung der Erkenntnistheorie stammenden Irrtümer als unerträglich für die philosophische Wissenschaft erscheinen werden. Es gibt kein anderes Mittel, die Notwendigkeit der psychologischen Grundlage der Erkenntnistheorie darzulegen, als den freilich selbstverständlichen Satz, daß jede beabsichtigte Verbesserung eine genaue Kenntnis des zu verbessernde Objekts voraussetzt. Dies ist, abgesehen von der Analogie der übrigen demonstrativen Disziplinen, das einzige positive Argument, welches sich gegen die kantische Abweisung der "psychologischen Empirie" von der Logik (und somit auch von der Theorie des Wissens) geltend machen läßt, aber es genügt zur Widerlegung jenes Standpunktes. Indirekt läßt sich dessen Unhaltbarkeit, freilich erst aufgrund der psychologischen Erfahrung, darlegen durch den Nachweis, daß jede die *Erfahrung verschmähende Erkenntnislehre ihren Zweck niemals erreichen kann, weil sie die stärksten Hindernisse des richtigen Denkens nicht kennen lernt, also auch nicht beseitigt. Sie schließt logisch ganz richtig, weil nur das Denken dem Erkennen dient, so reicht für ihren Zweck die Untersuchung des Denkprozesses aus; hiermit ignoriert sie den tatsächlichen Zusammenhang des wirklichen Denkens mit den übrigen seelischen Funktionen, und gelangt von ihrer Theorie aus zu der Behauptung, daß das Denken keinem Einfluß des Wollens und Fühlens unterliegt, wodurch sie mit der Erfahrung in Widerspruch gerät. Nun bemißt man aber gegenwärtig die Richtigkeit einer Theorie nach ihrer Übereinstimmung mit der Erfahrung, und weil man in unserem Fall den Irrtum aus der Abweisung der psychologischen Empirie herleiten muß, so ist damit die Notwendigkeit ihrer Zuziehung indirekt erwiesen.

Es bedarf kaum der Andeutung, daß der Theorie des Wissens keine vollständige Psychologie vorauszuschicken ist. Die Grenzen unserer psychologischen Untersuchung sind durch ihren Zweck bestimmt; sie hat den natürlichen Verlauf des Denkprozesses zu ermitteln und zu diesem Zweck zunächst festzustellen, ob eine Einwirkung auf denselben durch die im psychischen Mechanismus mit ihm verbundenen übrigen Tätigkeiten stattfindet, und, wenn dies der Fall ist, die Art und Weise dieser Beeinflussung anzugeben. Die einwirkenden Faktoren selbst sind nur soweit in den Bereich der Forschung zu ziehen, als dies für die zu lösende Aufgabe notwendig erscheint.


Kapitel II.
Methode der Forschung.
Kussmauls Beobachtungen an Neugeborenen.
Folgerungen daraus. Die natürlichen Triebe.

Die in der neuesten Philosophie vorherrschende wissenschaftliche Strömung bringt es mit sich, daß sich den früher prinzipiell vernachlässigten Detailforschungen in den einzelnen Disziplinen gegenwärtig die allgemeinen Teilnahme zugewandt hat. Den redlichen Bemühungen vieler scharfsinniger Forscher auf psychologischem Gebiet hat bisher freilich der äußere Erfolg durchaus gemangelt; unter allen philosophischen Disziplinen entbehrt die Psychologie am meisten die allgemein anerkannte Grundlage, welche eine gemeinsame Bearbeitung ihrer Problem ermöglichen würde. So kann man auch heute noch in die Klage einstimmen, welche BENEKE im Jahr 1845 erhob, daß in der Psychologie noch gewissermaßen alles strittig, zu einer allgemeinen Anerkennung nirgends auch nur der Anfang gemacht ist; und eben nicht anders, als in der Metaphysik und den übrigen philosophischen Wissenschaften, muß jeder Forscher für sich allein arbeiten unnd den Grund wieder von Neuem legen.

Dieser beklagenswerte Zustand der Psychologie erscheint den Laien, vornehmlich den naturwissenschaftlich gebildeten, in der Regel ganz unbegreiflich. Sie meinen, daß gerade auf psychologischem Gebiet die Beobachtung reiches Material zusammentragen kann, aufgrund dessen sich hinlänglich gesicherte Gesetze über die Erscheinungen des Seelenlebs aufstellen lassen. Und in der Tat kann darüber wohl kaum ein Zweifel bestehen, daß die Methode der Induktion allein geeignet ist, in der psychologischen Forschung angewandt zu werden, was seit langer Zeit auch von philosophischer Seite nachdrücklich genug hervorgehoben worden ist. HERBART, der in der Blütezeit der aprioristischen Konstruktionen mit seiner wissenschaftlichen Behandlung der Psychologie fast ganz allein stand, sagt am Anfang des Lehrbuchs zur Psychologie":
    "Innere Wahrnehmung, Umgang mit Menschen auf verschiedenen Bildungsstufen, die Beobachtungen des Erziehers und Staatsmanns, die Darstellungen der Reisenden, Geschichtsschreiber, Dichter und Moralisten, schließlich Erfahrungen an Irren, Kranken und Tieren, geben den Stoff der Psychologie."
BENEKE glaubte, daß durch die Anwendung der induktiven Methode die Psychologie
    "nicht nur ebenso schnelle und ausgedehnte Fortschritte, sondern, selbst in den wichtigsten Beziehungen schnellere und ausgedehntere, als die übrigen Naturwissenschaften zu machen befähigt ist."
Leider machte er die Vorzüge der induktiven Methode dadurch wieder illusorisch, daß er mit der Selbstbeobachtung alles getan glaubte, daher die Förderung, welche die Psychologie durch ihr erfahren hat, eine sehr geringe ist.

In neuerer Zeit ist man nicht mehr zweifelhaft darüber, daß die aus der Metaphysik stammenden, vorgefaßten Meinungen dem Fortschritt der Psychologie am meisten hinderlich sind. TRENDELENBURG schickt seiner Abhandlung über die metaphysischen Hauptpunkte in HERBARTs Psychologie (Historische Beiträge III, Seite 97) folgende methodologische Regeln voraus:
    "Es empfiehlt sich beim jetzigen Stand unserer Erkenntnis, sich in psychologischen Untersuchungen der letzten Fragen über das Wesen und das Woher und Wohin der Seele eine Weile zu entschlagen, und erst sichere Spuren aufzusuchen, welche uns zur Lösung dieses schwierigsten aller Probleme hinführen können. Es empfiehlt sich, zunächst auf dem Gebiet der erscheinenden Seele Erkenntnisse von Beziehungen und Gesetzen zu suchen, und erst von einem richtigen Verständnis dieses Besonderen her den Hinweis auf das allgemeine Wesen zu erwarten."
Ebenso J. H. FICHTE in der "Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, 1869, Seite 239.

Die sorgfältigste Beschränkung auf die induktive Methode und die Fernhaltung jedes metaphysischen Einflusses kann allerdings nicht dringend genug empfohlen werden. Die entscheidende Wichtigkeit, welche gerade der Ansicht über die Seele für jede Weltanschauung zukommt, und die hiermit unvermeidlich zusammenhängenden Wünsche und Interessen, welche mit keiner anderen Disziplin so eng wie gerade mit der Psychologie verbunden sind, machen eine unbefangene Auffassung der psychischen Tatsachen äußerst schwierig. Wenn eine getreue, von Vorurteilen sich frei erhaltende Beobachtung im Allgemeinen nur Wenigen gelingt, weil nur zu leicht vorgefaßte Meinungen sich überall eindrängen, so wird sie noch seltener da möglich sein, wo ihr Gegenstand ein so lebhaftes, nicht sachliches, Interesse mit sich führt, wie die psychologischen Probleme. Es kommt hinzu, daß jedem Forscher aus seiner Jugend die üblichen Erklärungen und Theorien geläufig sind, welche die wissenschaftliche und praktische Theologie aufstellt. Hiervon aber gilt das alte Wort des ANTISTHENES: Das Schwerste ist, das einmal Gelernte wieder zu vergessen. Wenn wir hinzufügen, daß es für den Fortschritt der Wissenschaft das Nötigste ist, so haben wir damit eine der wichtigsten Forderungen der Methodologie ausgesprochen.

Außer der gesuchten Befriedigung der "Herzensbedürfnisse" ist es noch eine aus der unwissenschaftlichen Behandlung der Psychologie beibehaltene Gewohnheit, welche folgendschwere Irrtümer in diese Disziplin hineinkonstruiert hat. Die Naivität früherer Zeiten bezeichnete das auf theologischen und moralischem Gebiet Gelernte, soweit es mit den herrschenden Neigungen übereinstimmte, kurzweg als apriorisches Wissen oder als Tatsachen des Bewußtseins. Dies hat man nun zwar fast allgemein aufgegeben und nimmt die aposteriorische Entstehung aller materialen Erkenntnis an, aber die Mittel zu dieser, die logischen Gesetze, hält man immer noch mit mehr oder weniger deutlichem Bewußtsein für einen ursprünglichen, angeborenen Besitz des menschlichen Verstandes. So verwirft SCHOPENHAUER die Logik als gänzlich überflüssig, weil sie doch nur das in abstracto lehrt, was Jeder in concreto schon weiß und anwendet. Die Beobachtung des erstbesten ungebildeten Menschen hätte freilich sofort das Gegenteil ergeben; allein dieser sehr einfache Weg der Erkenntnis wurde bisher von der Philosophie meist nur mit Widerstreben betreten. So wird die psychologie durch jenen Überrest des platonischen mathesis anamnesis [Lernen ist Erinnern - wp], wonach man wenigstens die Mittel zum wissenschaftlichen Erkennen jedem Menschen von Geburt an innewohnen läßt, bis in die Gegenwart hinein verdorben.

Dem Mißbrauch, der die idealen Forderungen der Religion, Moral und Wissenschaft von Natur aus erfüllt sehen wollte, dient die Methode der Selbstbeobachtung aufs Beste. Schon HERBART rügte es nachdrücklich, daß jeder das, was er in seinem gebildeten Bewußtsein vorfand, für allgemeine Tatsachen des Seelenlebens ausgab, und verwarf die Selbstbeobachtung als durchaus unbrauchbar und irreleitend. Demselben Bedenken unterliegen natürlich auch die Beobachtungen an anderen ausgebildeten Personen; daher bietet nur die Beobachtung des Menschen im natürlichen Zustand und die aus derselben gezogenen Schlußfolgerungen ein zuverlässiges Material psychologischer Induktion. Sie konstatiert, unbekümmert um die metaphysische Erklärung der psychischen Phänomene, ihre Wirklichkeit.

Von methodisch angestellten Beobachtungen auf psychologischem Gebiet sind bis jetzt nur die "Untersuchungen über das Seelenleben des neugeborenen von Dr. ADOLF KUSSMAUL, Professor der Medizin in Erlangen", der Öffentlichkeit übergeben worden.

Der Verfasser betrachtet als seelische Tätigkeiten das Empfinden, Vorstellen, Denken und Begehren und das aus diesen hervorgehende Bewegen; seine an zwanzig und einigen Neugeborenen angestellten Untersuchungen ergaben, abgesehen von individuellen und graduellen Verschiedenheiten im Allgemeinen die folgenden Resultate: Geschmackssinn und Ekelgefühl, Tastgefühl, Wärme- und Kältegefühl, Geruch sind verhältnismäßig stark entwickelt; das Licht wird schon in den ersten Stunden nach der Geburt empfunden und zwar bei mäßigem Reiz angenehm, sonst unangenehm. Dagegen "lernen die Kinder erst später die Gegenstände fixieren, vielleicht von der dritten bis sechsten Woche an." -
    "Von allen Sinnen schlummert das Gehör am tiefsten. Man kann vor den Ohren wachender Neugeborener in den ersten Tagen die stärksten disharmonischen Geräusche machen, ohne daß sie davon berührt werden."
Doch wurden von KUSSMAULs Assisstenten mehrere Kinder, deren jüngstes 3 Tage alt war, auf Gehörsempfindungen untersucht, wobei sich ergab, daß diese bereits vorhanden waren. - Das Geschrei, das die Kinder gleich nach der Geburt ausstoßen, geht unzweifelhaft aus Empfindungen schmerzhafter Art hervor. Muskelgefühle glaubt KUSSMAUL schon der Frucht zusprechen zu können. Dies sind die positiven Ergebnisse der Untersuchungen in Bezug auf Empfindungen und Gefühle.

Die Begehrungen Neugeborener beschränken sich auf Hunger und Durst, welche sich 6-24 Stunden nach der Geburt durch verschiedene Äußerungen kundgeben:
    "Der kleine Weltbürger wird unruhig, erwacht, macht Saugbewegungen, wirft den Kopf hin und her, als ob er etwas sucht, führt die Hände zum Gesicht, fährt mit den Fingern im Gesicht und namentlich gern an den Lippen umher, bringt sie wohl auch in den Mund und saugt daran."
Die Intelligenz des Neugeborenen zeigt sich nach KUSSMAUL in den Bewegungen, die nicht reflektorischer Art sind.
    "Wenn die gekitzelte Hand den kitzelnden Gegenstand umfaßt, die Lippe am eingeführten Finger oder der Brustwarze saugt, der Genuß von Chininlösung mimische Bewegungen hervorruft, oder die Augenlider sich beim einfallenden Licht schließen, - in diesen Fällen wird ursprünglich die Bewegung als Empfindungsreflex unmittelbar ausgelöst, aber zur Empfindung gesellt sich nicht nur das Bewußtsein der Empfindung, sondern auch der ausgeführten Bewegung, es gesellen sich dazu Muskelgefühle, Gefühle der Lust und Unlust mit entsprechenden Bestrebungen, allmählich erwachsen daraus sinnliche Vorstellungen der einfachsten Art, und der Wille lernt schließlich diese Bewegungen zügeln, unterdrücken, verstärken, kurz im Interesse des Individuums regulieren."
Diese erste Spuren der Intelligenz leitet KUSSMAUL aus den Erfahrungen her, welche die Frucht schon im Mutterleib macht; sie beschränken sich auf Tastsinn, Geschmackssinn, Hunger- und Durstgefühl, während der Gesichtssinn, der Gehör- und Geruchsinn dem Kind erst nach der Geburt Empfindungen und Vorstellungen zuleiten.
    "Aus dem Gehör- und Geruchssinn dürften in den ersten Wochen noch keine Vorstellungen gebildet werden. Dagegen scheint die Bildung von Vorstellungen aus dem Gesichtssinn schneller zu geschehen, zumindest wird derselbe öfter und lebhafter erregt, und vermittelt vielfach Gefühle der Lust und Unlust."
Gegen die Richtigkeit dieser Beobachtungen ist, soviel uns bekannt, von keiner Seite her Einspruch erhoben worden, daher das in ihnen enthaltene Tatsächliche als feststehend betrachtet werden muß. Um aber hieraus Schlußfolgerungen ziehen zu könen, haben wir vor alem, soweit dies überhaupt möglich ist, festzustelen, wie Empfinden, Vorstellen, Denken, Begehren zu unterscheiden sind. Denn es genügt keineswegs für die wissenschaftliche Untersuchung, daß jeder duch sein eigenes Seelenleben eine unmittelbare Kenntnis jener psychischen Tätigkeiten hat; vielmehr ist es für die Verständigung über das Wesen derselben von entscheidender Wichtigkeit, daß mit demselben Wort in jedem einzelnen Fall auch dieselben Vorstellungen verbunden werden. Dies erscheint umso nötiger, weil eine schulmäßige Definition der elementaren psychischen Phänomene nicht gegeben werden kann, und sich ihre Beschreibung daher vornehmlich auf das Negative ihrer Unterscheidung voneinander beschränken muß.

Zwischen den häufig synonym gebrauchten Begriffen Gefühl und Empfindung statuieren wir folgenden Unterschied: "Gefühl" umfaßt Lust und Schmerz, Freude und Leid, angenehme und unangenehme Affektionen körperlicher und geistiger Art in allen ihren verschiedenen Nuancen und Schattierungen. Was aber Lust und Schmerz etc. sind, kann nicht begrifflich bestimmt, sondern muß "gefühlt" werden. "Empfindung" dagegen ist uns jeder unmittelbar durch ein körperliches Organ verursachte bewußte Eindruck, welcher ansich weder Lust noch Unlust mit sich führt, oder populär gesprochen: dem Subjekt gleichgültig ist.

Unter "Vorstellung" verstehen wir die Reproduktion einer Empfindung der Sinnesorgane, womit schon gesagt ist, daß der Vorstellung ansich Lust und Unlust fremd bleiben. Das "Denken" definieren wir, um nicht, wie meistens geschieht, das falsche Denken auszuschließen, ganz allgemein als Operation mit den elementaren psychischen Tätigkeiten, wonach es selbst als sekundäre Funktion erscheint.

Dem Fühlen, Empfinden, Vorstellen und Denken ist es gemeinsam, daß sie in sich abgeschlossene Zustände sind; anders verhält es sich mit dem Begehren oder Wollen. Wir bemerken unter Hinweis auf die folgende Rechtfertigung unseres Verfahrens, daß wir unbewußtes und bewußtes Wollen, Trieb, Begierde Streben, Neigung etc. unter dem Begriff "Willen" befassen und finden in ihnen ein gemeinschaftliches charakteristisches Merkmal: alle diese seelischen Äußerungen sind nämlich auf die Veränderung des gegenwärtigen Zustandes gerichtet, gehen also auf die Zukunft. Die entgegengesetzte Ansicht beruth auf einer mißverständlichen Auffassung der Willensrichtung. So sagt z. B. LOTZE "Medizinische Psychologie", Seite 300:
    "Auch ist dem Wollen diese täuschende Beziehung auf Zukünftiges keineswegs notwendig; ein gegenwärtiger Zustand, den wir festhalten oder nicht fliehen, ist ebenfalls ein beständiger Gegenstand des Wollens, und der Märtyrer, der eine Qual erträgt, der er sich entziehen könnte, macht die ganze Kraft des Willens gegen ein schon vorhandenes und fortdauerndes Übel geltend."
Wenn wir einen gegenwärtigen Zustand "nicht fliehen", so kann er uns gleichgültig sein, und dann ist in Bezug auf ihn unser Wille überhaupt nicht tätig; wenn wir ihn aber "festhalten", so wollen wir damit eo ipso [schlechthin - wp], daß er in der Zukunft fortdauert, sonst würden wir ihn eben nicht festhalten. Hierzu ist keineswegs nötig, daß wir dabei an die Zukunft denken; sobald uns der gegenwärtige Zustand befriedigt, wollen wir ohne Rücksicht auf die Zeit seine Fortdauer, die freilich, wie der Verstand lehrt, nur in der Zukunft möglich ist. Denn die sogenannte Zufriedenheit mit dem gegenwärtigen Zustand, in welcher der Mensch scheinbar überhaupt nichts will, setzt stets voraus, daß dieser Zustand fortdauert, sonst würde sich sofort Unzufriedenheit einstellen. - Im Beispiel vom Märtyrer verwechselt LOTZE offenbar das Mittel zur Befriedigung des Willens mit dem Objekt des Willens; der Märtyrer will als Selbstzweck nicht die Qual, sondern die ewige Seligkeit, zu welcher ihm die Qual ein Mittel ist. Wäre er der Seligkeit ohne Qual sicher, so würde es ihm nicht in den Sinn kommen, sich ihr zu unterwerfen; aber sein Glaube fordert das Erdulden dieses zeitlichen Übels, um damit den Gegenstand seines Willens, die ewige Seligkeit, zu erlangen. Sein Wille ist daher ebenfalls auf Zukünftiges gerichtet; die gegenwärtige Qual will er nicht, aber er wählt sie verstandesgemäß als das einzige Mittel zur Befriedigung seines Willens. -

Wenden wir uns nun zu den Beobachtungen KUSSMAULs zurück, so werden wir keinen Augenblick anstehen, dem neugeborenen Kind Empfinden, Fühlen und Wollen beizulegen. Die Äußerungen dieser Tätigkeiten von Seiten des Kindes sind denen Erwachsener ähnlich, daß ein Bedenken gegen den Schluß auf die gleiche Ursache nicht vorliegt. Anders verhält es sich mit dem Vorstellen, sofern wir es von der Empfindung und dem Gefühl unterschieden haben.

Wir werden KUSSMAUL darin beistimmen müssen, daß aus Empfindungen und Gefühlen "allmählich sinnliche Vorstellungen der einfachsten Art erwachsen", also im ersten Lebensalter noch nicht vorhanden sind. Der letztere, negative Teil dieser Ansicht vom späteren Entstehen der Vorstellungen wird gegenwärtig auch von dielen philosophischen Forschern angenommen; so bezeichnet z. B. JÜRGEN BONA-MEYER in "Kants Psychologie", Seite 92
    "ein mit dem Gefühl der Lust und Unlust eng verschmolzenes Empfinden als die erste Reaktion sinnlich seelischer Organisation, und das Vorstellen als eine neue seelische Zutat."
Nehmen wir vorläufig den späteren Eintritt der Vorstellungen als bewiesen an, so ist die "Intelligenz" oder das Denken des Neugeborenen als eine Operation mit Empfindungen und Gefühlen zu bezeichnen.

Die elementaren Funktionen des Kindes im ersten Lebensalter sind demnach Gefühl, Empfindung und Wille, über deren gegenseitiges Verhältnis wir zunächst die erforderliche Klarheit zu gewinnen suchen. Die Natur der Sache bringt es mit sich, daß hier die direkten Beobachtungen durch Schlußfolgerungen nach Analogie des Seelenlebens Erwachsender ergänzt werden müssen; doch gibt die Einfachheit der zugrunde liegenden psychischen Verhältnisse von vornherein eine gewisse Bürgschaft dafür, daß falsche Schlüsse, wenn nicht immer vermieden, so doch leicht erkannt werden können. Auch hat jeder die Möglichkeit, die Richtigkeit der von uns angeführten Beobachtungen sofort durch eigene Untersuchungen zu prüfen, da es sich um alltäglich wiederkehrende Vorgänge im Leben kleiner Kinder handelt.

Daß der Säugling durch Schreien ein Gefühl, und zwar eins der Unlust oder des Schmerzes kundgibt, unterliegt wohl keinem Zweifel; wenigstens ist man in der Praxis des Lebens sofort von diesem Zusammenhang der äußeren Wirkung mit der inneren Ursache überzeugt. Aber mit dieser Überzeugung begnügt sich die Umgebung des Kindes nicht, sondern forscht vielmehr nach der Ursache des Gefühls, um sie und mit ihr die Wirkung zu beseitigen. Zunächst wird bei jedem Kind das Schreien dahin gedeutet, daß es ein Verlangen nach Nahrung anzeigt, und diese Deutung meist bestätigt gefunden, indem mit der Befriedigung des Nahrungstriebes auch die Äußerungen der Unlust aufhören, und im Gegenteil ein Gefühl der Lust eintritt, welches wegen physischer Hindernisse allerdings im zartesten Lebensalter nicht kundgegeben werden kann. Es ist nun wohl klar, daß das Gefühl des Hungers, welches das Schreien des Kindes verursachte, seinerseits wieder durch den Trieb nach Nahrung verursacht wurde. Wir dürfen also in diesem Fall den Trieb als Ursache, das entsprechende Gefühl als Wirkung auffassen, und zwar den unbefriedigten Trieb als Ursache des unangenehmen Gefühls der Unlust oder des Schmerzes, wie die Lust oder das Behagen als Wirkung der Befriedigung des Triebes.

Nach der Sättigung geben auch als gesund erkannte Kinder oft Äußerungen der Unlust von sich, welches von ihrer erfahrenen Umgebung auf das Verlangen nach Befriedigung der Bedürfnisse der Sinnesorgane gedeutet werden. Gewöhnlich hat man damit das Richtige getroffen, indem das Kind durch den Anblick glänzender Gegenstände oder durch das Hören nicht zu starker Töne nicht nur sofort beruhigt wird, sondern auch Lustgefühle verrät (vgl. KUSSMAUL a. a. O., Seite 26 und 39). Wegen der entscheidenden Wichtigkeit, welche den Sinnesorganen und ihren Affektionen für die richtige Auffassung des sinnlichen Erkennens zukommt, müssen wir etwas länger bei diesem Punkt verweilen.

Der bekannte Physiologe ROKITANSKY nimmt einen "ursprünglichen Drang der Sinne nach Funktion" an und stellt sich damit in einen direkten Gegensatz zur Lehre SCHOPENHAUERs, der, wie wir gleich sehen werden, die Sinne vom Willen beherrscht werden läßt. Diese abweichende Ansicht ROKITANSKYs, welcher im Übrigen SCHOPENHAUERs Philosophie ergeben ist, hat ihren genügenden Grund in Tatsachen der Erfahrung. Die physiologische Beobachtung hat dieses längst entdeckt; BENEKE lehrt in der "Neuen Psychologie", Seite 105:
    "Zuletzt gelangen wir zu den geistig-sinnlichen Urvermögen, wie sie den elementarisch-sinnlichen Empfindungen zugrunde liegen. Diese aber zeigen sich, ihrer wesentlichen Natur nach, als Strebungen. Die menschliche Seele liegt nicht rein passiv da für die Erregungen, die ihr von außen kommen könnten, sondern sie strebt denselben von vornherein selbsttätig entgegen: Der Gesichtssinn dem Licht, der Gehörsinn den Schällen usw. Dies zeigt sich namentlich in den Fällen, wo wir es gleichsam durch ein Vergrößerungsglas betrachten können, wenn sich nämlich die Urvermögen sehr vielfach unverbraucht (unerfüllt) ansammeln; es entsteht eine Unruhe, welche jeden Grad erreichen kann, bis zu der Verzweiflung, welche zum Selbstmord treibt. Also die Seele hat auch schon ursprünglich Kräfte, besteht ganz aus Kräften und aus einer Vielheit von Kräften, welche wesentlich Strebungen sind."
Diese Lehren BENEKEs stimmen, soweit sie einen ursprünglichen Trieb der Sinne annehmen, durchaus mit der Erfahrung überein. Wir können täglich an kleinen Kindern die Beobachtung machen, daß dieselben eine Unruhe verraten, welche sofort verschwindet, wenn ihnen Gesichts- oder Gehörswahrnehmungen irgendeiner Art zugeführt werden. Schon der bloße Übergang aus der Dunkelheit ans Licht entlock ihnen die lebhaftesten Freundenbezeugungen, ja es gelingt sogar in der Regel, die Gefühle eines nicht allzu starken Hungers durch beliebige Töne oder bunt schillernde, glänzende Gegenstände auf einige Zeit zurücktreten zu lassen. Beim Erwachsenen sind die normalen Empfindungen der sogenannten oberen Sinne von einem Gefühl gewöhnlich nicht begleitet; er verlangt harmonische und ästhetische Eindrücke, um über den Zustand der gleichgültigen Wahrnehmung emporgehoben zu werden. Dies gilt aber nur für die gewöhnlichen Verhältnisse, in welchen fortwährend Gehörs- und Gesichtsempfindungen aufgenommen werden, weshalb ein besonderes Bedürfnis der Organe nach Befriedigung nicht in Bewußtsein tritt. Dieses wird erst empfunden, wenn man längere Zeit z. B. der Gesichtswahrnehmungen entbehrt hat; dann erwacht allmählich eine Unruhe, die immer stärker wird, und nur dadurch beseitigt werden kann, daß das Verlangen des Gesichtssinns befriedigt wird.

Ein schlagender Beweis für das Vorhandensein eines ursprünglichen Triebes der Sinnesorgane liegt ferner in der Tatsache, daß alle Sinnesempfindungen von einem Gefühl der Lust oder Unlust begleitet werden, wenn dieses auch meist wegen seiner geringen Intensität nicht ins Bewußtsein tritt, daher man es streng genommen nicht als "Gefühl" bezeichnen sollte, weil die objektiv vorhandenen Bedingungen noch nicht ausreichend sind für den Eintritt eines "Gefühls". Sehen wir jedoch hier davon ab und halten wir uns an die Tatsache, daß jede Sinnesempfindung einen Vorgang im Organismus mit sich führt, der bei gehöriger Stärke als Gefühl empfunden wird, so ist schon hierdurch die Annahme der "Sinnestriebe" gerechtfertigt.

Eigentümlicherweise widerspricht dieser Lehre gerade SCHOPENHAUER, dem sie eine willkommene Bestätigung seiner Metaphysik hätte sein sollen. Er will über die Sinne nur einzelne eigenen Betrachtungen geben, weil von Andern Gesagtes zu wiederholen nicht der Zweck seiner Schriften ist. Dieses Haschen nach Originalität hat die leicht vorauszusehende Folge, daß seine Ansicht der Erfahrung durchaus widerspricht. Er sagt in der "Welt als Wille und Vorstellung", Bd. 2, Seite 30:
    "Diejenigen Empfindungen, welche hauptsächlich zur objektiven (!) Auffassung der Außenwelt dienen sollten, müßten ansich weder angenehm noch unangenehm sein; dies besagt eigentlich, daß sie den Willen ganz unberührt lassen müßten . . . Demgemäß sind Farben und Töne ansich und solange ihr Eindruck das normale Maß nicht überschreitet, weder schmerzliche noch angenehme Empfindungen; sondern treten mit derjenigen Gleichgültigkeit auf, die sie zum Stoff rein objektiver Anschauungen eignet. Dies ist nämlich soweit der Fall, als es an einem Leib, der ansich durch und durch Wille ist, überhaupt möglich sein konnte, und ist eben in dieser Hinsicht bewundernswert. Physiologisch beruth es darauf, daß in den Organen der edleren Sinne, also des Gesichts und Gehörs, diejenigen Nerven, die den spezifischen, äußeren Eindruck aufzunehmen haben, gar keiner Empfindung von Schmerz fähig sind, sondern keine andere Empfindung, als die ihnen spezifisch eigentümliche, der bloßen Wahrnehmung dienende, kennen. Demnach ist die Retina, wie auch der optische Nerv gegen jede Verletzung unempfindlich etc."
In diesen "eigenen" Lehren SCHOPENHAUERs ist wenig Richtiges anzutreffen. Zunächst ist klar, daß wir die Empfindungen der oberen Sinne nur aus dem Grund für "objektiv" halten, weil sie meist nicht von Lust oder Unlust begleitet sind, und SCHOPENHAUER kann ihnen am wenigsten eine andere Art der Objektivität beilegen. Sodann hätte er aus der ihm wohlbekannten Farbenlehre GOETHEs sich erinnern müssen, daß die verschiedenen Farben verschieden auf die Stimmung des Wahrnehmenden wirken, daß das reine Rot z. B. anenehm wirkt, während Schwarz ein ängstliches Gefühl hervorruft etc. Endlich ist seine Behauptung der absoluten Schmerzlosigkeit des Sehnerven durchaus unerwiesen, da dieser in dieser Hinsicht angestellten Versuche weiter nichts als seine Unempfindlichkeit gegen ganz bestimmte Reizungen erweisen (siehe LOTZE, Medizinische Psychologie, Seite 255). Außerdem erzählt SCHOPENHAUER selbst im selben Kapitel, daß operierte Blinde das erste Licht mit Entzücken erblicken und sich nur ungern die Binde über die Augen legen lassen, was wohl mindestens ebensosehr der unmittelbaren sinnlichen Befriedigung des Organs, als der intellektuellen Erwartung künftiger Freude zuzuschreiben ist.

Mit SCHOPENHAUER stimmt auch BONA-MEYER darin überein, daß er vornehmlich aufgrund der Selbstbeobachtung die Eindrücke der oberen Sinne für objektiv erklärt (Kants Psychologie, Seite 107):
    "Die Empfindungen der sogenannten niederen Sinne wie Geruch und Geschmack sind von Lust- oder Unlustgefühlen kaum zu trennen . . . Dagegen können wir Manches sehe und hören und auch fühlen, ohne das durch diese Sinne Empfundene gern oder ungern zu empfinden . .. Diese Tatsache findet ihre Erklärung in den verschiedenen Bedeutung der genannten Sinne für unster geistiges Gesamtleben. Die niederen Sinne dienen ausschließlicher als die anderen Sinn zur Erhaltung und zum Schutz unseres physischen Wohlbefindens, die enge Verbindung mit Lustgefühlen erleichtert ihnen dieser ihrer Bestimmung nachzukommen. Mittels der höheren Sinne gewinnen wir vorzugsweise unsere Vorstellungen von der uns umgebenden Welt, hier ist die objektive Erkenntnis ihrer Beschaffenheit die Hauptsache." etc.
Hiergegen muß behauptet werden, daß es auch solche Dinge gibt, welche die Geruchs- und Geschmacksnerven affizieren, ohne ein Gefühl der Lust oder Unlust zu erwecken, wiewohl dies natürlich bei den Einzelnen je nach ihrer Sensibilität sehr verschieden ist. Daß die niederen Sinne unserem physischen Wohlbefinden ausschließlicher als die anderen dienen sollen, ist mindestens eine sehr gewagte Behauptung, ebenso wie die der Objektivität der oberen Sinne. Gegen diese ist eine Erfahrung entscheidend, welche jeder leicht an sich selbst machen kann: alle Sinne ohne Ausnahme werden zu verschiedenen Zeiten von denselben Eindrücken durchaus verschieden affiziert und zwar in ganz bestimmter Abhängigkeit vom Wollen, daher auch die oberen Sinne nur dann "objektive Erkenntnis" liefern, wenn sie vom Wollen möglichst frei sind. Man bedenke nur, wie reizen dem Gesichtssinn der Gegenstand einer starken Begierde erscheint und wie gleichgültig, oft sogar abstoßend und Ekel erregend nach völliger Befriedigung der Begierde! Um die "Objektivität" der oberen Sinne an einer anderen Erfahrung würdigen zu können, braucht man sich nur an die unzähligen Mütter zu erinnern, deren Sinnesorgane an ihren Kindern alle möglichen Ähnlichkeiten und Schönheiten entdecken und wenn das Kleine "a" quarrt [weinerliche Laute von sich geben - wp], die süßesten Töne hören. Nicht minder abhängig sind alle Sinne vom Allgemeinbefinden des Subjekts; so kann z. B. die nervöse Reizbarkeit einen so hohen Grad erreichen, daß jede Affektion des Gesichts und Gehörs von Unlust begleitet ist, wie man andererseits unter dem Eindruck des vollkommenen Wohlbefindens oder einer lebhaften Freude Alles, auch das Gewöhnlichste, mit einem gewissen Lustgefühl wahrnimmt.

Auf solche und ähnliche Erfahrungen gestützt, lehrte schon CONDILLAC, daß jede Empfindung ohne Ausnahme mit einem Gefühl von Lust oder Unlust verbunden ist. Von den neueren Forschern behauptet LOTZE "Medizinische Psychologie", Seite 254 und "Mikrokosmus", Bd. 1, Seite 284 eine "Allgegenwart der Gefühle", ebenso CZOLBE, "Über die Grenzen und den Ursprung der menschlichen Erkenntnis", Seite 200 und im Anschluß an diese beiden JOHNSON in der Vorrede zu CONDILLACs Abhandlung "Über die Empfindungen". Der Letztere sagt gegen BONA-MEYER, welcher behauptet, nach seiner Selbstbeobachtung sei es möglich vorzustellen ohne die Begleitung irgendeines Gefühls von Lust oder Unlust, a. a. O., Seite 9:
    "Diese Behauptung muß wohl dahin eingeschränkt werden, daß wir das Gefühl, welches eine Empfindung in uns erregt, häufig nicht von den, in der Seele gleichzeitig vorhandenen Gefühlen zu unterscheiden vermögen, weil es sich zu wenig von ihnen abhebt."
Er zitiert ferner die Erklärung, welche CZOLBE über dieselbe Sache gibt:
    "Wenn es zuweilen scheint, daß gewisse Wahrnehmungen oder Vorstellungen mit keinerlei Gefühl von Bedürfnis, oder Lust, oder Schmerz verbunden sind, so kommt das wohl nur daher, daß die sie begleitenden Gefühle sich mit anderen ähnlichen oder gleichen in uns zum sogenannten Gemeingefühl oder der Stimmung mischen und nicht als besondere, speziellen Wahrnehmungen und Vorstellungen entsprechende unterschieden werden können."
Die Verschiedenheit der Ansichten hat ihren letzten Grund in der verschiedenen Auffassung der Worte Gefühl und Empfindung. Diejenigen Philosophen und Physiologen, welche eine Allgegenwart der Gefühle lehren, verstehen darunter, daß die objektiven Bedingungen derselben im Organismus vorhanden sind, wenn sie auch wegen zu geringer Stärke nicht in das Bewußtsein gelangen. Diese Tatsache ist durch Selbstbeobachtung weder festzustellen, noch darf sie aufgrund derselben geleugnet werden. Andererseits ist aus formellen und sachlichen Gründen entschieden daran festzuhalten, daß eine Lust oder Unlust, die nicht gefühlt wird, in der philosophischen Sprache nicht als Lust und Unlust bezeichnet werden darf, da dies nur durch eine Verwechslung der diese Gefühle unter anderen Umständen erregenden materiellen Vorgänge mit den subjektiven Gefühlen selbst möglich ist. Wenn eine ansich äußerst schmerzhafte Operation bei der Anwendung von Chloroform ohne alle Unlustempfindung seitens des Operierten vollzogen wird, so darf man in einem solchen Fall die Existenz eines Schmerzes nicht behaupten, wiewohl dessen objektive Bedingungen vorhanden sind.

Sehr richtig bezeichnet BERGMANN den Begriff der bewußtlosen Empfindung als einen in sich widersprechenden, weil wir nur unmittelbar von unseren Empfindungen wissen, also die Empfindung nicht anders denn als bewußte, d. h. eben empfundene wahrnehmen können. Gegen die Lehre ULRICIs,
    "daß Empfinden keineswegs ein und dasselbe mit Bewußtsein, keineswegs unmittelbar (immer und überall) mit Bewußtsein verknüpft ist, da wir fortwährend den Druck unserer Kleider und des Sessels empfinden, meistens ohne uns dessen bewußt zu sein; daß wir ihn aber wirklich empfinden, erhellt sich daraus, daß wir uns seiner augenblicklich bewußt werden, sobald wir nur unsere Aufmerksamkeit darauf richten",
sagt BERGMANN in seiner "Theorie des Bewußtseins", Seite 49:
    "Das nun, was Ulrici für ein Bewußtwerden bisher unbewußter, aber wirklich vorhandener Empfindungen ansieht, besteht in nichts Anderem, als daß das Bewußtsein die höhere Tätigkeit des Denkens am bisherigen Objekt, z. B. das Philosophieren einstellt und auf die niedere Tätigkeit des Bewußtseins, z. B. das Wahrnehmen eines Baumes richtet. Habe ich wirklich den Druck meines Sessels empfunden, während ich an etwas ganz anderes dachte . . . , so bin ich mir ihrer auch bewußt gewesen, nur war dieses Bewußtsein kein Denken an die Empfindung; das Denken, diese höhere Tätigkeit des Bewußtseins, war eben mit etwas Anderem beschäftigt."
Die von ULRICI angeführten Tatsachen sind, viel einfacher zu erklären; nach den Untersuchungen HERBARTs, FECHNERs u. a. steht es fest, daß jeder Reiz eine gewisse Stärke haben muß, um empfunden oder bewußt zu werden, daher in jedem Augenblick unzählige Reize auf uns eindringen, aber wegen ihrer Schwäche unter der Schwelle des Bewußtseins bleiben, also für uns nicht existieren. Ebenso unzweifelhaft ist es, daß die subjektive Empfänglichkeit für Empfindungen aller Art großen Schwankungen ausgesetzt ist, wie die krankhaften Zustände der [Unempfindlichkeit - wp] Anästesie und Hyperästhesie [Überempfindlichkeit - wp] genügend beweisen. Im normalen Zustand ist es die Aufmerksamkeit, welche die Disposition für eine bestimmte Empfindung beträchtlich steigert, dagegen für alle übrigen Empfindungen ebensosehr abschwächt. Wenn nun ein Reiz von genügender objektiver Stärke auf uns einwirkt, so wird er empfunden oder bewußt, sobald wir ihm das nötige Maß von Aufmerksamkeit zuwenden; beim Fehlen dieser subjektiven Bedingung bleibt er in der Nähe des Bewußtseins, um sofort in dasselbe zu treten, wenn die Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt wird. Natürlich zeigt sich der Einfluß der subjektiven Bedingung nur innerhalb gewisser Grenzen wirksam; einen zu schwachen Reiz wird selbst die intensivste Anspannung der Aufmerksamkeit nicht in das Bewußtsein rufen, wie andererseits ein sehr heftiger Schmerz sich gegen alle Ablenkungsversuche im Bewußtsein behauptet.

Wenden wir dies auf ULRICIs Beispiel an, so ergibt sich, daß der Druck des Sessels und der Kleider die erforderliche Stärke des Reizes besitzt, um mit Hilfe des gewöhnlichen Maßes der Aufmerksamkeit empfunden zu werden; die Reize verschwinden aber unter die Schwelle des Bewußtseins, sobald die Aufmerksamkeit von ihnen auf andere Gegenstände gelenkt wird.

Diese Tatsachen machen es vollkommen erkärlich, daß die Selbstbeobachtung eines Menschen unter normalen Verhältnissen längere Zeit keinerlei Gefühle von Lust oder Unlust wahrnimmt, während andererseits die Physiologie mit unzweifelhaftem Recht eine Allgegenwart der Gefühle lehrt, natürlich in dem Sinne, daß jede Empfindung oder Vorstellung von den objektiven Vorgängen im Organismus begleitet wird, welche beim Hinzutritt der erforderlichen subjektiven Bedingungen als Gefühle empfunden werden, oder deutlicher gesprochen, daß die Empfindungen, objektiv betrachtet, nur Gefühl von geringerer Stärke sind. Denn in Krankheitszuständen wird die Intensivität der Empfindungen derartig gesteigert, daß sie ihren "objektiven", d. h. lust- und schmerzfreien Charakter gänzlich verlieren, und an ihre Stelle die rein subjektiven Schmerzgefühle der Organe treten, wobei der sogenannte Inhalt der Empfindung als objektiver ganz und gar verschwindet; siehe EULENBURG, "Lehrbuch der funktionellen Nervenkrankheiten", Seite 31:
    "Bei Hyperalgesieen sind einzelne Teile des Empfindungsapparates in Folge krankhafter Veränderungen erregbarer geworden; und allen Sinneseindrücken, welche die Nerven dieser Teile in Erregung versetzen, ist nun dieses Element des Gefühls in einem stärkeren Grad beigemischt, sodaß zuletzt vor dem Überwiegen desselben alle Bestimmtheit des Empfindungsinhaltes scheinbar völlig vertilgt wird."
Das, wenn auch im normalen Zustand des Erwachsenen nicht in das Bewußtsein gelangende, Vorhandensein von Gefühlen, d. h. von ihren objektiven Bedingungen ist der beste Beweis dafür, daß den Sinnesorgangen von Natur aus ein Drang nach Funktion innewohnt. Denn der Zusammenhang zwischen Trieben und Gefühlen ist unleugbar und wird von der neueren Psychologie im Allgemeinen anerkannt; daß aber die Triebe als Ursache, die Gefühle als Wirkung zu betrachten sind, werden wir sogleich erweisen.

Wir rechnen im Gegensatz zu den üblichen Darstellungen der Psychologie, welche als natürliche, d. h. in der Organisation wurzelnder Triebe nur den Nahrungs-, Bewegungs-, Geselligkeits- und Geschlechtstrieb aufzählen, den Drang der Sinnesorgane zu den natürlichen Trieben, weil er von Natur jedem Menschen gegeben ist, daher, wie ULRICI sagt, ein Mensch ohne alle Sinnesempfindungen kein Mensch ist.

Die unzertrennliche Verbindung von Wille und Gefühl haben wir am Nahrungs- und Sinnestrieb ausführlich nachgewiesen; hinsichtlich der übrigen natürlichen Triebe begnügen wir uns mit dem Hinweis darauf, daß sie in gleicher Weise Gefühle der Lust und Unlust nach sich ziehen, was ohnehin nicht leicht bezweifelt werden wird, da jeder die nötigen Erfahrungen bereits an sich selbst gemacht hat.
LITERATUR - Carl Göring, System der kritischen Philosophie, Bd. 1, Leipzig 1874